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Die Brücke überspannte alles zwischen der Stadt und den Industriebauten, die eine neue Stadt waren. Die Brücke führte in 42 Meter Höhe über Fluß, Kanal und Schienennetz. Sie bot den umfassendsten Ausblick, wenn jemand inmitten der Arbeiter ihr noch unfertiges Gerüst bestieg. Oberingenieur Birk hatte an schlechten Tagen droben ausgehalten, er stand auch am schönsten Morgen des Mai 1929 auf seiner Brücke. Es war ein erster, später Frühlingstag. Er forderte die Augen heraus, in die Luft zu schweifen; denn die Umrisse aller Gebäude, der alten drüben, der neuen hier, zerflossen darin, sie wurden leicht, und dies erleichterte auch das Herz.
Oberingenieur Birk sah einen Augenblick zu lange in die Frühlingsluft. Die Arbeiter in seiner Nähe retteten sich sämtlich vor dem schwingenden Balken. Ein eiserner Tragbalken, der heraufgewunden wurde, kam ins Schleudern. Es war eine ungeheure Last; von ihr nur gestreift zu werden konnte einen Menschen dauernd arbeitsunfähig machen. Birk wurde gestreift. Er brach zusammen, die Schreckensrufe hörte er schon nicht mehr.
Die Leute, die ihn aufhoben, fanden ihn so bleich mit seinen geschlossenen Augen, daß sie glaubten, es sei mit ihm zu Ende. Unten angelangt, es war schwer gewesen, sah er sie aber an und verlangte, nicht nach Hause, sondern ins Krankenhaus gebracht zu werden. Er wollte zu seinem Sohn in das Krankenhaus links des Flusses, schon in der Industriestadt. Es war übrigens näher, und seine Arbeiter brachten ihn, ohne erst das Krankenauto zu erwarten, auf ihren Händen hin. Sie hätten es für keinen anderen getan. Der junge Arzt untersuchte seinen Vater, als sie allein waren. Er hatte sogar die Oberschwester hinausgeschickt in seiner Erregung, jetzt fand er aber nur Quetschungen. »Ich habe auch nichts weiter«, sagte der Vater.
Auf die wortlosen Fragen seines Sohnes antwortete er: »Ich bin vom bloßem Schrecken ohnmächtig geworden. Es war nicht einmal mein eigener Schrecken – nein, ich dachte, als der Balken auf mich losfuhr, an deine Mutter. Deine Mutter ist tot. Aber wie wäre sie erschrocken! Als ich damals plötzlich operiert werden mußte, rief sie: ›Jetzt geht die Welt unter!‹ Daran dachte ich, wie der Balken kam, und verlor dann auch pünktlich das Bewußtsein – ihr Bewußtsein, sozusagen.«
»Du bist in acht Tagen wieder auf den Beinen«, versicherte der Sohn. »So lange behalte ich dich hier.«
»Nett von dir, Rolf. Übrigens kommt es mir nicht ungelegen, daß ich einmal ausruhen kann.«
»Ich verstehe«, sagte Rolf. Auch er selbst hatte schon verlernt, auszuruhen.
Birk sagte noch: »Der Unglücksfall gibt mir wenigstens Gelegenheit, meine Gedanken zu ordnen. Manche kleinen Pläne kämen sonst nie zur Ausführung. Es gibt im Leben doch noch andere Pläne, als was man zeichnet und ausrechnet.«
Er machte eine Pause, dann bat er den Sohn, zu telefonieren – an die hiesige Leitung des Konzerns natürlich, dann aber auch an die anderen Kinder. Mehrere von ihnen waren in den Büros des Konzerns erreichbar, die älteste Tochter Ella in ihrer Wohnung, die beiden Jüngsten vielleicht in ihren Fortbildungsschulen. Als Rolf schon gehen wollte, äußerte sein Vater einen etwas auffallenden Wunsch.
»Lasse sie nicht glauben, es wäre überhaupt nichts von Bedeutung. Du verstehst –«
Der junge Arzt verstand nicht im geringsten.
»Es wäre doch nicht rühmlich für mich.« Birk schien sich dies erst zurechtzulegen.
