Otto Ludwig
Die Heiterethei und ihr Widerspiel
Otto Ludwig

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Mit jedem Tage waren die Frauen bedenklicher geworden, und in derselben Steigerung hatte die Größe und Dicke der Kaffeewolken zugenommen um Strohdach und Holunderbusch. Heute dampfte der Schornstein des Häuschens wie ein kleiner Vulkan. So zahlreich waren die Frauen noch nie versammelt gewesen; es fehlte niemand, als die Schmiedin und die Baderin und diese mußten noch kommen.

Das hatte aber auch seinen guten Grund.

Morgen wollte die Heiterethei wieder nach dem Zainhammer fahren. So weit hatte sie sich, seit der Fritz ihr aufzulauern begonnen, noch nicht vom Städtchen entfernt. Dann konnte sie auch, was schon öfter geschehen, dort so lange aufgehalten werden, daß sie erst bei Nacht in das Ulrichsholz kam. Das war dick, die Straße hindurch nicht die belebteste, und man wußte tausend schreckliche Geschichten davon zu erzählen. Dazu kamen die Vorbedeutungen der schlimmsten Art.

Die Weberin versicherte, daß sie nie die Hähne so ganz eigen und zu so ungewöhnlicher Zeit krähen gehört, als die letzten Tage. »Ja,« sang sie dem unsichtbaren Rocken zu, an dem sie spann, und es war, als suchte sie das eigne Krähen mit dem Ton ihrer Rede zu malen – »ja, wenn ich's nur könnt' beschreiben! Ordentlich, wie wenn ein weinend Kind der Bock stoßen tut.«

»Ja,« meinte die Tüncherin, »das bedeutet ander Wetter.«

»So, ander Wetter?« sagte die Valtinessin. »Und ist's denn anders geworden etwa? Ist's nicht das best' geblieben? Nur noch zweimal haben sie so gekräht, daß ich's weiß. Das war den Tag vorher, eh' der Schäfer den Jungen hat umgebracht im Ulrichsholz und wie hernachen die Württemberger im Krieg seinen Schädel vom Rad' haben genommen und daraus getrunken im Schwanen-Wirtshaus. Die Weberin da ist meine Gevatterin. Und wenn ich und meine Gevatterin nicht wissen, wie die Hähne in Luckenbach krähn, und andre wissen's besser, so weiß ich nicht, was ich hier zu tun hab'. Und hier sitz' ich und frag': Warum hat mir's denn die ganz' Nacht vom alten Spritzenhaus geträumt?«

Die Frauen fürchteten, die Valtinessin könne, da sie eben im Übelnehmen begriffen war, auch übelnehmen, wenn sie geständen, sie wüßten das nicht. Als sie schwiegen, setzte die Valtinessin noch hinzu: »Oder weiß ich und meine Gevatterin auch nicht, was uns geträumt hat, und die Frau Tüncherin weiß auch das besser?«

»Aber,« begütigte die Tüncherin, »man red't ja nur, Frau Bas Valtinessin. Und es ist wohl möglich, daß der Hahn, den ich hab' ander Wetter hören kräh'n, gar kein rechter Luckenbacher ist gewest. Sonst hätt' er's gewiß der Frau Bas Valtinessin nicht zuleid getan. Denn das müßt' kein rechter Luckenbacher sein, der nicht allen Respekt hätt' vor der Frau Bas Valtinessin.«

Die Valtinessin war schrecklich in gerechtem Zorn, aber sie ließ sich versöhnen, und so bekräftigte sie durch ein feierliches Schwingen ihrer Haube, daß das alte gute Verhältnis wiederhergestellt sei.

Die Tischlerin aber sagte etwas zaghaft: »Wenn's der Frau Bas Valtinessin nicht unrecht war', so hätt' ich auch geträumt; denn warum? es fällt mir nicht ein, so vornehm zu träumen, wie die Frau Bas Valtinessin; man träumt eben, wie man's so ins Haus braucht. Die ganz' Nacht ist mir's gewesen, als wenn ein Bär bei mir im Bett lag; denn warum? mein Mann hat mich zweimal aufgeweckt, weil ich so tief hab' Atem geholt.«

Da die Valtinessin sich's von der Tischlerin gefallen ließ, so hatten nun die Frauen alle geträumt, wenn auch nicht so vornehm und bedeutsam, wie die Valtinessin, doch etwas, das sich auf die Heiterethei bezog oder beziehen ließ.

Von den schaurigen Träumen, denn das waren sie alle, kam man auf noch schauerlichere Geschichten. Je schauerlicher die wurden, desto leiser wurden die Stimmen. Und kaum, daß die eine geendigt war, so fing schon wieder eine andere an. Denn wenn's so still wurde, daß man das Rauschen der Weiden und das Kratzen der Holunderäste am Dach und an den Wänden des Häuschens hörte, dann war's noch schauerlicher in der Wirklichkeit, als in der schauerlichsten Geschichte.

Und wenn nun die erzählten Dinge aus den Geschichten heraus in die Wirklichkeit traten? Wenn man nun wieder reden wollte und es kam kein Ton heraus? Oder wenn man die Augen von der Erde hob und sah plötzlich in lauter Totengesichter hinein? Oder es stöhnte irgendwo in einer Ecke und man sah doch niemand; was sollte da erst werden?

Wie es vor einem schrecklichen Ereignis ist, das kommen muß: jedem liegt's auf der Zunge, es vorher zu sagen, und es wagt's doch keiner. Weil es ist, als müßt' es erst dann geschehen, als könnte es vorbeigehen, würde es nur nicht berufen. Und gleichwohl drängt es jeden dazu; als ob es wiederum doch zu vermeiden wäre, spräche man es vorher nur warnend aus. Alle sahen während des Erzählens nach der Heiterethei hin. Man durfte sie nicht fortlassen mit oder wider Willen, bleiben mußte sie. Aber um ihr das zu sagen, mußte man die Geschichten unterbrechen. Und dann ward's still, wer weiß, wie lang! und dann hörte man wieder die Weiden rauschen und den Holunder am Häuschen kratzen wie einen Lebendigbegrabenen an seinem Sarge.

Und doch riß der Weberin mitten in der schrecklichsten Geschichte der Faden; just da, wo die Räuber im einsamen Wirtshaus im Walde die Tür aufbrechen und der junge Kaufmann, der da eingekehrt ist, entsetzt nach seinen Pistolen greift. Und – war das ein Schuß? Nein, es ist der Wind, der in den Waldbäumen um das Wirtshaus so entsetzlich braust. Und doch auch das nicht. Man ist ja nicht wirklich in jenem Waldwirtshause; man ist in der Heiterethei Häuschen an den Weiden. Und dieses Brausen und Zischen klingt gar nicht so wildfremd; es hat vielmehr etwas Heimliches, Vertrautes; man hört es nicht zum erstenmal. Aber es braucht erst das laute Lachen der Heiterethei aus ihrer Ecke heraus, den Zauber von den entsetzten Gemütern hinweg zu beschwören. Die Hälfte des siedenden Wassers mußte erst aus dem Kaffeetopf auf den Herd laufen, ehe man begriff, das seltsame Brodeln und Zischen sei das allbekannte, täglich gehörte, das jede siedende in die glühenden Kohlen laufende Flüssigkeit hören läßt.

