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Als Giulietta unvermutet auftauchte, spielte Meister Ludwig den Schwestern gerade einige Teile einer neuen Komposition vor, die auf Anregung des französischen Generals Bernadotte entstehen und dem Konsul Buonaparte zugedacht werden sollte. Der musikliebende General war vor einigen Jahren in Wien und hatte Beethoven gehört, mit dem er darüber zur Sprache kam. Der Künstler hatte Sinn für große Persönlichkeiten, und trotzdem die Franzosen sein liebes Bonn besetzt und seinen guten Fürsten vertrieben hatten, hegte er Verehrung für Buonaparte, den mächtigsten Mann Europas, der den Krater der französischen Revolution geschlossen hatte. Er war daher Feuer und Flamme für die Idee, und alsbald entstanden einige Entwürfe, die wieder liegenblieben bis zur Zeit, da der heroische Tod des englischen Generals Abercromby in der Schlacht bei Alexandrina bekannt wurde. Der Tondichter nahm die liegengebliebene Arbeit wieder auf und vermehrte sie um einige neue Entwürfe; unter anderem entstand unter dem Eindruck der Todesnachricht über den Seehelden die erste Niederschrift des Trauermarsches.
Theresa, die er über alle seine musikalischen Pläne ins Vertrauen zog, gewann dabei einen tiefen Einblick in seine Werkstatt und seine Arbeitsweise, die an einer Sache oft mit vielen Unterbrechungen und langen Pausen schuf und sie nur allmählich der Vollendung zuführte. Bei seiner Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit schuf er verhältnismäßig langsam und mit äußerster Bedachtsamkeit, bis alles so war, daß es jedem Klangverhältnis und in jedem Ideenausdruck seiner inneren Tonvorstellung entsprach.
Während er sonst aus seinen Entwürfen und schöpferischen Absichten ein großes Geheimnis machte und selbst seinem vertrauten Schüler Ferdinand Ries nicht alles offenbarte, liebte er es, Theresa zur intimen Mitwisserin als seine zweite Muse zu machen. Ihr brachte er alles Neue, selbst Unfertige zu Gehör, und wenn sie auch nicht ein großes musikgelehrtes Wissen hatte, so besaß sie doch ein feines, richtiges Gefühl und wußte klug zuzuhören, was dem Meister das Wertvollste war, wenn er auch nachträglich immer wieder änderte und verbesserte.
Er brauchte Seelengemeinschaft, und hier fand er sie.
Fast unhörbar war Giulietta ins Zimmer geglitten, zart und behend wie eine Elfe, und blieb an der Tür stehen.
Josephine warf Theresa einen Blick zu, der alles besagte.
Aber sie war zu gut erzogen, um sich bei der Begrüßung, als der Meister geendet hatte, etwas anmerken zu lassen. Die vollkommene Beherrschung der Form machte es ihr und besonders Theresa unschwer, den Sturm der Gefühle zu verbergen, die der unerwünschte Besuch hervorgerufen.
Giulietta war von bezaubernder Liebenswürdigkeit.
Der Meister indessen nahm kaum Notiz von ihr, als sie vorgestellt wurde, es war ihm unbequem, wenn eine neue, unbekannte Person die geistige Atmosphäre störte. Das wirkte immer wie Zugluft, der man gern aus dem Wege geht. Er erhob sich vom Klavier und setzte sich in eine Sofaecke.
Das Gespräch entspann sich zwischen dreien, Ludwig und beiden Schwestern; Giulietta blieb unbeteiligte Zuhörerin. Sie schien wie vergessen, ausgelöscht, nicht vorhanden. Sie merkte es – und blieb.
»Der gute Haydn meint immer, was Wunder ich bei ihm hätte lernen können,« sagte der Meister, »aber ich bin bei einem Meister in die Schule gegangen, dem auch er sein Pfund verdankt, nämlich bei dem, der uns die Gabe mit auf den Lebensweg gegeben, und diese Gabe ist eben ein von oben Gegebenes. Das ist die Ähnlichkeit bei aller Grundverschiedenheit. Es heißt meine Musik schlecht verstehen, wenn man nicht erkennt, daß sie nur das eine will und nichts anderes: nämlich Ausdruck des Seelenlebens. Das ist es, was so viele nicht begreifen wollen, und was auf alle so ungeheuer neuartig wirkt. Die ältere Musik kennt nicht dieses persönliche Prinzip des durchaus persönlichen Eigenlebens, das gleichwohl tief genug erfaßt wieder ans Absolute reicht, wo Gottes Grund ist. Die Gnade baut eben auf der persönlichen Natur auf. Hier ist der Weg, der weiter führt, alles andere ist Vergangenheit und Tod. Freilich muß Tiefe und Erlebnisfähigkeit da sein. Und vor allem Handwerk!«
Theresa war neugierig, wann und wie der Meister zu dieser fruchtbaren Erkenntnis gekommen sei. Sie meinte, daß der Genius wohl schon in der Kindheit alle seine Gaben gleichsam spielend beherrscht habe, ähnlich wie Mozart.
