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Was Heinrich auch unternahm, um seine Verbitterung zu überwinden, es mißlang.
Er versuchte, bei seinen Kranken in der Vorstadt Vergessen zu finden. Hier brauchte er nicht zu fürchten, daß er einem ärztlichen Nachfolger in die Quere kam. Die Arbeiterbevölkerung vor dem Rosenthaler Tor, wo er früher seine ärmsten Patienten wohnen hatte, rief keinen Arzt, der mehr als Mühe für sich verlangte.
Aber fast niemand mehr war aufzufinden. Im Laufe des Jahres waren die Leute noch weiter hinaus gezogen und Heinrich sah sich überall fremden Gesichtern gegenüber.
Als er jedoch einmal, am Tage vor Victors Vermählung, die Wohnung eines Feilenhauers betrat, fand er endlich das Ehepaar noch da und den Mann in der traurigsten Lage. Die Brustkrankheit, an der er litt, hatte sich verschlimmert. Nun lag er seit drei Tagen im Fieber; die Frau war auf Arbeit ausgegangen.
Heinrich beeilte sich, seine Untersuchung zu beenden, um selbst einige Erfrischungen für den Patienten holen zu können. Kaum hatte er jedoch den Kranken wieder sorgsam zurecht gelegt, als die Frau in Begleitung eines hartblickenden Herrn zurückkehrte, der das Ansehen eines Predigers hatte. Als sie den Arzt gewahrte, wurde sie verlegen und flüsterte dem Fremden etwas zu.
Dieser setzte sich, ohne zu grüßen, an das Bett, holte ein Gesangbuch aus der Tasche, nannte die Nummer des Liedes und begann mit rauher, kräftiger Stimme ein Gebet zu singen. Die Frau stimmte etwas leiser ein und der Feilenhauer, der ängstlich nach dem Arzte blickte, röchelte hie und da ein paar Worte mit.
Heinrich hörte eine Weile überrascht zu. Dann wandte er sich zornig an die Frau und rief:
»Das kann ich als Arzt nicht dulden! Abgesehen davon, daß Ihr Mann in seinem jetzigen Zustande seinen Atem schonen muß, greift ihn schon das Hören an. Ich muß Ihnen den Gesang verbieten!«
Da warf der Fremde sein Buch wütend zur Erde und fing an, schreiend gegen die Juden und Heiden zu eifern, welche das Wohl des elenden Körpers über das Heil der Seele stellten. Die Frau fiel keifend ein. Der Arbeiter schloß zitternd seine Augen.
Die Nachbarn liefen zusammen. Mehrere von ihnen bedauerten den Feilenhauer und schlugen sich auf Heinrichs Seite.
Da berief sich die Frau, die mit dem Fremden wieder einige Worte gewechselt hatte, auf ihr Hausrecht, und Heinrich mußte den Kranken preisgeben.
Zu Hause fand er eine Botschaft des Schneiders vor. Siegfried sei schwer erkrankt.
Als er eine Stunde später das Kind aufsuchte, fand er es von einer gefährlichen Halskrankheit ergriffen. Die Eltern standen, blaß vor Kummer und Angst, neben dem Bettchen.
Er konnte den Eltern nicht viel Tröstliches sagen. Sie waren aber schon durch sein Versprechen, täglich einigemal nachzusehen, beruhigt.
Heute mußte Heinrich noch nach Eggerwitz schreiben. Er zögerte lange.
Endlich richtete er an Victor ein paar herzliche Zeilen, in welchen er ihn seines innigsten Anteils versicherte und, ohne sein Fernbleiben zu entschuldigen, seinen Glückwunsch für den Freund und das liebe Evchen vorbrachte.
Einen zweiten Brief richtete er an Clemence. Er teilte ihr mit, daß das Söhnchen des Schneidermeisters in Lebensgefahr schwebe, daß er darum Berlin nicht verlassen könne. Er erinnerte sie an ihr Versprechen, die arme Doretta nach ihrer Rückkunft aufzusuchen. Von seiner Liebe schrieb er nichts.
Nun hatte er endlich eine Tätigkeit gefunden, die ihn völlig in Anspruch nahm und ihm zu seinen traurigen Gedanken keine Zeit ließ. Es galt, den Kampf um das schwächliche Leben mit der tückischen Krankheit aufzunehmen.
Tag um Tag verging, ohne daß die Besorgnis um den kleinen Siegfried geschwunden wäre. Erst hatte das Fieber dem Kinde arg zugesetzt und seitdem es ein wenig nachgelassen, wollte ein bösartiger Husten nicht schwinden.
