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§ 31–133 enthalten allgemeine Bemerkungen über die Erziehung (vgl. § 133). Von § 134 an folgen besondere Betrachtungen über einzelne Teile der Erziehung.
§ 31. Wenn man nun diese Grundsätze, den Körper lebhaft und stark zu machen, genau befolgt, und ihn dadurch fähig macht, der Seele zu gehorchen, so ist das Wichtigste, was noch zu tun übrigbleibt, der Seele eine solche Bildung zu geben, daß sie bei allen Vorfällen und unter allen Umständen des Lebens, geschickt sei, in nichts zu willigen, was der Würde und der Vortrefflichkeit eines vernünftigen Wesens nicht angemessen ist.
§ 32. Wenn es wahr ist, was ich im Anfang dieser Abhandlung § 1 geäußert habe, daß nämlich die Verschiedenheit der Sitten und Geschicklichkeit der Menschen mehr von der verschiedenen Erziehung, die sie erhalten haben, als von einer anderen Ursache herrührt, so muß man notwendig eingestehen, daß die Bildung des Geistes bei Kindern die größte Sorgfalt erfordere, um ihm frühzeitig diejenige Form und Richtung zu geben, die er das ganze Leben hindurch behalten soll. Alles Gute oder Böse, was sie in der Folge tun, wird man ihrer Erziehung zuschreiben, darauf das Lob oder den Tadel ihrer Handlungen gründen und jeden begangenen Fehler für eine Folge dieser Erziehung ansehen.
§ 33. So wie die Stärke des Körpers hauptsächlich darin besteht, daß er alle Arten von Ungemächlichkeiten aushalten kann, so ist es auch mit dem Geiste. Das Hauptprinzip und die Grundlage jeder Tugend und jedes Verdienstes ist, daß man Stärke genug besitze, seinen eigenen Begierden zu entsagen, seine Leidenschaften zu unterdrücken, und einzig und allein das zu tun, was die Vernunft als das Beste gebietet, wenn die Sinnlichkeit gleich das Gegenteil verlangt.
§ 34. Der größte Fehler, den man insgemein bei Erziehung der Kinder begeht, ist, wie ich bemerkt habe, daß man nicht früh genug damit anfängt, daß man gewöhnlich die Zeit versäumt, da der Geist noch weich und biegsam genug ist, um ihn zur Zucht zu gewöhnen und unter den Gehorsam der Vernunft zu bringen. Mit großer Weisheit hat die Natur den Eltern Liebe für ihre Kinder eingeflößt: aber wenn dieser Trieb nicht durch Vernunft geleitet wird, so artet er leicht in blinde Affenliebe aus. Väter, Mütter, liebet eure Kinder! eure Pflicht fordert euch dazu auf. Oft aber seid ihr nicht zufrieden, sie zu lieben; ihr verliebt euch auch in ihre Fehler. Man soll den kleinen Geschöpfen durchaus keinen Zwang antun, ihnen in allen Stücken ihren Willen lassen, und da sie als Kinder noch keiner großen Laster fähig sind, so glauben Eltern, man könne mit ihren kleinen Unarten immer Nachsicht haben. Sie scherzen sogar über die kleinen Bosheiten derselben, die ihrer Meinung nach ihnen recht artig anstehen. Solche Eltern, welche die ersten Ausbrüche der Bosheit bei ihren Kindern nicht bestrafen, sondern sie vielmehr als Kleinigkeiten entschuldigen, mögen die Antwort beherzigen, die der weise Solon einst bei einer ähnlichen Gelegenheit erteilte. »Freilich«, sagte er, »ist es eine Kleinigkeit, aber die Gewohnheit ist eine Sache von großer Bedeutung.« Ich finde,« sagt Montaigne, »daß man den Keim von unseren größten Lastern in unserer Kindheit suchen muß. Es macht oft Müttern Vergnügen, wenn sie sehen, daß ein Kind einer Henne den Hals umdreht, und sich eine Lust macht, Hunde und Katzen zu peinigen. Mancher Vater ist so töricht, daß er es für ein Zeichen einer martialischen Seele hält, wenn er seinen Sohn einen Bauern oder Bedienten, der sich nicht widersetzt, schlagen sieht. Er hält es für seinen Scherz, wenn er seine Spielgesellen treulos und boshaft hintergehen sieht. Gleichwohl ist dieses der Same der Treulosigkeit, Grausamkeit, Tyrannei und Verräterei. Hier keimt er und erhebt sich nachher unter den Händen der Gewohnheit zu einem starken Baum.« Coste.