»Dreißig Jahre lang hat man sozusagen darauf gewartet, und dann macht man sich lächerlich mit einer Quetschung. Sprich wenigstens von Komplikationen, die du nicht vorhersehen kannst!«
Der Sohn nahm an, daß sein Vater von der Übertreibung materielle Vorteile erwartete. Er kannte ihn noch nicht so, wußte aber schon, wie man jetzt wird.
Es war ein Sonnabend, die Kinder konnten bald kommen. Birk lag die noch übrige Zeit in Gedanken, auch in dem Gedanken an Ella. Sie hieß nach ihrer Mutter, sie war die älteste Tochter, und sie war ihm bös. Er hatte sich als Vater nicht bewährt, wie sie und ihr Gatte meinten. Er hatte die ihr versprochene Mitgift zu nichts werden lassen, denn als sie heirateten, wütete die Inflation. Der Mann wollte es nicht verzeihen, daher auch Ella nicht. Birk hoffte, daß sie es bedauerte; ihn selbst quälte der Gedanke, sooft er für ihn Zeit hatte.
Jetzt fragte er sich, zwischen anderen Sorgen, immer wieder: wird Ella kommen? Er war gewiß, daß Inge und Margo, die mittleren, kamen. War irgend jemand noch pünktlicher, dann sicher Emanuel, der junge Gatte Margos. Birk hatte viele Kinder, die ihn liebten; die eine Ella aber beschäftigte ihn in seiner Lage mehr, als ihr zukam. Daran merkte er, daß es schwer gewesen wäre, plötzlich Abschied zu nehmen.
Er hatte schon einmal sich ohne jede Vorbereitung trennen müssen – von der Kleinen. Sie war lange Zeit die Jüngste gewesen und hieß immer noch die Kleine. Die Eltern hatten das Kind in einem Augenblick, als die Armut unausweichlich schien, in die Lehre gegeben. Es war ein Blumengeschäft, die Kleine trug Kränze aus. An dem Morgen, als sie sterben sollte, war der Kranz besonders schwer; sie kam nicht schnell genug über den Fahrdamm, so erfaßte sie das Lastauto. Der Kranz wurde beschädigt, daher konnte er später ohne Mehrkosten auf ihrem eigenen Sarge liegen.
Birk hatte augenscheinlich Fieber. Gewesenes nahm zu genaue Formen an; das tote Kind trat leibhaftig zu den sechs Lebenden, deren eins ihm auch schon starb. Um so mehr bemühte er sich, zu klären, was er gerade jetzt zum Besten derer, die noch sein waren, vorhatte und sich ausdachte. Er war überzeugt, daß sie eine handgreifliche Lehre brauchten, um ein für alle Male das Leben richtig zu erfassen. Die von ihm geplante konnte schlimm ausgehen, er hatte gezögert, solange er ganz gesund war. Sein jetziger Zustand ließ ihn die Dinge weniger gefährlich sehen.
Die erste, die ankam, war Inge. Er hätte es vorauswissen sollen: Inge, die Leichteste, die Schnellste. Sie rief gleich bei der Tür: »Pappi! Was machst du für Dummheiten!«
So und nicht anders hätte er es sich von ihr gewünscht.
»Inge, mein Liebling«, sagte er leise, ob aus körperlicher Schwäche oder nur infolge seiner Nachdenklichkeit. »Es wurde langweilig, findest du nicht? Etwas mußte geschehen.«
»Dann doch lieber mir!« rief sie bereitwillig.
»Aber Inge, du hast mit deiner vorigen Liebe so schwere Erfahrungen gemacht.«
»Das ist wahr, Pappi. Der Junge war fromm. Stell dir das vor, mal hat er mich ausgesperrt, weil er meinetwegen in die Hölle kommt. Aber er hatte wieder seine bestechende Seite, er konnte so schön pfeifen.«
Sie sprach wunderhübsch, Inge hatte eine Stimme voll Kraft und Klang. Ihr bürgerlicher Vater wußte genau, daß sie in Wahrheit nichts schwernahm; sagte er das Gegenteil, war es ironisch gemeint. Ihm selbst gingen ihre Erlebnisse länger nach als ihr. Er empfand sich als ungehörig, wenn er offen mit ihr über ihre Abenteuer sprach, daher seine Ironie. Indessen war ihm klar genug, daß ein Mädchen, das arbeitete, auch ihrer Natur folgen konnte. Die Natur Inges war, mutig und leicht zu sein.
