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Das Haus war aus der guten Zeit, 1909, daher drang nichts durch die Mauern und Fußböden. In einem allerneuesten Gebäude würden Nora Schattich und Emanuel Rapp sogar zwei Stockwerke höher einige Stöße verspürt haben. Denn Reichskanzler a. D. Schattich sprang in einem gewissen Augenblick mit Schwung über ein freistehendes Klubsofa, und in einem anderen fiel der schwere Tisch mit allen Akten um. Inmitten der Verwüstung schalt Schattich.
»Die Damen kommen zum Herrn Generaldirektor immer in der falschen Hoffnung, nun ginge es los und nun könnten sie mich wegen Mißbrauchs beim Betriebsrat verklagen. Geben Sie sich keine unnütze Mühe, Fräulein!« Grade hier sprang er über das Sofa.
Es geschah ganz unerwartet. Schattich arbeitete mit Überraschungen, Margo, so schlank und gewandt sie war, konnte sich nur grade noch zwischen die Aktenbündel retten. Der Tisch streckte seine Beine nach oben, die Bündel hatten sich gelockert, und Margo schob die Fußspitze hinein. Ein weiterer Schritt Schattichs, und das gesamte Material des Vereins zur Rationalisierung Deutschlands wäre im Zimmer umhergeflogen. Schattich gab nach, aber in dem treulosen Gehirn des Politikers bildete sich zweifellos schon die nächste taktische List.
Margo glaubte ihm keine Sekunde, was er redete. Schattich sagte berufsmäßig das Gegenteil dessen, was er tat. Sein Glaube an die Dummheit der Menschen war weitgehend und unerschütterlich. Er verzweifelte nicht im geringsten daran, Margo einzureden, daß sie ihn verfolge, anstatt er sie, was doch die klare Tatsache war. Margo sah ein, daß sie ihn ihrerseits ablenken mußte.
»Hören Sie nichts?« fragte sie und stellte sich erschreckt.
»Ich – nichts, Sie gerissenes Luder«, sagte er mit bösen Augen. »Meinen Diener habe ich weggeschickt, und meine Frau hat oben Herrenbesuch.« Dies schrie er mit Tenorstimme, es machte ihm eine bösartige Freude. Übrigens gelang es ihm, Margo einzuschüchtern. Sie überlegte schmerzlich, was in diesem Haus vorging. Ihre Geistesabwesenheit war kurz, dennoch ermöglichte sie dem Angreifer einen neuen Vorstoß. Diesmal erwartete ihn Margo festen Fußes.
»Nun?« fragte sie, als er da war – und wie er vorübergehend die Fassung verlor: »Ich will Ihnen was sagen. Herr Schattich. Hier kommt kein Betriebsrat in Frage. Für einen älteren Herrn sind Sie körperlich noch ganz rüstig; aber ausgeschlossen, daß Ihr Köpfchen ausreicht, um meinem Emanuel die Erfindung abzuluchsen. Und darauf sind Sie im stillen nur aus, wenn Sie hier auch noch so stürmisch tun.«
»Nun dann – reden wir mal geschäftlich!« Er fand sich sofort ab, wie immer mit den Gegebenheiten, auf die er keinen Einfluß mehr hatte. Diese kleine Frau war stärker, als er gedacht hatte. Man mußte ihr andersherum beikommen.
»Stellen wir mal erst den Tisch wieder auf!«
Dies und das Sammeln der Akten gab ihm die Zeit, die er brauchte. Aber auch Margo kam inzwischen mit sich ins reine. Es war nicht sicher, für wen sie arbeitete, wenn sie Emanuel half. Vielleicht für Inge, vielleicht sogar für eine andere, die zufällig so verrückt war, mit ihm durchzugehen. Er wäre mitgekommen mit jeder, denn er war ungefestigt, und wo immer das Leben ihm ein unhaltbares Versprechen machte, dorthin irrte er ab. Lieben? Er konnte Nora Schattich nie lieben, darüber war Margo beruhigt; aber er konnte Inge lieben. Doch. Er liebte sie schon, Inge brauchte nur zuzugreifen! Etwas anderes war, ob es Dauer hatte mit ihnen. Für Inge hatte noch nichts Dauer gehabt; war Emanuel der Erwartete? Es wäre schrecklich gewesen, der vernichtendste Schrecken.