Da – eines Morgens, wohl vierzehn Tage nach Victors Vermählung, erhielt Heinrich durch die Rohrpost eine Karte, auf welcher in ungefügen Buchstaben geschrieben stand:
»Siegfried scheint gerettet! Husten locker, Appetit. Über Nacht! Aber ich bin verraten! In der Freude ihres Herzens hat Doretta gebeichtet. Dieser Wurm! Es war töricht, mit Erdenwürmern Sonnenkindschaft teilen zu wollen. Oswald, Schneider auf Erden.« Heinrich beeilte sich, zum Schneider zu gelangen. Er fand das Kind fieberfrei.
Oswald hielt donnernde Reden, in welchen sich Entzücken über die Genesung des Kindes mit Zorn gegen den »Erdenwurm« mischten.
Doretta, die weinend über das Bettchen des Kindes gebeugt stand, mußte hinzutreten und die Redeweise des Schwärmers erklären.
Des Morgens hatte sie ihm die unzüchtige Annäherung des Mieters mitgeteilt. Darauf war Oswald, der sanfte Oswald, in einen unglaublichen Zorn geraten und hätte den Schuldigen ermordet, wäre Doretta nicht dazwischen getreten. So begnügte sich Oswald, den Willenlosen erst fast aus dem Fenster herauszudrängen und ihn dann die steile Treppe hinunterzuwerfen.
Heinrich wünschte dem Schneider Glück dazu, daß er den schlechten Menschen los sei, aber Oswald schüttelte den Kopf: »Er ist freilich nur eine irdische Kreatur, aber er war ein gutes Werkzeug. Es zu wetzen, war meine Lust, es dem Gegner in die Brust zu stoßen, war mein Beruf. Nun bleibt mir niemand mehr als Samuel Schöpps. Aber Samuel, ich fürchte, ist der Erde noch näher verwandt als Stropp. Auch auf Sie, Herr Doktor, hatte ich stark gerechnet. Aber Sie sind lau.«
Als Heinrich den Schneider verlassen hatte und eben aus dem engen Gäßchen herausbog, glaubte er hundert Schritte vor sich plötzlich das aschfarbene Gesicht Stropps auftauchen zu sehen. Er blieb stehen, aber der Agitator – wenn er es war – verschwand in derselben Sekunde hinter einem offenen Haustor.
Seit dem Morgen war Stropp in diesem Wirrwarr von krummen, engen Straßen umhergeirrt. Niemand hatte ihn gesehen, als er vor Schmerz aufstöhnend, aber mit heilen Knochen, vom Pflaster wieder aufstand, niemand hatte den wahnsinnigen Blick des Hasses und der Furcht wahrgenommen, welchen Stropp, an allen Gliedern zitternd, nach den Fenstern des Hauses emporschickte. Seit dieser Stunde hatte er das Haus nicht aus den Augen gelassen.
Er wagte es nicht, dem Schneider entgegenzutreten; ein Schüttelfrost packte ihn schon bei dem Gedanken. Aber wimmernd und halblaut vor sich hin heulend, streckte er immer wieder die Hand wie eine Kralle in die Luft, als ob er den Schneider greifen und zerreißen wollte.
»Sterben soll der Hund«, stieß er hervor, »heut' noch... es muß sein... und eine Flasche Sekt trinke ich extra, wenn der fürchterliche Mensch die fürchterlichen Augen geschlossen hat... Hurra... Nicht ich verlange seinen Tod: Germanien verlangt ihn, weil er es gewagt hat, sich an dem großen Reformator zu vergreifen. Ach, es tut dem Herzen weh, sich an einem verirrten Bruder rächen zu müssen. Schafskopf! Was heuchelst Du denn so, Du bis ja mit Dir ganz allein! Aber die verdammten Gesetze! Ich werde meine Stimme erheben und rufen, die Gesetze Germaniens finden keine Anwendung auf den großen Reformator. Lache nicht so unanständig, Stropp! Ich war's nicht, es war mein Schatten! Ja, wir werden ihn schon kaltmachen, meine Kerle müssen es besorgen. Aber wie? Mein Schatten wird's wissen! Dieser schreckliche Schatten!« Und er sprang beiseite von seinem Schatten hinweg. Und als sein Schatten ihm folgte, begann er zu weinen.
So trieb sich Stropp umher. Leise sprach er immer mit sich selbst. Und wenn ihm ein leiser Ruf entschlüpfte, so blickte er sich scheu um, eilte von der Stelle hinweg und versuchte unschuldig vor sich hin zu blicken.