§ 35. Man lehrt den kleinen Liebling schlagen und schelten. Er muß alles haben, wonach er schreit; man läßt ihn alles tun, was ihm einfällt. Durch solche übertriebene Nachsicht und Zärtlichkeit verderben die Eltern selbst die natürlichen Anlagen ihrer Kinder im ersten Keim und erstaunen nachher über den bittern Geschmack des Baches, dessen Quelle sie selbst vergifteten. Wachsen nun die Kinder so heran und die bösen Gewohnheiten und Fertigkeiten mit ihnen, können dann die Eltern nicht mehr mit ihnen wie mit Puppen spielen, so fangen sie an, über ihre Ungezogenheiten und Unarten zu klagen. Der Eigensinn und die Widerspenstigkeit, zu der sie selbst den Grund legten, beunruhigt sie, und nun erst, da es schon zu spät ist, wünschen sie das Unkraut ausrotten zu können. Allein sie haben es mich eigener Hand gepflanzt, und es hat nun schon zu tiefe Wurzel geschlagen, als daß es so leicht vertilgt werden könnte. Ist ein Kind in den ersten Jahren gewöhnt worden alles zu tun, was seiner Phantasie einfällt, wie kann es uns befremden, wenn es dieses Recht auch als Knabe zu behaupten strebt. So wie er an Jahren zunimmt, so werden auch seine Fehler immer sichtbarer und auffallender, so daß auch wenig Eltern so blind sind, um sie nicht gewahr zu werden, noch so unempfindlich, um die üblen Wirkungen ihrer Nachsicht zu verkennen. Ehe er sprechen und gehen konnte, mußte sich schon seine Wärterin nach ihm richten, ehe er noch anfing zu lallen, gab er schon seinen Eltern Befehle. Wie soll er nun, da er größer ist, an Größe und Kraft zugenommen hat, wie soll er nun auf einmal in die gehörigen Schranken zurückgebracht und gebeugt werden. Wie ist es zu erwarten, daß er im siebenten, vierzehnten oder gar im zwanzigsten Jahre, diejenigen Freiheiten aufgeben sollte, die ihm bis dahin die Nachsicht seiner Eltern in so reichem Maß verstattete! Man versuche es nur mit Pferden, Hunden und anderen Tieren, und man wird sehen, ob sie die bösen Launen, die sie in der Jugend angenommen, im Alter so leicht verlassen. Und doch ist keins von diesen Tieren so stolz und so geneigt, sein eigener Herr zu sein und über andere zu herrschen als der Mensch.
§ 36. Wir sind gewöhnlich klug genug, die Bezähmung unvernünftiger Tiere sehr früh anzufangen und zu der Zeit, da sie noch sehr jung sind, sie zu den Diensten abzurichten, zu welchen wir sie dereinst brauchen wollen. Nur bei den Wesen, denen wir selbst das Dasein gaben, versäumen wir diesen wichtigen Umstand. Erst verziehen wir unsere Kinder und machen uns dann die törichte Hoffnung, daß gute Menschen aus ihnen werden sollen. Ein Kind verlangt Rosinen oder andere Näschereien, und damit es nicht schreie oder sich erzürne, wird ihm sogleich das Verlangte gegeben. Wenn es nun erwachsen ist und seine Neigungen es zum Wein und zur Wollust reizen, wer kann erwarten, daß es sich dann Gewalt antun werde? Denn diese Gegenstände sind für die Begierden des Erwachsenen eben das, was Spielwerke und Näschereien dem Kinde waren. Nicht darin liegt der Fehler, daß jedes Alter seinen besonderen Geschmack und Vergnügungen hat, sondern darin, daß man seine Neigungen und Begierden den Vorschriften der Vernunft nicht unterwirft. Es ist also nicht die Frage, ob man Leidenschaften haben soll oder nicht; nur darauf kommt es an, daß man sie zu bezähmen wisse und ihren gegenwärtigen Eindrücken widerstehen könne. Wer aber nicht als Kind gewöhnt worden ist, seinen Willen der Vernunft anderer zu unterwerfen, dem wird es alsdann viel Mühe kosten, dem Rat seiner eigenen Gehör zu geben und ihr zu folgen. Es ist nicht schwer, vorherzusehen, was aus einem solchen Kinde werden wird.
