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Tina bewohnte mit ihrem Manne ganz allein das prächtige Haus der Tiergartenstraße, welches Herr Feigelbaum schon als Junggeselle gebaut und nun für seine schöne junge Frau mit allem ihm bekannten Luxus ausgestattet hatte.
Als Tina nach einer eiligen Hochzeitsreise in ihr neues Heim einzog, war sie geblendet von der Pracht, die sie umgab.
Für die stilvolle Einrichtung der einzelnen Zimmer, für die wertvollen Ölgemälde an den Wänden hatte sie zwar wenig Empfindung. Aber diese dicken Teppiche, welche den Schritt unhörbar machten und dadurch allein das Leben im Hause zur Vornehmheit zwangen – diese marmornen Kamine, die Bronzen, die hundert beim Raritätenhändler auf einmal gekauften Nippes, vor allem aber diese funkelnden Gaskronen flößten ihr eine Hochachtung für ihren Mann ein, die sie ihm während ihrer Hochzeitsreise noch versagt hatte.
Zum Unglück für Herrn Feigelbaum hielt diese freundliche Gesinnung nicht lange vor, Tina gewöhnte sich an die reiche Umgebung und erfuhr außerdem zu bald, daß nur ihre kleinstädtische Bescheidenheit sie manches Selbstverständliche hatte bewundern lassen. Sie erfuhr mit der Zeit, daß Gasflammen in der großen Stadt nicht zu den Privilegien der Reichen gehörten, und als sie einmal in einem fremden Salon eine Wachskerzenkrone als vornehmer rühmen gehört hatte, fing sie ihr plebejisches Gas zu verachten an.
Sie verkehrte viel bei den Geschäftsfreunden ihres Mannes und bemerkte mit Bedauern, daß das Hauswesen derselben dem ihrigen merkwürdig ähnlich war. Sogar die Nippes waren dieselben, als ob der Händler die Antiquitäten und ausgegrabenen Sächelchen gleich zu Hunderten bezogen und nun jedem Käufer das gleiche Sortiment überlassen hätte.
Sie war zu fremd in der Berliner Welt, als daß sie sofort einen Plan zur Veränderung ihrer Lage zu fassen vermochte. Sie hatte nur einen Gedanken: Sie wollte ihren Kreis ausdehnen, sie wollte an bestimmten Tagen der Woche die Türen ihrer Wohnung weit öffnen und die Menschenwogen der Millionenstadt ihre Salons durchfluten lassen. Ein jeder sollte sie kennen, ein jeder sollte sie grüßen, freundschaftlich und elegant, wie Kurt von der Egge sie grüßte, wenn sie nachmittags in ihrem neuen Wagen allein die Siegesallee auf und ab fuhr – allein oder doch nur in Begleitung ihrer kleinen Schwägerin; vielleicht störte der grobe Gesichtsschnitt ihres Julius den leichten Bau ihres Coupés, vielleicht paßte sein dunkler Teint schlecht zu dem blauen Atlasüberzug der Polsterung.
Tinas Absicht war bis zu einer gewissen Grenze nicht gar schwer zu erreichen. Immer reicher, immer ungezwungener strömte die Welt durch ihre Salons. Aber Herr Feigelbaum schüttelte dazu den Kopf, und auch Tina sah bald das Bedenkliche dieses Treibens ein. Wer waren diese Leute? Der Hausherr kannte sie nicht, und die Gäste kannten einander nicht. Wie ein höflicher Portier stand Herr Feigelbaum an der Eingangstür, nur daß er jedem Eintretenden die Hand reichte. War der Fremde tadellos gekleidet, in gewissen Jahren und wohlbeleibt, so nannte er ihn »Herr Kommerzienrat«. Jeden jüngeren Mann, der einen Kneifer auf der Nase trug und sich in seinem gealterten Frack geniert fühlte, begrüßte er als »Herr Doktor«.
Und Tina thronte in ihrem entzückenden Boudoir und wunderte sich, daß sie bei ihren eigenen Gesellschaften so wenig Bekannte hatte.
So ging es manche Saison hindurch.
Da kam eine wilde Zeit, in welcher Tina sich von ihren bisherigen Besuchern lossagte. Erst langsam, dann schnell und stürmisch kam das Geldfieber ins Land. In ihren Salons ging es nicht mehr ganz ruhig zu. Abgehetzt von der Aufregung des Tages, mit glänzenden Augen und wieherndem Lachen stürzten die Männer herein und ans Buffet. Dort bildeten sich Gruppen, in denen laut – lauter, als anständig war – Zahlen und nichts als Zahlen gerufen wurden. Wenn die Leute fortgingen, so drückten sie den Dienern abgeschmackt große Summen in die Hand. Herr Feigelbaum fühlte sich immer mehr als Portier, seitdem ihm einmal ein enteilender Gast ein Zwanzigmarkstück als Trinkgeld geschenkt hatte.
Und der Luxus in Tinas Häuschen fing an, unter den neuen Geldmännern ganz gewöhnlich zu werden. Was zur Zeit ihrer Verheiratung noch eine Seltenheit, noch ein Vorzug ihrer engeren Kreise gewesen war, das gehörte wenige Jahre später zu den Ansprüchen jedes Eintagsmillionärs. Tina bildete sich doch ein, die Gattin eines Matadors zu sein. Es war nicht zu ertragen, wie jetzt jeder neue Ankömmling es ihnen gleich zu tun gedachte. Tina faßte große Pläne, wie ihr Haus den veränderten Verhältnissen anzupassen.