Stunde um Stunde verging. Er wagte es nicht, in ein Restaurant zu treten, um seinen Hunger zu stillen. Nur dann und wann trat er in eine der zahlreichen Branntweinschenken und stürzte rasch ein Glas Fusel die Kehle herunter. Es wurde spät, und Stropp hatte immer noch keinen Bissen gegessen, aber er fühlte sich kräftiger und tapferer den je. Jetzt sollte der Schneider nur kommen, jetzt würde er ihn... da erblickte er den Arzt und flog wie gehetzt in das nächste Versteck.
Was wollte der Arzt hier?
Das war eine Verschwörung! Eine Verschwörung gegen ihn, den großen Reformator; es kamen seine Feinde und wollten ihn töten. Und »Mord, tötet sie, Gnade!« lallte er durcheinander und schielte nach seinem Schatten.
Da schrak er wieder zusammen. Ein wohlbekanntes Gesicht tauchte vor ihm auf, das dunkle Gesicht Omars.
Als der Schwarze seinen Freund erkannte, grinste er ihm fröhlich entgegen. Stropp faßte sich, so gut er konnte. Mit unsicherer, schwer verständlicher Stimme fragte er den Genossen, der sich auf Kurts Befehl und aus Vergnügen an der Sache an allen lärmenden Taten der wüsten Agitation beteiligte, was ihn hierher führe in das schmutzige Judenquartier. Omar lachte verschmitzt, wollte aber anfangs die Wahrheit nicht sagen. Auch war es schwer, sich sein Kauderwelsch zusammenzureimen. Als Stropp aber seine Autorität als Parteihaupt geltend machte, kratzte sich Omar den wolligen Kopf und gab sich Mühe, sein Geschäft in dieser Gegend zu erklären. Sein Herr, der Herr Hauptmann von der Egge, sei furchtbar eifersüchtig auf den Doktor Wolff, den Betrüger, den sie drüben in Omars Heimat für einen Kaiser gehalten hatten. Und da werde Omar oft hergeschickt, um aufzupassen, ob die schöne weiße Geliebte des Hauptmanns nicht den Schneider besuche. Der Schneider mache den Kuppler und müsse noch einmal erwürgt werden.
Stropp faßte den Schwarzen heftig am Arm.
»Erwürgt!« rief er außer sich. »Omar, Du bekommst trotz deines schwarzen Fells das schöne gelbe Abzeichen vom Verein, wenn Du dazu hilfst. Heute noch, gleich!«
Omar schüttelte den Kopf. Erst müsse er bestimmt wissen, daß die schöne weiße Geliebte wirklich zum Stelldichein komme.
»Gewiß kommt sie«, schrie Stropp, »eben erst ist der Doktor, der Betrüger, vom Schneider herausgekommen. Und der war doch nur des Mädchens wegen da. Das Mädchen aber wirst Du nie zu sehen bekommen. Die läuft gewiß davon, sobald sie Deinen teuflischen Kopf nur von ferne sieht.«
Omar grinste vergnügt. Da sei hier im Hause eine fromme jüdische Restauration, drinnen sitze er stundenlang am Fenster, esse die ausgezeichneten fetten Speisen, die ganz nach seinen Geschmack seien, und unten auf der Straße komme niemand unbemerkt vorüber. Stropp solle ich doch hinaufbegleiten. Samuel Schöpps sei auch oft da.
Anstatt einer Antwort riß Stropp den Schwarzen plötzlich zur nächsten Haustür hinein und zeigte nach einer Droschke, die vor einem unpassierbaren Seitengäßchen stehengeblieben war. Clemence von Auenheim stieg aus, erwiderte mit dem unveränderlich milden Gesicht den Dank des Kutschers und wandte sich ruhigen Schrittes der Wohnung des Schneiders zu. Wie hungrige Tiere schlichen die beiden ihr nach und als sie wirklich in Oswald Fränkels Hause verschwand, faßt Stropp die Hand des schwarzen Freundes und rief:
»Tod dem Schneider! Tod dem Kuppler! Tod den Juden!«
Omar war von einem furchtbaren Zorn erfaßt, der Schaum stand ihm vor dem Munde. Er heulte nur immer: »Juden tot« und ließ sich willenlos führen.
In hellem Wahnsinn aber jubelte Stropp auf.