§ 37. Dergleichen Versehen werden nicht selten selbst von denen begangen, die die größte Sorgfalt für die Erziehung ihrer Kinder zu tragen scheinen. In der Tat muß man sich wundern, wenn man die gewöhnliche Behandlung der Kleinen beobachtet, daß bei dem großen Verfall der Sitten, Die Sittenlosigkeit war damals in England besonders groß. doch noch hin und wieder Spuren von Tugend in der Welt anzutreffen sind. Man nenne mir nur ein Laster, das Kindern nicht selbst durch ihre eigenen Eltern und Ammen eingeflößt wird, nur ein Laster, wovon man den Samen nicht in ihre Seele legt, sobald sie nur fähig sind, ihn aufzunehmen? Ich rede hier nicht von den bösen Beispielen, die ihnen vor Augen schweben, sondern das, worauf ich hier aufmerksam machen will, ist, daß man ihnen unmittelbar im Laster Unterricht gibt und sie geradezu von dem Wege der Tugend entfernt. Ehe sie noch gehen können, flößt man ihnen schon Gewalttätigkeit, Rache und Grausamkeit ein.
»Schlag mich, damit ich ihn Das ist, einen anderen oder einen Gegenstand, an den sich das Kind gestoßen hat u. a. wieder schlage,« ist eine Lektion, welche die meisten Kinder täglich hören. Man macht nichts daraus, weil ihre Hände noch nicht Kraft genug haben, Schaden zu tun. Ist dies aber nicht der gerade Weg, ihr Herz zu verderben und ihnen Härte und Grausamkeit einzuflößen?
Man lehrt sie, wenn sie klein sind, stoßen, man treibt sie an, auf andere loszuschlagen, sich über das zugefügte Übel und über fremdes Leiden zu freuen: was werden sie aber alsdann tun, wenn sie stark genug sind, das Gewicht ihres Armes wirklich fühlen zu lassen und im Ernste zu schlagen?
Die Kleider sollen eigentlich nur zur Ehrbarkeit, Wärme und Bedeckung dienen; aber die Torheit der Eltern lehrt sie einen ganz anderen Gebrauch davon machen und sie als einen Gegenstand der Eitelkeit und des Neides betrachten. Man macht das Kind äußerst begierig nach einem neuen Kleide, weil es so schön ist, und wenn dann das Mädchen in dem neuen Röckchen herausgeputzt ist, so nennt man es eine Dame, eine Prinzessin. Was kann eine Mutter weniger tun, um das Kind sich selbst bewundern zu lehren. Auf diese Art aber wird es zur Eitelkeit im Anzuge unterwiesen, ehe es denselben noch selbst anlegen kann. Und warum sollte das Mädchen nicht fortfahren, auf dasjenige stolz zu sein, was sie der Geschicklichkeit ihres Schneiders oder der Putzmacherin zu verdanken hat, da die Eltern selbst es dazu angeführt haben.
Lügen, Ausreden und Entschuldigungen, die von der Lüge nicht viel unterschieden sind, werden jungen Leuten in den Mund gelegt und an Kindern und Lehrlingen wirklich gelobt, wenn sie ihren Eltern oder Vorgesetzten zum Vorteil gereichen. Wenn ein junger Mensch nun sieht, daß es nicht nur erlaubt, sondern auch rühmlich ist, aus Liebe zu seinen Vorgesetzten, von der strengen Wahrheit abzugehen, wie kann man glauben, daß er diese Freiheit sich nicht auch für sich selbst herausnehmen werde, sobald es sein Vorteil erfordert?
