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Am Apparat war ihre kleine Schwester Susanne.
»Susi«, erwiderte Margo. »ich kann dich nicht verstehen. Du sprichst so aufgeregt. Ich höre immer: bei uns war ein Einbrecher?«
»Ein Einbrecher, ein Einbrecher«, wiederholte die Kleine. »Bei uns war vor zehn Minuten ein richtiger Einbrecher.«
»Susi!« Der Eindringlichkeit wegen sprach Margo den Namen englisch aus. »Besinne dich! Du bist doch überhaupt im Sportpalast. Oder nein –«
Margo wurde schwankend. Sie erinnerte sich, daß sie nur anfangs auch ihre jüngste Schwester mit unter den Zuschauern erblickt hatte. Dann war dieses eine Bild verschwommen, es hatte sich verflüchtigt.
»Warst du überhaupt nicht dort, Susi?«
»Doch, aber ich bin gleich wieder fortgelaufen. Du weißt ja, warum. Margo, warum wolltest du selbst nicht mitgehen?«
»Ich hatte keine Zeit.«
»Du wolltest nicht zusehen, was die beiden machen.«
»Welche beiden?« fragte Margo, sie war an ihrem einsamen Telefon rot geworden. Auch ihre kleine Schwester wußte von Inge und Emanuel.
»Wie ich aber dann wieder zu Hause war, bekam ich Angst – ich weiß nicht, wovor. Ich konnte keinen Augenblick länger allein in der Wohnung bleiben. Ich ließ die Flurtür offenstehen.«
»Das war aber unvorsichtig, Susi.«
»Ja, und dann ging ich sogar auf den Balkon hinaus, damit ich in den Park hinunter nach Hilfe rufen konnte. Es war aber schon dunkel. Warum bist du nicht gekommen, Margo?« jammerte die Kleine.
»Ich hatte zu tun«, wiederholte Margo ungeduldig. »Und du hättest lieber an den Safe denken sollen. Es ist etwas Wichtiges darin.«
»Das fiel mir auch plötzlich ein«. Das Kind in seiner Erregung war kaum zu verstehen. »Ich mal schleunigst hin. Meine Herren! Der Safe hat ein Loch.«
»Was sagst du da?«
»Ein kleines Loch. Nicht bös sein, Margo! Ein ganz kleines, die Hand geht nicht durch, nicht mal meine. Der Mensch war nicht fertig geworden mit dem Laden. Klar, denke ich, und such ihn.«
»Du hast den Einbrecher gesucht? Und deine Angst?«
»Wer wird denn Angst haben, wo eine große Sache in Frage kommt. Schon rein sportlich war ich interessiert.«
»Du sprichst auf einmal deutlicher – und ziemlich keß. Ich höre noch jemand, wer ist denn bei dir?«
»Nun such ich alle Zimmer ab. Falle, er muß getürmt sein. Richtig – die Flurtür, ich hatte sie doch eigens offengelassen; wie find ich sie wieder?«
»Geschlossen natürlich.«
»Du hast einen Kiek. Sag mal, was machst du eigentlich bei Schattich? Allein bist du auch nicht. Ich höre immer jemand sich bewegen.«
»Am Schreibtisch sitzt noch einer. Aber der ist taub«, erklärte Margo. »Jetzt will ich unbedingt wissen, wen du dort hast.«
»Das ist noch nicht heraus.« Die Kleine machte eine wichtige Pause. »Unten im Garten hörte Fritz Bergmann mich, wie ich schrie, als die Tür plötzlich zu war.«
»Na, geschrien hast du doch.«
»Das wird man wohl noch dürfen als kleines Mädchen. Ich rannte noch mal auf den Balkon, jetzt schlich drunten Fritz Bergmann umher.«
Das war der Flieger, der Margo unterrichtete … Sie erschrak, sie legte sogar den Hörer auf den Tisch. Wenn einige Minuten, nachdem der Einbrecher das Haus verlassen hatte, der junge Flugzeugführer im Dunkeln aufpaßte hinter dem Haus –! Margo hatte bisher an Ehmann gedacht. Bei dem Wort Einbrecher schon, vor jedem weiteren Bericht, war ihrem Geist Ehmann erschienen, wie er heute um fünf unter Aufgabe aller Hemmungen zu dem Safe hindrängte. Sie selbst und Emanuel konnten ihn nur mit ihrer ganzen Entschiedenheit davon abhalten. Gegen Ehmann als Täter sprach einzig, daß er sich im Sportpalast aufhielt, Margo war dessen sicher. Vielmehr, es gab Lücken, in denen sie ihn aus den Augen verloren hatte. Ihr war, als hätte sie während des Boxkampfes stundenlang nur Emanuel und Inge beachtet.
Aber sie sagte sich, daß Ehmann drauf angewiesen war, seinem Freund Emanuel weiter nachzugehen, Schritt um Schritt, wie schon den ganzen Tag. Er hatte Emanuel nicht allein gelassen, so entschied Margo. Übrigens benutzte er Helfer. Eine Kontrollabteilung mußte eine ganze Menge Verräter beschäftigen, warum nicht auch Fritz Bergmann. Dieser Junge hatte stahlblaue Augen und ein Gesicht, ebenso harmlos wie männlich. Ihm wären die Tätigkeit als Spion und der Einbruch bei einem Kameraden gewiß nicht anzusehen gewesen; – aber zutrauen, Margo überraschte sich dabei, daß sie es ihm zutraute und daß sie es eigentlich jedem zutraute.
Wir waren nun einmal alle in Furcht um unsere Existenz und daher zu manchem fähig. Wir wollten reich werden aus Furcht, hauptsächlich aus Furcht, und dann, weil es das einzige erlaubte Ziel war. Das nahm uns manchmal die Besinnung. In der Fahrt, wie man war, konnte vieles vorkommen. Margo erinnerte sich, was sie getan hatte, um Nora Schattich auf ihre Seite zu bringen. Sie hatte die Frau gegen ihren Mann aufgebracht, sie war so weit gegangen, daß das Wort Mord fiel. Auch von sich hätte sie dies früher nicht geglaubt. Wer konnte wissen, wie es mit Fritz Bergmann stand … Sie nahm den Hörer wieder auf.
»Zu komisch«, sagte die Stimme der kleinen Susanne. »Er verstellte sich zuerst. Er wollte es nicht sein.«
›Natürlich‹, dachte Margo.