»Komm, komm«, rief er dem Schwarzen zu. »Wir wollen überall, wo wir Freunde finden, erzählen, wie hier in diesem Judenhause ein Christenmädchen durch Gift und Zauberei um Leben und Ehre gebracht wird.«
Allerorten in dem ganzen Straßengebiet war das Pflaster aufgerissen, deutsche und polnische Arbeiter schaufelten um die Wette in dem grauen Sande herum. Auf dem großen Marktplatz, den Stropp mit seinem Begleiter passieren mußte, schien es zu einem Streit gekommen zu sein. Gegen hundert Arbeiter hatten ihr Handwerkszeug fortgeworfen und fluchten wild durcheinander auf die Stadtbehörde, auf die Regierung, auf Gott und die Welt. Sie waren mit ihrem Lohn unzufrieden und verlangten mehr Geld für weniger Arbeit.
Unter den müßigen Neugierigen, welche umherstanden und den Auflauf vergrößerten, erblickte Stropp plötzlich einige seiner Agenten und Freunde.
Er führte den Schwarzen unter sie, rief ihm noch ein Wort zu und trat dann beiseite. Während man den Schwarzen unter lustigen Reden umringte und Omar erregt auf alle einzureden begann, trieb es den wahnsinnig Gewordenen ruhelos auf dem Platze umher.
Wenn es jetzt zum Mord und Totschlag kam und die Polizei faßte ihn und der Richter sagte: »Schuldig« und er stand unter dem Galgen... die Knie schlotterten ihm. Dann kicherte er wieder in schlauem Irrsinn und hob keck den Kopf. Wer konnte ihm denn was anhaben? Wer außer ihm und etwa Kurt konnte sich mit dem närrischen Schwarzen verständigen? Mochte geschehen, was wollte, er ging frei aus.
Jetzt kam unter die Menschenmenge eine neue Bewegung. Von allen Seiten liefen Leute herzu, unter ihnen zögernd auch Stropp. Jeder fragte, was es gäbe?
»Es ist ja nicht wahr... ein Jude... ein jüdischer Schneider... Oswald Fränkel, der verrückte Schneider... hat eine Christin tot geschlagen... erstochen... erschossen... zwei Christenmädchen... erwürgt... der Mohr hat es selbst gesehen!«
So ging es durcheinander. Stropp fühlte, wie die Kehle sich ihm zusammenschnürte.
»Schlagt ihn tot, zündet sein Haus an«, tönten die Rufe aus dem Haufen der auswärtigen Tagelöhner.
»Laßt die Behörden in Ruh!« rief ein junger Vereinsgenosse, der neben Stropp stand, den Arbeitern zu. »Die Behörden meinen es gut, die Juden sind an allem schuld. Wir wollen uns nicht von ihnen morden lassen.«
»Es ist ja alles Schwindel; unsere Juden schlachten auch lieber eine Gans ab als Christenkinder!« sagte einer der einheimischen Arbeiter und schickte sich an, mit seinen Genossen nach Hause zu gehen. Die polnischen Leute jedoch vereinigten sich mit Omar und seiner Gruppe zu einem wilden Haufen, und unter Drohrufen und wüsten Worten ging es eilig fort nach des Schneiders Wohnung.
Als der Haufe das öde Seitengäßchen erreicht hatte, stellte sich ihm ein Schutzmann entgegen. Aber mit Hohngelächter wurde er von der Überzahl beiseite gestoßen, und als er sich mit Aufbietung seiner ganzen Kraft durch die Masse drängte und forteilte, um Verstärkung zu holen, jubelten die Leute auf und einer von Doktor Stropps Freunden rief:
»Ich hab' es Euch ja gesagt: Sie dürfen uns nichts tun, wenn es über die Juden geht.«
Schon hatte der Schwarze mit phantastischen Gesten das Haus gewiesen, in welchem das Christenmädchen sich befand. Hier staute sich nun der Haufe in dichtem Gedränge und erfüllt mit seinem Geschrei die Luft, daß an vielen halbblinden Fenstern des Gäßchen entsetzte bleiche Gesichter erschienen. Gegen alle Fenster erhoben die tobenden Männer ihre Fäuste und zu der Wohnung Oswalds sandten sie wüste Drohungen empor.
Oben war die Freude über den Besuch der schönen Clemence immer noch zu groß, als daß die Annäherung des Pöbels sofort bemerkt worden wäre. Clemence hatte dem kleinen Siegfried allerlei Spielzeug mitgebracht, und das blasse Kind umschloß in seinem Bettchen mit einer weiten Umarmung das Pferdchen, den Gummiball, die Bleisoldaten, alles. Oswald stand mit stolzer Freude daneben und meinte, die Freude eines solchen Kindes wäre für jeden anderen als für Fräulein Clemence schon zuviel des Dankes. Doretta aber sprudelte nur so hervor, was sie in langen Wochen und Monaten dem gnädigen Fräulein zu sagen sich vorgenommen hatte.
