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§ 212. Den Schluß der ganzen Erziehung macht insgemein das Reisen, welches sozusagen als das Ende betrachtet wird, womit man die Bildung eines jungen Kavaliers zu krönen pflegt. Ich gestehe, das Reisen in fremde Länder hat große Vorteile, allein die Zeit, welche man gewöhnlich dazu bestimmt, ist meines Erachtens diejenige, wo junge Leute am wenigsten geschickt sind, rechten Nutzen davon zu ziehen. Es lassen sich eigentlich nur zweierlei Absichten denken, welche man dabei vor Augen haben kann: erstens die Sprache und zweitens Erfahrung und Weltklugheit durch Umgang mit Menschen, die sowohl untereinander selbst, als insonderheit von unseren nächsten Nachbarn und Mitbürgern sich durch ihren Charakter, Gewohnheiten und Lebensweise merklich unterscheiden. Allein die Zeit vom sechzehnten bis zum zwanzigsten Jahre, welche gemeiniglich zum Reisen angewandt wird, ist gerade die Periode des menschlichen Lebens, wo wir am wenigsten geschickt sind, solche Kenntnisse zu sammeln. Die bequemste Zeit, um Sprachen zu lernen und die Organe zum richtigen Akzent zu bilden, erstreckt sich, wie mich dünkt, vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahre. Dann aber müßte der junge Mensch auch notwendig einen Führer haben, der mit diesen Sprachen ihm zugleich andere Dinge lehrte. Läßt man hingegen junge Leute dann erst unter Aufsicht eines Erziehers sich weit in die Fremde aus den Augen der Eltern begeben, wenn sie sich bereits zu sehr fühlen, um sich von anderen leiten zu lassen, aber doch bei weitem nicht Klugheit und Erfahrung genug besitzen, um sich selbst zu regieren, was heißt dies anders, als sie zu der Zeit den größten Gefahren des Lebens preisgeben, da sie am wenigsten dagegen gerüstet sind? Bis diese brausenden und ungestümen Jahre eintreten, kann ein Erzieher allenfalls noch seine Autorität über den Zögling behaupten; bis Zum fünfzehnten oder sechzehnten Jahre steht nicht leicht zu besorgen, daß etwa die Unbiegsamkeit des Alters oder die Versuchung und das Beispiel von anderen ihn zur Widerspenstigkeit gegen denselben vorführen sollten. Wenn aber der Zögling selbst nun anfängt mit Erwachsenen umzugehen und sich schon ein Mann zu sein dünkt, wenn er all manchen Lastern Geschmack gewinnt, sich sogar etwas darauf zugute tut und es für erniedrigend hält, unter der Aufsicht und der Leitung eines anderen zu stehen: was kann man da von dem sorgfältigsten und verständigsten Erzieher erwarten, wenn er selbst über den jungen Menschen keine Gewalt und dieser keine Neigung hat, sich von ihm Zureden zu lassen; wenn der letztere im Gegenteil, durch die Jugendhitze und die herrschende Gewohnheit hingerissen, mehr den Versuchungen seiner nicht weiseren Gesellschafter als den Ermahnungen des Erziehers, den er als den Feind seiner Freiheit betrachtet, Gehör gibt? Wenn aber, frage ich, steht am meisten zu besorgen, daß ein Mensch verführt werde, als dann, wenn er zugleich unwissend und unlenksam ist? Dies sind gerade die Lebensjahre, wo die Aufsicht und das Ansehen der Eltern und Freunde am nötigsten ist, ihn in Schranken zu halten. Das frühere Alter ist weit lenksamer und minder gefährlich, weil der Knabe noch biegsam und der Eigenwille noch nicht eingewurzelt ist. In späteren Jahren aber wirkt die Vernunft und die Überlegung schon einigermaßen, und der Mensch ist dann eher imstande, sich vor Gefahr in acht zu nehmen und an seiner Vervollkommnung selbst zu arbeiten. Ich würde daher raten, den jungen Menschen entweder in jüngeren Jahren unter einem Erzieher, dem er alsdann um so ergebener sein wird, oder späterhin, wenn er bereits einige Jahre älter ist, und dann ohne einen Führer reisen zu lassen. Im letzteren Falle aber muß er schon imstande sein, sich selbst zu regieren, und das, was er in fremden Ländern antrifft und seine Aufmerksamkeit Verdient, gehörig zu beobachten, damit er nach seiner Rückkehr Gebrauch davon machen könne. Er muß überdem auch mit den Gesetzen, Gewohnheiten, natürlichen und moralischen Mängeln und Vorzügen seines Vaterlandes bereits hinlänglich bekannt sein, um den Auswärtigen, aus deren Umgang er klüger zu werden wünscht, auch von seiner Seite etwas mitteilen zu können.