»Ich mußte noch lauter schreien, da kam er herauf. Jetzt steht er neben mir und macht Zeichen, ich soll aufhören.«
»Ich möchte mit ihm sprechen«, sagte Margo.
»Guten Tag, Frau Rapp«, rief eine muntere Stimme. »Seien Sie man froh, der Scheißkerl hat die Hosen voll gehabt und ist getürmt.«
»Das weiß ich schon. Aber haben Sie nicht zufällig etwas bei sich, daß Sie das Loch weiter machen können, bis Susis Hand durchgeht?«
»Sie sind wohl bange, Frau Rapp, ob Ihre Aktienpakete noch drinliegen. Sind alle noch da. Soll ich sie klauen, weil Ihr Mann gerade verhindert ist, und wir beide machen Kippe?«
»Sie sind doof, Bergmann, sonst müßten Sie doch merken, daß ich lieber auch mit im Sportpalast wäre.«
»Warum sind Sie anderswo?« sagte er in verändertem Ton. »Frau Margo, ich sehe Sie immer bloß beruflich, und in der Luft wirste lieber nicht unsachlich.«
»Sonst?« fragte sie unbeirrt. Keine Antwort kam – bis wieder die Kleine sprach.
»Nu haut er ab mit 'n roten Kopp. Was sagst du! Er verehrt dich.«
»Rede keinen Unsinn!«
»Jetzt verstehe ich, warum er unten herumschlich und nicht herauf wollte.«
»Na ja, das geht auch. Wer das eine tut, muß das andere nicht lassen.«
»Was heißt nun das?«
»Das ist nichts für dich«, sagte sie – meinte aber, daß man sich wahrscheinlich auch in sie verlieben und gleichzeitig bei ihr einbrechen konnte. Neben ihre eigenen Erfahrungen gehalten, war da nichts zum Verwundern. Schön. Flieger Bergmann hatte sich verliebt, was sollte sie damit anfangen? Ja, Margo fragte sofort, wozu sie den Menschen brauchen konnte. Das Dringendste zuerst.
»Hör zu!« befahl sie der Kleinen. »Bergmann soll gleich herkommen. Ich brauche hier Hilfe.«
»Meine Herren! Ist dort auch wieder was los?«
»Schrei nicht! Denke daran, daß du zum Film willst, da kommt Ärgeres vor. Lauf dem Jungen nach, hol ihn zurück!«
»Oh, der ist nicht weit weg, er horcht an der Tür.«
»Dann soll er eine Treppe tiefer zu Frau Nora Schattich gehen und ihr sagen, daß sie mal nach mir sieht. Es ist Zeit.«
»Wo bist du überhaupt? Ich habe sechs Nummern angerufen, bis ich dich zufällig erreichte. Wo bist du, und was tun sie dir, Margo? Margo!«
»Ich sitze gefesselt bei Schattich am Schreibtisch.«
Hiernach erfolgte drüben nur noch ein stärkerer Atemzug. Margo hängte ein und wartete.
Sie versuchte zu ergründen, was Schattich in seinem Prunksaal jetzt angab. Manchmal ging jene entfernte Tür auf; ihr schien dann, daß jetzt andere Geräusche aus seinen Bereichen drangen. Zu ahnen waren Kreischen und Gelächter. Aber sie hätte nicht sagen können: Gnädige Frau, jetzt haben Sie ihn. Schattich hatte sich gut gesichert. Woher übrigens nahm Nora den Schlüssel? Margo war ratlos. Sie hatte so viel im Sportpalast erblickt, vom Treiben Schattichs zeigte sich ihr nicht das geringste.
Sie träumte, daher hatte sie nicht bemerkt, daß hinten die Tür aufging. Plötzlich und wie eine Gestalt ihrer Träumerei stand die Zofe Marietta da. Als Margo sie endlich bemerkt hatte, lachte das Mädchen, aber sie hielt die Hand vor den Mund.
»Es kann hier nicht mehr lange gut gehen«, erklärte sie. »Mal muß die Alte ihn doch fassen, wahrscheinlich schon heute. Sie läuft den ganzen Abend in den Zimmern herum und raucht Opiumzigaretten. Entweder ihr wird kotzübel, oder sie schwebt hier an … Hier ist der Schlüssel«, sagte sie, da Margo ihr nicht antwortete. Sie legte ihn auf den Schreibtisch. »Nun, was machen Sie mit Sigi?« Sie näherte sich schelmisch der Puppe. »Ich hab mal einen Sigi gekannt, tot ist er auch schon. So sah er aus.«
Margo folgte ihrer unwiderstehlichen Lust, dem Geschöpf eine zu kleben. Sie kam aber nicht dazu. Als sie die Hand aufhob, tat auch der sogenannte Sigi es, und seine fünf Finger waren es, die Mariechen unversehens im Gesicht hatte. Aufschreiend sprang sie zurück, ihre Wange zeigte Streifen.
»Die Gemeinheit merke ich mir!«
Sie ging zu der vorderen Tür und schloß sie auf.
»Jetzt kann die Olle herein, machen Sie sich auf was gefaßt!«
Margo verriet nicht, wie sehr ihr gedient war. Sie bat das Mädchen, das hinten abgehen wollte, nur noch um eine Auskunft.
»Sie haben doch den Schlüssel zum Saal hier hingelegt? Sagen Sie, lohnt es sich überhaupt, wenn die Alte jetzt anschwebt?«
»Was denn!« sagte die Zofe nur und verschwand schon. Sie wendete sich noch um.
»Wollen Sie bei mir gut abschneiden? Dann erzählen Sie der Ollen, daß ich den Schlüssel gebracht habe! Ich arbeite doch lieber mit ihr als mit Schattich. Der Junge ist ja weich.«
Entgegen diesem absprechenden Urteil durfte der frühere Reichskanzler überzeugt sein, daß er gerade jetzt seine weittragenden staatsmännischen Vorkehrungen traf. Erstens liquidierte er die Sache mit dem Pfarrer von Sankt Stefan; dies ergab Folgen für seine Beziehungen zu ganzen politischen Parteien. Vielleicht entschied es seinen Wiederaufstieg, daß Schattich sich mit dem Frühgeläut der ihm benachbarten Kirche abfand.
