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Das Vermögen der Adelines bildete besonders im großen Publikum, welches nach dem Scheine urteilt und gewissenhaft die fertigen Phrasen nachspricht, ohne sich deren Wert klar zu machen, das Gesprächsthema. Seit hundertfünfzig Jahren war dieses Vermögen gleichsam die Scheidemünze der Unterhaltung in Elbeuf und man bediente sich deren weiter.
Aber bei den Eingeweihten und denjenigen, die den Dingen auf den Grund zu sehen pflegen, begann diese Meinung von einem soliden und wohlfundierten Vermögen zu schwinden.
Der Vater des Constant Adeline hatte bei seinem Tode zwei Söhne hinterlassen: Constant, den ältern, den Chef des Elbeufer Hauses, und Jean, den jüngern, welcher, anstatt sich mit seinem Bruder zu associieren, in Paris ein bedeutendes Wollwarengeschäft en gros gründete, so bedeutend, daß es für den Verkauf Filialen in Havre und Roubaix, für den Einkauf solche in Buenos Ayres, Moskau, Odessa und Saratoff besaß. Dieser hatte mit den Adelines nichts als den Namen gemein; in Wirklichkeit war er ein Streber und ein Abenteurer. Ein durch den Handel nach und nach erworbenes Vermögen schien ihm verächtlich, er wollte eins durch wenige kühne Spekulationen gewinnen. Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er vielleicht reüssiert, aber bei seinem unerwarteten Tode war er in große, sehr große Unternehmungen verwickelt gewesen, deren Liquidation seinen vollständigen Ruin nach sich zog, seinen, den seiner Frau und den seiner Mutter. Zwar hätten sie nicht zu bezahlen brauchen, allein dann wäre der Bankrott ausgebrochen. Zur Rettung der Ehre brachten sie lieber jedes Opfer. Um die bedeutenden Schulden tilgen zu können, gab die Frau alles hin, was sie besaß, und die Mutter ließ sich, nachdem sie ihre Besitzungen und Wertpapiere veräußert, von ihrem ältesten Sohne auch noch ihren Anteil am Elbeufer Geschäfte herauszahlen. Constant hätte das Verlangen seiner Mutter ablehnen oder auf alle Fälle nur die Hälfte geben können. Aber er gab ihren ganzen Anteil heraus, und hiebei bestimmte ihn ebensosehr die Achtung vor dem Willen seiner Mutter, als die Rücksicht auf die Ehre seines Namens, der auf der Liste der Bankrotteure nicht figurieren sollte.
Ein Kaufmann zieht aber zwölfmalhunderttausend Franken nicht so ohne weiteres, und ohne daß er etwas davon spürt, aus dem Geschäfte: Constant Adeline jedoch konnte dies, ohne, wie es schien, die Solidität seines Hauses in Frage zu stellen.
Wenn er dadurch auch ein wenig beengt war, so würden ein paar gute Jahre die Lücke wieder ausfüllen – es handelte sich nur darum, zu arbeiten.
Aber gerade um diese Zeit war eine noch jetzt andauernde Handelskrise und ein vollständiger Umschlag in der Mode eingetreten. Man gab mit einem Male dem in England und zu Roubaix hergestellten Gewebe mit stark angezogenem Zettel und Einschlag den Vorzug vor dem seit dreißig oder vierzig Jahren in Elbeuf mit anerkannter Vorzüglichkeit fabrizierten gewalkten Tuche. Statt der erhofften guten Jahre war ein schlechtes dem andern gefolgt; anstatt durch fleißiges Arbeiten die Lücke auszufüllen, galt es, dafür zu sorgen, daß sie nicht ins Ungemessene sich erweiterte. Und nicht einmal dies glückte. Denn mehr als für jede andre Ware sind Handelskrisen ein Ruin für Modeartikel. Es ist damit wie mit den ersten Früchten: sie lassen sich nicht aufheben. Ein Stück einfarbiges Tuch, schwarz, grün, blau, kann ruhig auf Lager bleiben, ohne daß dem Fabrikanten daraus ein andrer Nachteil erwächst, als daß er die Zinsen des Anlagekapitals verliert und nichts gewinnt. Mit einer Nouveauté verhält es sich anders – der Name besagt es schon. Der Fabrikant bereitet alles zur Herstellung eines neuen Stoffes vor: die Anordnung des Gewebes, Wolle von der Sorte mit solcher von jener Sorte oder mit Seide: die Farbennuancen der Woll- und Seidenstoffe; das Gespinst, je nach der Wirkung, auf die es berechnet ist; das Gewebe mit Rücksicht auf die Zusammensetzung des Musters und die Haltbarkeit des Stoffes; die besondre Appretur, die in ihrer Art ebenso verschieden ist, wie die Farbe, das Gespinst und das Gewebe. Dieser Stoff muß dann im richtigen Momente und gerade für die Saison, zu welcher er hergestellt worden ist, verkauft werden; entgegengesetzten Falles hat er in der nächsten Saison seinen Wert verloren. Aber wie soll man verkaufen, wenn aus irgend einem Grunde, sei es nun eine Handelskrise oder ein Umschlag in der Mode, die Käufer, für welche man gearbeitet hat, ausbleiben? Die Mode muß der Fabrikant voraus ahnen, vermag er dies nicht und fällt er ihr zum Opfer, so hat er es selbst zu verantworten; für Handelskrisen allerdings trifft ihn keine Schuld, denn er ist weder Minister noch König, und Seuchen, Landplagen und Kriege kann er nicht verhüten.
