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Drittes Kapitel

Eines Abends erwartete man wieder einmal Adeline; die Familie saß in dem Comptoir beisammen, dessen Laden man eben geschlossen hatte, nachdem die Arbeiter und Angestellten weggegangen waren.

Die Mama saß in ihrem Sessel und las im »Officiel«, Bertha blätterte in einem illustrierten Buche, Leonie arbeitete, an einem Pulte sitzend, an ihren Aufgaben und ihr gegenüber saß Frau Adeline und rechnete auf einem aus zusammengenähten Avisbriefen gebildeten Hefte, das sie zur Ersparung von Konzeptpapier benutzte. Der tags über so geräuschvolle Hof war still geworden; draußen hörte man nur das Heulen des Novembersturms und drinnen im Comptoir nur das Brummen des Ofens, das Singen des Gases und das Rascheln der Feder der Frau Adeline auf dem Papier. Von Zeit zu Zeit unterbrach sie sich, um ein Notizbuch oder ein Register zu vergleichen und darauf begann wieder das Rascheln, wenn ihre Hand die langen Kolonnen addierte. Das that sie mit einer gewissen Hast und die Querstriche, die sie unten zog, verrieten, daß ihre Hand zitterte.

»Stimmt die Kasse nicht, meine Tochter?« fragte die Mama.

»Doch.«

Die Mama schob ihre Brille in die Höhe und sah sie lange an:

»Was stimmt denn sonst nicht?«

»Es ist nichts.«

Früher würde sich die Mama mit dieser Antwort nicht zufrieden gegeben haben, denn es war augenscheinlich, daß, da die Kasse in Ordnung war, etwas andres ihre Schwiegertochter beunruhigte. Allein, seitdem sie sich ihren Geschäftsanteil hatte herauszahlen lassen, konnte sie sich nicht mehr so frei aussprechen wie sonst. Diese Herauszahlung war nicht ohne Widerstand vor sich gegangen, wenn auch nicht seitens Adelines, der sich den Wünschen seiner Mutter fügte, so doch seitens der Frau Adeline. Daß die Mutter die Hälfte ihres Vermögens ihrem einen Sohne zukommen ließ, dagegen war nichts zu sagen, aber daß sie es dem einen ganz geben und so den einen zu gunsten des andern benachteiligen wollte, das war nicht recht. Und die Schwiegertochter hatte sich hierüber in bündigster Weise ihrer Schwiegermutter gegenüber ausgesprochen. Von diesem Tage an waren die Beziehungen zwischen ihnen andre geworden. Solange der Mama die Hälfte des Geschäftes gehörte, war sie eine Teilhaberin und man war ihr diejenige Rechenschaft schuldig, die ein Teilhaber beanspruchen kann. Nachdem ihr indes ihr Anteil herausgezahlt worden war, wurde ihr kein Inventar mehr mitgeteilt, keine Rechnung mehr gelegt. Wie hätte sie dies auch verlangen können? Sie hatte in dieses Geschäft nichts mehr dreinzureden. Zwar schien sich ihr Sohn noch ebenso offen gegen sie auszusprechen, wie früher, aber der Sohn und die Schwiegertochter waren zwei verschiedene Personen. Uebrigens erstreckte sich diese Offenheit nur auf gewisse Dinge; über den Gang der Geschäfte aber verhielt sich ihr gegenüber das eine so zurückhaltend wie das andre. Wenn sie Constant befragte, so gab er stets die gleiche Antwort, daß die Geschäfte so gut gingen, wie sie gehen könnten, aber aus seinen Antworten ließ sich ersehen, daß er verlegen war und etwas zu verschweigen suchte. Und dann fragte sie sich, von Unruhe und Gewissensbissen gequält, ob sie ihn nicht dadurch, daß sie ihm zwölfmalhunderttausend Franken entzog, in eine kritische Lage gebracht habe. Die Geschäfte gingen so schlecht, man sprach so oft von Fallimenten, die Käufer, die sie sonst regelmäßig gesehen hatte, kamen jetzt so selten nach Elbeuf. Wenn sie noch einen Teil der Verantwortlichkeit für diese Situation ihrer Schwiegertochter hätte aufbürden können, das wäre eine Erleichterung für sie gewesen. Aber so große Lust sie dazu hatte, schien dies doch nicht möglich. Niemals, das mußte man anerkennen, war die Fabrik mit mehr Verständnis und Sorgfalt geleitet worden; auf alles, nach überallhin, sowohl auf das Hauptsächliche als auf Nebendinge war zu jeder Zeit ein wachsames Auge gerichtet und in allen Zweigen der Fabrikation verstand man in jener erfinderischen Weise zu sparen, wie dies nur Frauen auszuklügeln vermögen, ohne an der Organisation zu rütteln und Anlaß zu Klagen zu geben.