Sie wußte so verständig zu fragen, daß Ludwig sich immer zu neuen Erklärungen angeregt fühlte; es gab nie tote Punkte in ihrem Gedankenaustausch.
»Nichts weniger als das«, bekannte der Meister. »Ich habe eine bittere Lehrzeit hinter mir. Und war immer ein etwas eigenwilliger Schüler. Allerdings wurde schon seit meinem vierten Jahre die Musik meine Beschäftigung. Ich konnte kaum noch das Klavier erreichen und mußte auf einem Schemel stehen, um die Klaviatur zu überblicken. Ich habe jahrelang Tag und Nacht geübt, mein Vater war ein strenger Lehrmeister. Nachts, wenn er mit seinem Freund Tobias Pfeiffer, dem Sänger und Hoboisten des Hoftheaters, der den Unterricht in die Hand genommen hatte – er wohnte in unserem Hause –, aus lustiger Gesellschaft heimgekommen war, wurde ich unerbittlich aus dem Schlafe gerissen, obschon ich weinte und mich sträubte, und nun ging's ans Klavierüben bis gegen Morgen. So fast ein ganzes Jahr hindurch. Es war eine harte Schule.«
Die Schwestern entsetzten sich.
»Aber sie hatte doch auch ihren Wert«, fuhr der Meister fort. »Man verwuchs mit dem Instrument. In meinem zwölften Jahre wurden die ersten Kompositionen von mir gedruckt, die dem Fürsten gewidmet waren. Damals war der Hoforganist Neefe mein Lehrer, dem ich geistig das meiste verdanke. Er war es, der mich zu der Erkenntnis führte: Ausdruck des Seelenlebens! Es war kein großer Musiker, aber er ahnte bereits den neuen Weg. Jetzt hatte ich festen Boden unter mir und bin fortan allein weitergeschritten, nur auf das achtend, was mir meine Eingebung sagte. Mozart und Haydn hoch in Ehren, sie sind unsterbliche Meister, aber sie konnten nicht meine Muse sein, denn sie ist himmlischen Ursprungs und wählt andere Gestalten, wenn sie sich irdischer Sendboten bedient: früher Leonore, und jetzt, wenn Sie erlauben, Theresa und Josephine und – – –«
Er konnte den Satz nicht vollenden, der unwillkürlich zu einer Huldigung für das Schwesternpaar wurde, das darüber in eine glückselige Verlegenheit geriet; er war vom Klavier her unterbrochen worden, wo sich Giulietta zu schaffen machte und eine bekannte Melodie aus einer italienischen Oper nur mit einem Finger anschlug, bloß ein, zwei Takte:
»Nel cor non più mi sento – – –«
Der Meister merkte auf und trat ans Klavier.
»Aus der Oper ›La Molinara‹« sagte er.
»Ich habe einmal Variationen über diese Stelle gehabt«, bemerkte Giulietta, halb für sich.
Der Meister stutzte bei dem Klang ihrer Stimme und sah sie nun erst eigentlich an. Die Stimme schien ihm bekannt; doch die Person war ihm vollkommen fremd.
Nur soviel erkannte er: »Hübsches Frauenzimmer«, sein Auge war empfänglich dafür. Die schlanke und doch volle Gestalt, das üppige, wellige Haar in rotgoldenen Fluten, das graublaue Auge mit einem blitzenden Feuer, wie es in solchen Augen selten zu finden war, die blühenden, schön gezeichneten Lippen, die lächelnd halb geöffnet weiße Perlenzähne sichtbar werden ließen, die übermütigen Schalksgeister um die Augen, Wangen und den koketten Mund – eine Prachthexe.