Margo hatte in einem Augenblick über alles, alles zu entscheiden: nur die Zeit, indes sie die letzten verstreuten Papiere vom Boden auflas … Nein. Sie glaubte nicht, daß Inge ihn halten konnte. Das vermochte nur sie selbst, weil ihr Leben daran hing. Das Leben einer jungen Frau mit weißer Haut, schwarzen, manchmal leider flehenden Augen, aber einer kecken Nase hing am Besitz Emanuel Rapps. Margo erblickte die junge Frau als Gestalt für sich und bemerkte sachlich: ›Die macht Schluß, wenn es ihr vorbeigeht.‹
»Herr Schattich«, sagte Margo, »Sie werden sich wundern. Ich mache Ihnen einen ernstgemeinten Vorschlag.«
»Nun bin ich aber neugierig«, sagte er, ohne das Gesicht zu verziehen.
»Sie bringen unsere Erfindung im Ausland unter. Dafür werden Sie beteiligt«, sprach sie in einem Atem.
Sie bekam von dem großen Mann einen Blick von unten nachsichtige Ironie, etwas schlechthin Entmutigendes. Sie blieb tapfer.
»Warum denn nicht, Herr Schattich? Leben und leben lassen. Wo steht es geschrieben, daß wir unsere Erfindung einfach verschenken müssen.«
»Das kann ich Ihnen sagen, liebe Frau. Das steht in den gesetzlichen Bestimmungen über das Verbrechen des Industrieverrats.«
Er sagte »liebe Frau«, die Ironie war weg, auch die Huldigung der Sinne war weg, und Schattich verteidigte rücksichtslos den Boden, auf dem er stand.
»Industrieverrat ist Landesverrat«, entschied er hart. »In ihrem Fall läßt sich ein Verrat militärischer Staatsgeheimnisse konstruieren. Das kommt gleich nach Mord. Sie können sich denken, was darauf steht.«
»Muß es denn herauskommen? Wenn Sie die Sache mitmachen?«
Hierauf sah er sie entgeistert an. Das Fehlen jeder Scham im Hinblick auf das Recht mußte weiblich sein! Kein Geschäftsfreund hatte ihm je einen so unumwundenen Antrag gemacht. Er vergaß seine Strenge und sagte vertraulich, indes er sich umsah:
»Solche Sachen sind mir zu gefährlich. Sagen Sie Ihrem Mann, er soll die Finger davonlassen! Wir haben nämlich unsere Kontrollabteilung. Das erzähle ich aber bloß Ihnen, weil ich Sie vielleicht dort verwenden werde. Sie scheinen mir brauchbar.«
»Setzen Sie mich gleich jetzt in Ihre Kontrollabteilung; dann kann ich die Sache in die Hand nehmen, und der Konzern erfährt nichts.«
»Sie haben dort keine Sache allein in Händen. Andere kontrollieren wieder Sie. Übrigens – beobachtet werden Sie natürlich schon jetzt. Die anderen alle auch – ich sogar … Ich sage Ihnen viel zuviel«, erkannte er plötzlich. »Warum nur?«
»Ja, warum? Weil Sie die Sache eigentlich mit mir machen möchten«, sagte die unschuldige Versucherin. Er begann zu schnauben.
»Mit dir werde ich eine andere Sache machen. Verlaß dich drauf. Du bist jetzt eingeweiht und mußt bei mir bleiben. Laß deinen Mann überhaupt laufen!«
»Erst müssen wir ihm noch die Erfindung abknöpfen«, sagte Margo und erwiderte, so gut sie konnte, seinen Blick von Macht zu Macht, samt dem diebischen Einverständnis, das im Ton lag.
»Das wird vorausgesetzt. Das besorgst du, während ich fort bin. Ich fahre morgen abend nach Berlin. Nach meiner Rückkehr bekomme ich mit sofortiger Wirksamkeit a) die Erfindung, b) die Braut.«
Er wollte wieder einmal überraschend sein kurzes Ärmchen um sie werfen. Statt dessen fand er seine Sekretärin plötzlich an der Schreibmaschine sitzen.
»Jetzt diktieren Sie mir den Brief an den Herrn Präsidenten von I. G. Chemikalien.«
»Davon war nie die Rede.«
»Aber die ganze Zeit haben Sie es vorgehabt.«
»Oder Sie.«
Er sagte wieder Sie, so stark fand er das Mädchen.