Sein Verein war ziemlich vollständig erschienen, der Verein zur Rationalisierung Deutschlands kam selbstverständlich über die Haupttreppe oder im Lift. Nahe Geschäftsfreunde waren aus Berlin eingetroffen. Schattich merkte sich die genau, die zwar in der Stadt wohnten, aber dennoch ausblieben. Der Bürgermeister war da, er behauptete, den Pfarrer hergebracht zu haben. Herr Bausch, Elektro-Lux, schwieg hierzu taktvoll; aber nur den Bemühungen seiner Tochter war es in Wirklichkeit gelungen. Auch er durfte innerhalb einer kleineren Gruppe zuhören, wie der Staatsmann dem Geistlichen ihre realpolitisch begründete Bundesgenossenschaft auseinandersetzte.
»Hochwürden, wir beide können weltanschaulich abweichen, dafür findet sich immer ein Ausgleich, sobald wir ihn brauchen. In Zeiten, wo wir ihn nicht brauchen, findet er sich eben nicht. Heute, Hochwürden, entscheidet keine weltanschauliche Bindung, sondern einzig und allein die uns gemeinsam vom Bolschewismus drohende Gefahr. Bei Ihnen sind die Verfolgungen der Kirche, was bei mir die Abdrosselung der uns von Rußland gewährten Konzessionen. Beides ist offenbar untragbar. Ihr seid sicher ebensowenig gesonnen, den Nacken zu beugen, wie wir. Ich kenne nur zwei wirkliche Mächte, Wirtschaft und Kirche. Wir beide, Hochwürden, sehen ziemlich kräftig aus«, sagte er mit einem Anflug von Humor.
Besonders der Pfarrer wirkte stiernackig. In diesem Augenblick schien er zu lächeln, aber der Menschenbehandler Schattich war sich klar, daß die Augen hinter den Fältchen vollkommen ernst und scharf blieben. ›Nicht leicht‹, dachte der Politiker. Sein Gesprächspartner bemerkte: »Wenn Sie Krieg mit Rußland wünschen –«
Weit abweisende Bewegung Schattichs, aber der Geistliche blieb dabei.
»Wenn Sie Krieg mit Rußland wünschen, Herr Reichskanzler, dann muß ich Ihnen erwidern, daß die Kirche nur geistige Kämpfe führt und darin zwangsläufig auch siegt.«
»Die Hilfe der Wirtschaft hat noch niemand geschadet.«
»Das behaupte ich nicht. Es wäre durchaus denkbar, daß meine kirchlichen Vorgesetzten das Zusammentreffen gewisser äußerer Umstände, die unsere Kirche und, wie Sie sagen, die Wirtschaft beunruhigen – daß sie es anerkennen und für ihre Zwecke, die rein sind, benutzen.«
»Die rein sind«, wiederholte der Politiker beifällig, denn diese Worte waren mit Nachdruck gesprochen worden.
»Sie werden unsere Unterhaltung doch weiterleiten, Hochwürden?«
»Ich bin verpflichtet, höheren Ortes darüber zu berichten.«
»Sehr richtig. Und Ihr Papst soll mal 'n Ukas loslassen.« Er verbesserte sich sofort. »Seine Heiligkeit würde mit einer Bulle gegen die Bolschewiki tatsächlich einen Sensationserfolg haben. Auf so was wartet man. Es würde einschlagen, wie ein Tonfilm, der die neueste Technik hat. Die Gläubigen würden aufatmen, mir können Sie es glauben.«
»Denn als Gläubiger können Sie es wissen«, bestätigte der Geistliche, und diesmal war er selbst humoristisch.
Dann sagte er indessen bedenkenvoll: »Nach meiner persönlichen Auffassung wird der Papst die von Ihnen erhoffte Bulle nicht erlassen.«
Schattich schnob mehrmals, hierauf fragte er leise: »Wetten?«
Sie sahen einander an, beide zuckten die Schultern.
Schattich begann ohne Überleitung von der Konzentration aller bürgerlichen Kräfte zu sprechen. Er wurde etwas lauter als bisher. Da genügend Personen aufmerksam geworden waren, begab er sich auf den Sessel des Präsidenten, auch die anderen nahmen ihre Plätze um den Tisch ein. Schattich blieb stehen und sprach zu ihnen – als ob das ganze Deutschland, das rationalisiert werden sollte, ihm zuhörte. Ehrgeiz, Interesse und sogar eine Art Überzeugung, er konnte alles ohne Rest in einen Augenblick legen, das war seine Stärke.
Sein Freund, Herr von List aus Berlin, betrachtete ihn schräg über den Tisch; er dachte ungefähr: ›Es steckt doch noch manches drin, ganz unrecht hatte ich nicht, daß ich auf ihn setzte. Der lächerliche Prunksaal, denn Geschmack werden sie nie haben‹ – Herr von List meinte die Deutschen, er selbst kam aus einem Nachfolgestaat Österreichs –; ›darin diese poplige Gesellschaft; aber er hält sich. Steht da wie der richtige große Geschäftsmann, das Bild des Sonnenkönigs hinter seinem Kopf kann grade noch mit. Es hat keinen Zweck, daß er wieder Reichskanzler wird‹, dachte Herr von List. ›Es steht nicht dafür‹, dachte er wörtlich. ›Wir werden ihn an eine Stelle schieben, wo er bessere Dienste leistet. Brauch ich einen Reichskanzler, der Faschismus macht?‹ dachte Herr von List. ›Faschismus mach ich selbst‹, dachte der Großkapitalist. ›Aber dort, wo die größten Geschäfte vergeben werden, muß ich ihn haben.‹
Schattich redete sich den Mund fusselig, wie Bausch und seinesgleichen meinten; dennoch folgten sie ihm achtungsvoll. Sein verlängertes und gehärtetes Gesicht, das sogar in der Farbe eindrucksvoller geworden war, während er seine Funktion ausübte, erinnerte sie an die Leichen, über die er gestiegen war und noch steigen sollte. Daher gaben sie ihm eine Chance.
Der Führer des Vereins forderte die bürgerliche Konzentration – wenn auch mit gewissen Unklarheiten über ihre letzten Zwecke. Ein Zwischenruf ersuchte ihn um konkrete Angaben. Er antwortete: »Ich bin entschlossen, die Vereinsarbeit nicht von vornherein dadurch gefährden zu lassen, daß ich mich konkret ausdrücke.« Seine drohende Stirn widersprach den vorsichtigen Worten; das war auch die von allen gewünschte Mischung. Schattich hatte an Vertrauen noch gewonnen.