Als Constant Adeline Abgeordneter geworden war, konnte er sich um seine Fabrik nicht mehr wie früher von morgens bis abends bekümmern, aber trotzdem vernachlässigte er sie, während er tagelang im Palais Bourbon saß, durchaus nicht. Elbeuf ist nur zwei und ein halb Stunden von Paris entfernt. Jeden Sonnabend nach der Sitzung benützte er den Zug und traf um halb zehn Uhr zu Hause ein, wo ihn die Seinigen erwarteten. An diesen Tagen wurde das verspätete Diner zu einem Souper. Alle ohne Unterschied, selbst die alte Frau Adeline mit ihren vierundachtzig Jahren und gelähmten Beinen, die nur die »Mama« genannt wurde, ja selbst die kleine Leonie Adeline, die Tochter des Jean Adeline, welche seit dem Tode ihrer Mutter bei dem Onkel wohnte, setzten sich nicht zu Tische, bevor das Haupt der Familie seinen während der ganzen Woche freistehenden Platz eingenommen hatte. Alle Gesichter waren aufgeheitert und obgleich das lange Warten den Appetit gereizt hatte, plauderte man mehr als man aß.
»Wie geht es dir, Mama?«
»Gut, mein Junge, und dir? Es ist diese Woche wieder recht toll hergegangen in der Kammer, was dich gewiß recht ›gefuchst‹ hat; das war denn doch für nix und wieder nix!«
Die Mama, eine echte alte Elbeuferin, hatte die alten Manieren ebensogut in ihrem Anzug als in ihrer Ausdrucksweise beibehalten, ohne sich die Mühe zu geben, dieselben irgendwie zu ändern. Im Sommer trug sie ein Kleid von indischem Gewebe aus Rouen, im Winter von Elbeufer Tuch, ihre schwarzen spitzengarnierten Tüllhauben waren nach der Mode des Jahres 1840, der letzten, welche sie noch mitgemacht hatte. Sie sprach ihr gedehntes normannisches Patois und gebrauchte Elbeufer Redensarten, die sie als Kind gelernt hatte, zum Entsetzen ihrer Enkelinnen. Diese wagten zwar nicht, sich offen darüber aufzuhalten, aber sie flüsterten einander heimlich zu, daß die »Chaircuitiers« jetzt Charcutiers hießen, die »Castorolen« Kasserolen geworden seien, und daß es doch wohl besser wäre, »umsonst« anstatt »für nix und wieder nix« zu sagen.
Adeline mußte nun umständlich auseinandersetzen, warum man so »für nix und wieder nix« geredet habe, denn die Mama, welche von morgens bis abends im Rollstuhl saß, las den »Officiel« von einem Ende bis zum andern, und sie, die über alles, was in der Kammer vorging, besser Bescheid wußte als viele Abgeordnete, schenkte ihm auch nicht die kleinste Einzelnheit. Wenn ihr Sohn eine Rede gehalten hatte, erörterte und zerpflückte sie die Gründe seiner Gegner und geriet außer sich, daß nicht alle gestimmt hatten wie er. Nur in einem Punkte tadelte sie sein Verhalten – wenn es sich um religiöse Angelegenheiten handelte. Würde er denn in der Politik niemals der Religion eine Konzession machen? Welcher Kummer für sie, daß er in diesen Fragen so gar nicht stimmte, wie sie es wünschte! Als Kind war er doch so unterwürfig und fromm gewesen!