§ 213. Daß so viele junge Leute von ihren Reisen nicht sonderlich klüger oder besser nach Hause kommen, rührt unstreitig daher, daß man auf das, was ich eben berührt habe, nicht Bedacht nimmt. Bringen sie ja von den Orten und Menschen, die sie besucht haben, etwas zurück, so ist es nicht selten die Bewunderung der elendesten und törichtsten Gewohnheiten, die sie dort antrafen; sie behalten einen bleibenden Geschmack an den Dingen, in welchen ihr Unabhängigkeitsgefühl zuerst sich äußerte, anstatt daß sie nach ihrer Zurückkunft besser und klüger geworden sein sollten. Wie kann das aber anders sein, wenn sie in dem gewöhnlichen Alter und unter der Aufsicht eines anderen reisen, der dann bloß für ihre Bedürfnisse zu sorgen hat und an ihrer Stelle Beobachtungen anzustellen. Eben, weil es heißt, daß sie doch einen Erzieher haben, glauben sie um so weniger sich um sich selbst bekümmern zu dürfen oder über ihr eigenes Verhalten verantwortlich zu sein; daher sie selten auch sich mit Nachfragen und Untersuchungen abgeben oder nützliche Bemerkungen zu sammeln suchen. Ihre Gedanken sind bloß auf das Spiel und Vergnügen geheftet, und wenn man sie hierin einschränken wollte, so würden sie glauben, es geschähe ihnen Unrecht. Die Absichten der Leute kennen zu lernen, welche sie antreffen, ihre List, Kunstgriffe, Charaktere und Neigungen zu studieren, um im Umgange mit denselben ihre Maßregeln danach zu nehmen: das ist ihre geringste Sorge. In diesem Stücke verlassen sie sich ganz allein auf ihren Führer, der muß ihnen aus den verdrießlichsten Händeln, in die sie sich selbst stürzten, heraushelfen, der muß für alle ihre Torheiten allein zur Rechenschaft stehen.
§ 214. Ich gestehe es, die Menschenkenntnis ist ein so wichtiges und schweres Studium, daß man von einem jungen Menschen nicht verlangen kann, er solle es darin sogleich zur Vollkommenheit bringen. Allein das Reisen wird ihm wahrlich wenig Nutzen schaffen, wenn es ihm nicht hier und da die Augen öffnet, ihn nicht vorsichtig und bedachtsam macht, nicht gewöhnt, durch die äußere Hülle hindurch zu schauen, und, mittels eines höflichen und verbindlichen Betragens im Umgange mit Fremden und Leuten von allen Gattungen, nicht nur sich gegen Gefahr sicher zu stellen, sondern auch eine vorteilhafte Meinung von sich bei ihnen zurückzulassen. Wer bei reiferen Jahren und in der Absicht sich auszubilden in die Fremde reist, muß in den Orten, die er besucht, den Umgang und die Bekanntschaft mit den vornehmsten Personen suchen. Allein ungeachtet dies für einen jungen Menschen von Stande eine Sache von der größten Wichtigkeit ist, so möcht' ich doch fragen, ob unter hundert jungen Leuten, welche unter Leitung eines Erziehers in fremde Länder gehen, wohl nur einer ist, der je eine Standesperson daselbst besucht oder mit Leuten Bekanntschaft macht, aus deren Umgang er die landesübliche seine Lebensart, oder was sonst bemerkenswert ist, studieren könnte, obwohl man von solchen Leuten in einem Tage mehr lernen kann, als wenn man ein ganzes Jahr lang von einem Kaffee- oder Speisehause zum andern läuft. Es ist auch nicht zu verwundern; denn Leute von hohen Würden und Talenten geben sich nicht leicht mit Knaben ab, die noch unter der Aufficht eines Erziehers stehen. Ein junger Kavalier aber, ein Fremder, der sich schon als einen Mann darstellt und Begierde zeigt, sich von den Gewohnheiten, Sitten, Gesetzen und der Verfassung des Landes, in welchem er sich befindet, zu unterrichten, wird allenthalben leicht Zutritt und eine gute Aufnahme bei den edelsten und einsichtsvollsten Personen finden, und diese werden nicht abgeneigt sein, einen Verständigen und wißbegierigen Ausländer gefällig aufzunehmen, zu unterstützen und ihm behilflich zu sein.
§ 215. So wahr indes dies alles sein mag, so besorge ich doch, daß das Herkommen, junge Leute gerade in der gefährlichsten und mißlichsten Lebensperiode reisen zu lassen, deshalb nicht abgeschafft werden dürfte, und zwar aus Ursachen, welche eben nicht auf ihre Bildung und Vervollkommnung abzwecken. Der Knabe darf nicht schon im achten oder zehnten Jahre in die Fremde geschickt werden, aus Furcht, daß dem zarten Kinde etwas zustoßen möchte; wiewohl es zu der Zeit zehnmal weniger Gefahr läuft als im sechzehnten oder im achtzehnten. Auch darf er nicht so lange zu Hause bleiben, bis die gefährlichen und unbändigen Jahre vorüber sind, weil er im einundzwanzigsten schon wieder zurück sein muß, um zu heiraten und eine Familie zu gründen. Der Vater bedarf des Brautschatzes der künftigen Frau, und die Mutter ist voll Ungeduld, mit den kleinen Enkeln zu tändeln: kurz, es mag daraus entstehen, was da will, der junge Herr muß, sobald er mündig ist, Nach den englischen Gesetzen geschieht dies im 21. Jahre. sich mit der Gattin ehelichen, die man für ihn ausgesucht hat. Dem ungeachtet wäre es, sowohl in Hinsicht auf seine Leibes- und Seelenkräfte als auf seine Nachkommenschaft, gar nicht undienlich, wenn dies noch einige Jahre hinausgeschoben würde, damit er nicht nur an Jahren, sondern auch am Verstande einen größeren Vorsprung vor seiner Nachkommenschaft erhielte, welche nicht selten nur zu bald in die Fußtapfen ihrer Vater tritt, eben nicht zur großen Zufriedenheit beider, des Sohnes und des Vaters. Doch da der junge Herr nun schon mit Heiratsgedanken umgeht, so ist es wohl Zeit, ihn seiner Gebieterin zu überlassen. Vergl. Rousseaus »Emil« (Univ.-Bibl. Nr. 901–908). 2. Band, 5. Buch, G. 324.