Plötzlich horchte der Schneider auf und Doretta erbleichte. Der Lärm von der Straße hatte vor ihrem Haus zugenommen und... Was war das? »Tod den Juden! Nieder mit dem Schneider!« hörte man deutlich aus dem Getöse heraufschallen.
Und in demselben Augenblicke stürzte Samuel Schöpps atemlos die Treppe herauf. Er hatte eben das Haus verlassen wollen, als die Mordbrenner heranrasten und ihn zwangen zurückzukehren.
»Weh, schrie Samuel ein über das andere Mal. »Ich bin gefangen, ich bin verbrannt, ich bin gespießt! Polizei! Weißt Du, weshalb sie kommen? Sie sagen, Du hast das Fräulein hier umgebracht!«
Bevor noch jemand weitertragen konnte, stürzte Samuel in sein Zimmer und drehte zweimal den Schlüssel um. Man hörte noch, wie er Kisten und Kasten vorschob und heulend hebräische Psalmen zu singen begann.
Da flog der erste Pflasterstein schwer gegen die Wand, daß das Haus erbebte. »Herr Jesus! » schrie Doretta, stürzte am Bett des Kindes nieder und streckte die Hände schirmend über Siegfried aus.
Oswald richtete in wilder Bewegung die Augen zur Decke empor, breitete die Arme aus und rief mit donnernder Stimme:
»Die Erde hat ihre Kreaturen ausgesandt wider mich! Die Sonnenkinder aber kennen keine Furcht. Heran Ihr Hunde! Du, heilige Sonne, nimmst mich auf.«
Clemence stand wie versteinert in dem Aufruhr. Da flog schon der zweite Stein gegen die Mauer des Hauses, ein dritter und vierter folgte, schon klirrten die Scheiben, ein Stein traf das Fensterkreuz und die Glassplitter flogen weit umher.
Da faßte sich Clemence und sagte mit fliegender Hast:
»Tragen Sie das Kind in die Hinterstube. Beide! Lassen Sie mich hier allein! Die Leute glauben, ich sei in Gefahr. Ich werde mich beim Fenster zeigen.«
Doretta eilte weinend und schreiend mit dem Kinde hinaus, Oswald aber schritt mit hoch erhobenem Kopfe dem Mädchen voran, das sich ruhig dem Fenster näherte.
Auf der Straße – es war kaum eine Minute vergangen, seitdem der Haufe das Haus erreicht hatte – liefen von allen Seiten Neugierige herbei. Doch nur die Freunde des Agitators und die polnischen Arbeiter beteiligten sich an dem Krawall. Stropp lief mitten unter den Leuten hin und her; an allen Gliedern zuckend, rief er bald dem, bald jenem einige Worte zu, man wußte nicht, ob er zum Kampfe hetzte oder davon abmahnte.
Plötzlich entstand an dem einen Ende des Gäßchens eine Bewegung.
»Die Polizei!« rief jemand.
In diesem Augenblicke nahte in berückender Schönheit ein bleiches Mädchen dem Fenster oben. Vor ihr erschien, mit den Fäusten nach der Straße drohend, der rotköpfige Schneider. Die Arme der Steinwerfer waren wie gefesselt. Das Mädchen drängte den Schneider zur Seite, da... Wer hatte den gräßlichen Schrei ausgestoßen? Aus der Hand Omars flog der letzte Stein empor, mit blutiger Stirn sank das Mädchen nieder, mit ihr verschwand der gespensterhafte Kopf des Schneiders, und in wilder Flucht vor der heraneilenden Polizeimacht stoben die Mörder auseinander...
In der Stube des Schneiders war es still geworden. Man hörte nur aus den Nebenräumen das widerliche Murmeln Samuels und das leise Wimmern des Kindes, das nach der schönen Tante verlangte. Clemence aber lag blaß und bewußtlos auf dem Sofa. Ihr zu Häupten stand Doretta, die stumm, mit tränendem Blick Versuche machte, dem Mädchen neues Leben einzuflößen. Neben dem Fenster, auf den Knien lag der Schneider und stierte mit ungeheurem Entsetzen auf einen Blutfleck.