Er pflegte sich achtungsvoll dagegen zu verteidigen, zumeist jedoch suchte er das Thema der Unterhaltung zu ändern und machte seiner Frau und seiner Tochter ein Zeichen, ihm dabei zu Hilfe zu kommen. Er hatte genug an der Politik, und wenn er sich beeilte, nach Hause zurückzukehren, so geschah es nicht, um sich von neuem auf Auseinandersetzungen einzulassen, von denen er die Woche über genug gehabt hatte. Es war ihm vielmehr darum zu thun, bei den Seinigen und in seinem Hause sich auszuruhen, in jenem Hause, welches so ganz mit Andenken angefüllt war, wo er als Kind gespielt hatte, wo er aufgewachsen war, wo sein Vater gestorben, wo er sich verheiratet hatte und seine Tochter zur Welt gekommen war, wo jedes Stück Hausrat, jeder Winkel ihn anheimelte, wo er aufatmen konnte nach dem hohlen und ermüdenden Treiben in Paris, das er neun Monate lang mitzumachen gezwungen war. Um wie viel gemütlicher waren doch diese großen, dunkeln Zimmer, diese altmodischen, wohlbekannten Möbel, diese Sessel im Stile des Empires, diese Uhren in vergoldeter Bronze mit ihren mythologischen Figuren, diese Sträuße von Papierblumen, welche, aus der Jugendzeit seiner Mutter herstammend, unter Glasglocken standen, wie viel gemütlicher als seine möblierte Junggesellenwohnung, die er in einem Hause der Rue Tronchet inne hatte. Um wie viel mehr reizte der Duft der Hausmannskost seinen Appetit, sobald er seine Thür öffnete, und lud ihn ein, sich zu Tisch zu setzen, als der warme Qualm, der ihm entgegenwehte, wenn er in die Pariser Restaurants eintrat, wo er allein aß! So wie er in sein altes Heim zurückkehrte, war er wieder der alte. Die einen Kammern in seinem Gehirn schlossen sich, die andern thaten sich auf. Den Pariser ließ er in Paris, in Elbeuf war er nur Elbeufer; der fade Geruch aus den Indigobütten verjüngte ihn, der Kaufmann trat an die Stelle des Abgeordneten: er war nur noch Gatte und Familienvater.
So wollte er von der Politik in Elbeuf nichts wissen: herzliche Worte, zärtliche Blicke, das war es, dessen er bedurfte, und ein vertrauliches Sichgehenlassen. Oft, während die Mama das Gesprächsthema fortsetzte und Lob und Tadel spendete, vergaß er es ganz, ihr Antwort zu geben, oder er that es nur mit wenigen zerstreuten Worten: »Ja, Mama;« »nein, Mama;« »du hast recht;« »ganz gewiß, zweifellos.«
Er hatte sich ziemlich gleichgültig verhalten, als ihn sein Vater nach seiner Rückkehr aus Deutschland mit einem jungen Mädchen verheiratete, das ihm, wenigstens bezüglich des Vermögens, nicht ebenbürtig schien. Aber seit zwanzig Jahren lebte er mit seiner Frau in der innigsten Gemeinschaft des Fühlens und Denkens. Er hatte gefunden, daß diejenige, die er ihrer Jugend zuliebe genommen hatte, eine Frau von innerem Werte war, der sich täglich neu offenbarte: sie besaß Intelligenz, Festigkeit des Entschlusses, Geradheit des Charakters, Güte und Nachsicht und, was für ihn unschätzbar war, seitdem er in die politische Laufbahn eingetreten, Instinkt und Begabung für kaufmännische Dinge. Das machte sie zu einem Associé, dem man die Leitung des Geschäfts, Fabrikation wie Verkauf überlassen konnte. Während er sich in Paris mit den Angelegenheiten Frankreichs beschäftigte, leitete sie zu Elbeuf mit geschickter und sichrer Hand diejenigen der Fabrik. Sie war eine wirkliche Kaufmannsfrau, wie man sie früher hinter den grünen Vorhängen des Comptoirs nicht selten antreffen konnte, wie man aber jetzt keine mehr findet, eine, die im stande war, mit einem einzigen Commis alle Comptoirarbeiten zu erledigen: Korrespondenz, Buchführung, die Kasse und die eigenhändige Auszahlung der Arbeiter.