Der Gegensatz der sicheren Wirklichkeit zu den Erwartungen eines Etwas, das anders sei, als alle Wirklichkeit, und das Gefühl, daß jene so nahe war, in die man sich retten konnte aus den Schrecknissen der Einbildung, erweckte ein behagliches Gelächter, dessen letzte Töne doch schon wieder vor dem Gedanken zitterten, daß es unrecht und ein Frevel sei, in solchen Augenblicken solcher Erwartung zu lachen.

Doch war wenigstens die Furcht vor der Stille gewichen, und als man sich besonnen hatte, was man doch vorhin sagen gewollt und nicht gekonnt, da erhob sich das Warnen und Raten von neuem – und um so lauter, da man sich selbst dadurch betäuben konnte.

»Ach, du lieber Gott!« rief die Weberin, »wenn doch nur das Dorle freien wollt'!«

»Ja, wenn das so geschwind ging'!« verzweifelte die Tüncherin. »Aufs Rathaus muß das Dorle, in die Gericht'.«

»Die sitzen auch, bis der Frau Tüncherin so was Gescheits einfällt,« strafte die Valtinessin. »Da wär das best', das Dorle holt die Herrn morgen früh, eh' sie fortgeht, im Tragkorb aus den Betten aufs Rathaus.«

»Militär muß geholt werden aus der Hauptstadt,« schrie die Beutlerin.

»Das kommt zu spät,« schlug die Tischlerin die Hände zusammen. »Denn warum? Wenn das Dorle dem Nachtwächter sechs Batzen gibt, da geht er mit ihr in den Zainhammer und wieder heim.«

»Aber wer weiß,« ächzte die Tüncherin wieder, »ob das Dorle so viel mit der Fuhr' verdient! Ich mein', da schickt' das Dorle gleich den Nachtwächter und blieb' zu Haus. Da könnt' sie's halb abverdienen, was der Nachtwächter kost't.«

»Ja,« sagte die Heiterethei lachend. »Ich fürcht' mich aber nicht. Und wenn ich mich fürchtet', da braucht' ich auch den Nachtwächter nicht zu schicken; ich blieb' eben daheim, und so wär's und nu wär's fertig. Aber ich fürcht' mich nicht, und da frei' ich nicht und geh' nicht aufs Rathaus und schick' auch keinen Nachtwächter, sondern ich fahr' in den Zainhammer. Und so ist's, und nu ist's fertig.«

»Es ist schrecklich,« spann die Weberin wie außer sich, »daß das Annedorle nicht folgen will. Und wenn man nur wenigstens eine Karten hätt', daß man sich erst darauf legen könnt'!«

»Ach,« sagte die Schwesterleins-Evekathrine, »ich hab ja eine mit, aber über die Geschichten hat man alles vergessen. Ich will sie nur geschwind legen, eh' noch was andres drein kommt!«

»Ja,« sagte die Valtinessin und schlug auf ihre Knie. »Man hofft ja nicht, daß dem guten Annedorle was begegnen soll. Wenn's aber soll sein, so hat man seine Schuldigkeit getan und braucht sich nichts vorzuwerfen von dessentwegen.«

Der Meinung waren die Frauen alle.

Kein Atemzug ließ sich hören, als die Schwesterleins-Evekathrine ihr Werk begann.

»Ein–zwei–drei–sechs« – eine Reihe Karten lag da. Die Valtinessin griff an die Nase, um die Brille herabzunehmen und zu putzen, die sie nicht aufhatte. »Wo ist denn das Unglück?« sagte sie. »Das sieht ja aus wie lauter Herz und Schellen. Da ist ja gar kein Grün. Es wird noch kommen,« tröstete sie sich.

Aber es kam nicht.

»Liegt denn die ganz' Sach', oder ist's noch nicht fertig? Ja, es ist doch. Aber wo ist denn das Unglück? Ist denn das das Eicheldaus und die Eichelzehn, wo da neben dem Herzunter liegt? Das wär ja eine Hochzeit, verzeih mir Gott meine Sünd'!«

Den ändern ging's nicht besser als der Valtinessin. Alle fühlten nur das Unangenehme einer getäuschten Erwartung.

»Es ist nix mit dem Kartenlegen,« sagte die Valtinessin. »Dummes Zeug ist's. Und wenn einer gewiß wüßt', es träf zu, da ließ' er sie sich gar nicht legen. Aber nu, wenn die Karten gut sind, hernachen glaubt er's; sind sie aber schlimm, hernachen sagt er: Es ist dummes Zeug. Und das ist's auch.«

»Wenn die Evekathrine nicht falsch abgezählt hat,« sagte die Weberin.

»Oder falsch gemischt,« sagte die Tüncherin.

»Ja,« sagte die Schwesterleins-Evekathrine selber, »ich wollt' schwören, ich hätt's richtig gemacht. Passiert mir auch sonst nicht, daß ich einen Schnitzer mach'. Aber es muß doch wohl. Und wenn man so in der Angst ist.«

»Und in der Gemütsbewegung,« spann die Weberin.

»Hm, ja,« dachte die Valtinessin, »das könnt' sein.« Dann schlug sie auf ihre Knie. »Drum sitz' ich hier und sag': die Evekathrine legt die Karten noch einmal. Hernachen wird sich's ausweisen, ob man auf das Kartenlegen was geben kann oder nicht.«

Und es wies sich aus.

»Ja,« spann die Weberin, als die Karte von neuem gelegt war, mit trauriger Zufriedenheit, »das sind andere Ding'!«

»Aber,« sagte die Tüncherin, die noch immer unbefriedigt schien, »da ist freilich der Herzunter, das ist das Annedorle. Und dort drüben liegt die Laubzehn und da ganz unten das Laubdaus. Aber das sollte doch eigentlich beisammen liegen, wenn das Unglück das Annedorle anging'.«

»Wenn's auch nicht beisammen liegt,« meinte die Tischlerin mit wehmütiger Freude; »denn warum? Man weiß doch, daß es zusammen gehört?«

»Ja,« sagte die Evekathrine, »es muß nur richtig ausgelegt werden, hernachen trifft's schon zu.«

»Ach, Gott, es ist doch schrecklich,« drehte die Weberin mit schmerzlicher Wollust den Faden. »Das arme Annedorle! Die Laubzehn ist eine Straßen, das ist die nach dem Zainhammer. Und der Laubober, das ist ein böser lediger Bursch', das ist der Holders-Fritz. Und das Laubdaus, das ist eine schreckliche Gefahr.«

»Ja,« legte sich die Tüncherin die Sache zurecht. Es kann ja sein, daß er von weitem lauert, und das Annedorle fährt vielleicht auf der Wiesen neben dem Weg. Und die Gefahr, die ist ja auch jetzt noch nicht beim Annedorle; da ist noch ein ganzer Tag dazwischen.«

»Ach, du Gerechter!« schluchzte die Beutlerin. »Und der Laubober da, ob der dem Holders-Fritz nicht wie aus den Augen geschnitten ist? Wenn der Holders-Fritz so eine kleine Nasen hätt' und so ein groß Maul und seine Augen ständen so schiefe! – Wenn auch die Statur anders ist, aber der Rock und die Schuhe, das ist doch der leibhaftig' Holders-Fritz!«

»Ach, das arme Annedorle! das arme Annedorle!« spann die Weberin und netzte mit ihren Tränen.