»Sie wollten dem Herrn Präsidenten mitteilen, daß Sie ihn aus alter persönlicher Freundschaft in Kenntnis setzen von der Erfindung eines Ihnen selbst unbekannten Herrn X. Wer sich hinter dem Vermittler versteckt, können Sie nicht herausbringen. Die Sache selbst scheint Ihnen epochal.«
»Woher haben Sie das Wort?« fragte Schattich, nur um Zeit zu gewinnen.
»Oder ich formuliere den Brief gleich selbst?«
»Das kommt nicht in Frage«, bestimmte er und setzte, um zu diktieren, seine Amtsmiene auf. Er ließ die tüchtige kleine Frau ungefähr das hinschreiben, was sie sich gedacht hatte. Sooft sie aufsah, fand sie immer nur die Amtsmiene. Was sie dahinter nicht sehen konnte, waren Gedanken, die den überlegenen Menschenbehandler insgeheim belustigten.
›Die tüchtige kleine Frau wird sich wundern über die Wirkung ihres schönen Briefes, selbst wenn ich ihn hinausgehen lasse. Und auf das Gesicht ihres netten Jungen freue ich mich auch schon.‹
Als der Brief fertig war, verließ Schattich das Zimmer in der sicheren Voraussicht, daß seine Sekretärin jetzt telefonieren werde. Sie tat es auch sofort. Zuerst ließ sie die Zofe Marietta berichten und schwören, daß Emanuel nicht mehr bei Nora Schattich sei. Dann rief sie zu Hause an – ebenso vergebens wie im Krankenhaus, im Café Central und bei seinen Freunden Ehmann und Mulle. Sie erinnerte sich, daß Boxer Brüstung mit ihren beiden jüngsten Geschwistern spazierenfuhr. Es war nicht wahrscheinlich, daß Emanuel den Sonntag bei ihrer ältesten Schwester Ella verbrachte. Wer blieb übrig, außer Inge? Er mußte mit Inge sein.
Kaum stand dies für sie fest, machte Margo sich auf den Weg – sie wußte nicht, wohin. Daher befragte sie vorher noch unten beim Ausgang die Frau des Schneiders Landsegen. Es waren die Portiersleute, einige hölzerne Stufen führten neben der Haustür zu ihnen hinunter. Aus ihrem Verschlag quollen die beiden beleibten Menschen abwechselnd hervor, Landsegen mit wollenem Hemd und weißem Bart, seine Frau etwas zu prall bekleidet, und ihr Gesicht bewahrte Anzeichen einer bewegten Vergangenheit.
»Herr Rapp ist rechts herumgegangen, so viel weiß ich«, meldete Frau Landsegen.
»Und Fräulein Inge auch wieder rechts«, ergänzte der Schneider.
»Schafskopf!«
»Ich weiß nicht, was Melanie immer hat. Ich komme allen meinen Gattenpflichten pünktlich nach.«
Dieser gewöhnliche Mensch erfreute sich daran, wie sein Bauch in der wollenen Hülle vor Lachen kullerte. Es war sein gefundenes Sonntagsvergnügen, der viel zu besonderen Tochter des Oberingenieurs Birk von den gemeinen Dingen seines Lebens zu sprechen.
»Sie ist nämlich eine ganze Menge gewöhnt von früher her. Was, Melanie? Da muß ich als ihr Gatte mich dranhalten, sonst taucht sofort ein anderer Süßer auf, und was für einer. Grüne Jungen, das ist bei ihr das Neueste.«
»Er hat eine weiche Birne!« rief die Frau – nicht geringschätzig, sondern jubelnd.
»Sind nun wirklich beide nach rechts gegangen?« fragte Margo, die sich zusammennahm.
»Was kann das schon bedeuten, Kindchen?« sagte die Frau vertraulich.
»Na, na!« drohte hingegen der Mann.
»Mach nicht so 'n Bekleckerten!« hörte Margo die sogenannte Melanie noch schelten, als sie selbst schon aus dem Hause war. Das gemeine Paar hatte sichtlich nachgrade seine feste Ansicht über Emanuel und Inge. So weit war es gekommen, während Margo noch immer mit Zweifeln die Zeit verloren hatte. Vielleicht mußte man, um anders zu denken, überaus wohlwollend oder ganz und gar gleichgültig sein. Das zweite hielt Margo für verbreiteter. Demnach hatte sie damit zu rechnen, daß jeder, der den Fall überhaupt beachtete, in ihrem Mann den Geliebten ihrer Schwester sah.