Ein so guter Kaufmann auch Adeline war, hatte er doch durchaus keine Eile, gleich nach seiner Heimkehr die Unterhaltung auf die Geschäfte zu bringen. Er kannte diese Geschäfte, wenigstens der Hauptsache nach, aus den Briefen, die ihm seine Frau jeden Abend schrieb. Mit seiner Gattin, mit seiner Tochter beschäftigten sich seine Gedanken, und während er aß und ab und zu seiner Mutter Rede stand, ließ er seine Augen von einer zur andern gehen. Wie er jene zärtlich liebte, so betete er diese an, und manchmal beugte er sich plötzlich zu ihr hinüber und umfaßte sie mit seinen Armen:
»Nun, meine kleine Bertha, bist du froh, daß der Papa gekommen ist?«
Er betrachtete sie mit einem glücklichen Lächeln, stolz auf ihre Schönheit, die ihm unvergleichlich erschien. Wo konnte man ein reizenderes achtzehnjähriges Mädchen finden? Sie hatte seidenweiche blonde Haare, wie er sie bei keiner andern noch gesehen hatte, einen frischen Teint, einen tiefen und anmutsvollen Blick, alles geradezu bewunderungswürdig, und dazu war sie so herzensgut, so ungezwungen und vom liebenswürdigsten Charakter!
Um keine Eifersucht zu erregen, sprach er auch mit der kleinen Leonie, seiner zwölfjährigen Nichte, in zärtlichem Tone. Diese lebte, da er ihr Vormund war, in seinem Hause; man hielt ihr besondre Lehrer, weil sie von zu zarter Gesundheit war, um in das Kloster der »Dames de la Visitation« in Rouen geschickt zu werden, wo alle Mädchen aus der Familie der Adelines erzogen worden waren.
Man saß lange bei Tische und es war schon spät, als man sich endlich erhob. Darauf rollte er selbst seine Mutter in ihr Zimmer, welches sie, seitdem sie gelähmt war, im Parterregeschosse neben dem Salon bewohnte. Hernach umarmte er Bertha und Leonie, die in ihre Zimmer hinaufgingen, und begab sich dann mit seiner Frau ins Comptoir, wo ernste Dinge, die Geschäftsangelegenheiten, verhandelt wurden, was oft bis spät in die Nacht hinein dauerte.
Sie hatten da die Bücher, die Korrespondenz, die Musterkarten gleich zur Hand und konnten sich eingehend über alles, was im Laufe der Woche unerledigt geblieben war, verständigen. Sie berichtete ihm, was sie gearbeitet hatte und was sie zu unternehmen beabsichtigte; er seinerseits erzählte, welche Schritte er im Interesse des Geschäftes in Paris gethan, er teilte ihr mit, welche Kommissionäre, welche Kaufleute er aufgesucht hatte; er zog aus seinen Taschen die Müsterchen hervor, die er sich bei Tuchhändlern und Schneidern zu verschaffen gewußt hatte, und sie verglichen sie mit ihrem eignen Fabrikate.
Jahre hindurch war, wenn sie diese verschiedenen Punkte erörtert hatten, ihr Tagewerk alsdann vollbracht; für die abgelaufene Woche war abgerechnet, und was in der kommenden geschehen sollte, hatte man festgestellt. Aber die Zeiten wurden schlechter und die Geschäfte wickelten sich nicht mehr mit solcher Leichtigkeit ab. Der Warenabsatz verringerte sich, beim Verkaufe mußte man entgegenkommender sein und sich mit Käufern einlassen, mit welchen bisher nur die kleinen Fabrikanten, die gewagte Geschäfte zu machen gezwungen sind, verkehrten. Die Verwickelung in große Fallimente war die Folge dieses neuen Systems; Falliment folgte auf Falliment; eins hing mit dem andern zusammen und so war ein Moment eingetreten, wo das sonst so solide Haus Adeline in Verlegenheit kam, die Verfalltage der Wechsel einzuhalten.