Nur der Mangel setzt gemeine Leute außerstand, ihre Kinder zur Unmäßigkeit und zu Ausschweifungen im Essen und Trinken anzuführen. Fügt es sich indessen, daß sie einmal ein bißchen mehr haben als gewöhnlich, so zeigen sie durch ihr eigenes Beispiel, daß es nicht vernünftiger Abscheu, sondern bloß Mangel an Geld und Gelegenheit ist, was sie von Trunkenheit und Schwelgerei zurückhält. Man besuche nur die Häuser der Reicheren, die aus dem Essen und Trinken ihr wichtigstes Geschäft und ihre Glückseligkeit machen. Solche Leute glauben, sich an ihren Kindern zu versündigen, wenn diese nicht alles mit genießen sollten. Man reizt ihre Eßlust durch alle Arten wohlschmeckender Speisen, die die Kunst nur erdacht hat. Wenn der Magen dann zu sehr angefüllt ist, so müssen sie, unter dem Vorwand eine bessere Verdauung zu befördern, noch ein Glas Wein trinken, wenngleich diese dadurch nur noch mehr gehindert wird. Ist der junge Herr etwa nicht recht aufgeräumt und befindet sich nicht wohl, so ist die erste Frage: »Was willst du essen, mein Kind, was soll ich dir geben lassen?« Vor allen Dingen also wird er zum Essen und Trinken genötigt, und jeder strengt seinen Witz an, etwas Leckerhaftes zu ersinnen, das den Mangel des Appetits ersetze, den die weise Natur gemeiniglich beim Anfang jeder Krankheit herbeiführt, um ihren Fortgang zu hindern. Sie will sich nämlich von der Beschwerde befreien, eine neue Ladung von Speisen zu verdauen, um zur Verbesserung der angehäuften übeln Säfte Zeit zu gewinnen.
Sind aber auch Kinder so glücklich, vernünftige Eltern zu haben, die sie von der Unmäßigkeit entfernen und sie an eine einfache und mäßige Lebensordnung gewöhnen, so ist es im Gegenteil doch schwer, ihre Denkungsart vor Ansteckung zu bewahren. Solange sie noch unter einer vernünftigen Aufsicht stehen, mag ihre Gesundheit vielleicht hinlänglich gesichert sein: aber wie sollen ihre Begierden gegen die Lobeserhebungen standhalten, die von allen Seiten über diesen Teil des Epikuräismus ertönen? Das Vergnügen, mit welchem ein jeder von einer guten Mahlzeit spricht, muß notwendig auf ihre Sinnlichkeit Eindruck machen und sie zu dieser Gattung der Schwelgerei und des Aufwandes verführen. Gut essen heißt bei den meisten Menschen anständig leben, sich was zugute tun; selbst diejenigen, die das Laster tadeln, führen diese Sprache. Was soll nun die schwache Vernunft der allgemeinen Stimme entgegensetzen? Kann sie sich wohl Gehör versprechen, wenn sie das, was so allgemeinen Beifall findet und von den angesehensten Personen ausgeübt wird, für Schwelgerei erklärt?
Dieses Laster hat bereits so überhandgenommen und so viel Verteidiger gefunden, daß man es beinahe schon als eine Tugend betrachtet, und denjenigen, der nur den Mund dagegen öffnet, für einen Toren schilt, der die Welt nicht kennt. Ja ich besorge fast, man möchte das, was ich hier darüber gesagt habe, für nichts weiter als eine satirische Digression halten, wenn ich nicht bloß die Absicht hätte, Eltern zur größeren Sorgfalt und Wachsamkeit in der Erziehung ihrer Kinder zu ermuntern, weil sie von allen Seiten nicht nur mit den Versuchungen ihrer eigenen Sinnlichkeit, sondern auch mit Lehrern des Lasters umgeben sind und oft an Orten, wo man sie am meisten gesichert glaubt.
Doch ich will mich hierbei nicht länger aufhalten, um alle die Mittel genau zu zergliedern, deren man sich bedient, die Kleinen zu verführen und ihnen böse Grundsätze beizubringen. Aber ich bitte die Eltern, reiflich zu überlegen, ob es wohl eine Unordnung, ein Laster gibt, wozu man Kinder nicht selbst sichtlich anführt, und ob es nicht Pflicht, nicht Klugheit ist, sie etwas andres zu lehren.
§ 38. Ich bin völlig überzeugt, daß der Grund aller Tugenden und alles wahren Verdienstes darin besteht, seine eigenen Begierden und Leidenschaften bezwingen zu können, wenn die Vernunft sie nicht billigt. Diese Kraft wird erlangt und gestärkt durch Gewohnheit und durch früh angefangene Übung erleichtert. Soll ich euch also raten, so gewöhnt eure Kinder, schon von der Wiege an, ihre Begierden zu unterdrücken und nicht alles haben zu wollen, wonach sie streben. Das erste, was sie lernen müssen, sei, daß sie nichts, es fei auch was es wolle, darum erlangen, weil sie es begehren, sondern weil man glaubt, daß es ihnen nützlich ist. Wenn man dafür sorgt, daß sie jederzeit das haben, was sie wirklich bedürfen, dagegen aber ihnen niemals gewährt, was sie durch Weinen erzwingen wollen, so werden sie dergleichen Dinge entbehren lernen; sie werden nie durch Toben und Eigensinn gebieten wollen, und weder sich selbst, noch denen, die um sie sind, halb soviel Last verursachen, als geschehen sein würde, wenn man's im Anfang in diesem Stücke versehn hätte. Gibt man ihnen nie nach, sobald sie etwas mit Ungestüm begehren, so werden sie ebensowenig um Dinge, die sie nicht erhalten sollen, weinen, als sie es um den Mond tun.