»Dummes Zeug!« lachte die Heiterethei. »Vorhin, da sollt's falsch gemischt sein, und jetzt fällt so was keiner ein. Wenn's was bedeuten sollt', müßt's das eine Mal ausfallen wie das ander. Und wenn ich nu gar nicht fortging' morgen, da müßt' die Straßen zu mir kommen. Und da der Herzunter, das ist noch ganz ein anderer Kerl wie der Laubober, und der muß doch auch dabei sein, wenn ihm was soll geschehen. Wenn ihr flennen wollt, so wartet doch wenigstens, bis was passiert ist, oder flennt wo anders. Mein Häusle ist an andere Ding gewöhnt.«

Die Valtinessin aber rückte feierlich die Haube, dann schlug sie's auf ihren Knien unwiderruflich fest: »Und obschon mein Vater selig ein Weber ist gewest, nu hat sich's gezeigt. Und mit dem Kartenlegen, das trifft doch zu. Was Schrecklich's wird geschehn, das ist gewiß; Bas Schreinerin, Sie könnt' mir einmal den Kaffeetopf hergeben. Wenn man nur auch wüßt', was! Der Rahm hat doch wieder einen Stich gekriegt von der Hitz' den Tag. Hernachen wär' alles gut. Hernachen könnt' man sich doch christlich drein ergeben.«

Ja, das Was! das Was! Je gewisser seine Auflösung wurde und je näher sie kam, desto mehr peinigte das Rätsel die guten Frauen. Da stand der Geist der noch ungebornen Tat wie ein ungeduldiger Gläubiger und forderte immer unbarmherziger eine Gestalt. Er sauste in den Weiden und kratzte an der Wand, er brodelte im Kaffeetopf, er nickte von der Haube der Valtinessin herab, er zirpte mit dem Heimchen unter dem Ofen hervor, er sah mit ungeheuren schwarzen Augen durch die Fenster herein und pochte gegen die lockeren Scheiben; er blickte aus jedem Auge und sprach aus jedem Munde. Das Was war unentrinnbar.

Und als nun plötzlich die Tür ging und das Entsetzen die Widerwilligen nach ihr zu sehen zwang, da kam es auch durch die Tür herein.

Aber das war doch eine leibhafte Gestalt! Hatte es die endlich gefunden? Dann zeigte es sich nicht sehr wählerisch.

Aber es war auch gar nicht das schreckliche rätselhafte Was, das eben eintrat. Es war die wohlbekannte kleine Baderin aus der Weidengasse, aus dem gelben Häuschen mit den grünen Fensterläden. Ein Weib, weder schrecklich, noch rätselhaft; denn jeder Luckenbacher weiß, sie besteht bloß aus O und Ach, in ein ewiges Erröten gewickelt.

Auf dem Wege hieher hatte sie in der Angst vergessen, daß sie nur die kleine verschämte Baderin war. Nun sie die Augen so vieler großen Weiber auf sich gerichtet sieht, fällt ihr das wieder ein, und sie möchte sich in sich selber verkriechen. Es ist ihr, als ob ihre Kleider immer kürzer und dünner würden, als ob sie in kurzem nackt vor all den großen Weibern dastehen müßte, so sehr sie an den Kleidern zupft und dehnt.

Das Erröten auf ihrer Wange wird rot vor Scham, daß sie nur die kleine verschämte Baderin ist von der Weidengasse, die errötet.

»Aber was ist denn?« lieh die Weberin endlich der allgemeinen Spannung das Wort.

»Ach, es ist nix weiter. O, es ist nicht der Müh' wert, daß man's vor solchen Weibern sagt.«

»Und deshalb hat sich die Baderin so außer Atem gelaufen?«

»Ja, wenn's der Valtinessin ihr Atem wär',« denkt die Baderin. »Aber meiner!«

Die Valtinessin glaubte: »Sie will uns schonen. Sie meint, wenn sie's gleich heraussagt, wird's uns zu sehr angreifen. Aber hier sitz' ich und sag': »Mög's sein, was es will. Ich will nicht geschont sein. Ich halt's aus, es mög' sein, was es will.«

Der Baderin Verlegenheit wuchs mit der Erwartung der Frauen von der Wichtigkeit ihrer Nachricht, da diese selber in eben der Steigerung ihr immer unbedeutender erschien. Das wurde durch längeres Zögern nur noch schlimmer; deshalb faßte sie sich ein Herz, freilich nur eins, wie die kleine verschämte Baderin von der Weidengasse sich eins fassen konnte, und begann mit fast geschlossenen Augen:

»Ach, wo ein Arm oder Bein am schwersten heilen tät', hat er Meinen gefragt. Und ob einer auf der Stelle tot bleiben tät', wenn man ihm mit einem Beil an die Schläfen tät' schlagen. Der Holders-Fritz nämlich. Es ist, wer weiß, wie lang' her, hat Meiner gesagt, daß er mich so gefragt hat. Der Holders-Fritz nämlich. Da hab' ich gemeint, weil's nur Meiner ist gewest: du weißt auch viel, was lang ist und was kurz. Denn ich hab' gedacht: wann soll er so gefragt haben, als die letzten Tag'?«

»Ja,« sagte die Tischlerin entsetzt, »denn warum?« Mit solchen Dingen ist er ja erst in der letzten Zeit umgegangen. Das kann höchstens vierzehn Tag' sein gewest.«

»So?« meinte die Valtinessin. »Und das weiß die Bas Schreinerin auch so gewiß? Also der Mensch kann nicht schon früher solche Ding' haben verübt, wie er jetzt verüben will? Da an diesem Fenster hab' ich gestanden und den meinen Finger von der meinen Hand hab' ich aufgereckt, wie ich gesprochen hab: Hier sitz' ich und sag', es wird gar viel getan, was nicht gleich herauskommt.«

»Zum Beispiel,« schaltete die Tüncherin ein, »es geschehen Bränd'.«

»Und Wolkenbrüch',« fügte die Beutlerin an.