›Er ist Christ‹, dachte Herr von List, ›und schon darum für mich der richtige Vorspann. Auch hat er noch nicht gesessen.‹ Denn Herrn von List persönlich war dies zugestoßen zur Zeit der österreichischen Monarchie. ›Es hätte ihn genau so treffen können wie mich. Aber was zählt, sind Tatsachen. Man hat gesessen oder nicht gesessen, das ist wie Nacht und Tag, ob wir zehnmal dieselben – Kaufleute sind … Und wenn ich sage Kaufleute, und wenn ich sage gesessen‹ – dachte der elegante und schneidige Herr von List hinter seinen glatten, wenn auch fleckigen Kavaliersgesicht. ›Ich bin auch damit noch der Fürst von Berlin. Es kommt die Zeit, da bebaue ich den ganzen Tiergarten, und sie schenken ihn mir, sie werfen ihn mir nach – aus Angst wegen des Geldes, das sie von mir schon genommen haben, und weil sie pleite sind.‹ Er wußte übrigens, daß dies Träumerei war. Den Tiergarten schenkte ihm niemand, auch jene »sie« nicht.
So träumte denn selbst der Großkapitalist, indes auch die anderen nachdenkliche Mienen zeigten. Ihr Führer Schattich sprach erhebend, aber zu lange. Unter der ausführlichen bürgerlichen Konzentration litt seine eigene. Er entzog sich unbewußt den Verpflichtungen seiner Gedankengänge, wurde ein freier Mann und fuhr mit Margo Rapp, seiner netten Sekretärin, nach Berlin – bald im Auto, bald mit Flugzeug, das war noch nicht heraus. Dann fiel ihm ein, daß Margo an seinem Schreibtisch gegenüber der Puppe saß und sich nicht rührte. Dann fiel ihm nicht ohne Beklemmung seine Frau ein. Von ihrer Zofe wußte er, daß Nora umherrannte und schwere Zigaretten rauchte. Hatte sie etwas vor? Schattich redete aus Angst plötzlich mit Herzenstönen, man horchte sogar wieder auf.
Er wünschte, sein Freund, Herr von List, hätte grade heute die Herrschaften vom Kabarett oder Film nicht mitgebracht. Es war ein Gedanke des Mäzens List, den Abend zu verschönen durch die Künstler, die in Berlin bei ihm verkehrten. Das saß jetzt draußen bei den Schnäpsen und wartete, bis hier Stimmung herrschte. Ohne Stimmung keine Rationalisierung Deutschlands und auch kein Schattichscher Wiederaufstieg. ›Trotzdem kann ich die Filmnutten im Augenblick nicht brauchen‹, dachte Schattich – redete Herzenstöne und wischte sich den Schweiß, weil er kein Ende fand.
Inzwischen lief seine Frau durch ihre Zimmer und wartete auf Nachricht von der Sekretärin, um unheilvoll einzugreifen. Die Berliner Herrschaften erwarteten bei den Schnäpsen ihre Zeit. Margo, die eingeschlossen war, verband sich mit der Außenwelt telefonisch und überdies auf ihre eigene, technisch noch nicht festgestellte Art. Im Sportpalast kämpften sich die beiden Gegner blutüberströmt der Erschöpfung und dem Unentschieden entgegen. Inge und Emanuel fühlten sich trotz allem nicht glücklich. Ehmann lebte tätig und einfallsreich wie je, und nur der junge Ernst war ohne Rest bei der Sache. Ein Einbruch war vorgekommen in der Rappschen Wohnung, dahinter steckte, wer weiß wer und was. Aber ein Junge, der allenfalls daran beteiligt war, entpuppte sich bei dieser passenden Gelegenheit als Liebender. Er liebte Margo, jetzt war er unterwegs zu ihr … Vieles war unterwegs.
Dem Redner Schattich entging nicht, daß dort hinten die schwere Tür ein wenig bewegt wurde. Ein Diener mit silbernen Schnüren stand davor; die Person, die von außen einen Spalt öffnete, flüsterte ihm etwas zu, wahrscheinlich betraf es die Wartenden. Der Lärm, den sie machten, wurde kurz hörbar. Schattich brach ab.
Die folgende Pause wurde zwar ausgefüllt mit Konferenzen einzelner, die oft nicht ohne geschäftliche Ergebnisse blieben. Im Grunde war es doch nur der Übergang vom ernsten zum heiteren Teil des Abends. Während die Herren sich besprachen, sahen sie manchmal nach dem Geistlichen aus, ob er noch nicht ginge. Was dem Verein zur Rationalisierung Deutschlands am Schluß seiner Sitzung geboten wurde, war nicht für den Pfarrer bestimmt.
Schattich und sein Freund Herr von List suchten einen ungestörten Winkel auf. Der frühere Reichskanzler dankte dem einflußreichen Geschäftsmann für sein Kommen. Dieser erwiderte, daß die kurze Fahrt mit dem Flugzeug keine Rolle spiele. Mitten in Berlin koste manche Zusammenkunft ihn mehr Zeit.
»Wir fliegen morgen zusammen hin«, erklärte Schattich. »Wozu sitze ich hier manchmal wochenlang fest, als ob Berlin und dies hier nicht ein und dasselbe wäre; derselbe Konferenzsaal, dieselben paar Dutzend Leute, mit denen man verhandelt. Rationalisierung ist soviel wie Aufhebung der Entfernungen und Konzentrierung aller Geschäfte in derselben Hand. Womit ich nichts gegen die Heimattreue und das Eigenrecht der Länder gesagt haben will.«
»Lieber Freund, Sie stehen vor keinem Parlament und müssen sich nicht den Rücken decken. Wenn Sie nochmals an die Spitze der Reichsregierung berufen werden –«
»Wenn ich sie zwinge, mich ranzulassen!« verbesserte Schattich stolz. »Die siebenhundert Millionen Mark der ersten amerikanischen Anleihe, die ich sofort an die Industrie abgeführt habe, sollen noch immer meinen Wiederaufstieg verhindern? Die waren nur der Anfang!« Er hob sich auf die Zehen, fiel auf die Absätze, was tatkräftig wirkte, und dazu bearbeitete er die Ecke des Konferenztisches mit einem riesigen Bleistift. Es war sein Traditionsbleistift, Schattich hatte gehört, daß Bismarck und Bülow solche führten.