Herr Feigelbaum widersetzte sich anfangs. Er sei ein vorsichtiger Geschäftsmann, kein Schwindler. Er wolle bestehenbleiben, auch nachdem der gegenwärtige Sturm vorübergebraust sein werde. Er wolle sich jetzt von der Börse zurückziehen. Er habe das äußerst Mögliche getan, die Haushaltung koste genausoviel, wie er als solider Geschäftsmann bei seinem jetzigen netten Vermögen überhaupt aufwenden könne.
Aber Herr Feigelbaum war in seine Frau verliebt, und als sie ihm erst einmal vier Wochen lang kein gutes Wort gegeben hatte, ging er von neuem zur Börse.
Und wieder sah er ein, wie klug seine Frau war, wie er ihr in allem gehorchen müßte. Von Gefahr war noch lange nicht die Rede, das Gold rollte ihm nur so zu, er brauchte nur einzusacken. Und Julius Feigelbaum war kein Geizhals wie sein Vater, der alte Isaak Feigelbaum, der Geld- und Rückkaufhändler aus der Linienstraße, der freilich erst durch seinen Geiz und seine schmutzigen Geschäfte den Sohn zu einem reichen Manne gemacht hatte.
Tina durfte nun ihre kühnsten Pläne ausführen. Das benachbarte Gartengrundstück wurde erworben und so für einen feenhaften Wintergarten, für ein Badehäuschen und hinten sogar für einen kleinen Reitplatz Raum geschaffen, auf welchem Tina im köstlichen Amazonenkleid bei Kurt Reitunterricht nehmen konnte. Einen ganzen Sommer, den Tina natürlich auf Reisen zubrachte, dauerte es, bevor alle neuen Schöpfungen und die Verschönerungen des Hauses vollendet waren. Als Tina im Herbst zurückkam und alles in Augenschein genommen hatte, fiel sie ihrem Mann um den Hals, küßte ihn auf die dicken Lippen und nannte ihn ihr gutes Männchen.
Das Haus war ein wunderbares, künstlerisch abgestimmtes Interieur, es fehlte nur die Staffage, die geeigneten Menschen. Tina war aber jetzt gewitzigt. Kaum ein Dutzend von ihren bisherigen unzähligen Gästen wurde mit Einladungen beehrt. Dafür hatte sie in der Schweiz und in Ostende recht brauchbare Bekanntschaften gemacht, von den sich einige verwenden ließen. Und endlich hatte sie ihren Kurt.
Kurt hatte die schöne Frau, deren er sich am Einholungstag so ritterlich angenommen, bald wieder vergessen. Als er sie jedoch bei einem Wohltätigkeitsbasar unter den Verkäuferinnen fand, wurde die Freundschaft rasch erneuert, und da ihn Tina mit ihrer glänzenden Schönheit abermals aufs tiefste erregte, suchte er nun den Verkehr durch eine größere Zuvorkommenheit gegen den Gatten zu befestigen. Es wurde ihm nicht allzu schwer gemacht.
Als nun das neue Leben in dem vergrößerten Heim beginnen sollte, war Kurt von der Egge der Grundpfeiler einer neuen Geselligkeit. Und Kurt behagte sich gar wohl in einem Kreise, der bewundernd zu ihm, dem Herrn von der Egge, aufsah. Seine alten Kameraden waren alle Pedanten, die verjährte dumme Geschichten nicht vergessen wollten, wenn sie auch seinen Gruß erwiderten und seine dargereichte Hand höflich annahmen. Diese törichten Kameraden, die sich für konservative Aristokraten hielten und doch die adelige Qualität für verlierbar, durch eine Kleinigkeit verlierbar ansahen! Hier bei Tina Feigelbaum war man noch wahrhaft konservativ gesinnt. Man glaubte hier an die Unzerstörbarkeit aristokratischer Eigenschaften. In diesem stolzen Selbstgefühl wurde er nur wenig erschüttert, als er wahrnahm, daß Tina mit ihm allein nicht zufrieden war, sondern von ihm bald auch die Zuführung seiner Freunde verlangte. Wie hübsch Tina das zu erklären wußte! Er würde sich auf die Länge in ihrem Hause unbehaglich fühlen, wenn er dort niemals befreundete Uniformen sähe. Da diese Forderung aber nicht ganz leicht zu erfüllen war, so protestierte Kurt vorläufig gegen die bescheidene Annahme der Hausfrau.
Ihr Salon litt sehr unter den alten Pflichten, die sich nicht so leicht abschütteln ließen. In dem ehemaligen Gewimmel war manches verschwunden, worüber selbst der anspruchslose Kurt jetzt die Nase rümpfte. Aber Tina konnte doch nicht alle Rücksichten vergessen. Sie konnte doch ihrem Schwiegervater nicht das Haus verbieten, dem alten Isaak Feigelbaum, in Firma »Feigelbaum und Bumcke«.
Der alte Isaak war ein schlimmer Wucherer und brachte Herrn Bumcke, seinen Kompagnon, regelmäßig mit in die Gesellschaft. Die beiden Herren, welche einander ingrimmig haßten und sich nur in boshaften Versuchen begegneten, »ihrer Schwiegertochter« durch ihre bloße Gegenwart die Freude an ihrem Leben zu verderben, brachten aus ihrem alten Lagerhause in der Linienstraße unmögliche Gewohnheiten in die Tiergarten-Villa mit. Dort, in ihren Geschäftslokalen, wo Feigelbaum im ersten Stocke die vornehmen Kunden bediente, während der Kompagnon im Hintergebäude das alte Rückkaufsgeschäft leitete, waren sie an ihrem Platze: solide, gründliche, rücksichtslose Wucherer. Hier waren sie wirklich nicht zu ertragen.
