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§ 90. Bei dem ganzen Erziehungswesen ist wohl kein Gegenstand, der insgemein weniger beachtet wird und in der Tat auch recht schwer zu befolgen ist, als der, von dem ich jetzt zu handeln gedenke, daß nämlich Kinder von der Zeit an, da sie sprechen lernen, eine verständige, gesetzte und wirklich einsichtsvolle Person um sich haben sollten, durch deren Sorgfalt sie gehörig gebildet, vor allem Bösen und insonderheit vor der Ansteckung schlechter Gesellschaft bewahrt würden. Dieses Amt erfordert unstreitig große Mäßigung, Nüchternheit, Geduld, Zärtlichkeit, Sorgfalt und Klugheit – Eigenschaften, welche man selten bei Leuten, die sich gegen gewöhnliche Bezahlung verdingen, beisammen antreffen wird und überhaupt wohl nicht leicht zu finden sind. Was indes den Aufwand betrifft, so glaube ich, daß man sein Geld zum besten der Kinder wohl nicht vorteilhafter anlegen könne. Wenn dieser Aufwand nun auch etwas größer sein sollte als gewöhnlich, so ist das, was man dafür erhält, doch wohl niemals zu teuer bezahlt. Wer dafür sorgt, daß sein Kind ein gutes Gemüt, edle Grundsätze, Liebe zur Tugend und Gemeinnützigkeit, anständige Sitten und Höflichkeit besitzt, der sorgt wahrlich reeller für seine Glückseligkeit, als wenn er für das Geld sein künftiges Erbteil mit einigen Hufen Landes vermehrte. Im Putz, in Kleidern, im Spiel und anderen unnützen Aufwand seid so sparsam, als ihr wollt, nur nicht in dieser wichtigen, unentbehrlichen Sache. Wahrlich, es ist keine kluge Sparsamkeit, den Geldkasten eures Sohnes zu füllen und seinen Geist leer zu lassen. Zu meiner großen Verwunderung habe ich freilich oft Leute gesehen, welche viel Geld verschwendeten, um ihre Kinder kostbar zu kleiden, ihnen prächtige Zimmer und Speisen zu geben und überflüssige Bediente zu halten, zu gleicher Zeit aber Kopf und Herz derselben darben ließen und sich nicht darum bekümmerten, die häßlichsten Blößen, nämlich die natürlichen bösen Neigungen und die Unwissenheit, zu bedecken. Ein solcher Aufwand ist mehr als ein Opfer zu betrachten, das die Eltern ihrer eigenen Eitelkeit und ihrem Stolze darbringen, nicht aber dem wahren Besten der Kinder. Alles, was ihr zur Bildung und zur Vervollkommnung eures Sohnes anwendet, wird eure wahre Zärtlichkeit gegen ihn an den Tag legen, wenn es auch sein Vermögen vermindern sollte. Man sei nur weise und gut, und es wird selten fehlen, daß man nicht auch für groß und glücklich gehalten werde oder es wirklich sein sollte. Ein dummer und lasterhafter Mensch aber kann nie groß und glücklich sein, er mag auch noch so viel Vermögen besitzen. Und ich frage euch, gibt es nicht manchen Mann unter eurer Bekanntschaft, den ihr euch lieber zum Sohne wünschen möchtet, obgleich er jährlich nicht mehr als 500 Pfund hat, als viele andere, die jährlich 5000 Pfund zu verzehren haben?
§ 91. Die Größe des Aufwandes kann also diejenigen nicht abschrecken, die sonst nur das Vermögen dazu besitzen. Die große Schwierigkeit ist bloß, einen so tüchtigen Mann zu finden; denn sehr junge Leute von geringen Verdiensten und Tugenden schicken sich zu diesem Geschäft nicht; diejenigen aber, welche die erforderlichen Eigenschaften dazu besitzen, sind selten geneigt, eine solche Stelle anzunehmen. Man muß sich also beizeiten danach umtun und allenthalben Erkundigungen einziehen; denn die Welt hat Menschen von allen Gattungen, wenn man sie nur aufzusuchen weiß. Ich erinnere mich, daß Montaigne in seinen Versuchen erzählt, der gelehrte Castalio sei zu Basel genötigt gewesen, Holzteller zu schnitzen, um nicht Hungers zu sterben, Locke muß dies in einem anderen Buche gelesen haben; wenigstens erwähnt Montaigne der Holzteller nicht, die Castalio zu Basel hätte machen müssen. Er sagt bloß, es wären zu seiner Zeit zwei Männer von vorzüglicher Gelehrsamkeit gestorben, weil sie nicht satt zu essen gehabt hätten, nämlich Livins Gregorius Geraldus in Italien und Sebastian Castalio (der die vortreffliche lateinische Übersetzung der Bibel gemacht hat) in Deutschland, und ich glaube, setzt Montaigne hinzu, daß es wohl tausend Menschen gegeben habe, die diese beiden Männer unter sehr vorteilhaften Bedingungen gern zu sich berufen und unterstützt hätten, wenn sie von ihrem Zustand und Aufenthalt benachrichtigt worden wären. Siehe Montaignes »Versuche«, 1. Buch, 34. Kapitel. Coste. während sein Vater gern einen solchen Hofmeister für seinen Sohn gehabt und Castalio gewiß diese Stelle unter sehr mäßigen Bedingungen mit Vergnügen angenommen hätte, wenn es ihm nur bekannt gewesen wäre.