Sie hatte nicht weiter fragen können, sie mußte sich mit diesem »Nichts« begnügen und so nahm sie die Lektüre ihrer Zeitung wieder auf. Es war übrigens gewiß, daß irgend etwas Ungewöhnliches vorging; niemals hatte sie ihre Schwiegertochter so nervös gesehen und das war charakteristisch für eine sonst so ruhige Frau, welche sich besser in der Gewalt hatte, als sonst irgend jemand und nur das sagte und merken ließ, was sie wollte.

So viel Mühe sie sich aber auch gab, sich in ihre Lektüre zu versenken, konnte sie doch nicht verhindern, daß das Rascheln der Feder auf dem Papier an ihr Ohr schlug, und mit einem Male, als sie es nicht mehr aushielt, wagte sie eine neue Frage: »Fürchten Sie irgend ein neues Falliment?«

»Die Herren Gebrüder Bouteillier haben ihre Zahlungen eingestellt.«

Frau Adeline begann wieder zu rechnen, als wenn sie nicht gestört sein wollte, allein die Bangigkeit riß die Mama fort.

»Seid ihr mit einer großen Summe beteiligt?«

»Mit einer ziemlich großen.«

»Und sie fehlt euch am Verfalltage?«

»Constant soll mir die nötigen Gelder mitbringen.«

Die Erleichterung, welche die Mama dabei empfand, verhinderte sie, auf den Ton zu achten, in welchem diese Antwort gegeben wurde. Wenn ihr Sohn etwas auszuführen übernahm, so führte er es aus, darüber konnte man ruhig sein. Die Zahlungseinstellung der Gebrüder Bouteillier genügte auch überdies, um den nervösen Zustand der Frau Adeline zu erklären; sie gehörten mit zu den besten, ältesten und treuesten Kunden des Geschäfts und ihr Wegbleiben würde eine nicht unbedeutende Verminderung des Absatzes im Gefolge haben. Zweifellos war dies eine ärgerliche, aber keine allzu schlimme Sache; sie hatte Zutrauen zu dem Geschäft ihres Sohnes und baute auf das Renommee von Elbeuf; sie konnte es nicht fassen, daß die Krise, in der man sich befand, nicht bald zu Ende gehen sollte; die schönen Tage, die sie erlebt hatte, würden wiederkehren, man mußte nur Geduld haben. Sie bat Gott, daß sie das noch erleben möchte. Wenn sie, nachdem die Ehre der Adelines gerettet worden, das alte Haus neu befestigt sehen würde, dann wollte sie zufrieden sterben. Seit fünfundsechzig Jahren hatte sie nicht ein einziges Mal – ihre Wochenbetten abgerechnet – die Frühmesse in Saint-Etienne versäumt. Durch ihre Frömmigkeit hatte sie die Andächtigen mehrerer Generationen erbaut, aber niemals hatte man sie mit solcher Inbrunst beten sehen, als seitdem die Geschäfte ihres Sohnes schlecht zu gehen schienen. Obgleich sie nicht ihren Rollstuhl verlassen und sich auf die Kniee werfen konnte, gewahrte man doch an der Bewegung ihrer Lippen, an der Erregtheit ihrer Blicke, mit welcher Inbrunst sie betete. Ihre Augen hingen ohne Unterlaß an der Glasmalerei, welche den heiligen Rochus, den Schutzpatron der Wollkrämpler, an einem altmodischen Webstuhle webend, darstellt, und zu ihm besonders betete sie für ihren Sohn, wie für ihre Vaterstadt.