Aber der alte Isaak war nun einmal der Vater des Hausherrn, sehr, sehr reich und spielte nicht an der Börse. Als Tina den Versuch machte, den Alten herauszuärgern, wurde Julius ernstlich böse, und sie kam nicht mehr darauf zurück.
Dagegen entdeckte Tina in ihrem Gatten bisher verborgene Talente. Nicht, daß sie in allen Punkten mit ihm zufrieden gewesen wäre. Daß ihr Julius es ihr im Streben nach Bildung gleich zu tun suchte, bewies zwar seine Gutmütigkeit, gelang aber doch zu unvollständig, um Aufmunterung zu verdienen; denn Tina, die gute Lehrer gehabt hatte, bemerkte bedeutende Lücken in seinem Wissen. Und als sie ihn einmal darüber belehren mußte, daß »Goethes Frauengestalten« weniger von Raphael als von Kaulbach herstammten, da begann ein Mißtrauen sich in ihr festzusetzen, das dem Ansehen ihres Gatten bei ihr nicht förderlich, den galanten Bemühungen des lustigen Kurt sehr günstig war. Julius hatte in seiner Junggesellenzeit nur in zweierlei Richtung tüchtige Kenntnisse erworben: er bewegte sich hinter manchen Kulissen sehr gewandt und verstand sich vor allem wunderbar auf die Zusammenstellung und Beurteilung eines Diners.
Diese Tugend ihres Mannes wurde sofort mit Kenneraugen anerkannt, als Kurt erst einmal zwei seiner Intimen eingeführt hatte. Ein jeder trug die Geschichte von dem ausgezeichneten Keller weiter, und dem Salon Tinas kam dieser Ruf zugute. War die Auswahl auch nicht ganz nach dem Wunsch von Frau Tina erfolgt, so kannte sie doch jetzt schon das Mittel, die Gäste bei jedem Salsonwechsel zu dezimieren und dadurch zu veredeln.
Und noch eins kam dazu, um Tinas Salon ihrem Geschmacke zu nähern.
Gerade die minderbemittelten jüdischen Familien, auf deren Freundschaft sie keinen Wert legte, begannen sich von ihr freiwillig zurückzuziehen, als sie offener und rücksichtsloser die Ritterdienste Kurts in Anspruch nahm, sich von ihm ins Theater, in Konzerte, in Gemäldeausstellungen begleiten ließ, oft von der schwärmerisch zu Kurt aufblickenden Emma geleitet, noch öfter allein.
Diese Familien zeichneten sich weder durch Glanz noch durch chic aus. Die Männer waren ernste Geschäftsleute, Großhändler, welche tagsüber in ihrem Berufe hart arbeiteten und darum abends nur widerwillig die Gesellschaften aufsuchten, zu denen sie von dem reichen Börsenspieler geladen wurden. Ihre Frauen kamen gern, sparsam nach neuester Mode gekleidet, zu den lärmenden Festen, einige von ihnen bemühten sich, Tinas Gebaren nachzuahmen und sogar ihre eigentümliche, an die Wiener Mundart erinnernde Sprache zu erlernen. Die Frauen waren nicht prüde in ihren Gesprächen über Stadtklatsch. Sie selbst aber waren so makellos in ihrem eigenen Fühlen, wachten so streng über die Ehre ihres Hauses, wo sie in innigem Bunde mit den sorgenvollen Männern nur der Erziehung ihrer Kinder lebten, daß ihnen alle Frivolitäten, von denen sie schwatzten, wie Märchen aus 1001 Nacht vorkamen. Eine persönliche Berührung mit einer Frau, die auch nur im Verdachte der Untreue stand, war ihnen unmöglich.
So blieben sie denn weg, als das Verhältnis zwischen Tina und Kurt ihnen nicht mehr gefiel. Zuerst die Älteren, allen voran ein Bruder des Sanitätsrats Friedmann, dann die andern. Und Tina, welche an jedem Empfangsabend die Zahl der Christen und der Juden miteinander verglich, vermißte diese Elemente um so lieber, als dadurch der Prozentsatz der jüdischen Besucher fiel.
Ja, als sie den Grund der Entfremdung erkannt hatte, legte sie alle Vorsicht beiseite. Emma durfte das Pärchen nicht mehr begleiten, ob ihre Augen auch noch so flehend dem stolzen Herrn von der Egge nachblickten und ob Kurt auch beharrlich seine kleine »Bauernschwägerin« zum Mitgehen aufforderte. Emma mußte zu Hause bleiben, und niemand bemerkte, wie sie täglich blasser wurde.
So half Kurt die alten Freunde des Hauses verscheuchen, während er neue herbeizog.