§ 92. Übrigens darf man sich gar nicht wundern, daß ein solcher Erzieher, wie wir ihn verlangen, schwer zu finden ist. Ich sage nur, daß man, um ihn zu bekommen, keine Mühe und Kosten sparen müsse; durch Geld und Mühe aber kann man in der Welt alles erhalten. Auch getraue ich mir zu behaupten, daß, wenn ihr euren Zweck erreicht, der Aufwand euch nie gereuen werde, vielmehr wird es euch stets Vergnügen machen, zu denken, daß dieses Geld am besten angewandt ist. Vor allen Dingen aber lasse man sich in der Wahl eines solchen Mannes nicht von Freundschaft, Mitleid oder bloßen Empfehlungen leiten. Ja, wenn ich's sagen darf, so halte ich es noch nicht für genug, wenn er bloß das Zeugnis hat, er sei ein gesetzter Mensch und besitze die gewöhnlichen Kenntnisse, die von einem Erzieher verlangt werden. Kurz, ihr müßt in dieser Wahl ebenso behutsam und sorgfältig zu Werke gehen, als wenn ihr dem Sohne eine Gattin aussuchen wolltet; denn man darf es dabei nicht etwa auf einen Versuch ankommen lassen, um nachher eine andere Wahl treffen zu können; das würde euch selbst, noch mehr aber eurem Sohne großen Nachteil stiften. Wenn ich indessen selbst alle die Bedenklichkeiten und Vorsichtigkeitsregeln betrachte, welche ich Eltern in diesem Stücke zur Pflicht mache, so hat es fast das Ansehen, als wäre es mir bloß darum zu tun, einen Rat zu geben, ohne ihn selbst für ausführbar zu halten. Wenn man aber bedenkt, wie sehr das Amt eines Erziehers von dem gewöhnlichen Schlendrian verschieden ist, und wie unrichtig oft selbst diejenigen davon urteilen, die sich ihm widmen, wird man zugestehen, daß ein Mann, der zur Erziehung und Bildung eines jungen Menschen von Stande die erforderlichen Fähigkeiten besitzt, nicht so leicht zu finden sei, und daß in der Wahl desselben mehr als gewöhnliche Sorgfalt angewendet werden müsse, wenn man seinen Zweck nicht ganz verfehlen will.
§ 93. Die Eigenschaften, welche, wie ich schon vorhin bemerkte, ein jeder von einem Erzieher erwartet, sind, daß er gesetzt und gelehrt sein soll. Man hält dies insgemein schon für genug und Eltern sehen fast ganz allein darauf. Wenn nun auch ein solcher Mann allen Kram von Latein und Logik den er von der Universität gebracht hat, dem Zögling eintrichtert, ist denn nun das alles, was zu einem seinen und artigen Weltmann gehört? Oder kann man erwarten, daß er größere Gewandtheit, in der Welt sich fortzuhelfen, habe, daß er feinere Manieren, bessere und solidere Grundsätze der Tugend und des Edelmuts annehmen solle als sein junger Erzieher? – Um einen jungen Menschen von gutem Hause zu bilden, muß der Führer selbst wohlerzogen sein, gute Lebensart verstehen, sich mit allen Personen und in allen Verhältnissen und Umständen klug und höflich zu benehmen wissen, und seinen Zögling nach Maßgabe des Alters beständig zu einem ähnlichen Verhalten anführen. Diese Kunst aber wird weder aus Büchern erlernt noch gelehrt; man erlangt sie bloß in guter Gesellschaft und durch aufmerksame Beobachtung. Der Schnitt des Kleides mag noch so modisch, die Bewegungen und Stellungen des Körpers mögen noch so zierlich sein: beides macht noch nicht den feinen und artigen Mann aus. Man sei obendrein auch grundgelehrt, und man wird eben dadurch, daß man seine Kenntnisse nicht gehörig anzubringen weiß, desto unleidlicher und lästiger im Umgänge sein. Die feine Lebensart verbreitet über alle unsere anderweitigen Vorzüge einen gewissen Glanz und macht uns dieselben erst recht nützlich, indem sie uns die Achtung und das Wohlwollen aller derer verschafft, denen wir uns nähern. Ohne gute Lebensart aber werden alle übrigen Vollkommenheiten uns nur als Stolz, Einbildung, Eitelkeit oder Torheit ausgelegt.