Ein Polizeioffizier trat ein und verlangte Auskunft. Man hatte nach einem Arzte geschickt. Nach wenigen Minuten war er zur Stelle und begann eben die Wunde zu untersuchen, als die Türe heftig aufgerissen wurde und mit farblosem Antlitze, mit verzerrten Zügen Heinrich hereinschwankte. Der Offizier und der Arzt machten ihm mit scheuer Achtung Platz.
Heinrich ging mit gelähmten unhörbaren Schritten bis zum Lager der Geliebten. Hier, als er das teure Antlitz wiedersah, das die rote Wunde unter dem Stirnhaar nicht zu entstellen vermochte, verließ ihn die Kraft. Er stürzte zusammen und barg sein Gesicht in den Falten ihres Kleides.
Lange Zeit lag er so. Man hörte nichts als sein dumpfes Stöhnen.
Endlich hob er wieder die Augen. Mit einem furchtbaren Entschluß raffte er sich auf. Alle Muskeln seines Gesichtes zitterten, aber ruhig ging er ans Werk, den Zustand der Verwundeten zu prüfen. Nach wenigen Sekunden winkte er den Kollegen zu sich heran, wies in stummer Verzweiflung auf die gräßliche Verletzung und brach wieder zusammen. Der fremde Arzt aber näherte sich dem Offizier und sagte laut genug, daß der Schneider und Doretta aufschrieen vor Schmerz:
»Sie stirbt!«
Jetzt flog ein Schauder über den Körper des Mädchens. Sie hob ein wenig die Lider und bewegte die Lippen. Kein Laut drang aus ihrem Munde. Auch war sie nicht mehr imstande, die Augen völlig zu öffnen. Aber sie mußte den Geliebten dennoch erkannt haben, denn leise legte sich ihre Hand um die seinige und das holdseligste Lächeln huschte flüchtig wie ein letzten Sonnenschimmer über ihre Züge. Dann fielen ihre Lider wieder herab, langsam löste sich ihre Hand von der seinen, und Heinrich glitt ohnmächtig zu Boden...
Als er wieder zu sich kam, lag er selbst auf dem Sofa, auf welchem Clemence den letzten Atemzug getan. Es war dunkel geworden. Nebenan sang Doretta mit zitternder Stimme dem Kinde ein trauriges Lied, beim Fenster saß müßig der Schneider. Heinrich rührte sich nicht. Er überschaute wie im Vorüberlaufen, was er durchlebt.
Er hatte nacheinander das Vaterland und die Geliebte verloren. Dieselben Leute hatten ihm beides gemordet. Nun blieb nur eins übrig: den lebenslangen Kampf mit den Mördern aufzunehmen oder zu sterben, von denselben Händen zu sterben.
Grimmig zuckte es um seine Lippen. Und er sprang jäh von seinem Lager empor, daß der Schneider entsetzt zusammenfuhr. Als er aber den Arzt kräftig vor sich stehen sah, fiel er ihm um den Hals und rief schluchzend:
»Was haben wir verloren! Der Pöbel hat seine Hand erhoben gegen die Witwe Juda, aber das schöne Christenmädchen trägt die Wunde auf seiner weißen Stirn!«
Heinrich wollte stark bleiben.
»Lieber Oswald«, bat er, »sprechen Sie nicht von ihr, ich ertrage es nicht. Ich habe eine große Bitte an Sie.«
»Außer meinem Siegfried alles«, rief Oswald rasch.
»So tun Sie, was ich Ihnen sage, ohne zu fragen, ohne zu zögern. Gehen Sie sofort zu Kurt von der Egge. Sie wissen seine Wohnung. Dort richten Sie meine Meldung aus. Merken Sie sich genau, was ich sagen lasse: Herr von der Egge möge sich irgendwo in einem entlegenen Teile des Tiergartens einfinden. Um acht Uhr. Verabreden Sie mit ihm genau eine bestimmte Stelle. Bringen Sie die Antwort ins Hotel und warten Sie dort auf mich. Herr Kurt soll selbst geladene Pistolen mitbringen. Sollte der Herr den Einwurf machen, daß der Duellant oder der Sekundant ihm nicht passe, so sagen Sie ihm, daß ein dreifacher Verbrecher froh sein müsse, wenn Ehrenmänner ihm einen Waffengang gönnen. Wenn er sich auch dann noch weigert...« Heinrich hielt zögernd inne.
»So schlag ich ihn tot wie einen Hund«, schrie Oswald, ergriff seinen Stock und eilte fort.