Die zwei Herren, welche Kurt zuerst vorgestellt hatte, waren beide ihrem Stande nach nicht zu verachten: der eine ein ehemaliger Zuchthauslehrer, jetzt unbeschäftigter Literat, der andere ein Rittergutsbesitzer, der zwar sein altes Besitztum verkauft, ein neues noch nicht ausgewählt hatte, inzwischen aber in dem großen Berlin ein etwas unruhiges, doch reiches Leben führte. Diese beiden Herren bevölkerten bald Tinas Salon mit ihren – ja, was waren ihre angeblichen Freunde? Kollegen, Gläubiger, Schuldner, Klienten, Zöglinge? Tina erfuhr erst nach und nach durch die Beziehungen ihres unmöglichen Schwiegerpapas, was sie an den neuen Hausfreunden besaß; sie waren ihr aber schon zu nützlich geworden, als daß sie sie so bald zu »dezimieren« gedachte. Nur im Range rückten sie ein wenig herunter.
Der ehemalige Zuchthauslehrer Doktor Stropp hatte ihr gleich bei der ersten Begegnung mißfallen. Auf einem gedrungenen schwerfälligen Körper saß ein Kopf, wie man ihn sonst hinter Eisengittern vermutet. Zwar die Bartstoppeln, die bleiche Kerkerfarbe, die Sträflingskleider fehlten; er war ziemlich gut gekleidet, hatte eine gesunde Röte, und zwei kleine Kellner-Bartkoteletten stachen sauber von dem sonst stets glattrasierten Antlitz ab. Aber etwas in diesem wie von einem Fußtritt plattgetretenen Gesicht erinnerte immer wieder an das Zuchthaus. Innerhalb der Gefängnismauern war er geboren, vom Gefängnisgeistlichen unterwiesen worden. Eine harte Behandlung hatte ihn frühzeitig lehren wollen, sich zu bescheiden und scheinheilig demütig durchs Leben zu gehen. Dabei plagte ihn jedoch, worüber sein Freund Kurt sich weidlich lustig machte, ein maßloser Ehrgeiz, der unter seiner zur Gewohnheit gewordenen Demut täglich litt und täglich wuchs. Nur wenige Menschen wußten, wie sein Zorn losbrechen konnte. Einmal hatte er in der Strafanstalt beim Bibelunterricht einen am Stottern leidenden Knaben halb tot geschlagen, weil er auch dies Stottern für Heuchelei hielt. Da war er aus dem Amte gejagt worden.
Und was hatte er seitdem nicht alles versucht! Er stürzte sich ohne Mittel, ohne Kenntnisse, ohne Fleiß und ohne Ausdauer in hundert industrielle Unternehmungen, immer bereit, vom Zufall ein Vermögen anzunehmen, immer enttäuscht, immer zurückgeworfen. Dann unternahm er es, Journalist zu werden. Er drängte sich an die radikalsten Blätter, welche seine boshaften Angriffe gegen militärische Mißbräuche abdruckten. Ein Vertrauensmißbrauch machte ihn bei seinem Blatte unmöglich und ließ ihn bald auch seine Stellung verlieren. Er errichtete eine »höhere Töchterschule«; dieselbe wurde plötzlich behördlich geschlossen. Er fand trotzdem bald darauf wieder Gönner, als deren Agent er die Stiftung einer Besserungsanstalt für gefallene Mädchen durchsetzte. Eine Zeitlang wurde sein Name in gleichlautenden Artikeln aller Blätter als der eines menschenfreundlichen opferfähigen Ehrenmannes genannt. Dann gab es wieder plötzlich einen Skandal; ein anderer Geistlicher übernahm die Führung der Anstalt, Dr. Stropp war verdrängt. Aber Dr. Stropp ermüdete noch nicht. Er zog sich auf ein halbes Jahr zu einer belesenen verblühenden Dame in die Einsamkeit des Landlebens zurück, und als er wieder in Berlin erschien, war sein soeben erschienenes Werk »Das Molekül und seine Allmacht« in den Schaufenstern aller Buchhandlungen zu sehen. Das Buch wurde zwar nicht gekauft, auch die verschenkten Exemplare wurden nicht gelesen, aber in einigen Zeitungen wurde Stropps Name wieder ehrenvoll genannt, wenn die betreffenden Notizen den Leser auch über den Inhalt des philosophischen Werkes im unklaren ließen.
In dieser Epoche seines Lebens hatte sich Stropp in Tinas Haus einführen lassen. Das Buch war mit Mystik und Darwinismus gefüllt, Stropp galt für einen kosmopolitischen Freigeist. Als Tina ihm einiges Angenehme über seine Bedeutung für die Geschichte der Philosophie sagen wollte, lehnte er würdig ab. Die Periode, in welcher er an das »Molekül und seine Allmacht« geglaubt, liege schon wieder überwunden hinter ihm. Es gelte jetzt, sich von metaphysischen Träumereien loszumachen und praktische Ideale zu verfolgen. Er gab eine kleine, in wenigen Exemplaren gedruckte pädagogische Fachzeitschrift heraus, in welcher die Bestrebungen des liberalen Ministers in roher Weise übertrieben wurden. Für dieses Unternehmen borgte er bei Julius Feigelbaum Geld. Gleichzeitig bewarb er sich um eine Stelle im Unterrichtsministerium.
Die Leute, welche durch diesen Dr. Stropp bei Tina eingeführt wurden, waren hauptsächlich pensionierte »gemaßregelte« Lehrer, durchreisende Künstler, vor allem aber unreife junge Leute, welche tagsüber in einem der neuen Wiener Cafés bei einer Schale Melange Korrespondenzen für kleine Blätter oder Gedichte schrieben und abends in Tinas Salon bei einem guten Souper sehr viel Wein tranken und geistreich plauderten.