»Sehr schön«, erwiderte Herr von List. »Sie sind der Mann, der Deutschland retten wird, der Mann des Schicksals. Ich brauch ihn, sagt Deutschland.« Herr von List betonte nicht brauch, sondern ich und ihn; ein Tonfall kam heraus, den man anderswo verstanden hätte. Schattich verstand ihn nicht und nahm die Schmeicheleien seines Freundes ernst … »Sehr schön«, wiederholte Herr von List. »Aber zu wenig für Sie. Als Kanzler werden Sie niemals Reichspräsident, und das müssen Sie werden. Reichspräsident wird nur jemand, der zur höchsten Popularität aufsteigt außerhalb der republikanischen Regierung und sogar gegen sie. Ist Ihnen das klar, lieber Freund?«
»Nein, lieber Freund.«
»Beherzigen Sie einfach die gegebenen Vorbilder – den Reichsbankpräsidenten zum Beispiel. Wenn er sich nicht den Hals bricht, ist er der nächste Reichspräsident. Ich tippe auf seinen Genickbruch. Sobald dieser eintritt, sind Sie zur Stelle. Das ist es, was wir vorbereiten müssen – ebensosehr geschäftlich wie politisch. Ich wage zu sagen: noch mehr geschäftlich.«
Schattich wurde nachdenklich. Er starrte, so ehern er irgend konnte, auf das majestätische Gesicht des Sonnenkönigs.
»Man verdient nie genug«, entfuhr ihm plötzlich.
»Ausgezeichnet. Jetzt sind Sie auf dem richtigen Wege. Unser Tiergartengeschäft ist ausbaufähiger, als Sie noch wissen.«
Herr von List flüsterte. Bisher waren nur die Geheimnisse Deutschlands erörtert worden; das durften die umherstehenden Horcher allenfalls aufschnappen. Jetzt aber kamen die Geheimnisse Lists und Schattichs. Die beiden steckten die Köpfe zusammen, niemand hörte mehr.
Als es feststand, daß die Tiergartenstraße Geschäftsstraße wurde, hatte Herr von List, nicht einmal sein Teilhaber Schattich wußte genau, auf welchen Wegen, die Stadt dazu bewogen, daß sie ihm erlaubte, gegenüber, eine gewisse Strecke lang, einstöckige Häuser aufzuführen. Sie mußten ausdrücklich so niedrig sein, daß die gute Luft des Tiergartens hinüberwehte und, kaum entwertet, noch immer der Stadt zu atmen half. Mit diesem Trost versehen, hatte eine empörte Öffentlichkeit die schon vollzogene Tatsache schließlich denn auch hingenommen. Als zwei Jahre später die Häuser allen Versprechungen entgegen dennoch aufgestockt wurden, ging es an der Öffentlichkeit, die keine Wiederholungen liebt, einfach vorüber. Herr von List hatte übrigens dafür gesorgt, daß er ungenannt blieb. Den Zusammenhang Schattichs mit dem Geschäft kannten erst recht nur die Eingeweihtesten.
Schattich flüsterte zurück: »Hinter der ersten Reihe sollen wir eine zweite bauen? Den Vertrag muß ich selbst sehen, sonst glaub ich es nicht.«
»Wir zahlen. Bargeld lacht, und die Stadt geht sowieso Skandalen entgegen.«
»Aber die Pacht soll dieselbe bleiben? Wir zahlen für den ersten Vertrag so wenig, daß niemand es uns glauben würde, fünfzigtausend, ich hol es aus der linken Westentasche. Wieviel haben wir dagegen letztes Jahr an Mieten eingenommen?«
Herr von List flüsterte die Summe. Er setzte hinzu: »Und unsere Mieter brechen sämtlich zusammen, nachdem sie uns für ihr Geld Verkaufslokale und Luxusrestaurants ausgestattet haben. Ihre Nachfolger finanzieren wir dann selbst. Das Geschäft macht, wie gewöhnlich, der zweite. Die Menschen sind aber glücklicherweise so veranlagt, daß sich immer wieder erste finden.«
»Trotzdem verstehe ich die Stadt nicht – und will übrigens nichts weiter wissen.«
Auch Herr von List fand es richtig, daß dem Staatsmann, der eines Tages wieder die Gesamtheit der Nation vertreten konnte, die Einzelheiten des Geschäftes fremd blieben. Daher begnügte er sich mit Unbestimmtheiten.
»Wer a gesagt hatte, mußte auch b sagen – schon um zu verhüten, daß wir selbst durchsickern ließen, wer das erstemal mit uns gegangen war. Soviel ist ausgemacht: wir bebauen den Tiergarten für denselben Vertrag wie bisher. Und dank den so an Ihnen interessierten Einflüssen werden Sie Reichsbankpräsident, lieber Freund.«
»Haben Sie den Bauplan da?« fragte Schattich. Er wollte gar nicht hören, über welche Stufen sein Aufstieg führte.
»Ja«, flüsterte Herr von List. »Aber hier sind zu viele Neugierige.«
»Ach! Herr Pfarrer will uns schon verlassen«, sagte Schattich laut und geleitete den Geistlichen. Sein Freund folgte unauffällig. Da sie nun glücklich draußen waren, hüteten sie sich, in den Saal zurückzukehren, sondern suchten für ihre Beratung den geeigneten Schauplatz. Einige kleinere Büro- und Beratungszimmer führten im Halbkreis wieder zu dem Arbeitszimmer des Chefs. Schattich hatte sogar den Einfall, seinen Freund dort hinein zu führen – nicht nur wegen der Ruhe und Sicherheit. Er war auch eitel auf das von ihm gefesselte Mädchen. Margo hieß sie, und da drinnen saß sie. Mitten in seinen weittragenden Angriffsvorbereitungen erinnerte sich der große Mann noch dieser nebensächlichen Eroberung.
Indessen begrüßte ihn aus einem der Zimmer der jugendliche Komiker, den Herr von List im Flugzeug mitgebracht hatte.
»Er hat mich durch die Lüfte entführt«, sagte der Liebling des Publikums. »Gleich nach meinem Auftritt am Abend, mein Wort, ich trug noch die grüne Perücke.«
Er war übrigens zweitklassig und verkehrte daher bei List. Die ganz Prominenten blieben fort. Seine Kameraden, die vor den anderen Spiegeln saßen und Maske machten, beneideten ihn trotzdem; seine heutige Abendgage grenzte an Hollywood. Als die beiden Herren vorbeigingen, ohne ihm zu antworten, bemerkte er wegwerfend: »Haben die eine Ahnung, was es heißt, in der Öffentlichkeit zu stehen!«
Sie wollten eine Tür öffnen, hörten aber drinnen die Nutten lachen und verlegten nach stiller Übereinkunft die Begegnung mit ihnen. Nebenan schien es leer, sie traten ein.