Auf einmal wurde ihr bewußt, daß sie durch eine fremde Stadt ging. Sie erkannte weder Straßen noch Menschen. Jene waren leerer und breiter, diese aber trugen, wie jene – die Straßen wie die Menschen –, alle Anzeichen völliger Zwecklosigkeit. Da auch Margo nicht wußte, wohin, lohnte hier unten kein Schritt mehr. Sie sah zum Himmel auf – und alles war erklärt. Sonntag, Frühling und ein des Nichtstuns ungewohntes Volk, das ungefällig wirkte. Sogar die beiden Landsegen wurden offenbar übler durch Frühling und Sonntag! Ihre Bosheit ergab sich aus ihrer Untätigkeit. Es waren zufällige Umstände; und Margo selbst: hätte sie vorhin Emanuel telefonisch erreicht, würde sie jetzt diesen äußersten Befürchtungen nachhängen?
Sie hatte doch beschlossen, für Emanuel zu arbeiten, es sei, wie immer. Grade im Angesicht des so gefährlichen Schattich hatte sie sich tapfer und ruhig gefühlt. Nur hier, in der harmlosen, frisch gesäuberten Öffentlichkeit verlor sie infolge von Zufällen den Kopf. Wenn das öfter vorkam, war die Sache verloren, ihre und Emanuels; aber vor allem waren sie füreinander verloren. Margo versprach sich, keiner Überraschung mehr zu erliegen und zuverlässiger zu sein.
Sie erkannte jetzt auch, daß sie falsch gegangen war – nach links, eigens, um die beiden zu fliehen. In der Parkstraße kehrte sie wieder um, sie wäre dort nach dem schönsten Stadtteil gelangt, ein unpassender Weg für ihre Sorgen. Hier das Marmorhaus gestern abend saßen sie noch verhältnismäßig alltäglich alle beisammen im Kino, obwohl eine Woche schon begonnen hatte, wie nach menschlichem Ermessen keine bisher dagewesen war … Der gewöhnliche Verkehrspolizist auf seiner Trommel, der minutenlang auf ein Auto wartete, kam ihr daher alberner als je vor.
Der Heumarkt, sein Brunnen und seine versenkte Bedürfnisanstalt. Margo wäre gern ihrem Hause samt den beiden Landsegen ausgewichen und rechts davon in den Monbijou-Park getreten. Sie sah aber durch das Gitter, daß der Garten sich belebt hatte. Inge und Emanuel spazierten schwerlich zwischen den anerkannten Liebespaaren … Margo ging dennoch lieber vorn an ihrem Haus vorbei.
Gleich in die nächste Straße wäre sie fast eingebogen: die Straße zur Brücke, in guten Tagen der Weg zu ihrem Vater. Wie oft hatte er in einem Schuppen gestanden und seinen Stab befehligt. Die Tochter des Chefs wurde überall durchgelassen, und er unterbrach sich sofort, um sie anzuhören. Ach! Die Ansicht war inzwischen verändert, er lag im Krankenhaus. Aber noch hörte er sie an, wenn sie hinkam; er lebte, er war noch da! Sie eilte. Der Gehsteig war schmal, und jemand begegnete ihr; hier streifte sie mit der Schulter die Front der Kirche von Sankt Stefan.
Innerlich drängte sie zum Vater und flehte, er möchte helfen. Wie war zu erreichen, daß er Inge zu sich rief und sie abhielt, das große Unglück anzurichten? Wo sollte er sie auftreiben, da sie, unbekannt durch welche Straßen, mit Emanuel umherzog. Weilten sie noch in der Stadt? Schon durchgegangen? Emanuel war von der Art, die durchging, und Inge von einer, die nicht genügend widerstand … Großer Umtrieb im Geiste Margos, sie merkte gar nicht, welches Gebäude sie mit der Schulter streifte. Nur weil das Portal vorsprang und Leute über die Stufen stiegen, wurde Margo aufmerksam.