»O! Ach!« errötete die Baderin; »ich hab's lang prophezeit, mit dem nimmt's einmal kein gut End'.«

»Die Heuchelei hab' ich ihm schon angeseh'n,« sagte die Tüncherin, »wie er noch nicht hat können laufen.«

»Das ist gewiß,« meinte die Tischlerin, »daß er nix Gut's hat im Sinn. Denn warum? Ein Mensch, der solche Ding' getan hat und doch immerfort noch zu ermachen gewußt, daß man meint, er hat ein gut Gemüt, das muß ein Erzbösewicht sein. Denn warum? So einem Bösewicht kann man zutrauen, daß er das Schlimmst' hat getan.«

Das Was hatte schon eine viel bestimmtere Gestalt, als sich die Tür abermals auftat. Und das war es wirklich selber, was nun hereintrat, so lang und hager, mit Zügen, die nicht Entsetzen ausdrückten, sondern das Entsetzen selber waren.

Es war das schreckliche Was, welches sich nun in Gestalt der Morzenschmiedin auf einen Stuhl fallen ließ und mit solcher Angst nach der Tür zurücksah, daß sie damit die sämtlichen Weiber ansteckte.

Nur die Heiterethei lachte. »Kommt der Holders-Fritz etwa selber, Frau Morzenschmiedin?«

Die Morzenschmiedin deutete erst, ehe sie der Sprache mächtig wurde.

»Hinter mir her ist's da vom langen Bau an. Wenn's nicht schon hinter mir aus der Schmieden ist gegangen. Ich hab' mich nicht umgesehn vor Angst. Und es ist gewiß noch draußen. Und aussehn muß es wie ein Besen.«

»Aber Bas Morzenschmiedin,« sagte die Valtinessin kopfschüttelnd, »wenn Ihr Euch nicht habt umgesehn, wie könnt Ihr wissen, wie das Ding hat ausgesehn?«

»Ich hab's gehört,« entgegnete die Morzenschmiedin. »Just, als wenn eine hinter mir kehren tät'.«

Die Heiterethei wollte nachsehen, wer es wäre, aber die Frauen klammerten sich an sie und ließen sie nicht hinaus.

»Wenn ihr euch gern unnötig fürchtet,« lachte die Heiterethei, »meinetwegen!«

Aber die Frauen hätten das Mädchen nicht halten können, wäre es dieser mit dem Nachsehen ernst gewesen.

Die Schmiedin hatte sich's freilich ausgedacht, wie sie erst geheimnisvoll tun wolle und nicht eher reden, als bis die Weberin meinen müßte, obenauf zu sein. Dann aber wollte sie losbrechen und mit ihrer Nachricht über die Weberin triumphieren. Denn dieses Mal konnte die Weberin sie nicht überbieten. Aber die Angst vor dem Dinge, das ihr hierher gefolgt, hatte den ganzen schönen Plan vereitelt.

Und noch obendrein sollte sie in ihrer Geschichte stecken bleiben, just wo diese am spannendsten wurde. Draußen vor der geschlossenen Tür flatterte etwas geisterhaft schnell vorüber. Es blieb zweifelhaft, sollte man es für Flügelschläge einer eilenden Taube oder für ein leises schauerliches Lachen erkennen.

Die Schmiedin verstummte. Alle sahen entsetzt nach der Tür.

Endlich versicherte die Beutlerin: »wenn ein Besen lachen könnte, so müßt' es klingen.«

»Der Morzenschmied war's,« lachte die Heiterethei. »Der lauscht draußen. Wiewohl, ein Wunder wär's nicht, wenn auch die Besen anfingen zu lachen.«

Es wäre leicht gewesen, der Sache auf den Grund zu kommen. Man hätte nur nachsehen dürfen. Da die Heiterethei sitzen blieb, so ist mit Recht zu bezweifeln, ob sie wirklich dachte, wie sie sprach.

Jetzt klangen tiefe Glockentöne durch das Sausen in den Weiden. Eins – zwei – drei – das ist schon Zehn. Nein, es ist schon Elf. Und noch ein Schlag? Ist's möglich? Zwölf? Aber um Gottes willen! Wo ist die Zeit hin? Es ist ja, als wäre das Dorle erst vom Feld heimgekommen. Aber länger bleiben kann man nun keine Minute. Das sagte jede, und doch hat keine den Mut, aufzubrechen.

Man rettet sich vor sich selber wieder in das Warnen und Raten hinein.

»Ihr geht nicht, Dorle!«

»Um Gottes willen, bleibt morgen nur daheim!«

»Daß die Leut' mich auslachen, wenn ich nicht geh'? Und ich geh' ja auch nicht,« lacht die Heiterethei. »Das ist mir viel zu niederträchtig. Ich fahr'.«

»Ach du lieber Gott, wenn ich denk, wie jetzt das Dorle so frisch und lebendig mit uns red't, und morgen –«

»Ei was! So wird Unkraut nicht über Nacht anfangen und verderben.«

»Dorle! Dorle! wenn sie Euch morgen bringen!«

»Dumm Zeug, und nu werd' ich bös'. Es kann jeder machen, was er will. Und ich geh', und so ist's, und nu ist's fertig.«

»So lebt wohl, Dorle! Lebt wohl! Lebt wohl! Paßt auf, wir sehn uns nicht wieder. Wenn Ihr tot seid, wird's Euch schon reu'n. Ach, daß Gottes Barmherzigkeit! Ihr seid schon so gut wie tot. Ihr seid ein tot Mädle und Ihr bleibt ein tot Mädle! Und o! und ach! Lebt wohl, Dorle! Dorle, lebt wohl!«

So klingen die Stimmen stöhnend und schluchzend durcheinander. Es ist, als wäre das schon das Leichengeläute der armen, eigensinnigen Heiterethei. Bald scheinen die Töne zu ersterben, bald heben sie sich wieder zu voller Macht, wie man vom Turme das Schwanken des schwarzen Zuges bald hinter grünen Bäumen verschwinden, bald wieder hervorkommen sieht. Durch das Wimmern der kleinen Glocken klingen die selteneren und tieferen Pulse der Valtinessin doppelt erschüttert.

Es gehörte ein Wesen dazu, wie es die arme Heiterethei – vielleicht morgen nicht mehr besaß, die unzähligen Umarmungen zu überstehen. Wer der Heiterethei nicht mehr habhaft werden konnte, der ergriff die nächste andere. Wer keine einzelne mehr fand, umschlang eine ganze umschlungene Gruppe. Es war ein wahrer Scheideknäuel, eine durcheinander gewirrte Strähne Abschiedsgarn von Armen, Haubenschleifen, blauen Mänteln und auf fremde Schultern gelehnten Haubenfleckchen, die der Engel des Jammers, der bleich über dem Ganzen schwebte, mit Tränenströmen übergoß.