Herr von List zog sogleich den Bauplan hervor, Schattich aber schob seine Hand fort.
»Moment mal! Ich habe noch eine Sache, die auch keine Kleinigkeit ist. Eine große Sache, kann man sagen. Mein alter Freund Birk –«
Er setzte des längeren auseinander, welche gewichtigen Gründe er hatte, Birk für streng zuverlässig und eine Erfindung von ihm für ein ausgemachtes Geschäft zu halten. »Und mein alter Freund Birk ist obendrein der Mann, der die größte Sache für nichts und wieder nichts aus der Hand läßt.«
»Ein Mann mit seinen Erfahrungen?« wendete der Teilhaber ein.
»Verlassen Sie sich auf mich, ich kenne meinen Freund, zum Schluß ist er Neese.«
Hier bemerkten sie, daß nicht weit von ihnen ein völlig nacktes Weib saß. Der Pfeilerspiegel, bei dem sie gerade verweilten, enthielt das Bild, das ein anderer Spiegel ihm schickte. Die Person selbst saß hinter einem Aufbau von Stühlen, den Teppiche verhängten. Sie traten hinzu und wünschten guten Abend.
»Lassen Sie sich man bloß nicht stören«, sagte eine Stimme von abgründiger Gleichgültigkeit.
»Vorausgesetzt, daß es Ihnen nichts ausmacht«, glaubte Schattich hinwerfen zu sollen. Die völlig nackte Person, deren Schenkel ihm immerhin auffielen, bemerkte: »Bei mir Blumentopf.«
Beide Teile betrachteten die Frage als gelöst und gingen ihren eigenen Angelegenheiten nach. Schattich erklärte Herrn von List, wie er dem Schwiegersohn Birks, einem unverschämten, aber nicht sehr aufgeweckten Jungen, die Erfindung abzujagen gedachte. Inge dagegen schminkte sich. Es war Inge, sie saß entkleidet hinter dem selbstverfertigten Aufbau und zitterte von Kopf bis Fuß vor Angst. Wenn Schattich sie erkannte! Daher beschmierte sie ihr Gesicht so dick, daß sogar ihre Schwester Margo gezweifelt hätte, ob sie es war.
Inge hatte sich im Sportpalast wirklich fast so verhalten, wie Margo es, die Hand am Telefonapparat, gesehen und gehört hatte. Natürlich konnte Margo nichts wissen von den Berliner Herrschaften vom Kabarett oder Film, die einen Augenblick dort auftauchten. Es war gerade, während Brüstung mit Alvarez kämpfte. Wer bemerkte zuerst den Liebling des Berliner Publikums, wer kannte ihn sogar persönlich? Ehmann. Nachher machte er alle bekannt – aus bloßer Lust an Beziehungen. Inge brauchte nicht einmal zu bitten. Als sie aber erfuhr, weshalb die Künstler hier waren, versicherte sie dem Liebling vom Kabarett, es sei schon immer ihre heiße Sehnsucht gewesen aufzutreten. Sie log, was sie alles könne. Hierauf nannte er sie sofort du, er zeigte auch sonst die größte Bereitwilligkeit, sie zu Schattich mitzunehmen.
»Es wird ein Herrenabend«, sagte er. »In der Provinz können die guten Leute, wenn sie erst mal losgelassen sind – nicht genug können sie kriegen. Zieh dich ganz nackt aus! Da hast du meinen Tip. Bei deinem Wuchs ist das der Erfolg.«
»Gemacht«, erwiderte Inge, als ob es ihr darauf nicht ankäme. Sie dachte: ›Ich will fort, will fort. Filmen? Susi meint, das geht nur über den Konzern und das Terrain. Es geht vielleicht auch, weil ich gut gebaut bin. Fort – und meinen Em mitnehmen! Ich bring ihn schon unter‹, dachte sie, denn ihr eigenes Unterkommen und das seine schienen ihr in diesem Augenblick das Leichtere. Schwerer war es, ihn zu behalten – aufrechtzuerhalten, was sie getan hatte, ob es nun richtig oder falsch war. Beide wissen schon, daß sie sich geirrt haben. Sie werden einander noch wieder begehren, aber dann kommt ein Nächster. Ist es schon Brüstung? Ist es vorher noch der Schauspieler, der sie du nennt und sie haben will?
Inge, im Gedränge der Kampfpause, sieht vergebens nach Emanuel aus. ›Wir müssen fort, ist dir das klar?‹ denkt sie. Damit er es erfaßt, will sie ihn eifersüchtig machen. Dies gibt den Ausschlag. Heimlich verläßt sie mit dem Schauspieler den Sportpalast. Sie hat Kopfweh und wiederholt sich, etwas ungeordnet, alles, was sie rechtfertigen kann. ›Er hat so viele Feinde, ich muß ihn schützen. Wenn er meiner nicht mehr so sicher ist, läßt er eher mit sich reden. Wer weiß, wenn ich hinkomme, ist Schattich womöglich besoffen und macht mir unsittliche Anträge. Dann hau ich ab, und Em wird informiert und landet auf Schattich einen Kinnhaken. Wir drehen die große Sache! Schattich schielt!‹
Dies waren die frohen, wenn auch wirren Absichten Inges bei dem fragwürdigen Schritt, den sie hier unternahm.
Wie schade, Inge war keine Denkerin. Sie entschloß sich, bevor sie wußte, warum, und sah daher noch weniger als Margo voraus, was kommen mußte. Margo, die doch mit Überlegung handelte, fand übrigens das meiste auch nicht. Inge – ach, sie war kaum angelangt im Hause Schattichs, da fiel ihr ein, wie leicht er sie erkennen konnte. Sie hätte sich sagen dürfen, daß der große Generaldirektor sie noch niemals angesehen hatte und daß eher ihre Schwester Margo ihm aufgefallen war. Aber die schöne und vielbegehrte Inge war nicht geneigt, einzugestehen, daß sie für irgend jemand nur zum Mobiliar des Zimmers gehörte – eine Arbeiterin, keine Frau.