Heinrich ließ sich von Doretta das Schreibzeug reichen und schrieb hastig folgende Zeilen nieder:
»Lebe wohl, mein Victor. Clemence ist tot. Ich folge ihr. Ich bitte Dich, die Mühwaltung eines Erben zu übernehmen. Gib dem guten Oswald soviel Geld, als er nötig hat, um in Amerika ein neues Leben zu gründen.
Lebe wohl, mein Victor. Ich habe Dich lieb und drücke Dir noch einmal die Hand. Wenn Du mit Deiner jungen Frau aus Norwegen zurückkehrst, wirst Du zwei Gräber zu besuchen haben. Halte Dich dann nicht zu lange bei uns auf. Küsse Dein Evchen auf beiden Augen, sei ein Mann und nimm's nicht zu schwer.
Lebt wohl! Euer Glück ist das Leben. Unser Glück ist der Tod. Gönnt uns die Ruhe. Klagt nicht zu sehr.
Grüß das Evchen von mir. Und küß ihr die Tränen von den Augen. Dein Heinrich.«
Er schloß den Brief in einen Umschlag und übergab ihn der Frau. Sie sollte ihn aufbewahren und dem Freunde nach dessen Rückkunft übergeben. Dann reichte ihr Heinrich die Hand zum Abschied.
»Ich lasse Sie nicht fort«, rief Doretta ängstlich, »warten Sie doch bis Oswald wiederkommt. Was wollen Sie denn tun? Sie sehen aus wie der Tod!«
Heinrich wehrte ab und ging.
Fühllos und absichtslos schritt er viele Straßen lang durch die Menge, bis er plötzlich vor einem Hause stand, um dessen geschlossenes Tor sich einige Neugierige drängten. Er stand Unter den Linden, vor dem Auenheimschen Hause.
Er ließ öffnen und ging langsam, müde hinauf. Dem Diener, der ihn empfing, stürzten die Tränen bei seinem Anblick hervor. Heinrich trat in das Zimmer, wo Eberhard von Auenheim schluchzend vor dem Sofa auf den Knien lag. Die Leiche war im Nebenzimmer aufgebahrt.
Als Herr von Auenheim die Schritte des Eintretenden vernahm, hob er den Kopf und rief wimmernd:
»Ich bin ein alter Mann und beide Kinder haben mich verlassen, beide!«
Ohne den Schmerz des Vaters zu stören, ging Heinrich mit leisen Schritten vorüber und trat zur Leiche. Hier sank er stöhnend nieder.
Es war still. Man hörte es, wenn im oberen Stockwerk gesprochen wurde.
Stunde um Stunde verging und Heinrich rührte sich nicht.
Da vernahm er, wie eine verhaßte Stimme im Korridor ertönte. Jäh sprang er auf, einen letzten Abschiedsblick warf er auf das Antlitz der Toten, dann eilte er hinaus und stand dem erschreckten Kurt gegenüber, als dieser eben im Begriffe war einzutreten.
Kurt sah schrecklich aus; das Haar hing ihm straff in die Stirn, das Gesicht war feucht von Schweiß. Er wollte dem Gegner trotzig in die Augen blicken, vermochte es aber nicht.
Heinrich faßte ihn hart an der Schulter.
»Sie werden die Tote nicht sehen!« rief er außer sich. »Nicht, so lange ich am Leben bin!«
»Wie wollen Sie mich hindern?«
»Wagen Sie es! Wagen Sie es!« rief Heinrich drohend mit gedämpfter Stimme. »Unser Duell geht vor! Sind Sie bereit?«
»Der tolle Mensch war bei mir. Ist es Ihr Ernst, sich mit mir zu schlagen? Jetzt, nachdem es keinen Kampfpreis mehr gibt? Gut!« Und Kurt biß die Unterlippe. »Ich habe die Waffen im Wagen unten. Ich wollte von hier aus zum Rendezvous fahren. Kommen Sie!«
Als sie in den Wagen steigen wollten, bemerkte Kurt den Doktor Stropp, der mitten unter andern Leuten zu den Fenstern des ersten Stockwerks emporstarrte.
»Doktor Stropp kann mein Sekundant sein!« sagte Kurt und rief laut den Namen.
Stropp zuckte zusammen und rührte sich nicht von der Stelle.
Da schritt Kurt fluchend zu ihm hinüber und führte den Willenlosen zum Wagen. Schlotternd nahm Stropp auf dem Rücksitz Platz.
Sie fuhren zuerst die wenigen Schritte in Heinrichs Hotel, um den Schneider abzuholen, dann aus der Stadt hinaus an die verabredete Stelle.