§ 39. Hiermit will ich nicht sagen, als ob man gar keine Nachsicht mit Kindern haben müßte, oder daß sie sich im Gängelbande schon so vernünftig und altklug betragen sollten wie Ratsherren. Sie müssen als Kinder gelinde behandelt werden, ihre Spiele und ihren Zeitvertreib haben. Meine Meinung ist nur diese: Wenn sie etwas verlangen, was sie nicht haben oder tun sollen, so darf man ihrem Willen eben darum, weil sie noch klein sind, und weil sie es begehren, auf keine Weise nachgeben. Wenn sie nun vollends mit Ungestüm etwas begehren, so muß man ihnen aus eben dieser Ursache um so weniger ihren Willen erfüllen. Ich habe Kinder gesehen, welche bei Tische nie etwas forderten, es mochte auch noch so viel aufgetragen werden; denn sie begnügten sich an dem, was man ihnen gab. Andere hingegen forderten von allem, was sie nur sahen. Man mußte ihnen von jeder Schüssel und zwar zuerst vorlegen. Woher konnte diese Verschiedenheit anders kommen, als daß man jene gewöhnt hatte alles zu erlangen, wonach sie gelüsteten und weinten, diese hingegen es zu entbehren. Je kleiner die Kinder sind, je weniger sollte man ihre unordentlichen Begierden befriedigen; denn je schwächer ihre eigene Vernunft noch ist, desto unumschränkter müssen sie der Leitung und Gewalt derjenigen unterworfen sein, unter deren Aufsicht sie stehen. Hieraus folgt ganz natürlich, daß nur wirklich verständige Menschen um sie sein sollten. Wenn aber nach dem gewöhnlichen Lauf der Welt auch in dieser Hinsicht gerade das Gegenteil geschieht, so kann ich nicht dafür. Ich sage nur, wie es sein sollte; und wenn das wirklich schon ausgeübt würde, so würde ich nicht nötig haben, eine Abhandlung darüber zu schreiben. Indessen werden viele, die über die Sache nachdenken wollen, mir, wie ich nicht zweifle, darin Recht geben, daß, je früher man anfängt, die Kinder auf diesen Fuß zu behandeln, desto leichter wird es in der Folge ihnen selbst und ihren Erziehern. Das muß ein unverletzlicher Grundsatz werden, daß, wenn man ihnen einmal etwas abgeschlagen hat, man fest dabei bleibe und sich durch nichts, weder durch Schreien, noch durch Trotz und Ungestüm bewegen lasse: es sei denn, daß man sie mit Vorsatz zur Ungeduld und zum Ungestüm anführen wollte, und das würde geschehen, wenn man sie noch dafür belohnte.
§ 40. Wer also sein Kind gut erziehen und bilden will, muß in Zeiten damit den Anfang machen. Jeder Vater, der wünscht (und welcher Vater wünscht dieses nicht?) daß ihm sein Sohn auch alsdann gehorchen soll, wenn er kein Kind mehr ist, der setze sein väterliches Ansehen sobald als möglich fest; sobald das Kind nur fähig ist, sich zu unterwerfen und einzusehen, von wem es abhängt. Wünscht ihr Ehrfurcht und Achtung von eurem Sohne, so präget ihm solche in der zartesten Kindheit ein: so wie ersieh aber dem männlichen Alter nähert, so schenkt ihm nach und nach immer mehr Vertrauen. Auf diese Weise wird derselbe als Kind, euch, wie es sich gebührt, Gehorsam leisten, und dann als Mann euer wärmster Freund werden. Väter irren nach meiner Meinung sehr, wenn sie mit ihren Kindern, solange sie klein sind, zu familiär umgehen; sie aber nachher, wenn sie größer werden, desto strenger behandeln und in größerer Entfernung halten. Freiheit und Nachsicht sind bei kleinen Kindern nicht angebracht, der Mangel des eigenen Nachdenkens macht Zucht und Einschränkung unentbehrlich, dahingegen ist es nicht ratsam, mit Erwachsenen streng und gebieterisch umzugehen, da ihre eigene Vernunft sie schon leiten sollte. Außerdem würdet ihr ihnen nur Widerwillen gegen euch einflößen und den geheimen Wunsch veranlassen, daß ihr bald sterben möchtet.