Mut hat bei einem ungesitteten Manne das Ansehen von Brutalität, wenigstens erweckt er fast immer den Verdacht davon. Gelehrsamkeit wird zu Pedanterie, Witz zu Possenreißern, Einfachheit zu bäuerischem Wesen, Gutmütigkeit zu Schmeichelei. Ja, es gibt fast keine gute Eigenschaft, welche durch den Mangel an Lebensart nicht in ein nachteiliges Licht gestellt oder verunstaltet werden sollte. Sogar Tugend und Talente sind, obgleich man ihnen das verdiente Lob nicht versagen kann, noch nicht hinreichend, einem Manne eine gute Aufnahme zu verschaffen und ihn allenthalben willkommen zu machen. Wer sich mit Edelsteinen schmücken will, trägt sie nicht roh, sondern läßt sie erst schleifen und einfassen, damit sie sich recht ausnehmen. Gute Eigenschaften sind die wahren Kleinode des Geistes, aber sie müssen sozusagen in gute Lebensart gefaßt werden, und wer sich beliebt machen will, muß nicht nur mit Festigkeit und Kraft, sondern auch mit Grazie handeln. Solidität und Nützlichkeit sogar sind an und für sich noch nicht hinreichend; die gefällige Manier, mit der man sich bei jeder Sache benimmt, ist das, was uns Beifall und wahren Anstand verschafft. In den meisten Fällen ist die Art und Weise, mit der man etwas verrichtet, von größerer Bedeutung als die Sache selbst, und bloß davon hängt die Zufriedenheit oder das Mißfallen ab, womit sie aufgenommen wird. Es kommt also nicht darauf an, etwa den Hut geschickt abnehmen oder Komplimente schneiden zu können, sondern auf das Schickliche und Ungezwungene im Ausdrucke, in den Mienen, Bewegungen, Stellungen usw., so wie es die Personen und Umstände erfordern. Das alles lernt sich bloß durch Übung und Erfahrung und reicht freilich über die Fähigkeit der Kinder hinaus, welche man mit solchen Dingen nicht quälen darf. Indessen sollte ein junger Mensch schon unter dem Erzieher hierin den Anfang machen und es schon einigermaßen weit gebracht haben, ehe er unter seiner eigenen Führung in die große Welt tritt: alsdann ist es meistenteils schon zu spät, gewisse Unziemlichkeiten in manchen kleinen Dingen, wenn sie einmal in Fertigkeit übergegangen sind, ihm abzugewöhnen. Eher aber sind seine Manieren noch nicht vollkommen, ehe sie ihm nicht in allen Stücken so natürlich geworden wie dem geübten Tonkünstler die Setzung der Finger, welche, ohne daß er selbst daran denkt, in der schicklichsten und bequemsten Lage auf die zu spielenden Töne fallen. Wenn ein Mensch genötigt ist, in einem gewissen Stücke des gesellschaftlichen Betragens genau über sich selbst zu wachen, so wird er, anstatt den Fehler zu verbessern, eben dadurch nur ein gezwungenes und steifes Ansehen erhalten.