Der Meister sah nur flüchtig an ihr vorbei, aber er hatte trotzdem das sinnverwirrende Bild in den wesentlichen Zügen aufgefangen.
Er ließ sich sofort am Flügel nieder und versenkte sich in das angeschlagene Motiv. In immer kühneren, lockenderen, sehnsüchtigen und leidenschaftlichen Klängen entwickelte er die empfangene Anregung zu freien Variationen; eine Augenblicksschöpfung, in der sich immer wieder der Eindruck spiegelte, den er von dem schönen Mädchen empfangen, ohne daß er sie wieder ansah. Ja, er vermied es geflissentlich, sie nochmals anzublicken, und hielt sich bloß an das, was er empfand. Auch später, im Gespräch, redete er an Giulietta vorbei; er sah sie und sah sie nicht.
Sie war ganz entzückt, und äußerte immer wieder: »Schade, schade; wenn man das nur besitzen könnte! Wie schmerzlich, wenn es heißt: im Augenblick begrüßt und schon verloren!«
Dann setzte sie sich ans Klavier und versuchte, einige Passagen des soeben Gehörten aus dem Gedächtnis nachzuspielen, indem sie die Art des Meisters so verblüffend nachahmte, daß nicht nur die Schwestern, sondern auch der Meister selbst ganz überrascht waren.
»Wo hast du denn das her!« rief Josephine voller Verwunderung aus, »nie habe ich dich so spielen hören!«
»Ich kann es auch nicht,« erwiderte Giulietta, »ich bin nur eine Stümperin; morgen ist alles vergessen und dahin, was mir jetzt ein glücklicher Moment gibt, den ich selbst nicht verstehe!«
»Sie haben Talent,« rief Ludwig, »ein ganz ungewöhnliches Talent! Es mangelt Ihnen nur an Technik, aber das ist eine Sache des Fleißes und des Studiums, doch haben Sie die Grundvoraussetzung: musikalisches Temperament und Ausdrucksvermögen.«
»Ach, mir fehlt so viel«, seufzte sie mit sentimentalem Anflug. »Vielleicht könnte ich es noch zu was Rechtem bringen, wenn Sie mir helfen würden; würden Sie das?!«
»Ei, warum nicht, es könnte mir nur ein Vergnügen sein«, erwiderte er, der sonst gar spröde tat, wenn sich eine neue Schülerin meldete und schon so viele Körbe ausgeteilt hatte. »Sie spielen eben gar nicht, wie sonst die Gräfinnen und Prinzessinnen!«
»Wirklich, wirklich?! Sie würden mich als Ihre Schülerin annehmen?« Ein triumphierender Ton lag in der Frage. »Wie sehnlich habe ich mir das gewünscht!«
»Theresa!« rief jetzt Josephine scherzhaft, obwohl ihr das Weinen näher lag, »die Gräfinnen, das sind wir! Weh' uns!«
»Nicht so! Nicht so!« wehrte sich der Meister, »Sie sind mehr, viel mehr!«
Man lachte und war guter Dinge; ein Scherzo, das der Meister sofort in Musik umsetzte, aber immer klang ein tragischer Grundton hinein, der hell und dunkel gegeneinander abhob und immer durchschlug. Besser hätte es durch nichts ausgedrückt werden können, was die Seele Theresas und auch Josephinens bewegte, so lustig auch gerade diese erschien.
So plötzlich Giulietta erschienen war, ebenso unvermittelt empfahl sie sich. Noch eine kleine Wendung an der Tür, ein rascher Blick, fast schadenfroh herausfordernd und siegesbewußt, auf die Schwestern hin, dann war sie enteilt. »Auf Wiedersehen!« klang es fast spöttisch zurück.
Ludwig hatte diese Bewegung erhascht, und war betroffen.
»Diese Gestalt, diese Gebärde und die Stimme – das alles ist mir nicht fremd, und doch kenne ich sie nicht! Ich muß sie schon gesehen haben, obschon ich nicht weiß, wo ich sie hintun soll.«
»Das ist wohl nur eine Täuschung«, meinten die Schwestern und bedeuteten dem Meister, daß er ihr noch nicht begegnet sein könne, da sie erst seit kurzer Zeit mit ihren Eltern in Wien weile und an dem Gesellschaftsleben so gut wie noch gar nicht teilgenommen habe. Wenigstens sei sie bisher in den Kreisen, wo der Künstler sich bewegte, noch nicht erschienen.