Sie blickte hinauf; das waren die gewöhnlichen Gesichter; drüben aus dem Polizeigebäude wären sie genau so herausgekommen, und an der Ecke das Hotel Deutsches Haus hätte sie wesentlich angeregter über seine Schwelle treten gesehen. Margo machte sich dies nicht einmal klar, sie war dessen sicher, ohne daran zu denken. Sie blickte an der Kirche hinauf, und nichts anderes sagte sie ihr als alle hergebrachten Erscheinungen des Lebens und täglichen Übereinkommens. Eine junge Frau mit weißer Haut, besonders dunklen Augen, die leider flehend blicken konnten, aber aufgeworfener Nase schritt eilends vorbei. Das Gefühl, das sich grade jetzt in ihr herausarbeitete, war der Haß.
Sie haßte ihre Schwester: nie bisher hatte sie die Kraft gefunden, sie so sehr zu hassen. Margo, wie sie nun einmal war, hatte im Gefühl, daß eine Schwester keine Feindin sein kann. Es geschehe, was immer, sie tue auch unrecht, dränge sich vor und nehme dir die Chancen, wozu Inge von jeher neigte – sie bleibt die Schwester, das ist keine Feindin. Daher bedeutete der neue Haß Margos mehr als nur dies Gefühl, er glich einer Entdeckung hinsichtlich des Lebens überhaupt. Nichts hält zusammen, und nichts hält vor. Wir irren uns über eine Schwester, weil wir schwach sind und auch uns selbst lieber nicht deutlich sehen. Sonst fänden wir uns schrecklich vereinsamt in einer endlosen, kahlen Straße mit lauter geschlossenen Türen und so eng, daß die Sonne nur die höchsten Fenster der einen Seite berührt.
Durch eine solche Straße ging Margo tatsächlich schon geraume Zeit. Es war ihr richtiger Weg, die alte Vorstadtstraße, alte Brücke, das Krankenhaus. Nur, daß kurz vor der Brücke eine zweite Gestalt in die Straße einlenkte, und diese war Inge. Sie schlenderte vor Margo her, sie hatte sie nicht bemerkt. Margo in ihrem Haß verbot ihr sowohl ihre Schönheit wie ihren lässigen Gang, und daß sie hier war und daß sie auf der Welt war – vor allem aber die Veilchen, die sie am Gürtel trug. Alles wurde mit jedem Atemzug unerträglicher, Margo hätte in ihrer Handtasche eine Waffe haben sollen! … Da wandte Inge sich um, sie waren an der Brücke.
Das allzu schöne Drehen ihrer Hüften hatte plötzlich aufgehört, Inge blieb reglos, sie war gefangen und wußte nicht, was tun.
»Also hier triffst du ihn«, sagte Margo und bekam keine Antwort. Die beiden Schwestern standen am Brückenkopf völlig allein, die Bewohner der Fabrikstadt saßen drüben beim Essen. Den Fluß aber bedeckten viele Kähne mit sommerlichen jungen Leuten, bunte Sweater, zarte Seidenfähnchen, und der Himmel nötigte selbst den Fluß zu einer schwärzlichen Bläue. Die Hochöfen in ihrer Landschaft von aufgeschichteten Kohlen verhielten sich blicklos und mit ablehnenden Köpfen.
»Mach man, daß du ihn nicht im Fluß suchen mußt!« sagte Margo und wußte selbst nicht, was sie meinte. Der Zorn ließ ihrem Gerede keine andere Bedeutung, als daß sie eben zornig war. Inge zuckte denn auch die Schultern.
»Verrückt«, sagte sie und fühlte sich erleichtert.
»So? Verrückt? Hast du nicht darum nein gesagt, als Brüstung mit dir ausfahren wollte? Schleichst du nicht hier umher, wo niemand euch begegnen soll? Die Leute reden schon. Du machst dich lächerlich.«
Mitten im Wirbelwind des Zornes überlegte Margo. Sie wußte ganz gut, daß Inge nicht sich selbst lächerlich machte – und wahrscheinlich auch ihre Schwester nicht. Die komische Figur ist eigentlich der Mann, der sich hin- und herziehen läßt. Grade dies aber hätte Margo nie zugegeben. Wie vorhin mit dem Fluß, hat sie etwas gesagt, was ihren Zorn falsch ausdrückte. Zum Zorn kam der Ärger. Daher wurde sie sowohl lauter als böser.