Die Feder der Frau Adeline lief noch immer über das Papier hin, als sich ein Geräusch von Schritten im Hofe vernehmen ließ. Wer konnte das sein? Es schien, als ob es zwei Personen wären. Die Tritte hielten vor der Thüre des Comptoirs; es klopfte mehrmals behutsam an.

»Soll ich öffnen Tante?« fragte Leonie, indem sie eifrig, wie Kinder sind, die gerne jede Gelegenheit ergreifen, um eine langweilige Arbeit zu unterbrechen, in die Höhe sprang.

»Nun freilich,« erwiderte Frau Adeline, wenn sie auch ein wenig überrascht war, daß man zu solcher Stunde hier und nicht in der Wohnung anklopfte.

Die Riegel wurden sogleich zurückgezogen und die Thüre öffnete sich.

»Ah! Es ist Herr Eck und Herr Michel,« sagte Leonie.

Es war in der That der Chef des Hauses Eck und Debs, der Vater Eck, wie man ihn in Elbeuf nannte, in Begleitung eines seiner Neffen.

» Ponchour, matemoiselle«, sagte der Vater Eck in reinstem Elsässer Dialekt, indem er mit seinem Neffen in das Comptoir eintrat.

Der Onkel war ein Mann von ungefähr sechzig Jahren von plumpem Körper und plumpen Manieren, mit kurzen Beinen und Armen, einem offnen, freundlichen und feinen Gesichte, dessen gekräuselte Haare, gebogene Nase und matter Teint sofort seine semitische Abstammung verrieten. Der Neffe dagegen war ein hübscher, schlanker junger Mann mit dunkeln Augen, weißglänzenden Perlmutterzähnen zwischen kirschroten Lippen und einem schwarzen, gekräuselten Barte.

» Ponchour, mestames Ateline,« fuhr Herr Eck fort, » ponchour, matemoiselle Perthe.«

Diese letzte Begrüßung begleitete er mit einer Verbeugung.

»Wie,« fuhr er fort, »Herr Ateline ist nicht da? Ich glaubte, er würde früh zurückkehren, und da ich Licht im Comptoir sah, nahm ich an, daß er es sei, welcher arbeitete, darum habe ich an dieser Thüre angeklopft; excusez-moi, mestames.«

Es kostete Mühe, Stühle für sie zu finden, denn das Comptoir war mit einer wahrhaft klassischen Einfachheit möbliert: ein schwarz angestrichener Tisch, zwei Pulte, ein Regal aus Tannenholz, welches an den vier Wänden des Zimmers hinlief und die Register und Musterkarten von sämtlichen Stoffen, die seit fast hundert Jahren im Geschäfte fabriziert worden waren, trug, und vier Strohstühle, das war alles. Zweihundert Jahre hatte dies genügt für einen Umschlag von mehr als dreihundert Millionen.

Die Eck und Debs hatten nach dem Kriege das Elsaß, in welchem sie bis dahin etabliert gewesen waren, verlassen, und in Elbeuf eine große Fabrik für glatte Tuche, Lastings und gemusterte, schwarze und farbige Tuche, wie es auf ihrem Firmastempel hieß, gegründet, in der sich ohne irgend welche fremde Beihilfe die ganze Verarbeitung von der rohen Schafwolle bis zum verkaufsfertigen Tuche vollzog. Sie hatten sofort Beziehungen mit Constant Adeline angeknüpft, welcher durch seinen Charakter und seine materiellen Verhältnisse über Neid und Mißgunst erhaben war, und sie hatten von seiner Seite ein liberaleres Entgegenkommen gefunden, als bei vielen andern Fabrikanten. Diese Beziehungen dauerten fort und erstreckten sich selbst auf die Familien, ohne daß daraus jedoch eine Freundschaft entstand. Zwar war die alte Frau Adeline nie mit der Mutter Eck zusammengekommen, einer achtzigjährigen Frau, welche eine ebenso eifrige Jüdin war, als jene eine eifrige Katholikin. Allein die Damen Eck und Debs und die junge Frau Adeline besuchten sich gegenseitig und die Söhne der ersteren, die beiden Brüder Eck und die drei Brüder Debs, hatten mehr als einmal mit Bertha getanzt.