Er wollte Näheres über sie hören, aber die Freundinnen deuteten nur das Notwendigste über die Kusine an und schwenkten auf ein anderes Thema über.
»Sonderbar, recht sonderbar«, wiederholte der Meister, der immer noch nachgrübelte; »sie scheint ein Kobold, wenn auch ein schöner Kobold!«
Zum erstenmal seit Wochen, daß die Schwestern abends vor dem Schlafengehen die Ereignisse des Tages nicht mehr berührten. Sonst waren sie noch so gesprächig und erörterten jedes Wort, das er gesagt, und tauschten ihre Gedanken und Empfindungen aus. Immer war noch lange von »ihm« die Rede; Liebe und Verehrung konnten sich nicht genug tun.
Heute gingen sie einsilbig, fast schweigsam, mit einem flüchtigen Gute-Nacht-Kuß auseinander. Sie mieden es, von »ihm« oder gar von »ihr« zu reden, als ob sich ihre Gedanken voreinander scheuten oder schämten.
Und doch wußte eine von der andern, daß sie nichts anderes dachte und eine schlaflose Nacht haben würde.
Warum, warum?! Es ist doch alles töricht! Was auch die Vernunft sagen mochte, das Herz wußte es irgendwie anders und konnte es nicht sagen. Bleischwer und tot lag es in der Brust.
Nicht einmal das verschwiegene Tagebuch durfte es erfahren, außer diesem einen kurzen Vermerk, der zugleich so vielsagend war.
Am anderen Tag brachte der Meister die Variationen mit, fein säuberlich geschrieben. Er wollte sie Giulietta überreichen. Aber Giulietta kam nicht. Auch in den nächsten Tagen war sie nicht erschienen. Dem Meister ging sie ab. Er wünschte sie herbei und konnte sich nicht enthalten, mehrmals die Frage nach ihrem Verbleib zu tun. Er erhielt keinen rechten Bescheid; schließlich kam nicht mehr die Rede auf sie. Die Stunden nahmen ihren gewohnten Verlauf, nur daß der Meister nicht immer so lange verblieb. Eine Unruhe war über ihn gekommen, die ihn früher als sonst forttrieb. Die Variationen blieben hübsch in der Tasche. Es war das erstemal, daß er etwas vor Theresa verschwieg. Alles schien nach wie vor, das Leben ging seinen Gang, die kleine Verwirrung lag fernab wie Wölkchen am Horizont.
»Ich habe Giulietta unrecht getan,« schrieb Theresa in ihr Tagebuch, »und schäme mich meines unwürdigen Verdachtes gegen sie. Ich habe viel abzubitten vor dem edlen B.«
Unter den Schwestern war nicht mehr die Rede von der Sache.
Nur daß zuweilen Josephine ängstlich nach der Tür blickte, wenn während Ludwigs Anwesenheit irgendein Geräusch im Hause von der Ankunft eines Besuches hörbar wurde. Sie atmete auf, wenn keine Störung eintrat, die höchst unerwünscht war, von wem immer sie sei.
Die Wäsche war fertig geworden und wurde dem Meister mit einem zierlichen Briefchen als Dedikation in die Wohnung geschickt. Er kam alsogleich überströmenden Herzens und brachte zum Dank einen Sack voll Musik mit Gegendedikationen für Theresa und Josephine. Sie empfingen die kostbaren handschriftlichen Blätter wie Weihegeschenke. Es war ein Tag ungetrübten Glücks, die frühere Herzlichkeit und Unbefangenheit war wiedergekehrt; Giulietta schien vergessen.
Bei Lobkowitz war einer der gewöhnlichen intimen musikalischen Hausabende, an denen der Künstler häufig teilnahm. Es waren nur wenige Menschen zugezogen; der Fürst wollte seinen wöchentlichen Quartettabend, wo er selbst mitspielte, für sich genießen; er zog es mitunter vor, mit seinen Musikern allein zu bleiben.
Der Meister war etwas verfrüht erschienen, die Räume waren halbdunkel, nur in dem kleinen Musikzimmer, wo solche Hausmusik gepflegt wurde, brannte Kerzenlicht. Es schien noch niemand anwesend.
Als er eintrat, sah er zu seiner Überraschung Giulietta am Klavier stehen. Sie empfing ihn mit einem glückseligen Lächeln.