Margo und ihr Mann trafen gleichzeitig ein. Emanuel Rapp, ein Zeitgenosse, der dem Leben alles mögliche zutraute, schien durch seinen Unglücksfall ergriffen wie nie. Birk neigte sonst zum Zweifel; aber erstens, warum sollte der arme Junge sich anstrengen, um eine zitternde Stimme nachzuahmen, und absichtlich seine Glieder aus der Gewalt verlieren. Außerdem erinnerte sich sein Schwiegervater, daß Emanuel, falls er selbst verschwand, fürchten mußte, abgebaut zu werden. Die ehrlichste Zuneigung war nicht genug, damit wir aneinander hingen. Hinzukommen mußte das Interesse, bei uns Armen! So bedachte Birk, und die Folge war, daß er kränker und verfallener aussah.
Er lächelte aber seiner Tochter Margo zu. Sie überließ ihm die Hand, nach der er verlangte. Ihre forschenden dunklen Augen blieben völlig ernst. Genauso würde ihre Mutter ihn betrachtet haben im Augenblick der Katastrophe, die sie so lange erwartet hatte!
»Ich mache euch die Sorgen nicht gern«, versicherte der Kranke zu seiner Entschuldigung. »Sollte es tatsächlich mit mir aus sein, will ich euch folgendes sagen.«
Hier trat Rolf ein. Der Arzt blieb vor Staunen starr: seine drei Geschwister stehend versammelt um den Vater, der Abschiedsworte sprach – alles wegen einer Quetschung! Andererseits war er überzeugt von der Urteilskraft seines Vaters, kannte auch seine Art, mit Kunstgriffen zu erziehen. Diese Komödie mußte einen Zweck haben – dachte Rolf, da erhielt er auch schon den schnellen Blick, der ihn ermahnte, ruhig zu bleiben.
»Ich will euch sagen«, wiederholte Birk, »daß ihr in der Hauptsache auf euch selbst gestellt sein werdet. Ihr verzieht keine Miene, ihr habt es euch schon gedacht. Mein Schutz, lieber Em, würde dich auch nicht davor bewahrt haben, aus deiner Stellung zu fliegen, wenn du nicht ein Junge wärest, der sich richtig legt.«
»Das walte Gott. Schon mehr als zwanzigmal habe ich mich in allerlei Berufen richtig gelegt.«
»Nun siehst du. Und auch die beiden Mädchen nimmst du leicht noch mit. Außerdem haben sie selbst gerade genug Sinn für die Wirklichkeit.«
»Sei völlig beruhigt!« bat Inge. Ihr glaubte er es.
Margo schwieg. Aber er bemerkte, daß ihre forschenden Augen bereit waren, feucht zu werden. Da fühlte er erst selbst, was es geheißen hätte, diese armen und schönen jungen Leute allein zu lassen. Sie schienen ihm ungewöhnlich schön: blond und vollendet gewachsen die eine, die andere, dunkle, von einer ihm unbekannten Ausgeglichenheit des Leibes und der Seele, Ihnen gesellte sich ein junger Mensch –
Er hörte Margo schluchzen und erschrak. Sie hatte genau in dem Augenblick aufgeschluchzt, als er von ihr zu Emanuel sah. Vielleicht hatte sie Gründe, besondere und schlimme Gründe, den Tod des Vaters zu fürchten. Der junge Mensch, dem sie gehörte, mit seinem glatten Haar und glatten Gesicht! Vom Sport geübt, nicht überentwickelt, nur gelöst und gekräftigt, dazu der Ausdruck von Klarheit und Bereitschaft! So waren wir nie, dachte Birk.