Dieser Teil der Bildung sollte überdies auch darum schon vom Erzieher bearbeitet werden, weil die Fehler gegen die gute Lebensart zwar die ersten sind, welche anderen in die Augen fallen, aber die letzten, die man jemand selbst sagt; nicht als ob die Welt nicht boshaft genug wäre, darüber zu schwatzen: aber man läßt es nur denjenigen nicht hören, der sich dergleichen Urteile am besten zunutze machen und durch den Tadel sich bessern könnte. Es ist dies überhaupt eine so delikate Materie, daß sogar unsere Freunde, wenn sie dies und jenes auch gern an uns verbessern möchten, es doch nicht leicht wagen, uns etwas davon zu sagen, oder denen, die sie lieben, zu erkennen geben, daß sie in diesem oder jenem Stück gegen die gute Lebensart gefehlt haben. Irrtümer anderer Art kann man einander oft mit Höflichkeit entdecken, und es lassen sich manche Fehler an anderen verbessern, ohne die Freundschaft oder die gute Lebensart zu verletzen. Die gute Lebensart selbst muß es nur nicht betreffen, weil man es nicht für schicklich hält, anderen zu sagen, daß sie dagegen gefehlt haben. Dergleichen Erinnerungen können nur diejenigen uns erteilen, die Autorität über uns haben; aber auch von diesen sind sie einem erwachsenen Manne sehr bitter und empfindlich. Sie mögen übrigens auch noch so sehr gemildert werden, so bleiben sie für einen jeden eine bittere Arzenei, wenn er sich nur ein wenig in der Welt umgesehen hat. Es ist also eine notwendige Sache, worauf ein Erzieher vorzüglich zu sehen hat, die Sitten und Manieren des Zöglings, ehe er ihn aus den Händen läßt, dergestalt zu bilden und abzuschleifen, damit er in der Folge seines Rats in diesem Stücke entbehren könne, wenn er weder Zeit noch Lust mehr hat, ihn anzunehmen, noch einen Freund, von dem er ihn erwarten dürfte. Der Erzieher muß also vor allen Dingen seine Lebensart besitzen: denn ein junger Mensch, dem von seinem Erzieher nur diese Eigenschaft mitgeteilt worden, hat schon sehr viel voraus. Diese einzige Vollkommenheit wird ihm mehr Wege eröffnen, mehr Freunde erwerben und ihn in der Welt weiter bringen, als aller gelehrter Schwall, wirkliche Einsichten in die Wissenschaften und enzyklopädischen Kenntnisse seines Erziehers. Nicht als ob ich diese vernachlässigt wissen wollte, nur müssen sie jener nicht vorgezogen werden und noch weniger sie ganz ausschließen.
§ 94. Außer der guten Lebensart muß der Erzieher auch die Welt genau kennen, den herrschenden Geschmack, die Launen, Torheiten, Betrügereien und Fehler des Zeitalters und des Landes insonderheit, in welchem er lebt. Damit muß er seinen Zögling nach und nach bekannt machen, so wie es sein Alter gestattet; er muß ihm das Erkünstelte in den Menschen und ihren Sitten enthüllen, ihnen die Maske abnehmen, unter welcher sie ihre verschiedenen Absichten und Ansprüche versteckten; er muß ihm zeigen, was unter solchem Schein verborgen liegt, damit er nicht gleich anderen unerfahrenen jungen Leuten, wenn sie nicht gewarnt werden, ein Ding für ein anderes nehme, bloß nach der Außenseite urteile und, indem er sich durch glatte Worte und einschmeichelndes Betragen hinreißen läßt, selbst Blößen gebe. Der Erzieher muß den Zögling von den Absichten der Menschen, mit denen er zu tun hat, urteilen lehren, ohne ihn weder zu argwöhnisch noch zu leichtgläubig zu machen, sondern so, wie die Natur des jungen Menschen sich entweder auf die eine oder andere Seite zu sehr hinneigt, ihn zurechtweisen. Er muß ihn so viel als möglich anführen, die Menschen aus solchen Merkmalen zu beurteilen, die sie am besten charakterisieren und ihr Inneres offenbaren; und dieses sind oft kleinfügige Dinge, besonders wenn sie nicht auf ihrer Hut sind, oder sich eben zeigen wollen. Er muß ihm ein treues Gemälde von der Welt vorlegen und ihm Anleitung geben, sich den Menschen weder besser noch schlimmer, weder weiser noch törichter vorzustellen, als er wirklich ist. Auf diese Weise wird er unvermerkt und ohne gefährliche Ausschweifungen aus dem Knabenalter in das männliche übertreten, welches ich überhaupt für die mißlichste Periode des ganzen Lebens halte. Während derselben muß man also einen jungen Menschen mit der größten Sorgfalt und Wachsamkeit behandeln, nicht aber, wie es leider gewöhnlich ist, gerade zu der Zeit ihn von seinem Führer entfernen und ihn unter seiner eigenen Leitung, sozusagen mit einemmal, in die Welt schleudern, da er dann nicht selten seinem Verderben geradezu entgegeneilt. Denn nichts ist häufiger, als daß jung«; Leute, sobald sie sich der Fesseln einer strengen und eingeschränkten Erziehung entledigt fühlen, in die größten Ausschweifungen und Unordnungen verfallen, welches hauptsächlich ihrer schlechten und in diesem Stück besonders ganz vernachlässigten Erziehung zuzuschreiben ist. Denn da ihnen die wirkliche Beschaffenheit der Welt ganz unbekannt geblieben, so finden sie dieselbe, wenn sie hineinkommen, ganz anders, als sie nach dem empfangenen Unterricht sein sollte und sie sich nach diesem Maßstabe selbst vorgestellt hatten. Es fehlt alsdann nicht an Führern ganz anderer Art, von denen sie sich ohne Mühe überreden lassen, daß die Zucht, in der sie gehalten worden, und die Lehren, welche man ihnen eingeschärft hatte, nichts als kindische Einschränkung und leerer Wortkram gewesen sei, und daß die Freiheit, die ihnen nun als Männern zuteil geworden, darin bestehe, sich durch den vollen Genuß alles dessen hervorzutun, was ihnen zuvor verboten war. Sie zeigen sodann dem jungen Neuling die schimmernden und verführerischen Beispiele, wovon es allenthalben wimmelt, und dieser läßt sich leicht dadurch blenden. Es wird ihm bald die Lust ankommen, sich gleich anderen jungen Herren von seinem Alter als ein Mann zu zeigen, das heißt, sich allen Ausschweifungen zu überlassen, die er an den Liederlichsten wahrnimmt. Er sucht alsdann seinen Ruhm und sein männliches Ansehen darin, alle Sittsamkeit und Mäßigkeit, Zu der er bis dahin angehalten worden, mit einmal zu ersticken und hält es für brav, gleich bei seiner ersten Ausflucht alle Grundsätze der Tugend, die ihm sein Erzieher eingepredigt hatte, niederzutreten.