»Warum haben Sie sich nicht mehr blicken lassen,« fuhr er sie etwas unsanft an, »sind Sie mir untreu geworden?!«
»Im Gegenteil,« lächelte sie, »ich habe mich nur nicht getraut, weil ich fürchtete, meinen Kusinen lästig zu fallen. Ich habe gewußt, daß ich Sie hier treffen werde, darum bin ich da!«
»Ich habe an Sie gedacht«, erwiderte er und griff in die Tasche: »Seit acht Tagen trage ich das hier in der Tasche herum, Ihre Variationen!«
Sie nahm das kostbare Geschenk freudestrahlend entgegen und ergriff seine Hand: »Sie wissen nicht, wie glücklich Sie mich machen – – –«
Stimmen wurden im Nebensaal laut, der Fürst humpelte auf seinen Krücken herein, begleitet von den Eltern Giuliettas, Graf und Gräfin Guicciardi, und mit ihnen der Graf de Fries und Gallenberg.
Giulietta verbarg ängstlich die empfangene Notenrolle und plauderte in heiterster Unbefangenheit, das Gespräch nahm eine allgemeine Wendung. Graf de Fries machte seine Einladung für eine musikalische Soiree für nächste Woche und bat in zuvorkommendster Form den Künstler um sein Erscheinen. Meister Ludwig war etwas unentschieden; er blickte um sich, wie einen Entschluß zu finden, da begegnete sein Blick dem Giuliettens, die mit Gallenberg, der ihm den Rücken zugekehrt hatte, sich lachend unterhielt; es schien ihm, als hätte sie ihm zugenickt; sofort nahm er die Einladung an. Zmeskall war mit dem Kapellmeister Hummel erschienen, der im Hausquartett mitspielte; man nahm sofort an den Pulten Platz, Ludwig verfügte sich an das Klavier, ein hurtiges Gebrodel und Gefiedel erhob sich alsbald; der Fürst und seine Quartettfreunde waren in ihrem Element.
Gespielt wurden einige neue Quartettsätze des Meisters, die er für solche Gelegenheiten schuf. Diente das Klavier seiner persönlichen Aussprache, darin er sein Innerstes aufschloß, wie in den Sonaten, so bildeten seine Kammermusiken, Klavier mit Streichern, oder Bläserensemble mit Streichinstrumenten, oder Streicher allein, seine Trios, Quartette, Quintette, das Sextett oder das berühmte Septett sein Gesellschaftsleben. Hier wurden keine schweren Probleme gewälzt; man wollte sich unterhalten im Zwiegespräch der Instrumente; die Fragen des Lebens und der Kampf wurden in spielender Gesprächsform erledigt. Darum war die Gattung so beliebt, Liebhaber und Verleger rissen sich darum.
Die wenigen zuhörenden Kunstfreunde hatten im Hintergrund des Zimmers Platz genommen. In einer Ecke, ganz im Halbdunkel, hatte Giulietta Platz genommen, Graf Gallenberg saß neben ihr.
Er hatte an dem Spiel Beethovens allerlei auszusetzen.
»Dieser Mensch malträtiert das Klavier«, flüsterte er seiner Nachbarin zu. »Schrecklich, schrecklich! Er tritt geheiligte Traditionen mit Füßen, der Barbar! Hören Sie nur, Giulietta! Er hämmert wie mit Zyklopenfäusten! Wie unrein dieses Spiel klingt! O heiliger Mozart, du müßtest dich im Grabe umwenden, wenn du hören würdest, was aus deiner Kunst geworden ist! Dieser Mensch hat ja keine Ahnung von der graziösen Eleganz, der leichten Anmut des Anschlages, die uns der große Wolfgang Amadeus vererbt hat! Alles schwer, massig, wie in einer Grobschmiede! Und Sie wollten sich in die Hände dieses Grobschmieds begeben? Nimmermehr!«
Giulietta lächelte ihm ihr süßestes Lächeln zu. Sie widersprach nicht. Er nahm es für Zustimmung.
»In nächster Woche, Graf!« Ihr Blick, ihr Lächeln, das Spiel ihrer Hände – sie war freigebig mit Gnaden und Verheißungen. Sie war heute in der rechten Laune, den verliebten jungen Mann warm zu machen; ihre Koketterie nahm ihn ganz gefangen.