§ 41. Ein jeder, glaube ich, wird es vernünftig finden, daß Kinder, solange sie klein sind, ihre Eltern als ihre unumschränkte Herren betrachten und in dieser Rücksicht die tiefste Ehrfurcht gegen sie hegen; wenn sie aber zu reiferen Jahren gelangen, so müssen sie ihre Eltern als ihre besten und zuverlässigsten Freunde ansehen, und als solche sie lieben und ehren. Um diesen Zweck zu erreichen, gibt es, wo ich nicht irre, keinen anderen Weg, als den ich bisher verzeichnet habe. Wir müssen unsere Kinder, wenn sie erwachsen, mehr als unseresgleichen behandeln, die mit uns einerlei Leidenschaften und Neigungen haben. Wir wollen gern für vernünftige Geschöpfe gehalten werden, die sich selbst bestimmen, ertragen ungern Verweise, Schelte und Tadel von anderen, können es nicht wohl leiden, wenn andere, mit denen wir umgehen, ein zu ernsthaftes Wesen beobachten und sich in zu großer Entfernung halten. Wer als Jüngling und Mann sich so behandelt sieht, wird sich bald nach anderer Gesellschaft umsehen, nach anderen Freunden und nach anderem Umgange, wo er vergnügter und ungezwungener sein kann. Hat man aber die Kinder gleich anfangs gehörig eingeschränkt, so werden sie sich auch in diesem Alter leichter lenken lassen und sich williger unterwerfen, weil sie es nicht besser gewohnt sind. Kommen sie in der Folge zu dem Gebrauch ihrer Vernunft, so kann von dieser Strenge, so wie sie es verdienen, nach und nach immer nachgelassen werden. Die ernste Miene des Vaters wird nach und nach gefälliger und die Entfernung stufenweise geringer. Die Einschränkung, in der sie vormals gehalten wurden, vermehrt sodann ihre Liebe, weil sie nun erkennen, daß der Grund derselben bloß Güte und Sorgfalt war, um sie der Gunst ihrer Eltern und der Wertschätzung aller Menschen würdig zu machen.
§ 42. So viel im allgemeinen von der Autorität, die man über Kinder behaupten muß. In den ersten Jahren muß man sie sich durch Furcht und Scheu verschaffen; im reiferen Alter durch Freundschaft und Liebe zu erhalten suchen. Die Zeit kommt endlich heran, wo der Gebrauch der Rute und die kindliche Behandlung aufhören muß. Wenn nun der Sohn dann nicht aus Liebe gehorsam ist und seine Pflicht erfüllt, wenn der Wert der Tugend und des guten Namens ihn nicht zum Wohlverhalten antreibt, so frage ich, was für andere Mittel bei ihm noch anschlagen werden? Die Besorgnis, dereinst ein geringeres Erbteil zu erhalten, wenn er sich euer Mißfallen zuzieht, kann ihn wohl zum Sklaven eurer Glücksgüter machen, insgeheim aber wird er desto ausgelassener und schlimmer sich aufführen, und am Ende kann auch dieser Zwang, den der Eigennutz ihm auflegt, nicht von langem Bestand sein. Spät oder früh muß doch jeder Mensch einmal sich selbst und seiner eigenen Führung überlassen werden; nur der ist wirklich rechtschaffen, tugendhaft und ehrenwert, dessen Gemüt diese Eigenschaften besitzt. Was also durch Erziehung getan werden kann, um den Menschen gut und tugendhaft zu machen, muß beizeiten geschehen. Hierbei kommt es bloß auf Fertigkeiten an, die sozusagen in den Grundstoff seines Wesens verwebt sein müssen, nicht aber auf eine gleißende Außenseite oder eine heuchlerische Larve, die bloß aus Furcht angelegt wird, um etwa dem Zorn des Vaters auszuweichen, der ihn vielleicht enterben könnte.