Weniger offen lag der Lebenswandel des Rittergutsbesitzers a. D., des Herr von Greisenitz, vor den Augen der Welt da. Daß er auf großem Fuße lebte, ohne ein Amt oder ein entsprechendes Kapital zu haben, war wohl als ausgemacht zu betrachten. Ob aber sein häufiger Verkehr mit heiratslustigen Junggesellen, sein Eindringen in reiche Häuser, in denen es Töchter gab, ob seine innige Teilnahme an zahlreichen Verlobungen und Verheiratungen mit seinem Einkommen in einer ursächlichen Verbindung stand, darüber konnten nur Vermutungen angestellt werden. Man sprach nirgends gern von dieser Möglichkeit, denn Herr von Greisenitz verkehrte überall. Er liebte es, seine jüngeren und älteren Freunde, die heiratslustigen oder doch heiratsbedürftigen Junggesellen bei allen seinen Freunden aufs Angelegentlichste zu empfehlen, und so dauerte es nicht lange, daß Tinas Salon von diesen Herren wimmelte und Herr von Greisenitz sich in diesem Getümmel einem allezeit siegreichen Feldherrn nicht unähnlich bewegte, es allein beherrschen und entwirren zu können schien.
Da die meisten Freunde des Herrn von Greisenitz ein tadelloses Benehmen hatten, sich in Worten und Kleidung stets von der besten Seite zu zeigen suchten und überhaupt die bescheidensten, gutherzigsten, liebevollsten Seelen der Welt schienen, so gereichten sie dem vereitelten Salon zur Zierde, und die treugebliebenen Damen aus Tinas altem Freundeskreise, die Frauen und Töchter der reichsten Feigelbaumschen Geschäftsfreunde waren mit der neuen Schar von Tinas Besuchern sehr zufrieden.
Und als wieder einmal ein Winter übers Land gegangen war, empfand Tina es mit freudiger Genugtuung, daß sie sich ihrem Ziele mit raschen Schritten näherte. Noch fehlte ihrem Salon – ach, das merkte sie wohl – die Einheit, die Ruhe, die Echtheit; aber die Elemente waren da, aus welchen sich schon etwas machen ließ. Geld, Geist und Adel waren in Fülle vorhanden; Tina hätte eine Stümperin sein müssen, wenn sie auf diesen drei Säulen nicht ein kleines Gebäude hätte herstellen können, einen Dreifuß, auf welchem für sie berauschender Weihrauch verbrannt wurde.
Und Frau Tina beschaute sich im Spiegel. Sie fand, daß sie noch sehr schön war, daß die Fülle ihrer Formen aber übermäßig zu werden drohte und daß eine angesehene gesellschaftliche Stellung für die späteren Jahre sicherer wäre als ihre Schönheit, über deren Vergänglichkeit alle entzückten Kennerlobsprüche des verliebten Kurt sie nicht zu täuschen vermochten.
Als im Frühjahr der Salon allmählich verödete und nur der alte Wucherer in dem reichen Speisesaale saß und mit seiner zynischen Kritik die Erfolge Tinas schmälern wollte, konnte sie darüber lächeln. Sie hatte diejenige Gesellschaft, die sie kannte, besiegt und schonte den Alten weniger als je.
Isaak Feigelbaum ließ alles über sich ergehen und pflegte nur bei dem einen oder dem andern vollklingenden Namen, der ihm nicht ohne Stolz genannt wurde, eine ausdrucksvolle Handbewegung zu machen, welche sagen wollte: An dem ist nicht viel, mit dem hab' ich zu tun gehabt. Als Tina aber einmal auch, ohne sonderlichen Nachdruck, den Herrn von Greisenitz erwähnte, da wurde der Alte sehr ernst. Er räusperte sich lange, bot endlich Tina die Hand und bat sie, die alten Neckereien zwischen ihnen zu vergessen und ihm in einer wichtigen Angelegenheit beizustehen. Es handle sich um Emma.
Tina war zu gutmütig, um nicht mit dem innigsten Anteil alles zu hören, was ihre kleine stille Schwägerin betraf.
Der alte Isaak hatte beschlossen, seine Tochter rasch zu verheiraten. Nur so glaubte er hoffen zu können, daß sie ihre Zufriedenheit und ihren lieben Gleichmut wieder erlangte. Dieser Herr von Greisenitz befasse sich – Tina dürfe diesmal nicht streiten – mit solchen Heiratsangelegenheiten. Und weil Emma sich zum Schmerz ihres Vaters bei Tina stets so wohl fühlte und weil der alte Isaak überdies das Geld dazu besaß, so war er einer noblen Heirat gar nicht abgeneigt. Eben jetzt stand die Unterhandlung so, daß Greisenitz schon morgen seinen Mann vorstellen wollte. Die Sache war vom Alten schlau genug eingefädelt, damit weder er noch Emma bloßgestellt werden konnten.
Wer hätte dem Isaak Feigelbaum so viel Rücksicht zugetraut? Er selbst hatte sich dem Vermittler nicht als Schwiegervater vorgestellt, sondern einen minder reichen Mann mit einer schönen Tochter vorgeschoben. Auch der Bräutigam, oder der es werden sollte – ein Offizier a. D. –, durfte bei der Einführung nicht wissen, daß er für eine Heirat in Aussicht genommen sei. Er war Klient des von Greisenitz in beiderlei Beziehung und sollte glauben, daß dieser ihn zum alten Feigelbaum nur behufs einer Geldanleihe bringe. So war alles aufs beste geordnet.