»Sie bleiben mir im Wort, Giulietta?!«
»Aber natürlich! Was ich versprochen habe, halte ich!«
»Ich danke Ihnen, Gräfin, Sie werden meine Schülerin!«
»Ja, vorausgesetzt – – –«
»Vorausgesetzt, daß ich siege in dem Klavierkampf mit ihm! Können Sie daran zweifeln?«
»Nicht im mindesten!« Sie lachte still in sich hinein.
»Dann ist die Sache so gut wie abgemacht. Ich habe mit Ihren Eltern schon gesprochen.«
»Halt, Graf, nicht so eilig! Ich bin des Siegers Preis!«
»Ich muß diesen Preis haben, Giulietta!« flüsterte er heiß, indem er sich ganz zu ihr hinbeugte. »Ich muß! Mein Glück, meine Seligkeit hängt daran!«
»Geduld, lieber Graf! Doch erst müssen Sie den Sieg über ihn gewinnen, denken Sie vor allem daran! Es geht um Ruhm und Ehre. Meine Schülerschaft ist nur die Draufgabe, und das ist nur Plage für Sie!«
»Nicht die Schülerschaft allein, Giulietta, mein Hoffen und Wünschen zielt höher«, brachte er heißer hervor.
Sie lehnte sich zurück, indem sie mit der Hand abwinkte und ihre Aufmerksamkeit fortab der Musik zuwendete.
Er schwieg gehorsam.
Als man sich nach dem Konzert trennte, gingen der Meister, Baron Zmeskall und Kapellmeister Hummel gemeinsam weg.
»Freunde,« schlug Ludwig vor, »wir gehen noch auf eine Stunde in den Schwanen! Ich bin heute übermütig, ganz ausgelassen – nein, geliebtester Conte di Musica, Eure Zmeskallität werden die Gewogenheit haben, mir bei einem Glas Wein Gesellschaft zu leisten!« Und dem Hummel rief er zu: »Nazerl, nimm ihn auf der einen Seite, ich auf der anderen und hinein in den Schwan, daß die Federn fliegen!«
Sie packten den Widerstrebenden, dem alles Sträuben nichts half; so zogen sie in das beliebte Stammbeisel ein, wo sie sich in einem der Hinterzimmer zu einem gemütlichen Abendtrunk niederließen.
Sie waren alle drei guter Dinge und ließen zunächst Musikereignisse und Personen Revue passieren. Im Verlauf der Unterhaltung bemerkte Hummel, daß sich Graf Gallenberg in nächster Woche beim Grafen de Fries hören lassen werde, und daß man beabsichtige, Beethoven zu einem Turnier herauszufordern.
»Also ein Komplott!« rief der Meister unwillig und schlug auf den Tisch. »Aber da hat mir der Fries nichts gesagt! Keine Silbe! Ich wollte schon ablehnen – hol' mich dieser oder jener, ich war schwach genug, anzunehmen!«
»Nun, du wirst deinen Mann stellen«, stachelte Hummel.
»Wenn du glaubst, daß ich mich mit dem grünen Jungen messe, dann bist du auf dem Holzweg!« polterte der Meister, der seiner Laune wild die Zügel schießen ließ. Um Augen und Lippen wetterleuchtete es bereits. Das Barometer kündete eben Sturm. »Da ist Falschheit im Spiel! Der gallengrüne Gallenberg soll erst zu mir in die Schule gehen, und wenn dann was Ordentliches aus ihm geworden ist, dann darf er sich erst zu Wort melden!«
»Nun, nun,« meinte Hummel, »er ist ein tüchtiger Klavierspieler und Komponist, ein Schüler Mozarts!«
»Das sagen alle von sich, aber das imponiert mir nicht!«
Hummel war etwas verletzt durch diese wegwerfende Bemerkung, denn er war selbst Mozartschüler und begann die Klaviertechnik seiner Schule gegen den Meister zu verteidigen, dabei gerieten beide immer mehr in Hitze, und Zmeskall suchte vergebens die Streithähne zu beruhigen.
»Gallenbergs Vortrag ist das Muster von Reinheit und Deutlichkeit, von Eleganz und Zartheit, Vorzüge, die allgemein anerkannt sind«, behauptete Hummel. Eigentlich meinte er seinen eigenen Vortrag, der allgemein diese Anerkennung fand; indem er Gallenberg lobte, verteidigte er seine eigene Festung. Das wollte Meister Ludwig keinesfalls gelten lassen.