Dafür freilich war so einer ungefestigt – in einer ungefestigten Welt, dachte Birk. Er hatte nicht »fertig« studiert, dazu ließen weder Krieg noch Frieden ihn kommen; auch füllte er keinen Beruf von Natur aus. Jeder andere Junge hätte ihn ersetzen können und er jeden anderen. So waren sie. Wenn es nur nicht ähnlich stand zwischen ihm und Margo, die schluchzte. Waren auch dort beide ersetzbar? Dies befürchtete der Vater, wenn er ansah, was er gegebenen Falles zurückließ.
Nur mit Rolf stand es so günstig wie möglich. Er war der einzige, der sich ohne Zuschuß selbst erhielt. Sein Fach hatte ihn etwas freier erhalten von den Krisen des Erwerbes und denen der Menschennatur. Er ging noch immer dieselbe Bahn, das kannte sein Vater. Das hatte er selbst gehabt, und es langweilte ihn. Die drei Abenteurer standen heute seinem eigenen Empfinden näher. Sie konnten zugrunde gehen, und sie konnten auch sehr glücklich werden. Birk, der für seine Person weder dies noch jenes mehr zu erwarten hatte, liebte es, die ungewissen, erst bevorstehenden Schicksale mitzufühlen. Er war geradezu begierig auf das Verhalten der Kinder bei den Eröffnungen, die er ihnen machen wollte.
»Zur Sache!« sagte er. »Ich habe etwas erfunden. Ihr sollt es verwerten, falls ich nicht mehr dazu komme. Es ist ein Sprengstoff – der stärkste, der bisher erfunden ist. Ein Sprengstoff von äußerster Brisanz wird gerade verlangt, unser Konzern wird ihn euch abkaufen. Ihr seid dann gegen das Schlimmste doch gedeckt.«
Seine Stimme senkte sich, sie sahen, daß er genug gesprochen hatte und einschlafen wollte.
»Großartig!« rief Emanuel gedämpft. »Solch eine Überraschung, und was ist Brisanz?«
»Ich muß mich wundern, Pappi. Damit kommst du erst jetzt? Heimlichtuer?« Das war Inge.
»Ich möchte doch lieber, daß Papa seine Erfindung selbst verwertet«, hörten sie hierauf Margo sagen. Gleich beteuerten die beiden anderen: »Das sowieso. Pappi wird bald gesund werden. Wie lange dauert es, Rolf, bis unser lieber Vater aufgestanden ist?«
Rolf, der von Birk wieder den schnellen Blick erhielt, zuckte die Schultern.
»Das kann man bei diesen Sachen nie wissen«, sprach er und kam sich schon wie ein Schauspieler vor.
»Gott sei Dank! Pappi hat etwas erfunden«, sagte Inge mit einem langen Seufzer. »Ich möchte wohl mal vier Wochen nur Dame sein.«
»Vier Wochen?« Emanuel überzeugte sich, daß die Augen seines Schwiegervaters fest geschlossen waren. »Das ganze Leben lang, mein Kind! Wir alle haben ausgesorgt. Das ist die Erfindung, auf die man wartet, sage ich euch.«
»Warum gerade auf die?« fragte der besonnene Rolf.
»Wie? Ein Sprengmittel von äußerster – Nun also, ein erstklassiges Sprengmittel, ich mache euch damit zu Millionären. Glaubst du es, Margo?«
»Alles!« beteuerte die stille Margo und bekam Leidenschaft. »Ich will alles glauben, wenn dich nur dein Leben wieder freut, Em.«
»Freut es einen von uns?« wollte er wissen. Inge antwortete:
»Man kann sich ausleben. Sonst hat man nichts.«
»Der Sport?« schlug Rolf vor. »Ihr seid doch auf allen Sportplätzen.«
Margo hatte ihre Ruhe ganz verloren.
»Spiele ich zum Vergnügen so schrecklich viel Tennis? Setze ich uns jeden Sonntag den furchtbarsten Autounfällen aus? Das Büro ist nur so drückend, man muß wieder Luft bekommen.«
»Und es läßt uns zu viel Kraft übrig«, erklärte Emanuel. »Wen soll die Arbeit anspannen?«
»Wenn sie nie zu was führt«, erklärte Inge.