Tina sollte nun – und das war des Alten Bitte – zur verabredeten Zeit bei ihm sein. Sie konnte in dem Comptoir des Kompagnons, dem Glasverschlage, sitzen und den Kandidaten beobachten. Bumcke ließ sich in dem »feinen« Bureau ja doch den ganzen Tag nicht sehen, weil ihn die kleine Kundschaft zu sehr in Anspruch nahm. Während so der Alte Gelegenheit hatte, die Geldverhältnisse zu prüfen, sollte Tina auf die persönlichen Eigenschaften achten. Sie verstehe sich darauf, habe ja die Emma lieb und werde gewiß sagen können, ob der Offizier – die Geldfrage abgerechnet – ein Mann für Emma sei. Tina sträubte sich wohl ein wenig; aber das Abenteuer reizte sie, und so ging sie, als auch Julius seine Bitte mit der des Vaters vereinigte, auf den Vorschlag ein.
Als sie tags darauf, den Besuchern des Comptoirs unsichtbar, hinter den gewellten Glasscheiben saß, überkam sie rasch ein übermütiges, abenteuerlustiges Gefühl. Da saß sie wie ein Zauberweib in ihrer Höhle und lauerte auf den Mann, dem sie nach Gutdünken das stille Mädchen zuführen konnte. Als Herr von Greisenitz mit nachlässigem Gruße eintrat, verwundert, seinen Mann noch nicht hier zu finden, wurde Tina ernster und nahm sich im Herzen fest vor, nicht leichtfertig zu handeln, nein, ihren ganzen Einfluß zugunsten der armen Kleinen aufzuwenden.
Der alte Feigelbaum forderte den Agenten auf, ihm doch jetzt endlich den Namen seines Heiratskandidaten zu verraten. Der Moment der Zusammenkunft sei da, die Prozente könnten ihm also nicht mehr entgehen.
Lachend gab Greisenitz zur Antwort: »Allerdings habe ich aus diesem Grunde bis heute nichts verraten, mein verehrter Halsabschneider. Sie hätten den Mann sonst schon ausgekundschaftet und sich ihm ohne mich zu nähern gewußt. Nun, da jetzt meine Beteiligung bei der zarten Angelegenheit nicht mehr zu leugnen sein wird, will ich den Mann nennen. O, es ist ein feiner Mann, ein hochfeiner Mann, liebster Feigelbaum! Ihre schöne Schwiegertochter...«
»Was wissen Sie von meiner Schwiegertochter? Was haben Sie meine Schwiegertochter schön zu finden? Lassen Sie meine Schwiegertochter! Was wollen Sie überhaupt von meiner Schwiegertochter?«
Mit heftigem Schreien suchte der Alte das gefährliche Gespräch aus Rücksicht für die Lauscherin abzubrechen.
»Erhitzen Sie sich nicht so, lieber Feigelbaum, ich will ja noch gar kein Geld von Ihnen. Ich wollte nur sagen, daß Ihre schöne Schwiegertochter meinen Kandidaten sehr genau kennt und daß sie Ihnen die beste Auskunft geben wird. Und Ihre gute Tochter? Liebster Feigelbaum, wenn die Herren Eltern doch nur immer mich um Rat fragen wollten, so oft sie aus ihren Kindern nicht klug werden können. Wir Freunde des Ehestandes wissen manches ebenso gut wie die Dienstboten, und die wissen bekanntlich alles besser als die Herrschaft.«
Bevor Feigelbaum den Sinn der Worte noch überlegt hatte, ertönte draußen ein lauter Schritt. Die Tür wurde ohne Klopfen aufgerissen, und Kurt von der Egge trat rasch ein. In dem Geräusch wurde ein leiser Schrei überhört, der innerhalb des Verschlages ausgestoßen worden. Und ebenso vernahm niemand, daß in der Wohnung nebenan ein Fenster mit zitternder Hand geschlossen wurde und ein bebendes Mädchen mit dem Ruf: »Mein Gott, mein Gott, was will er hier?« auf die Knie niedersank.
Kurt begrüßte den Wucherer obenhin und bat seinen Kameraden, indem er ihm für die freundliche Einführung dankte und seiner Erkenntlichkeit versicherte, ihn nun zur Anknüpfung der wichtigen Unterredung mit dem lieben Papa Feigelbaum allein zu lassen.
»Sie haben recht, lieber Egge«, sagte Greisenitz lachend. »Bei so intimen Herzensergüssen im Schoße der Familie ist der Fremde lästig. Adieu!«
Feigelbaum, der in entsetzliche Aufregung geraten war, als er den schönen Kurt erblickt hatte, rang nach Fassung; er wußte nicht, ob er den ungenierten Kavalier als Geldsucher oder als Freier um seine Tochter behandeln sollte. Kurt ließ ihn nicht lange darüber in Zweifel.