Und so oft die natürliche Erschöpfung des Gefühls den Knäuel lockerte, so oft band ihn die Furcht vor dem Heimwege in tiefer Nacht aufs neue zusammen, bis endlich ein fürchterliches Gebrüll vor der Tür ihn schonungslos mit einem Ruck zerriß. Und eine schauerliche Stimme sprach – o, es war wie frische Luft für einen Erstickenden, daß sie sprach: »Ihr Herrn und laßt euch sagen«. Und sie schien auch nicht mehr schauerlich, als man einmal wußte, sie gehörte dem alten Diktes.

Die Gelegenheit einer männlichen Begleitung mußte man benutzen, und wie sie hinter dem alten Diktes herzogen und mit ihm von Zeit zu Zeit stehen blieben, wenn er tuten mußte, da sagte die Valtinessin: »Nun mög's gehn, wie es will. Wir haben das Unsrig' getan. Wir haben unsere eigene Sach' versäumt aus Christenlieb'. Ich wollt' gern was anders drum geben, wenn das Annedorle vernünftig wär'. Aber einen Kranz soll sie haben auf ihren Sarg, wie noch kein arm Mädle in Luckenbach einen hat gehabt.«

Die Tischlerin wollte beim Herausgehen ein Käuzchen gehört haben, das auf dem Holunder gesessen.

»Dummes Zeug!« sagte die Heiterethei zornig hinter ihr her. »Weil Ihr selber Käuzle seid. Ihr kennt meinen alten lust'gen Holunderbusch schlecht. Solch jammerig Gesindel läßt er gar nicht auf sich sitzen.«

Der Mann kämpft mit dem Unglücke. Das drohende sucht er abzuwehren, das vorhandene auszugleichen, und wo er das nicht vermag, unterliegt er ihm. Das Weib, wenn es nicht ausweichen kann, bezwingt das Unglück, innerlich durch die sinnliche Erleichterung im Jammer; es bezwingt das Unglück, indem es dasselbe genießt. Mag es nun die unbesiegbare Lust sein, einen Genuß zu teilen, den eine andere schon für alle bezahlt hat, oder wirkt der Jammer körperlich ansteckend wie das Gähnen; gewiß ist's, auch die stärkste kann sich nicht auf die Dauer enthalten, wenn auch nicht über das Unglück, doch über den Jammer mitzujammern. Und so wäre wohl die Heiterethei in das allgemeine barmherzige Getu der Weiber mit hineingezogen worden, wäre sie auch nicht selbst der Gegenstand desselben gewesen.

Der Widerwille gegen alles zur Schau getragene Gefühl, der gesunden, kräftigen Naturen eigen ist und sie oft hart erscheinen läßt, wo sie es am wenigsten sind, hatte sie beschützt, so lange jenes sich ihr in unmittelbarer Gegenwart aufdrang. Ihr Stolz auf ihre Kraft und Unabhängigkeit hatte sich diesem Widerwillen verbündet. Nun sie allein in ihrem Stübchen war, machte sich jener Einfluß erst allmählich und darum desto gewisser geltend. Sie fühlte sich trotz ihres Sträubens gezwungen, alles, was die Frauen bloß angedeutet hatten, auszumalen. Der Schlaf, auf den sie früher nie zu warten gebraucht, wollte diese Nacht nicht kommen. Und als er endlich nahte, suchte sie selber ihn zu entfernen.

Noch diese Nacht, ehe sie zu Bette gegangen war, hatte die Annemarie gesagt: »Ich muß doch auch meinen Traum erzählen. Heint, wie die großen Weiber da sind gewest, da hab' ich das Herz nicht dazu gehabt.«

»Ich mag's nicht wissen,« entgegnete die Heiterethei. »Und die Weiber haben alles das nur erdichtet gehabt. Ich hab' dumm Zeug genug müssen hören; fangt nun Ihr nicht auch noch an.«

»Ja, guckt,« begann die Annemarie dennoch, »wie ich so gelegen hab', da ist auf einmal ein Mann an mein Bett kommen.«

»Dummes Zeug!« sagte die Heiterethei. »Die Tür ist fest zugewest.«

»Ja, Dorle, wenngleich; und es war ja nur ein Traum.«

»Warum träumt Ihr auch?«

»Ja, Ihr meint, Bas Annedorle, weil Ihr in Eurem ganzen Leben noch nicht habt geträumt? Wie ich noch jung bin gewest, da hab' ich auch wenig oder nix von Träumen gewußt. Da kann man nix dazu tun und nix davon. Wenn der Traum einmal gekommen ist, hernachen und so ist er da, da mög man wollen oder nicht.«

»Ihr fürcht't Euch doch nicht gar davor?« fragte sie, als sie die Gänsehaut an den Armen der Heiterethei sah.

»Ich fürcht' mich vor nix,« entgegnete die Heiterethei. »Und Ihr habt's Euch nur eingebildet, es träumt Euch, ein Mann stand an Eurem Bett. Wer weiß, was das ist gewest.«

»Nein, Dorle, das hab' ich gewiß und wahrhaftig geträumt. Und guckt, ich seh' ihn noch so deutlich vor mir, wie ich Euch da seh.«

»Warum habt Ihr ihn denn nicht fortgejagt? Ihr hättet ja nur mich zu rufen gebraucht.«

»Ja, wenn ich hätt' gekonnt, Dorle, aber ich hab' nicht können Pips sagen.«

Die Heiterethei schauderte innerlich vor dem Gedanken, was solch ein Traumbild mit einem hilflos daliegenden Schläfer vornehmen konnte. Sie hatte nie geträumt, und was sie von andern hatte erzählen hören, hatte ihr die Vorstellung gegeben, als sei es etwas Unheimliches, etwa wie eine Gespenstererscheinung. Manche Nacht war ihr's vor dem Einschlafen wie eine Angst gekommen, sie könnte heute träumen.

»Und der Mann,« fuhr die Annemarie fort, »hat mir die Kehl' zugehalten. O, ich hab' mich gewehrt, aber ich hab's nicht ermachen können, bis er endlich selber gegangen ist.«

»Und das habt Ihr gefühlt?« fragte die Heiterethei.

»Ich spür's jetzt noch,« entgegnete die Alte.

»Und seid auch nicht munter geworden?«

»Behüte.«

Die Heiterethei stellte sich das Traumbild der Annemarie nicht als ein wesenloses Gedankengeschöpf der Alten selbst, sondern in wirklicher äußerlicher Gegenwärtigkeit an dem Bette der Annemarie vor, etwa wie der Aberglaube sich Gespenster denkt. Die weißen Druckflecken, die auf ihrer Wange erschienen, rief der Gedanke hervor, daß ihr in einem ähnlichen Falle ihre Kraft nichts würde helfen können, wenn sie bewegungslos und schlafend liegen bleiben müßte.