Eins der besten Mittel, diesem Übel vorzubeugen, ist, dünkt mich, daß man dem jungen Menschen die Welt so zeigt, wie sie wirklich ist, ehe er noch hineinkommt. Er muß nach und nach mit den Modelastern bekannt gemacht und vor den Fallstricken und den Absichten derer gewarnt werden, die es darauf anlegen, ihn zu verführen. Er muß von ihren Kunstgriffen unterrichtet sein und von den Schlingen, die sie ihm legen, und dann muß man ihm die tragischen und lächerlichen Beispiele derer vor Augen stellen, die auf diesen Wegen sich unglücklich machten oder noch ihrem Verderben entgegenrennen. Das jedesmalige Zeitalter wird es an Beispielen dieser Gattung nicht fehlen lassen, welche man ihm als Warnungszeichen darstellen muß, um daran zu lernen, wie mancher hoffnungsvolle Jüngling sich in Unglück, Krankheiten, Armut und Schande stürzt und nachher selbst von denen, die unter dem Scheine der Freundschaft und der Hochachtung ihn ins Verderben locken und plündern halfen, in seinem Elende verlassen und verachtet wird, um zu lernen, ehe er durch eigene schreckliche Erfahrung davon überzeugt wird, daß diejenigen, welche ihn überreden, dem weisen Rat seiner Lehrer und der Vorschrift seiner eigenen Vernunft (denn das heißt in ihrer Sprache, sich von anderen befehlen lassen) nicht zu folgen, keine andere Absicht haben, als sich selbst die Herrschaft über ihn anzumaßen und ihm einzureden, er handle als ein Mann nach seinen eigenen Einsichten und nach seinem eigenen Gutbefinden, da er doch wahrlich sich von ihnen wie ein unmündiges Kind zu allen Lastern leiten läßt, die ihre eigennützigen Absichten befördern. Diese Kenntnisse muß ein Erzieher seinem Zöglinge bei allen Gelegenheiten einprägen und alle Mittel anwenden, sie ihm recht begreiflich und anschaulich zu machen.
Ich weiß, man hat es oft gesagt, einem jungen Menschen die im Schwange gehenden Laster aufdecken, hieße sie ihn lehren. So, wie dies gewöhnlich geschieht, mag man wohl nicht ganz unrecht haben; denn es wird dazu ein Mann von Verstand und Talenten erfordert, der nicht nur die Welt, sondern auch das Temperament, die Neigungen und die schwache Seite seines Zöglings kennt. Auch ist zu bedenken, daß es unter den jetzigen Zeitumständen nicht mehr tunlich ist, einen Jüngling vom Laster durch gänzliche Unkenntnis desselben abzuhalten, es sei denn, daß man ihn sein ganzes Leben hindurch in ein Kloster sperren und gar nicht in Gesellschaft gehen lassen wollte. Je länger er mit verbundenen Augen einhergeht, desto schwerer wird er bei hellem Tageslicht sehen lernen und um so öfter von sich selbst und von anderen hintergangen werden. Wenn ein solcher alter Knabe zum erstenmal auftritt, so wird er bald die Blicke aller losen Vögel auf sich ziehen und von ihnen ausgezischt, verfolgt und gerupft werden.