»Nun sagen Sie mir rasch, Papa Feigelbaum, würden Sie mich zum Schwiegersohn haben wollen? Ja oder nein?«
Der Alte war ein gewiegter Geschäftsmann, der sich nicht so leicht aus der Fassung bringen ließ. Hier an derselben Stelle hatte er schon manchen verzweifelten Schuldenmacher einen tollen Galgenhumor heucheln gehört, hier hatte er selbst über Heiliges und Profanes seine greulichen Scherze gemacht. Aber über das Herz seiner Tochter wollte er nicht auf diesem Fuße verhandeln. Dieser Herr von Egge brachte ihn auf wie nie noch der saumseligste Schuldner. Und doch konnte er ihm nicht antworten, wie er im ersten Unwillen wünschte. Wenn er für seine Tochter aus diesen Kreisen einen Mann suchte, dann war ein Herr von der Egge, war dieser Kurt von der Egge nicht so von der Hand zu weisen. Papa Feigelbaum überschlug rasch, was an diesem Freier Empfehlenswertes war: der stolze Name, die prächtige Erscheinung, das gegen Damen immer galante, immer aufmerksame Wesen. Nein, Papa Feigelbaum durfte diesem Freier seinen Haß nicht zeigen; Kurt wurde sicherlich ein schlechter Schwiegersohn, aber wahrscheinlich ein guter Ehemann, und um seine Verlegenheit zu bemänteln, auch um den von der Egge zur Strafe für seine Überlegenheit nun selbst in Verwirrung geraten zu lassen, faßte er einen kühnen Entschluß.
»Ihr Freund Greisenitz – ein teurer Freund, Herr von der Egge, was? – hat mir schon – und die Ehre ist auch – aber ich weiß nicht – ich hab' mir gedacht, daß – weil meine Schwiegertochter Sie doch so gut kennt – Ich bin ein bescheidener Mann – Tina, komm herein! – Sie können inzwischen mit der Tina – ich werd' zu meiner Tochter – Wenn Emma – Sie wissen, man ist ein Vater – ich bin gleich wieder da.«
Und Kurt stand allein, dem schönen Weibe gegenüber, das die Glastür geöffnet hatte und den bisherigen Freund mit entsetzten Blicken maß. Kurt versuchte der peinlichen Lage ein Ende zu machen, indem er sich zu seinem gewohnten Lächeln zwang und wie mit leichter Selbstironie die Hände zusammenschlug. Tina blickte beiseite und biß sich auf die Lippen. Als aber Kurt, immer lustig, auf sie zutrat, beide Hände um ihre Schultern legte und sie an sich ziehen wollte, da riß sie sich heftig von ihm los und warf sich still weinend in den weiten alten Polsterstuhl, in welchem Papa Feigelbaum über seinen Büchern zu brüten pflegte.
Sie war aufs tiefste ergriffen. Sie empfand plötzlich Furcht vor diesem Betrüger ihres Herzens. Sie hatte es zwar von ihrem mitteilsamen Gatten erfahren, daß ihr Anbeter kleine Anleihen bei ihm zu machen nicht verschmähte, aber sie hatte diese Nichtswürdigkeiten noch niemals so bitter empfunden. Sie sah in Kurt von der Egge immer noch den leichtsinnigen Lebemann, den Frauenjäger und Geldverschwender, der auf das Leben losstürmte, solange es ihm eine Blume zu pflücken bot, der aber ebenso wild mit der Pistole in der Hand aus dem Leben auch hinaustollte, wenn die Ehre in Frage kam. Die unentweihte Mannesehre, das war ja der Adel, der diese Geburtsaristokratie von ihrem Julius und seinem Genossen unterschied! Und dieser Kurt stand jetzt da, vor ihr, ohne die Augen niederzuschlagen, und warb um die kleine häßliche Schwägerin des angebeteten Weibes, warb um die Tochter des jüdischen Wucherers, warb um viele hunderttausend Taler und viele hundert Sommersprossen. War das ihr Kurt? War's ein Abenteurer, ein Verbrecher? Ein Grauen vor diesem Heuchler überschlich sie. Und wenn er in allem ein Lügner war, war dann seine Liebe echt?
Kurt hatte sich mit dem Rücken gegen das Fenster gelehnt, damit Tina seine Züge nicht genau sähe. Er bezwang mit Mühe seine Erregung und warf unruhige, lauernde Blicke auf das Weib, dessen Seelenqualen er ahnte, das ihn aber jetzt nicht verraten konnte, nicht verraten durfte, er versuchte noch einmal, sie rasch wiederzugewinnen.
»Ich wollte immer und ohne Aufsehen in Deiner Nähe bleiben«, begann er.
Sie aber wandte nur ihren Kopf, um ihm mit einem schmerzlichen Blicke zu sagen, daß sie ihm nicht glaube und daß er nicht fortfahren solle. Da preßte er einen Fluch zwischen den Zähnen heraus und erwartete schweigend die Rückkunft des alten Wucherers.
Während der Alte über den Flur hinweg seiner Privatwohnung zuschritt, überlegte er schnell, wie er seiner empfindsamen Tochter die von ihm geplante Heirat vorschlagen sollte. Emma war so ganz aus der Art geschlagen. Sie hatte nicht nur kein Herz fürs Geschäft, sie dachte gewiß auch übers Heiraten wie das erste beste Bürgermädchen, das sich ihren Zukünftigen nach dem so täuschenden ersten Eindruck – was weiß der alte Isaak – im Theater, beim Tanzen, auf der Straße aussucht. Der Alte empfand es unklar, daß er die zarten Gefühle seiner für ihn merkwürdigen Tochter schonen mußte, aber er sann umsonst über die Form für seine Mitteilung.
Bei seinem Eintreten in das gemeinsame Wohnzimmer saß Emma wieder am Fenster und starrte mit glühenden Wangen über ein offenes Buch hinweg auf die Straße. Sie wagte es nicht, den Vater anzusehen, der keine Worte fand und unruhig in der Stube auf und ab ging. Endlich brach er ungeduldig das Stillschweigen.