Nach den ersten Höflichkeitsbezeigungen nahm Vater Eck seine treuherzige Miene an und sagte, indem er den Blick auf das Heft richtete, auf welchem Frau Adeline rechnete: »Immer fleißig, Matame Ateline, ich möchte auch so einen Commis haben, wie Sie und ... für denselben Gehalt.«

Er fing herzhaft an zu lachen, denn er hatte die Gewohnheit, von seinen Witzen selbst das beste wegzulachen, ohne sich darum zu kümmern, ob er nicht vielleicht der einzige sei, der sie witzig fand.

Aber sein Gelächter verstummte fast ebenso plötzlich, sein Gesicht nahm einen ernsten, fast betrübten Ausdruck an: » A brobos, matame Ateline, haben Sie Nachrichten über die Herren Gebrüder Bouteillier erhalten?« fragte er.

»Jawohl, heute morgen.«

»So wissen Sie also, daß sie ihre Zahlungen eingestellt haben?«

»Das ist der Inhalt des Schreibens.«

»Sind Sie dabei engagiert?«

»Unglücklicherweise. Und Sie?«

»Wir? O nein! Sie hätten gern gewollt, aber wir haben nicht gewollt, wir nicht. Seit drei Jahren flößten sie mir kein Vertrauen mehr ein; es waren Leute, die zu große Possen machten: eine Wohnung in den Champs-Elysées, ein Schloß in der Umgegend von Paris, eine Villa in Trouville, Winteraufenthalt in Cannes, auf die Dauer konnte das nicht so weitergehen.«

Es trat eine Pause ein. Der Vater Eck schien etwas befangen zu sein, wie auch Frau Adeline, und die letztere fragte sich, was dieser ungewöhnliche Besuch zu bedeuten habe. Sie wollte ihm zu Hilfe kommen: »Sind Sie mit Ihrem neuen Färbereiverfahren zufrieden?« fragte sie, indem sie das Gespräch auf einen Zweig des Geschäfts hinüberlenkte, der einen unerschöpflichen Stoff abgab, und worüber sie sich überdies gern Aufschluß verschaffen wollte.

»O, sehr zufrieden.«

»Und das kommt Sie wirklich billiger, als bei den Herren Blay?«

Er schloß den schon zur Antwort geöffneten Mund wieder und sagte erst nach einigen Sekunden der Ueberlegung: »Matame Ateline, Matame Ateline, das kann ich Ihnen nicht sagen, die Bilanz ist noch nicht gemacht.«

Das wurde in einem solch gutmütigen Tone gesagt, daß man an seine Aufrichtigkeit hätte glauben können, wenn er diese Wirkung nicht dadurch vereitelt hätte, daß er das Gesprächsthema rasch änderte.

»Wenn Sie einmal zu mir kommen wollen, dann werde ich es Ihnen mit Vergnügen zeigen; aber was ich Ihnen besonders gern zeigen möchte, das sind unsre neuen feststehenden Feinspinnmaschinen. Das ist wirklich eine schöne Erfindung. Nur sind uns nach ihrer Aufstellung ein ganzes Jahr lang alle Fäden zerrissen, wir haben für fünfzigtausend Franken Ausschußwaren gemacht, bis mein kleiner Michel eine ebenso einfache als vollkommene Verbesserung erfunden hat. Das muß man sehen; ich habe ihn ein Patent darauf nehmen lassen. Er ist wahrhaftig ein mechanisches Genie, der Junge.«

»Wird Herr Michel sein Patent selbst verwerten?«

»Er wird es verkaufen; die Eck und die Debs bleiben alle für immer beisammen.«

Es trat abermals eine Pause ein, nach welcher Herr Eck sich erhob und zu Frau Adeline sagte: »Könnte ich mit Ihnen ein Wort unter vier Augen sprechen?«

Frau Adeline ging ihm in den Salon voraus.


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