»Hernachen; guckt, Dorle, war ich auf einmal in der Kirchen.«

»In der Kirchen? Und Ihr seid nicht aus dem Häusle gekommen?«

»Im Traum, Dorle –«

»Wenngleich, aber warum seid Ihr hingegangen in die Kirchen? so bei Nacht?«

»Ja, Ihr denkt, Dorle, im Traum, da kann man's machen, wie man's will!«

»Habt Ihr's denn nicht gewollt?«

»Ja, daran hab' ich nicht können denken, ob ich will oder nicht, so schnell ist's gangen.«

Auf der Heiterethei Wange zeigten sich wiederum die weißen Druckflächen, als sie schwieg. Endlich fuhr sie auf: »Dumm Zeug! ich mag nix mehr davon hören. Geht 'nauf in Euer Stüble. Es ist nunmehr Zeit. Morgen müßt Ihr früh auf. Mit der Sonn' fahr' ich fort.«

»Aber wie Ihr seid, Dorle! In den Zainhammer wollt Ihr morgen, so sehr die großen Weiber haben gebarmt, wo Ihr vielleicht bei Nacht durch's Ulrichsholz müßt? Wo Euch wirklich was kann passieren, da fürcht't Ihr Euch nicht, und vor einem Traum, wo doch nix ist, da fürcht't Ihr Euch! Denn wenn einer vorüber ist, so ist er vorbei, und bleibt nix haften davon. Das ist, wie wenn man in Gedanken was tut, oder es wird einem was getan.«

»Wenngleich!« sagte die Heiterethei. »Und wenn's wie bloß in Gedanken wär', gefallen will ich mir einmal nix lassen. Von Fürchten übrigens ist da kein' Red'. Nu geht Ihr 'nauf und schlaft wohl, und so ist's und nu ist's fertig.«

»Sie läßt sich einmal nicht abhalten,« hatte die Annemarie gesagt, indem sie mit schweren Füßen ihr Stübchen erstiegen. Sie hatte ihren Tränen und Klagen freien Lauf gelassen, wozu sie in der Heiterethei Dabeisein den Mut nicht gehabt. Aber dazwischen hatte sie immer wieder einmal ihren grauen Kopf geschüttelt und gesagt: »Doch kurios, doch kurios! So hat doch jed's sein wund' Fleckle, und sah's noch so gesund aus.«

Wir wissen nun, warum die Heiterethei nicht schlafen wollte. Die alte Angst vor den Träumen war ihr wieder gekommen. Aber wenn sie auch wachte, nichtsdestoweniger hatte sie die ganze Nacht hindurch mit Mördern, Räubern, Gespenstern und Traumbildern zu kämpfen. Und immer reichte ihre Kraft nicht aus; sie mußte hilflos schlummernd sich alles gefallen lassen, oder sie lief und kam nicht vom Fleck. Sie glaubte nicht zu träumen, weil sie jeden Augenblick sich sagte: ich bin wach, und hielt sich zum erstenmal in ihrem Leben für krank. Denn auch der kalte Schweiß, der sie überströmte, war ihr etwas Fremdes. Das alles machte das sonst so starke Mädchen so kleinmütig, daß sie schon, ohne es sich zu gestehen, auf Vorwände sann, die ihr Daheimbleiben vom Zainhammer vor ihr selbst rechtfertigen sollten.

Als der erste Strahl der aufgehenden Sonne den kleinen zerbrochenen Spiegel an der Wand traf, da litt sie's nicht mehr im Bette. Ihr erster Gang war regelmäßig an den nahen Bach, wo sie ihr Gesicht, Arme und Nacken wusch. Wie sie die Tür öffnen will, fällt ihr ein: wenn der Holders-Fritz jetzt draußen lauerte? Noch ist kein Mensch sonst in der Nähe. Da schlug ihr die Glut der Scham ins Gesicht, und zornig stieß sie die Tür gewaltsam auf.

Herein drang die frische Morgenluft und umdrang und durchquoll sie mit ihren kühlen Wogen. Da war mit eins die ganze Nacht mit ihren Gespenstern hinter ihr versunken und sie wieder die Heiterethei.

Das erfrischte Blut floß wieder im alten, ruhig kräftigen Takt durch die gesunden Adern. Und als sie mit dem leeren Schiebkarren den Weg durch das tauige Gras nach der Straße hinabfuhr, da lachten die braunen Augen wieder mit dem blauen Himmel um die Wette.

Wenn jetzt zwei Holders-Fritze hinter den Weiden hervorrauschten, es wäre ihr um so lieber gewesen. Es drängte sie geradezu, mit jemand anzubinden und aller Welt zu zeigen, sie bedürfe keines Schutzes und brauche den Stärksten nicht zu fürchten.

Und doch erinnerte sie sich recht gut, das Liesle hatte geweint. Es hatte mit ungewohnter Heftigkeit die Pflegemutter nicht von sich lassen wollen, was es sonst nie getan. Die alte Annemarie hatte das als ein böses Vorzeichen gedeutet und in des Mädchens frisch abweisender Antwort nach ihrer Weise einen Frevel gesehen.

Die Heiterethei mußte über die Alte lachen. Dieser war das Bedenklichste bei der Sache gewesen, daß die Heiterethei den gutmeinenden großen Weibern nicht gefolgt habe. Eine solche Sünde konnte nicht unbestraft bleiben, hatte sie gemeint, und wenn mit dem Wege nach dem Zainhammer auch auf der ganzen Welt kein weiteres Wagnis verbunden gewesen wäre.

Bis nach dem Zainhammer sah die Heiterethei die Haube der Valtinessin von einem Ohr zum andern schweben. Im wachsenden Übermut agierte sie dem stillen Walde die ganze Abschiedsszene vor und stimmte in das Gelächter eines ihr etwa Begegnenden mit ausgelassener Lustigkeit ein. Die ganze Geschichte von dem wilden Holder und seinem Auflauern kam ihr in der nüchternen Morgenluft wie ein dummes, drolliges Märchen vor.

Es kam, wie die Warnerinnen geahnt hatten. Die Sonne stand schon tief, als die Heiterethei mit ihrer Last den Zainhammer verließ. Ehe sie das Ulrichsholz erreichte, begann es zu dämmern. Obendrein zogen von allen Seiten am Himmel Gewitterwolken auf.

Die Schwüle wuchs mit dem Abend, statt abzunehmen. Im Ulrichsholze kam noch der Duft hinzu, der von den dürren Fichtennadeln auf dem Wege wie heißer Staub emporstieg.

Und kein Lüftchen!

Es war nicht, als schlummerte die Natur, sondern als läge sie im Starrkrampf und sähe, wie die schwarzen Wolken als Leichenmänner schon Anstalten machten, sie lebendig zu begraben, und sie ränge vergebens nach einem Hilferuf, nach einer Bewegung.

Die Last der Heiterethei war heute eine weit geringere, als am Tage des Gründer Marktes, und doch schien sie ihr doppelt so schwer.