Die sicherste Schutzwehr gegen die Welt ist eine genaue Kenntnis derselben; in diese muß ein junger Mensch nach und nach, so wie es seine Fähigkeiten erlauben, eingeweiht werden, und zwar je früher, je besser, wenn er sich nur unter verständiger Leitung befindet. Der Schauplatz muß sich ihm allmählich eröffnen, der Eintritt Schritt für Schritt geschehen und die Gefahren, die er von den verschiedenen Klassen, Charakteren, Absichten und Gesellschaften der Menschen zu besorgen hat, müssen ihm genau bekannt gemacht werden. Er muß gefaßt sein, Anfechtungen und Schmeicheleien auszuhalten; er muß die Leute kennen, die geneigt sind, entweder sich ihm entgegenzustellen, ihn zu verführen, heimlich zu hintergehen oder ihm zu dienen. Man gebe ihm Anleitung, diese verschiedenen Gesinnungen der Menschen zu erforschen und zu unterscheiden, wenn es ratsam oder nicht ratsam ist, sie merken zu lassen, daß er ihre Absichten und Unternehmungen weiß. Und sollte der Jüngling etwa sich auf seine Stärke oder Klugheit zu viel einbilden, so muß man ihn zuweilen selbst in dieser oder jener Verlegenheit stecken lassen, wenn nur sonst für seine Unschuld, Gesundheit und Ehre kein Nachteil daraus entstehen kann, um ihn fürs künftige behutsamer und gegen sich selbst mißtrauischer zu machen.
Menschenkenntnis ist unstreitig ein sehr wichtiger Teil der echten Weisheit und folglich auch keineswegs die Frucht eines flüchtigen Nachdenkens oder des bloßen Bücherlesens, sondern das Resultat der Erfahrung und Beobachtung eines Mannes, der mit offenen Augen in der Welt gelebt hat und mit Menschen von allen Gattungen umgegangen ist. Es ist demnach auch ungemein wichtig, diese Kenntnis dem jungen Menschen bei allen sich darbietenden Veranlassungen beizubringen, damit er dereinst nicht gleich einem Schiffer ohne Senkblei, Kompaß und Seekarte auf dem Meere des Lebens herumgetrieben werde, sondern im voraus die Klippen und Felsen, die Ströme und Untiefen einigermaßen kennen lerne, um selbst das Steuerruder zu führen und nicht aus Mangel an Erfahrung zu scheitern. Ein Vater, der bei der Wahl eines Erziehers auf diese Kenntnisse nicht mehr Gewicht legt als auf Sprachen und Gelehrsamkeit, bedenkt nicht, daß es weit mehr wert ist, die Menschen recht beurteilen und klug mit ihnen umgehen zu können, als Griechisch und Lateinisch zu sprechen, alle syllogistische Formen und Figuren der Logik innezuhaben; mit den abstraktesten philosophischen und metaphysischen Spekulationen genau bekannt zu sein und selbst in den besten Schriften der Griechen und Römer eine starke Belesenheit zu besitzen; wiewohl die letztere einem jungen Menschen weit nützlicher ist als das Studium der Peripatetischen oder Cartestanischen Philosophie, Die Philosophie des Aristoteles und des Cartesius oder Descartes. weil jene alten Schriftsteller den Menschen genau kannten und schilderten und über dieses Erkenntnisfach ein helles Licht verbreiteten. Wer indes die östlichen Gegenden von Asien Indien. besucht, wird daselbst viele geschickte und gewandte Leute antreffen, die von dem allen nichts wissen. Ohne Tugend, Weltkenntnis und Höflichkeit aber kann man nirgends als ein vollkommener und schätzbarer Mann gelten.