»Höchstens zur Entlassung«, schloß Margo. Da machten alle eine Pause.
»Wie lange dauert es, bis man überaltert ist?« fragte einer. Die anderen dachten es gleichzeitig.
Sie schwiegen nochmals. Dann wieder eine Stimme: »Und wer bestimmt über uns? Das ist geheim. Es kann jemand sein, den wir nie zu sehen bekommen.«
Alle drei flüsterten einen Namen: »Karl der Große.«
»Unsinn!« rief endlich Emanuel und schüttelte sich. »Die höchsten Gipfel des Konzerns werden sich gerade mit uns beschäftigen. Dafür sind die unteren Prominenten da.«
»Schattich!« meinten Margo und Inge. Ihr Bruder Rolf vermutete dagegen, daß selbst der frühere Reichskanzler, wenn auch weniger unsichtbar als jene höchste Person, die Karl der Große hieß, in ihr bescheidenes Leben doch schwerlich eingreifen werde.
»Dafür seid ihr noch nicht wichtig genug«, erklärte der Arzt offen.
»Wir sind jung«, sagte Inge tapfer. Margo ergänzte: »Wir brauchen keine Angst zu haben wegen der Arbeitslosenziffer.«
»Aber wir haben doch Angst«, erwiderte Emanuel, verlegen über sein Geständnis. »Unser guter Vater ganz allein hält uns bis jetzt außerhalb der großen Masse. Wenn er nicht mehr da wäre, müßten auch wir, wie alle anderen, acht Tage nach der Entlassung anfangen zu hungern.«
Alle Augen verweilten auf dem bleichen, geschlossenen Gesicht Birks, und im Zimmer war es still.
»Nein«, rief Emanuel stärker, als er vor dem ruhenden Kranken gedurft hätte. »Wir sind jung. Wir wollen nicht nur leben – ohne Angst leben – und leben, ohne uns zu verkaufen. Wir wollen sogar Einfluß und Macht bekommen, bevor es zu spät ist, bevor die große Maschine uns endgültig schluckt! Dafür haben wir jetzt die Erfindung, sie soll alles von Grund auf ändern.«
»Der Sprengstoff?«
»Das Sprengmittel von äußerster – ihr wißt schon. Wie kann Papa die Sorge haben, daß wir künftig noch auf unsere Arbeitskraft allein gestellt sind.«
Er flüsterte eifrig.
»Dann unterschätzt er doch bedeutend die Möglichkeiten, die gegeben sind, wenn man eine solche Erfindung an Hand hat. Papa ist der wertvollste Mensch, den ich kenne, aber er hat zu wenig Selbstvertrauen.«
»Darin ist er alte Schule«, schob Inge ein.
»Er hat die Erfindung gemacht. Ich werde sie richtig aufziehen.«
»Dazu müßte er doch erst – Er überläßt sie uns nur für den Fall, daß er –«
Margo brachte dies kaum hörbar vor. Aber sie hatten verstanden.
Inge sagt schnell: »Pappi wird gesund werden. Dann überläßt er es Em, die Erfindung zu verwerten. Klar, daß nur Em das kann!«
Margo antwortete nicht, denn sie fand dies nicht so klar. Warum fand Inge es? Margo betrachtete die beiden, aber sie schienen gerade gar nichts miteinander zu tun zu haben. Inge war fragend zu Rolf gewendet, Emanuel sah nach, ob Birk wirklich schlief.
»Wir wollen gehen«, sagte Margo. »Sonst wecken wir Papa noch auf. Ich komme später noch einmal«, erklärte sie ihrem Bruder, dem Arzt. »Oder findest du es richtig, daß ich allein hierbleibe und mich still hinsetze?«
Sie tat, als beachtete sie die beiden anderen gar nicht, obwohl sie in diesem Augenblick nur Sinn hatte für das Verhalten ihrer Schwester und ihres Mannes.