Wie sehnt man sich auf solchem Wege nach dem Anblick eines Lebenden! Es ist, als bedürfte man eines tatsächlichen Beweises, die Welt sei nicht ausgestorben. Und ein einfaches »Grüß Gott« oder »Dank schön« berührt die schmachtende Seele mit kühlem Finger und verdoppelt die Rüstigkeit der Schritte. Wie anders wird es aber auch gesprochen, als am Tage und mitten unter dem lauten Getreibe der Menschen!

Schon drei Viertelstunden mochte sie im Holze fahren, und noch war keine Seele ihr begegnet. An den hinabgegangenen Tag mahnte nur noch ein leiser violetter Schein, der hier und da immer seltener und flüchtiger an einem Föhrenstamm hinzitterte, wie eine verlorene Stimmung aus der Vergangenheit, die vergebens Erinnerung zu werden strebt. Und auch dieser verschwand, und die Nacht begann ihr Weben, ihren geheimnisvollen Haushalt in dem stillen Walde. Wie verhaltener Atem säuselte es, jetzt kaum hörbar, jetzt anschwellend und plötzlich wie vor Schrecken verstummend, dem Mädchen entgegen. Wie heimliche Tritte raschelte es erst fern, dann immer näher und plötzlich stillstehend, hinter ihr drein, als wollte es sie locken, sich umzusehen. Jetzt schleift etwas durch die Büsche. Dort ist's, wo der fahle Schimmer vorübergleitet wie ein Erbleichen über die Wange der Nacht, kaum zwanzig Schritte weit von der Heiterethei. Dort schleift es, als zöge einer einen schweren Körper in die Büsche sich nach, und die verbogenen Zweige schnellten hinter ihm hörbar in ihren natürlichen Stand zurück. Der Schimmer kommt näher; er verschwindet und wie aus der Erde gewachsen oder plötzlich aus der Luft verdichtet, wird dafür etwas sichtbar wie Umrisse einer ungeheuren, abenteuerlichen Gestalt.

Aber es ist kein Schreckbild, kein Gespenst, was da sichtbar wird.

»Guten Abend allein,« sagte eine Frauenstimme. Sie kommt von einer Bäuerin, die einen Karren zieht. Und nun wird die Heiterethei gewahr: was erst von fern ein bloßer Schimmer und, näher kommend, ein Schreckbild schien, das sind mehrere große Bündel von weißem Tuch, die hoch emporragen über den Rand des Karrens.

»Schönen Dank,« entgegnete die Heiterethei und richtete sich unwillkürlich höher auf.

In dem Augenblick spalten sich auch die Rabenflügel des Gewitters am Himmel, und mit einer Art Trost bemerkt man, der Mond müsse aufgegangen sein, stecke er auch noch tief in den Wolken.

Wenn er nur erst herauskommt! Es ist Vollmond, und der Vollmond läßt kein Gewitter aufkommen und auch anderes Schlimmes nicht.

Unwillkürlich halten beide und lassen die Karren nieder; beide wischen sich den Schweiß von den Stirnen, und die Bäuerin sagt: »Ihr müßt es sein.«

Die Heiterethei wundert sich, wer sie sein soll.

»Ja, Ihr seid groß und stark, und vorhin schon, wie Ihr auf mich zugekommen seid, hab ich's an dem Klirren gehört, Ihr habt Eisen geladen. Ihr seid's! Nach Euch hat er gefragt –«

»Gefragt? Nach mir? Möcht ich wissen, wer!«

»Ob Ihr mir schon begegnet wär't? Aber, Gott sei Dank, Ihr wart's noch nicht. Und wenn Ihr's schon war't, nein! dem hätt' ich's nicht gesagt. Dem nicht! Und hätt' ich nicht die Axt gesehn, wie sie hat geblinkt! Er hat sie mit der Jacke zugedeckt, ich hab' sie nicht sollen sehen, aber sie war zu groß; ich hab sie doch gesehn.«

Die Heiterethei weiß immer noch nicht recht – aber ein Schauder über den anderen rieselte ihr am Rückgrat hinab. »Nicht weil ich mich fürcht',« sagte sie erklärend zu sich selber; »sondern, daß ein Mensch so was soll können vorhaben.«

»Ja, ich will's Euch nur verzählen,« begann die Bäuerin wieder und setzte sich auf ihren Karren zwischen die Bündel hinein. »Eine ganze Glockenstund' hab ich schon nix anders in Gedanken gehabt, als: Wenn ich sie nur sollt' sprechen! Wenn ich ihr doch nur sollt' begegnen! Meinen ganzen Karren wett' ich da, hab' ich gedacht, er ist nicht Euer Bruder, wie er hat gesagt. Aber warum fragt Ihr denn! hab' ich gesagt. O, da hab' ich wohl gemerkt, wie verlegen er gewesen ist. Es wär' nicht sicher da im Ulrichsholz, hat er gesagt. Ja, hab' ich gedacht, das mein ich selber. Und wenn ich Euch begegnen tät', sollt' ich nicht tun, als hätt' er nach Euch gefragt. Ja, hab' ich gedacht, das mein' ich wieder. Und weil ich hab' wollen wissen, wer er ist, da hat er getan, als hört' er's nicht. Und weil er so getan hat, da sind Leut' gekommen, und das sind Leut' aus der Stadt gewesen. Ich hab' ihm ins Gesicht wollen sehen, da ist er fort gewesen. Die Leut' aus der Stadt haben aber gleich gesagt: Wenn das die Heiterethei wüßt'! Und wenn ich ihr begegnen tät', so sollt' ich's ihr um Gottes willen sagen. Und weil ich denk', daß Ihr die Heiterethei seid, so kehrt lieber wieder um, als daß Ihr dem in die Hände lauft. Aber ich hab' noch weit. Wenn Ihr mitwollt, so kommt.«

Damit nahm sie ihren Karren wieder auf und fuhr ihres Weges weiter.

Wohl möglich, die Heiterethei hätte ihren Rat befolgt, wußte sie sich nicht gekannt von ihr. Aber die Bäuerin sollte erzählen können, die Heiterethei habe sich vor jemand gefürchtet, sei vor jemand geflohen? Nein! Der Mensch war groß und stark, und wer weiß, vielleicht auch nicht allein. –

»Und wenn's zwei Holder-Fritze wären,« sagte die Heiterethei zum Walde, warf die Lippen auf, daß der Wald hätte große Druckflecken auf ihren Wangen sehen müssen, war es Tag, und nickte noch obendrein mit dem Kopfe: »Ich fürcht' mich vor zwei solchen nicht. Wegen vier solcher kehrt' ich nicht um. Und so ist's, und nu ist's fertig.«

Der Wald zitterte vor Verwunderung oder vor Schauder an seinen grünen Gliedern.

Aber kaum nach zwanzig Schritten hielt die Heiterethei unwillkürlich an. Sie hörte, auch die Bäuerin blieb stehen, wahrscheinlich, weil sie merkte, die Heiterethei habe sich anders besonnen und werde ihr nachkommen.