Ein großer Teil der Gelehrsamkeit, die heutzutage in den europäischen Schulen getrieben und in den gewöhnlichen Erziehungsplan gezogen wird, ist von der Beschaffenheit, daß ein Mensch von gutem Hause ohne großen Übelstand oder Nachteil für seine Geschäfte sie wohl entbehren kann. Klugheit und gute Lebensart aber sind in allen Lagen und Vorfällen des menschlichen Lebens unentbehrlich. Die meisten jungen Leute müssen diesen Mangel teuer genug büßen, und es fehlt ihnen insgemein, wenn sie in die Welt kommen, an der gehörigen Gewandtheit und Anstelligkeit, weil eben diese Eigenschaften gewöhnlich ganz verabsäumt, geringgeachtet und nicht zu den Pflichten des Erziehers gerechnet werden, obwohl sie in der Tat der Anweisung, Bildung und des Beistandes des Erziehers am meisten bedürfen. Von Latein und Gelehrsamkeit wird das größte Wesen gemacht und überhaupt der größte Wert auf solche Dinge gelegt, die mit dem Beruf eines künftigen Geschäftsmannes in geringer oder gar keiner Gemeinschaft stehen; denn dieser geht vielmehr dahin, daß er das ihm angewiesene Geschäft genau kenne, sich seinem Stande gemäß zu betragen wisse und dem Vaterlande nach seinen Kräften und Umständen auszeichnend nützlich werde. Hat er sodann einige müßige Nebenstunden und treibt seine Neigung ihn, irgendein Fach, wovon der Erzieher ihm einige Vorkenntnisse beigebracht hat, weiter auszubilden, so werden die ersten Anfangsgründe, die er gelernt, schon hinreichend sein, ihm den Weg zu eröffnen, auf welchem sein eigener Fleiß weiter fortgehen kann, so wie seine Lust und seine Talente es erlauben. Glaubt er aber sich Zeit und Mühe zu ersparen, wenn er sich dabei der Hilfe eines geschickten Meisters bedient, so wird er leicht selbst einen solchen Mann ausfindig machen können. Um indes einen jungen Menschen in diejenigen Wissenschaften einzuweihen, welche allgemein zu dem Jugendunterricht gerechnet werden, so bedarf es dazu nur einer gewöhnlichen Kenntnis von seiten des Erziehers. Es ist auch gar nicht nötig, daß derselbe ein vollkommener Gelehrter sei und alle die Wissenschaften, wovon der junge Mensch einen Vorgeschmack und eine allgemeine Übersicht oder ein kurzes System bekommen soll, in ihrem ganzen Umfange innehabe. Will alsdann der Jüngling tiefer eindringen, so muß es durch eigenen Fleiß und Fähigkeit geschehen; denn nie hat jemand in Kenntnissen es weit gebracht oder in einer Wissenschaft sich hervorgetan, der es bloß auf den Zwang der Lehrstunden und des Lehrmeisters ankommen ließ.
Das große Geschäft des Erziehers besteht also darin, die Manieren und den Geist seines Zöglings zu bilden, ihm Fertigkeiten im Guten und die Grundsätze der Weisheit und Tugend einzuprägen, nach und nach ihn die Menschen kennen zu lehren, ihm Liebe und Nachahmungstrieb dessen, was vortrefflich und lobenswürdig ist, einzuflößen und seine Seele in Verfolgung dieser wichtigen Gegenstände mit Eifer und Tätigkeit zu beleben. Die Studien, zu welchen er ihn anhält, sollen hauptsächlich nur dazu dienen, seine Fähigkeiten in Übung zu setzen, ihn vor Trägheit und Untätigkeit zu bewahren, ihn zu einem nützlichen Gebrauch der Zeit, zum Fleiß und zur Überwindung der Schwierigkeiten zu gewöhnen und endlich ihm Geschmack an dem beizubringen, was er sodann durch eigene Tätigkeit weiter vervollkommnen muß. Denn wer wird verlangen, daß ein junger Mensch bloß unter Anleitung des Erziehers ein vollkommener Philologe, Redner oder Logiker werden, Metaphysik, Philosophie und Mathematik aus dem Grunde studieren oder Geschichte und Chronologie im ganzen Umfange erlernen soll? Freilich muß er von dem allen einige Kenntnisse erhalten: diese aber müssen ihm sozusagen nur die Türe öffnen, damit er sich darin umsehen und eine vorläufige Bekanntschaft machen, nicht aber sich häuslich niederlassen möge. Ja, ein Erzieher würde in der Tat zu tadeln sein, der seinen Zögling zu lange damit aufhielte und in die meisten Wissenschaften sehr tief hineinführte. Aber von guter Lebensart, Weltkenntnis, Tugend, Betriebsamkeit und Liebe zur Rechtschaffenheit kann er ihm nie zu viel mitteilen, und wenn der Jüngling diese Eigenschaften besitzt, so wird er auch die übrigen Vorzüge, die er bedarf oder begehrt, bald erlangen. Da man auch nicht hoffen darf, daß er Zeit und Kraft haben sollte, alles zu lernen, so muß man auf das, was ihm das Unentbehrlichste ist, die meiste Mühe verwenden und hauptsächlich auf das bedacht sein, was er in der Welt am nötigsten und öftesten braucht.