»Gehacke«, rief er. »Monoton wie ein Leierkasten, keine Spur von Phantasie. Und seine Kompositionen? Leichte Modeware! Wenn es hoch kommt, bloße Bearbeitungen Mozartischer und Haydnscher Motive!«
Hummel empfand dieses harte Urteil als direkt auf ihn gemünzte Beleidigung und gab mit gleicher Münze heraus.
»Meinetwegen zeichnest du dich durch Kraft und Bravour aus, aber als Virtuose hast du Mängel, die eine schlechte Schule verraten; besonders die Unexaktheit der Ausführung, die willkürlich verschleppten oder beschleunigten Tempi, die Undeutlichkeit des Vortrags, lauter Dinge, durch die du hinter Gallenberg, sicher aber hinter einem Wölffl zurückstehen mußt.«
Daß sich Hummel auf Wölffl, den berühmten Salzburger Virtuosen und Mozart-Interpreten berief, gegen den der Meister vor einigen Jahren einen ehrenvollen Wettkampf bestanden hatte, den einzigen, den er nicht in Grund und Boden gespielt hatte, sondern der sich mit seiner entgegengesetzten Schule technisch gegen den Meister behauptete, der gleichwohl künstlerisch der Überlegenere blieb, brachte Ludwig völlig in den Harnisch.
»Du redest wie meine Todfeinde,« schrie er, »also gehörst du der Gegenpartei an, es ist gut, daß ich das weiß!«
Er sprang auf und rief den Zahlkellner Jean, der mit einer Schar Kellner bereits an der Tür lauerte und ängstlich auf die lärmende Gruppe hinspähte voll Besorgnis, daß der Streit von den Gästen in dem anstoßenden Saal gehört werden könnte, die schon angefangen hatten, die Ohren zu spitzen.
Der Gerufene stürzte sogleich herbei.
Der erzürnte Meister bezahlte seine Rechnung, nahm seinen Hut und stürmte hinaus. Zmeskall ihm nach. Hummel blieb ruhig sitzen.
Zmeskall suchte den Aufgeregten zu beruhigen.
Der aber wollte nicht hören.
»Mit dem da drinnen hab' ich nichts mehr zu reden! Ich bin fertig mit ihm!« schrie er in der nachtstillen Gasse und lief spornstreichs davon.
Zmeskall kehrte zu dem allein zurückgebliebenen Hummel zurück, um diesem ins Gewissen zu reden.
Am anderen Morgen schickte der erregte Meister dem Freund Hummel einen groben Brief.
»Komme Er nicht mehr zu mir! Er ist ein falscher Hund, und falsche Hunde hole der Schinder.
Beethoven.«
Er konnte sich gar nicht beruhigen.
Die Galle war ihm übergelaufen, er befand sich übel und hatte Leberschmerzen, wie immer, wenn er sich stark aufregte.
An einen Besuch bei den Schwestern Brunszvik war heute nicht zu denken, überhaupt nicht an den Unterricht. Der junge Schüler Czerny wurde weggeschickt, ebenso Ferdinand Ries. Dieser hatte nur den Brief an Hummel zu bestellen.
Es war ein übler Tag; der alte Diener Herzog hatte seine liebe Not. Niemand durfte vorgelassen werden.
»Es ist heute rein nicht zum Aushalten mit ihm«, brummte der Alte, als gegen Abend Zmeskall erschien. »Er hat heut wieder seine Launen!«
Der Baron ließ sich nicht wegschicken und wurde von dem Meister mit finsterer Miene empfangen.
Zmeskall war als Parlamentär erschienen und fing diese Sache diplomatisch an.
»Es war ein bedauerliches Mißverständnis gestern,« begann er, »und Hummel bereut seine Äußerungen.«
Und dann setzte Zmeskall behutsam auseinander, daß Hummel die Sache Gallenbergs anscheinend nur deshalb in Schutz nahm, weil er glaubte, der Meister wolle mit seinem abfälligen Urteil gegen den Grafen, das Hummel übrigens selbst unterschreibe, nur ihn, den Kapellmeister, treffen, nachdem er doch auch Mozartschüler sei; er habe darum alle Äußerungen des Meisters auf sich bezogen und sich nur seiner eigenen Haut wehren wollen. Er sei ganz unglücklich über das Zerwürfnis und besonders über den Brief, den ihm der Meister diesen Morgen geschickt habe.