»Das ist das beste«, bestimmte Emanuel. »Du bleibst hier. Ich gehe inzwischen in die Afa, ich brauche etwas für das Auto, morgen ist Sonntag.«
»Ich habe denselben Weg«, entschied Inge – und während sie schon ihre Sachen anzog: »Morgen werden wir nicht weit fortfahren, wegen Pappi.«
Sie war unbefangen, sie zeigte sogar Herz. Margo warf es sich vor, daß sie ihrer Schwester nicht mehr traute. Aber so war es nun.
Als Emanuel die Tür schon geöffnet hatte, fiel ihm das Sprengmittel wieder ein.
»Wo ist es denn? Ich muß es den Leuten doch zeigen können.«
Inge meinte: »Sie kennen Papa, sie werden dir glauben. Sage einfach, es ist ein Sprengstoff –«
»Von äußerster –«, fuhr der Junge fort, »von äußerster –«
»Brisanz«, sagte Birk, der die Augen aufschlug.
»Ach, du schläfst nicht?« fragten sie überrascht. »Seit wann bist du wach?« fragten sie. Denn nicht alles, was man sprach, war für die Älteren bestimmt.
»Habe ich geschlafen?« fragte Birk dagegen. »Das letzte, das ich hörte, war: was ist eigentlich Brisanz? Ist das schon so lange her?«
»Nun, Pappi, was ist es denn?« Inge lehnte ihren Kopf an seine Wange, wie sie es seit ihrer Kindheit tat.
»Es heißt nur Sprengkraft, mein Kind. Was soll ein Sprengstoff sonst haben. Verrate es deinem Schwager Emanuel nicht! Aber geh zu meinem Mantel, da steckt es drin!«
»Dir geht es besser nach dem Schläfchen, lieber Vater«, bemerkte der junge Schwiegersohn mit der verführerischen Stimme, die er sich geben konnte. Birk hatte plötzlich die Erkenntnis, daß ein Junge mit solcher Stimme zu allem fähig sei. Wie erst, wenn er ein Wirkungsmittel in die Hand bekam wie jenes, das Inge soeben aus dem Mantel holte. Zu spät, sie holte es schon. Die Bedenken Birks kamen zu spät.
Auf einmal sagte Inge: »Es ist nicht da.«
»Wieso? Es muß dasein.«
»Wie sieht es aus?«
»Oder wie fühlt es sich an?« fragte Emanuel, der hineilte.
»Ein rundes Päckchen – wie eine Bombe«, setzte Birk hinzu, nur um ihnen mehr Eindruck zu machen. Seine Tochter Margo kannte ihn am besten. Sie sagte ihm ins Ohr: »Tu es nicht! Gib ihm den Sprengstoff nicht!«
Er sah sie an. Was ahnte sie?
»Er kommt bestimmt in schlimme Dinge.«
»Em?« fragte Birk.
»Warum nennst du ihn Em? So nennt doch nur Inge ihn«, sagte sie. Da verstand er, daß sie eifersüchtig war.
Der Vater streichelte ihr die Hand. »Keine Sorge, mein Liebling!« Lauter sagte er: »Das Päckchen ist fort? Vielleicht hatte ich es gar nicht bei mir. Ich weiß es nicht, ich habe etwas Fieber.«
Emanuel schrie auf.
»Du hast doch deine Erfindung nicht verloren?«
»Ich hoffe nicht«, erwiderte Birk schwach. »Jedenfalls besitze ich die Formel – am sicheren Ort. Laß mich nur erst gesund werden!«
Hier kehrte Rolf in das Zimmer zurück und meldete: »Draußen steht ein Arbeiter.«
»Freundlich von den Leuten. Sie wollen mir ihr Mitgefühl aussprechen. Darf der Mann zu mir?«
»Du kannst ihn empfangen, Vater, wenn du willst. Aber dann müssen wenigstens Inge und Emanuel fortgehen.«
»Wir gehen schon«, sagte Inge. Sie nahm die Hand des Kranken und küßte sie zärtlich. Der Junge inzwischen tastete nochmals den Mantel ab. Er schien außer sich. Wenn er sich von dem Kleidungsstück schon getrennt hatte, riß er es doch wieder an sich, und jedesmal verzweifelter. Er wollte auch sprechen, schluckte aber nur. Er war jetzt bleicher als Birk in seinem Bett.