Seneca klagt, daß schon zu seiner Zeit das Gegenteil hiervon geschah; und doch wimmelte es damals noch nicht von Burgersdiciussen und Scheiblern Zwei Schriftsteller, welche Systeme von Logik und Metaphysik geschrieben und besonders zu Lockes Zeiten in den englischen Schulen häufig gebraucht wurden. Burgersdicius war Professor in Leyden, Scheibler in Gießen. wie jetzt. Was würde er gesagt haben, wenn er jetzt lebte und sehen sollte, wie sehr sich's die Erzieher angelegen sein lassen, die Köpfe ihrer Zöglinge mit solchem scholastischen Wust anzufüllen? Wahrlich, er würde noch weit mehr Ursache finden auszurufen: Non vitæ, sed scholæ discimus! Nicht fürs Leben, sondern für die Schule lernen wir. Wir lernen nicht die Kunst zu leben, sondern zu disputieren, und unsere Erziehung bildet uns mehr für die Universität als für die Welt. Allein es ist kein Wunder, daß diejenigen, welche hierin den Ton angeben, ihn eben nicht nach dem Bedürfnis der Zöglinge, sondern nach ihren eigenen Fähigkeiten und Talenten anstimmen. Wenn nun die Mode aber einmal eingeführt ist, wen kann es befremden, daß sie wie in allen anderen Dingen so auch hierin ein unverletzliches Ansehen behauptet, und daß der größte Teil von denen, die ihre Rechnung dabei finden, es sogleich für Ketzerei erklären, wenn jemand sich davon entfernt. Trotzdem muß man in der Tat erstaunen, daß Männer von großem Ansehen und Talenten sich durch das Herkommen dergestalt beherrschen und in ihren Einsichten beschränken lassen. Wenn sie die Vernunft zu Rate ziehen wollten, so würden sie Sorge tragen, daß ihre Kinder die Zeit nur auf solche Dinge verwendeten, die ihnen einst als Männern nützen können, anstatt ihre Köpfe mit tausend unnützen Sachen anzufüllen, an die sie zum Teil, wenn sie erwachsen, nie wieder denken, noch daran zu denken Ursache haben; dann aber ist solcher überflüssiger Wust ihnen mehr schädlich als vorteilhaft. Es ist dies eine so unleugbare Sache, daß ich mich sogar auf diejenigen Eltern berufen darf, die selbst mit vielen Kosten ihren künftigen Erben einen solchen Unterricht erteilen lassen; sie mögen selbst sagen, ob sich ihre Söhne nicht lächerlich und sehr mißfällig machen würden, wenn sie in der großen Welt und in seinen Gesellschaften diese Schulgelehrsamkeit auskramen wollten? Wie kann man aber solche Dinge des Bestrebens wert achten oder zu einem wesentlichen Stück des Jugendunterrichts machen, deren wir als Männer, wenn es darauf ankommt, unsere Talente und die Früchte der genossenen Erziehung zu zeigen, uns schämen müssen?
Noch ein anderer Grund, warum man bei der Wahl eines Erziehers hauptsächlich auf Feinheit der Sitten und Weltkenntnis sehen sollte, ist dieser: weil ein Mann von Talenten und reifen Jahren leicht einen jungen Menschen in irgendeiner Wissenschaft weit genug bringen kann, ohne selbst eine tiefe Einsicht in dieselbe zu besitzen. Bücher werden ihn schon instandsetzen, den jungen Anfänger zu unterrichten und ihm gehörig voranzuschreiten. Niemals aber wird der einem anderen wahre Weltkenntnis und noch weniger gute Lebensart beibringen, der hierin selbst ein Stümper ist. Diese Kenntnis muß er sich ganz zu eigen gemacht, durch Umgang und Erfahrung erworben und durch fleißige Beobachtung, wie es in den besten Gesellschaften zugeht, gebildet haben. Wenn der Erzieher dies alles nicht selbst besitzt, nicht in seiner eigenen Person vereinigt, so weiß ich in der Tat nicht, wo es der Zögling sonst hernehmen soll; denn sollte der letztere auch die zweckmäßigsten und vollständigsten Abhandlungen über alles das, was zu dem schönen Anstände und einem artigen Betragen gehört, in Büchern finden, so würde doch das schlechte Muster des Erziehers, falls derselbe nicht artig erzogen wäre, jenen Unterricht unwirksam machen; denn es ist nicht möglich, in unmanierlicher Gesellschaft manierlich zu werden.
Freilich ist solch ein Erzieher nicht alle Tage, noch unter gewöhnlichen Bedingungen zu bekommen. Ich habe mich nur darum hierbei solange aufgehalten, um diejenigen, welche es tun können, zu ermuntern, in dieser überaus wichtigen Sache weder Kosten noch Erkundigungen zu sparen; diejenigen Eltern aber, welche nach ihren Vermögensumständen kein starkes Gehalt geben können, zu erinnern, worauf sie bei der Wahl eines Hauslehrers ihr vorzügliches Augenmerk richten müssen, und worauf sie selbst bei ihren Kindern, solange sie sich unter ihren Augen befinden und von ihnen beobachtet werden können, hauptsächlich zu sehen haben. Denn wahrhaftig, es kommt nicht bloß auf Latein und Französisch an oder auf ein trockenes System der Logik und Philosophie.