Daher zitterte sie vor der Begegnung mit Schattich und trank zunächst einmal die Schnäpse, die ihr Schauspieler ihr einschenkte. Dabei zeigte er ihr die Karten aller der Frauen, die ihm ihre Telefonnummern aufgeschrieben hatten. Dies war die Ausbeute eines einzigen Festabends, den er in einem Berliner Hause veranstaltet hatte. Inge faßte inzwischen den Mut, seinem wiederholten Rat zu folgen; sie zog sich tatsächlich in ihrer Garderobe nackt aus. Das Gesicht dick beschmiert, wartete sie. Ihre Kopfschmerzen und der gegenwärtige Augenblick beschäftigten sie ganz. Sie hatte vergessen, daß sie schließlich doch mit ihrem wirklichen Gesicht, aber ohne Kleidung, in eine leibhaftige Gesellschaft treten sollte.
Als die beiden Herren sie entdeckten, erschrak sie zuerst noch, aber die wirkliche Gegenwart der Gefahr bewirkte bei Inge gleich darauf Kälte und Unbesorgtheit. Jetzt waren sie eben da. Die nackte Inge bog den Arm hinauf, um mehr von ihrer Figur zu zeigen. Der ins Licht gehaltene Schenkel lenkte Schattich denn auch wirklich von ihrem Gesicht ab. Dazu gab sie sich die Stimme und die Sprechweise einer Frau, die gewöhnlich so dasitzt in aller Unbefangenheit und andere reden läßt von Dingen, die ein Wesen wie sie nichts angehen. Sie fand sich selbst gelungen. So wurde ihr weniger bewußt, welche schrecklichen Geheimnisse sich vor ihr auftaten.
Schattich hatte nicht den kleinsten Argwohn. Eher war Herr von List im Zweifel, was sein Freund, der Prominente, ihm hier mitgebracht habe. Er öffnete den Mund, um zu sagen: Fräulein, einen Augenblick bitte, verschwinden Sie mal! Aber die Dame war nackt und überdies bestimmt kein Geisteskind. Er ließ Schattich seine Geheimnisse erzählen.
Der große Mann war merkwürdig erfüllt von seinen erfindungsreichen Anschlägen gegen seinen alten Freund Birk. Es mußte eine besondere Liebhaberei von ihm sein. »Zum Schluß ist er Neese«, wiederholte Schattich. Sein anderer Freund überlegte indessen, das Geschäft könne wirklich eine große Sache werden, unter der Bedingung, daß er es in die eigene Hand bekam. Herr von List hatte schon in diesem Augenblick die innere Anschauung des Mißerfolges, der seinem Freunde Schattich bevorstand, und daß zuletzt er selbst der Gewinner sein werde. Daher gab er ihm zunächst in allem recht. Die abgefeimten Ränke, auf die Schattich sich offenbar so viel einbildete, List ermutigte ihn dazu um so eifriger, je dummer er sie fand.
»Etwas kinomäßig ersonnen, lieber Freund, aber keineswegs unbegabt.«
»Hauptsache, in der ganzen Komödie spielen nur Leute mit, auf die ich mich verlassen kann. Daher habe ich heute einen gewissen Bausch hier, Wilmar Bausch. Sein Elektro-Lux wird nur von mir gehalten. Er ist mein Neger. Dabei sieht der Mann aus wie der ehrbare Kaufmann persönlich, und last not least, er kann Englisch.«
»Sie fangen an, mich zu überzeugen, lieber Freund. Vielleicht können Sie auch unseren prominenten Kabarettisten in einer Rolle verwenden.«
»Ich nehme Sie in der Sache natürlich mit, lieber Freund. Ganz große Sache, wiederhole ich Ihnen. Wir werden die Erfindung selbst ausbeuten. Wozu sie einem Konzern verkaufen, sei er englisch oder deutsch! Nur das eigene Unternehmen befreit den Menschen von der ewigen Existenzangst. Ich sitze in zweiundvierzig Aufsichtsräten, aber es gibt keinen, aus dem ich nicht hinausgewählt werden kann. Sie, List, gehen immer sicherer. Sie kaufen nichts, was Sie nicht schon vorher um fünfhundert Prozent teurer weiterverkauft haben. Vielleicht liefern Sie es dann nicht mal.«
»Ihre gute Meinung ehrt mich. Ich fühle den Drang, Ihnen gefällig zu sein. Sie benötigen für die Aktion, die Sie vorhaben, ein Haus. Ihnen fehlt ein passend gelegenes, verschwiegenes Haus, dem man übrigens nachreden kann, was man will. Ihr eigenes Berliner Haus hat nicht die Eignung. Sollte jemals von den Vorgängen etwas durchsickern, darf es nicht bei Ihnen geschehen sein. Ihr guter Name ist ein deutscher Besitz.«
»Ich wußte, daß Sie mein Freund sind«, sagte Schattich ergriffen.
»Lieber biete ich Ihnen mein eigenes Haus für Ihre Zwecke an. Bei mir ist schon mehr passiert, und es lohnt sich kaum noch, mir etwas nachzureden.«
»Ich nehme an«, schloß Schattich. »Ich darf es, denn wir kennen einander und haben das Vertrauen, daß immer alles in anständigen Formen erledigt wird.«
Er hatte in seiner seelischen Bewegtheit den Arm des Freundes genommen und den Freund durch das Zimmer gezogen. Jetzt standen sie einen halben Meter von der nackten Inge, ihrem herrlich geformten, langen Rücken, die Hüften schmaler als die Schultern; aber die beiden Geschäftsleute sahen schlechtweg hindurch. Inge ihrerseits dachte: »Jetzt nur türmen! Das alles muß Em wissen.«
Leider war es nicht leicht, von hier fortzukommen. Während ihrer krampfhaften Überlegungen entfernte sie vom Gesicht die dicksten Schichten der Schminke.
»In den anständigsten Formen«, betonte Schattich noch mehrmals. Da wurde die Tür aufgerissen. Eine große Dame stand darin, wie aus dem Boden gewachsen. Großes Abendkleid, lange Perlenkette, Arme und Beine lang, und wo es ging, Kleinodien. Sie schien den Kopf noch höher zu tragen vermöge ihres so weißen Kinnes. Ihr zornig blauer Blick fiel aus erhabener Entfernung auf Schattich neben der nackten Inge.