»Der Hauptmann von der Egge ist drin bei mir«, rief er kurz und ohne das Mädchen anzusehen. »Willst Du ihn zum Mann?«
Alles Blut war aus Emmas Gesicht beim ersten Worte des Vaters gewichen. Bei der brutalen Frage jedoch fuhr sie wieder heiß errötend in die Höhe. Sie preßte beide Hände vors Gesicht, schloß die Augen und blickte dann zu dem erstaunten Manne ängstlich hinüber.
»Vater«, begann sie. »Nicht wahr, Du treibst nicht Deinen Scherz mit mir? Verzeih! Ihr habt es gewiß alle erraten, daß ich ihn so wahnsinnig liebe; da fürchtete ich, Ihr könntet Euch über mich lustig machen. Vater, ist es wirklich wahr? Kurt, Kurt liebt mich wieder, Kurt begehrt meine Hand? Vater, Vater, ich wäre ja gestorben ohne ihn und habe doch niemals im Wachen daran gedacht, daß es möglich wäre.«
Sie fiel dem Alten um den Hals und begrub ihr Köpfchen an seiner schmutzigen verschossenen Samtweste.
»Vater«, fuhr sie fort, »frag mich jetzt nichts, führ ihn auch nicht zu mir. Ich kann ihn nicht sehen, ich würde auf die Knie niederfallen vor ihm und seine Hände küssen. Niemand außer Dir, Vater, liebster Vater, darf wissen, daß ich gestorben wäre ohne ihn. Auch er soll's jetzt noch nicht wissen; er braucht ein stärkeres Weib, er würde mich verachten müssen, wenn er alles wüßte. Hätte er nur mit den Augen gewinkt, ich hätte an seinem Halse gelegen. Und er ist so edel, so gut, jetzt kommt er selbst. Geh Vater! Und wenn ich nun vor lauter Glück sterben sollte, so führ ihn morgen zu mir: er soll mir die flache Hand auf die Stirn legen, und ich wache wieder auf!«
Und Emma flog in ihr Zimmer, um dort, ungesehen, ungestört, erst all den Schmerz der letzten Monate auszuweinen; morgen, morgen wollte sie dann ein starkes Weib werden, würdig des schönsten, des besten Mannes aus dem deutschen Adel.
Nach langem Zaudern erst kehrte Isaak zu den Harrenden zurück, die noch immer in stummem Trotz einander gegenüberstanden. Isaak war so vorsichtig, die Leidenschaft seiner Tochter nicht zu verraten; er begnügte sich zu sagen, daß Emma für den Herrn Hauptmann sehr eingenommen sei. Kurt jedoch bewies durch sein überlegenes Lächeln, daß er sich seines Eindrucks auf das stille Mädchen wohl bewußt war. Jetzt erst erinnerte sich Isaak an die Rede des Vermittlers und begann zu ahnen, daß Kurt mit sicherer Überlegung das Herz seiner Tochter gefangengenommen hatte. Doch nach den wilden Reden des verliebten Mädchens war alles Besinnen umsonst; Isaak mußte froh sein, daß seine Tochter nicht starb, daß der Hauptmann seine günstige Lage nicht zu den härtesten Bedingungen ausnutzte.
Freilich, auf seinen Vorteil verstand sich dieser Schwiegersohn. Erst wurde Tina höflich, aber nachdrücklich gezwungen, das Zimmer zu verlassen, dann begann zwischen dem Vater und dem Bräutigam eine lange nervöse Unterredung, in welcher von vielen Dingen, am wenigsten von Emma die Rede war. Der alte Isaak zitterte oft vor Sorge und Zorn, er wischte sich mit seinem buntseidenen Taschentuch oft den Schweiß von der Stirne, aber der schöne Kavalier ließ nicht nach. Als ob er Isaaks Zwangslage gekannt hätte, so gab er von seinen Plänen und Ziffern auch nicht eine einzige preis. Als er endlich mit einem gutmütigen Gruße für Emma, die er morgen früh zu besuchen versprach, das Haus verließ, ohne sich umzuschauen, da stand Emma hinter der Gardine verborgen und streckte mit unsäglich verlangendem und dankbarem Blick die Hände nach ihm aus.
Der alte Isaak saß noch immer in seinem Polsterstuhl, und wieder tauchten vor seinen Augen die Gestalten der Zukunft in greifbaren Formen auf. Er starrte stöhnend vor sich hin, immer ängstlicher zuckten seine Züge, immer tiefer sank sein grauer Kopf zwischen den Schultern ein. Dann fuhr er einmal auf, als hätte er sein Kind sterben sehen; rasch aber wischte er mit beiden Händen das Bild vor seinen Augen aus, versuchte über seine Gesichte zu lächeln, ging aber immer noch tief bekümmert zu seiner Emma.
Erst einige Stunden später, als Emma aufjauchzte und auflachte, daß ihr unscheinbares Antlitz sich verschönte und dem sorgenden Vater wie der Abglanz unbekannten, niemals geahnten Glücks erschien, da verschwor sich der Alte, sein Mißtrauen gegen den Geliebten der Tochter zu besiegen und nur treu über Emmas Glück zu wachen. Zärtlich faßte er den roten Lockenkopf, und während er mit seinen harten Fingern über das Haar strich, betete er leise einen hebräischen Segensspruch zum Heile des Mädchens.