»Du hast ihn dahin bringen wollen, daß er mit dir durchgeht! … Ich bilde mir wohl alles nur ein?« antwortete sie auf den Blick Inges. »Es ist vielleicht nicht wahr? Er hat es mir selbst gesagt.«
Jetzt weinte Margo, ihre überanstrengte Stimme füllte sich mit Tränen der Ohnmacht. Alles, was sie sprach, war Lüge, und sogar ihren Mann verleumdete sie. Wie kam es? In allem recht haben, und dennoch fortwährend lügen und verleumden müssen! Wie sollte sie Inge jetzt noch die Veilchen vorwerfen, und doch waren die Veilchen sicher von Emanuel. Den ganzen Vorgang hier am Brückenkopf begriff sie nicht mehr; sie wollte fort sein, schon bereitete ihr Körper die Wendung vor: da fiel ihr noch das einzige Wort ein, das unzweifelhaft richtig war.
»Hure! Du bist nun einmal eine Hure!«
Als sie es aber gesprochen hatte, hielt das Wort sie fest. Jetzt war an Fortgehen nicht zu denken, denn dort stand Inge, ihre Schwester, in ihren eigenen Augen verwandelt und überaus spannend geworden durch das ausgesprochene Wort. Margo wartete neugierig; Zorn und Ärger setzten aus.
Inge sagte, als hätte sie nicht gehört: »Ich wollte zum Vater gehen.«
Lässigkeit und Trauer, mehr verriet sie nicht. Die Schwester fühlte sogar, daß sie nichts weiter zu verraten hatte. Das ausgesprochene Wort war an ihr abgeglitten.
»Ich möchte mit dem Vater sprechen. Wenn du anders gewesen wärest –«
Margo schlug die Augen nieder. Sie dachte: ›Ich? Ich muß die Augen niederschlagen? Anders gewesen – wie hätte ich denn sein sollen, damit sie mit mir anstatt mit Papa spricht? Das versteht niemand‹, fühlte sie, hob die Lider auf und erblickte auch Inge ratlos.
»Ich wollte selbst hin«, sagte Margo und zögerte. Sollten sie jetzt Seite an Seite weitergehen? … »Besser du«, entschied sie.
»Es ist mal nicht anders«, sagte Inge – entschlossen, aber mit einer Art Rücksichtnahme trotz allem. Margo erschauderte grade hiervon. Sie und ihre Schwester waren nicht mehr in dem Alter, wo sie einander im Streit die Puppen einfach aus der Hand rissen. Das wurde hier so schrecklich klar. Zu ihrer Verfügung standen jetzt widerspruchsvolle Gedanken, auch Worte, die nur einen Augenblick als die volle Wahrheit erschienen, ferner die Dankbarkeit, weil sie miteinander klein gewesen waren, und ein tiefinnerer Vorwurf, der denselben Grund hatte. Was half aber alles, da am Schluß dieser Verwicklungen die Puppe doch wieder hin- und hergerissen wurde, bis sie den Kopf oder ihr Inneres verlor … Als Margo umkehrte, war sie begleitet von der neuen und schlimmsten Furcht, Emanuel könnte verlorengehen – nicht nur ihr, auch sich und allen.
›Ich muß ihn halten‹, fühlte sie voll Tapferkeit durch die ganze lange und öde Vorstadt, die sie nochmals zurücklegte. ›Wenn Inge ihn eine Zeitlang hat, das darf doch nicht das Ende sein. Nachher muß ich ihn erst recht halten.‹
Margo sagte nicht: Ich kämpfe und ich leide, obwohl sie an einem Kino vorbeikam, wo ähnliche Worte angeschlagen standen. Sie hatte nicht die Vorstellung, als spielte sie eine große Rolle. Sie hatte nur zweckmäßig zu handeln, nicht erst lange ihre Wunden zu zählen und ihren Schrei einzuüben. Augenblicklich war für das Mittagessen zu sorgen. Selbst wenn Emanuel sich doch noch mit Inge traf, einmal mußten sie heimkehren.
Als sie wieder die Kirche von Sankt Stefan mit der Schulter streifte, folgte sie einem Gedanken und erstieg die Treppe, die keine Füße mehr belebten. Sie trat ein, sah unbefangen durch das mystische Gewölbe und setzte sich, um zu beten. Sie betete tief, ganz tief in sich hinein. Wohnte dort Gott, dann hörte er. Aber Margo wußte genau, daß ihr Gebet sie kräftigte, auch wenn nur sie allein es hörte.