»Ja, hätt' ich's gleich getan,« sagte die Heiterethei; »aber nun ich gesagt hab', ich tu's nicht? Und hinter der drein, wie ein klein Kind hinter seiner Mutter?« – Und noch ehe sie sich selber geantwortet hatte, war sie schon wieder im Schritt und hörte auch die Bäuerin ihres Weges weiterfahren. Sie kam auch gar nicht zur Antwort. So plötzlich fiel ihr ein, daß der Grund, in den sie einbiegen müsse, der Blutgrund heiße. Zum erstenmal vertiefte sie sich in die Bedeutung des Wortes, das sie so oft und stets gedankenlos ausgesprochen und ebenso ohne Gedanken darüber aussprechen gehört. Und wie der Name, kam ihr auf einmal die ganze Gegend wie eine andere, wildfremde vor, der man es ansähe, daß hier etwas Schreckliches geschehen war oder noch geschehen sollte.

»Dummes Zeug!« sagte sie endlich zornig zu ihren Gedanken. »Das wär', als wenn ich mich fürchtete.« Und im Gegenteil hatte sie nun erst recht Lust, in den Blutgrund einzubiegen; obschon ihr einfiel, alle Leute sagten, der Weg durch den Bühel gehe gar nicht viel, oder eigentlich gar nicht um; er sei viel ebener und breiter als der Blutgrund; nicht jeden Augenblick bleibe man dort in Baumwurzeln stecken, wie hier.

»Fürchten tu ich mich nicht. Sollt' ich deshalb jeden Augenblick in Baumwurzeln stecken bleiben, weil eins denken könnt, es wär aus Furcht, wenn ich's nicht tu? Und wo's nicht einmal jemand sieht!«

So dumm wollte doch die Heiterethei sich selber nicht vorkommen, wollte sie sich's auch nicht gestehen, wie viel leichter es ihr war, als sie den Eingang zum Blutgrunde eine gute Strecke hinter sich hatte.

Endlich nahm das Holz ein Ende. Sie war nicht mehr weit vom Leinfelde ihrer Base. Und nun verflachte sich auch das Gewölk vor dem Monde zusehends. Nur noch ein wenig dünner die dreieckige Wolke da, und sie konnte durch die Erlen und Weiden am Bache den Knopf vom Luckenbachcr Turme funkeln sehen. Und der Bach, der neben ihrem Wege hinglitzerte und etwas weiterhin ihn durchschnitt, war ja der Zehntbach, derselbe, der daheim an ihrem Häuschen vorbeifloß, derselbe, in dem sie alle Morgen sich wusch, darin sie sich gebadet in so mancher warmen Nacht.

Dennoch überrieselte sie von neuem ein Schauer, als ganz nahe bei ihr ein leises »Pst« sich hören ließ.

»Fahrt den breiten Weg, Dorle, den über die Herrnmühl',« flüsterte eine Stimme, »und macht, daß er Euch nicht ansichtig wird.«

Wer spricht? und wo? und wer soll ihrer nicht ansichtig werden? und wo ist er?

Ein blasses Gesichtchen taucht neben ihr auf aus dem dunklen Gebüsch. Das kleine, lahme Walkmüllers-Gretle ist die Warnerin. Sie stößt die Krücke in den weichen Boden fest ein und streckt sich, mit dieser sich stützend, auf ihrem gesunden Beine, so hoch sie kann. Mit dem mageren Ärmchen zeigt sie nach dort, wo der Bach quer über den Weg läuft.

»Dort, auf dem Ulrichssteg, dort steht er und lauert schon eine Stund' lang. Macht geschwind, sonst wird er Euch noch gewahr!«

Ein flüchtiger Blick des Mondes durch eine Lücke im leichteren Gewölk streifte jetzt dienstfertig den Steg und die dunkle Gestalt, die darauf steht. Es ist, als wolle auch der Mond das Schreckliche nicht geschehen lassen. Im nächsten Augenblick ist's wieder so dunkel dort, als vorher; aber sie sieht ihn noch, der auf dem Stege steht: und wär's ganz Nacht, sie würde ihn noch sehen.

Einen Tumult der entgegengesetztesten Gefühle wühlt der Anblick aus ihrem tiefsten Herzen auf; dazwischen zucken wie Blitze fieberhafte Gedanken durcheinander hin.

»Also ist's doch? Also doch lauert er mir auf? Und was hab' ich ihm getan? Warum gerad er?«

Alle die Warnungen, Träume und Vorzeichen, alle Schreckgeschichten der letzten Nacht wachsen aus dem Boden vor ihr auf wie riesengroße Schattengestalten und dräuen sie zurück. Sie sieht die Haube der Valtinessin, aber sie kann nicht lachen. Dazu die Reden der Bäuerin vorhin im Ulrichsholz. Sie sieht das Kind, das sie weinend zurückhalten will. Sie sucht Hilfe in ihrem Innern und findet nur den Gedanken: »Ein Weib ist doch kein Mann!« Sie weiß, sie wird sich des Gedankens schämen im nächsten Augenblicke. Aber sie fühlt, jetzt ist er ihr Herr. Sie biegt schon mit den Augen in den Weg ein, den das Gretle ihr geraten hat. Aber wie die Füße folgen wollen, sieht sie, der Schneider kommt den Weg her; sie müßte ihm begegnen. Da schlägt ihr die Scham wie eine Flamme ins Gesicht. Sie hört seinen, des Schmiedes und des Webers Gelächter und Spott schon in Gedanken. Unwillkürlich tut sie einige Schritte weiter dem Verfolger entgegen. Über die Mündung des anderen Weges einmal hinaus, kann sie nicht mehr zurück. Das würde den Spott erst gewiß machen.

Aber ist's nicht besser, sterben, wenn's sein muß, denn leben, der nimmer endenden Furcht und Selbstverachtung preisgegeben? oder drinnen in der Stube dem Hungertod doch eine gewisse Beute? Denn die Warner bringen Rat dahin, aber kein Brot. – Als ob man sterben müßte! als ob es ausgemacht wäre, der Holders-Fritz sei stärker als sie!

Und wenn er's wäre! Und trotz seinem Beil! Naht sie ihm, dicht am Bache hinfahrend, von den Erlen versteckt, kann er sie nicht sehen, das Beil nicht heben, bis sie an ihm ist. Im weichen Grase rollt der Karren nicht, klirrt das Eisen nicht. So mit dem Vorteile des ungeahnten Angriffs, mit ihrer ganzen Kraft, durch Verzweiflung des Augenblicks verdreifacht, Gedanke und Ausführung eins! Da müßte es doch – – –

Ja, und es geht auch nicht mit unrechten Dingen zu.

Der Verfolger liegt im Bache, und die Heiterethei ist schon weit über den Steg hinaus, ehe es ihr gelingt, den Karren und sich selber anzuhalten.


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