Das Gesicht Ludwigs hellte sich auf bei diesen Worten.
»Natürlich habe ich nicht Hummel treffen wollen; es lag mir ganz fern, ihn kränken zu wollen! Das tut mir aber leid! Wenn es nun so ist, wie Ihr sagt, Zmeskall, dann seid so gut und sagt ihm, daß ich nichts gegen ihn habe. Ich werde ihm Abbitte leisten. Er soll mich morgen nachmittag besuchen, Schuppanzigh kommt auch; wir halten eine kleine Probe. Also tut mir die Liebe, geliebtester Amico!«
Der Baron war es wohl zufrieden, daß seine Mission so überaus gut geglückt war. Er schob es seiner diplomatischen Fähigkeit zu, den Meister so rasch umgestimmt zu haben, und empfahl sich alsbald, um dem armen Hummel die tröstende Nachricht zu bringen.
Am anderen Morgen schickte der Meister seinen treuen Botengänger Ries wieder zu Hummel mit einem Billett, das folgenden Inhalt hatte:
»Herzens-Nazerl!
Du bist ein ehrlicher Kerl und hattest recht, das sehe ich ein; komm also diesen Nachmittag zu mir, du findest auch den Schuppanzigh, und wir beide wollen dich rüffeln, knüffeln und schütteln, daß du deine Freude daran haben sollst.
Dich küßt
Dein Beethoven
auch Mehlschöberl genannt.«
Es war Ludwig ein Seelenbedürfnis, dem gekränkten Freund ein gutes Wort zu geben. Ein Stein war ihm vom Herzen, als der Brief fort war. Er wußte, daß niemand glücklicher sein werde als Hummel.
Die Freunde waren dem Meister also doch nicht so sehr Instrumente, auf denen er spielte, je nachdem es ihm gefiel. Er taxierte sie nicht bloß nach dem, was sie ihm nützten, wie er in mißlaunigen Stunden selbst vermeinte. Er konnte es nicht verhindern, daß Herz dabei war. Er konnte leicht hart und verletzend sein – er war kein bequemer Freund – aber er litt darunter, wenn er sah, was er in seinem Jähzorn angerichtet hatte.
Er verwünschte seine Erregbarkeit und klagte sich auch jetzt seiner übergroßen Heftigkeit an, die eigentlich nur Ausfluß seiner Empfindlichkeit und darum Notwehr war; er verwünschte diese Erregbarkeit, die mit seinem galligen Temperament zusammenhing, und in seiner körperlichen Indisposition begründet schien; er war oft unglücklich über seine leidenschaftliche Natur und die Hitze seines Blutes, die andererseits wieder ein Segen für den schaffenden Genius war, eine Kraft und ein Verhängnis zugleich. Wieviel Ungemach war daraus für ihn ersprossen! Wie viele bittere Zerwürfnisse, wieviel Leid und Reue! Er dachte an Leonore, mit der er sich einmal entzweit hatte; an den Freund Wegeler, den er durch hochfahrendes, aufbrausendes Wesen bitter gekränkt hatte, so daß dieser in Wien an seinem besseren Seelenteil schier verzweifeln wollte. Aber gerade dann kam immer wieder seine edle Natur um so herrlicher zum Vorschein: wie zart und innig wußte er sich wieder mit dem Engel Leonore auszusöhnen; wie tief verdemütigte er sich vor Wegeler, der ihm schonungslos einen Spiegel seines abscheulichen Betragens vorgehalten hatte. Wie groß war seine Reumütigkeit, mit der er dem beleidigten Freund Genugtuung tat, mehr als er an dem Geist der Freundschaft gesündigt hatte, die ihm immer ein hohes Ideal und ein wahres Herzensbedürfnis blieb. Wie liebreich wußte er nun auch seinen »Herzens-Nazerl«, den Ignaz Hummel, für den ihm bereiteten Ärger zu entschädigen!
Soviel Licht, soviel Schatten! Wie groß war hinwiederum die Güte, die aus solcher Schroffheit hervorquoll! Wie groß der Segen daraus für seine Muse! Leidenschaft und Tragik, das waren die Pole, die seine Kunst beherrschten als »Ausdruck seines Seelenlebens!«