Schattich, grade dabei begriffen, sich seine eigene Anständigkeit zu bestätigen, behielt zuerst nur den Mund offen beim Anblick seiner Frau. Dann erst erfaßte er das Ausmaß der Katastrophe. Nora wartete ab, daß der Unglückliche im Bilde war; endlich sagte sie mit einer hohen Entrücktheit, die auch Herrn von List Eindruck machte: »Ich störe, hier werden Geschäfte verhandelt.«
»So ist es, meine Liebe, wir meckern gerade, ich und List«, stammelte der unglückliche Schattich.
»Was wäre einfacher«, versetzte die Dame, »als daß man dabei die Hand auf der Schulter einer unbekleideten Person hat.«
Schattich riß seine Hand an sich, wie verbrannt. Sie beachtete ihn nicht mehr. Zu Herrn von List, der ihr die Finger zu küssen versuchte, sagte sie, wie vorher in der abwesenden Art: »Sie haben sich immer eines zweifelhaften Rufes erfreut, Herr von List. Der Verkehr meines Gatten mit Ihnen, lieber Egon, ist einer der Gründe, aus denen ich auf Berlin verzichtet habe.«
»Man vermißt Sie«, glaubte List einwerfen zu sollen. In seinem Ton lag auch, wie gern er des einstigen Flirts mit Nora Schattich noch heute gedachte. Sie sagte fast heiter: »Man soll mich nicht mehr lange vermissen. Nach meiner Scheidung von Herrn Schattich denke ich wieder ganz in Berlin zu wohnen.«
»Scheidung wegen einer mißverständlichen Situation? Gnädige Frau, wir sind moderne Menschen.«
»Ich – Gott sei Dank ein Vorkriegscharakter mit Hemmungen.«
»In der Blüte Ihrer Jahre!« ergänzte bedauernd der frühere Freund.
»Man kann der Auffassung sein«, behauptete die Dame, »daß zwei Herren im Frack und eine nackte Frau ganz einfach der Anfang einer größeren Veranstaltung sind.«
»Das sind sie auch«, erlaubte Schattich sich. »Wir haben doch Sitzung meines Vereins zur Rationalisierung Deutschlands.«
»Es sieht irgendwie nach Orgiasmus aus«, behauptete Nora über ihn hinweg. Wie um ihr recht zu geben, kreischten ein Zimmer weiter die Filmstatistinnen. Sie schwieg, damit die ganze Wirkung herauskäme.
»Ich werde Sie bitten müssen, vor Gericht als mein Zeuge aufzutreten«, äußerte sie, als es ihr Zeit schien.
»Ich denke nicht daran«, erwiderte Herr von List im geschäftlichen Ton. Er erkannte allmählich, was die vorgebliche Entrücktheit der Dame zu bedeuten hatte. Sie war hierher mit wohlüberlegter geschäftlicher Einstellung gekommen. Schattich sollte bezahlen im großen Stil.
»Ich kann alles leugnen«, erklärte List. »Damit bleibe ich sogar bei der Wahrheit. Das Fräulein, das dort sitzt, kennt keiner von uns.«
»Doch«, entschied Nora, »Schattich kennt Fräulein Inge Birk.«
In demselben Augenblick sprang Inge vom Stuhl, kaum daß sie einiges zusammenraffte, das sich anziehen ließ, und sie war draußen. Herr von List wurde von ihr überrannt und gegen die Wand geworfen. Nora Schattich wich ihr rechtzeitig aus. Dabei machte Nora eine Wendung, ihr ohne Rest entblößter Rücken wurde sichtbar.
»Nora«, raunte List ihr zu. »Ihre hintere Ansicht nimmt es noch immer mit der jüngsten Nutte auf.«
Wozu geschäftliche Verwicklungen, in die er hineingezogen werden konnte! Er versuchte es damit, ihr etwas Angenehmes zu sagen. Anstatt aber umgänglicher zu werden, brach Nora jetzt grade los. Sie deklamierte.
»Dieser Mann« – den Finger stürmisch gegen Schattich gerichtet – »muß jeden gesellschaftlichen Halt verloren haben. Er rutscht in die Unterwelt ab. Das will mal Reichskanzler gewesen sein!«
»Ich gebe höchstens einen Organisationsfehler zu«, unternahm Schattich vorzubringen. Aber sie ließ ihn nicht durchdringen.
»Die Öffentlichkeit soll Gelegenheit bekommen, sich einen ihrer höchsten Vertreter näher anzusehen, dafür garantiere ich. Das kommt in die Presse. Ich habe es satt, mich in meinem eigenen Hause beleidigen zu lassen in meiner Frauenwürde.«
»Ein Organisationfehler, gebe ich zu.«
»Damit sein Verein, der die Rationalisierung mit Nacktballett betreibt, ihm die Geschäfte besorgt.« Sie wurde noch lauter.
Sie befand sich in einer starken Stellung, es ließ sich nicht leugnen. Die beiden Männer sahen einander an. Sie erkannten, daß jeder die gewaltsame Erledigung dieser Frau für das kleinere Übel gehalten hätte. Umsonst, es war nicht mehr zu machen; das von ihr erwähnte Nacktballett mitsamt den Solisten drängte sich hinter der weit offenen Tür. Sie hörten die heftigen, aber vollkommen kalten Deklamationen der Dame kritisch mit an. Niemand erkannte klarer als der Prominente vom Kabarett, daß alles groß Aufgemachte, das die Dame hinlegte, im Grunde Komödie war, und er fand sie in der Komödie nicht gut. Auch fühlte er sich ganz auf Seiten des Herrn, der ihm die an Hollywood grenzende Abendgage zahlte. Noch ließ er die Dame sprechen – zwei drei Sätze, die nicht einschlugen. Dann mischte er sich dazwischen.
»Das glaubt man Ihnen nicht, gnädige Frau.«
Nora kam nicht weiter. In den Mienen der Versammelten sah sie tatsächlich Ungläubigkeit. Ihr kam zum Bewußtsein, daß sie ganz allein Theater machte, und bei ihrem Publikum, das noch dazu vorzugsweise nackt war, hatte sie einen ausgesprochenen Mißerfolg. Der Prominente bestätigte ihr nochmals: »Wenn Sie das am Abend so bringen, glaubt man es Ihnen nicht, und Sie stinken bei den Leuten ab.«
»Richtig. Sie stinkt ab«, wiederholte die Statisterie.
Was blieb Nora übrig? Sie wendete sich, sie schritt davon. Sie konnte gehen, das mußte man zugeben; und ihr entblößter, untadeliger Rücken, dem alle nachsahen, sicherte ihr noch immer einen leidlichen Abgang.