Als Oswald mit feierlicher Miene sich neben Stropp niedersetzen wollte, kreischte dieser auf und während seine Zähne aneinander schlugen und seine Augenmuskeln zuckten, murmelte er schluchzend: »Ich bin kein Judenfeind! Der Schwarze war's! Häng' den Schwarzen auf! Tu mir nicht weh!«
»Fürchte Dich nicht, schlechter Erdenwurm!« sagte Oswald gelassen. »Der Schmerz der Sonnenkinder ist zu groß, als daß sie Deiner achten sollten. Und die irdische Welt ist zu niederträchtig, als daß sie Dich hängen sollte, wie Du's verdienst. Sieh nur, wie die Sonne sich beeilt unterzugehen, weil Du ins Freie fährst!«
Bald waren sie an Ort und Stelle, stiegen aus und begaben sich auf einen freien Platz mitten im Gehölze. Der Schneider mußte den keuchenden Doktor Stropp fast gewaltsam hinführen.
»Unsere beiden Sekundanten sind sonderbare Käuze!« sagte Kurt mit nervösem Lachen. »Da mich jedoch die heutigen Ereignisse veranlassen, sofort nach Konstantinopel abzureisen, muß ich mich über jede Form hinwegsetzen.«
»Gegen die Zeugen ist nichts einzuwenden«, erwiderte Heinrich in bitterem Zorn. »Der Wahnsinn hat's begonnen, der Wahnsinn hat die Tat vollführt, so mögen auch Wahnsinnige rechts und links die Zeugen sein! Doch zur Sache. Sie begreifen, um was es sich handelt. Es wird wohl kein regelmäßiges Duell werden, und auf diese beiden können wir uns ja nicht verlassen.«
Kurt nickte. »Das ist zwar kein Duell!« rief er. »Das ist Mord und Selbstmord! Mir auch recht. Also: zehn Schritt Distanz. Und Sie mögen den ersten Schuß haben.«
Er nahm die Pistolen aus dem Kasten und ließ den Gegner eine wählen.
Stropp fiel beim Anblick der Waffen stöhnend zu Boden und jammerte in einem fort:
»Sie wollen den Befreier umbringen! Laßt es nicht zu, Ihr Fürsten und Großen! Geld, mehr Geld her! Ich liebe die Juden! Ich liebe alle Menschen! Ich bin der große Reformator Deutschlands und will Sekt!«
Der Schneider stand mit über der Brust gekreuzten Armen vor dem Wahnsinnigen und sprach verächtlich:
»Gibst Du es jetzt zu, daß Du nur ein Erdenwurm bist, Du schlechter Kerl? Aber habe keine Angst, ich tue Dir nichts.«
Indessen hatten die Gegner Stellung genommen. Mit düsterer Miene, in fester militärischer Haltung stand Kurt da. Heinrich hob die Waffe und plötzlich wollte ihn eine jähe Rachelust überwältigen. Deutlich sah Kurt, wie Heinrich die Zähne zusammenriß und die Pistole gegen die Brust des Gegners richtete, dann heftig atmend auf Stropp zielte und wieder auf Kurt. Es dauerte eine ganze Weile, Kurt stand bewegungslos. Plötzlich hob Heinrich den Arm und feuerte die Waffe grimmig lachend gegen den Himmel ab.
»Jetzt Sie!« rief er.
Kurt zögerte.
»Vorwärts doch!... Schuft!« stieß Heinrich hervor.
»So hab's denn«, rief Kurt wild und der Schuß fiel. Langsam und schwer stürzte Heinrich zu Boden. Kurt beugte sich einen Augenblick ängstlich über ihn, dann warf er die Waffe fort und eilte zu der Stelle, wo er den Wagen zurückgelassen.
Heinrich atmete noch, aber Oswald, der ihn in seinen Armen hielt, fühlte, wie das Leben des Arztes mit seinem Blute entschwand.
Neben dem Sterbenden wälzte sich der wahnsinnige Stropp auf dem Boden und rief noch immer:
»Ich bin der große Reformator! Sekt her!«
Der Schneider aber fuhr ihn hart an:
»Schweige still, Du Narr, und störe nicht die Seele, die sich vorbereitet heimzugehen zu der leuchtenden Sonne.«
Der Wahnsinnige schwieg erschreckt und kroch auf allen vieren ins Gebüsch.
Oswald streckte den Sterbenden sanft auf den Rasen aus, kniete neben ihm hin, breitete die Arme zum Himmel empor und murmelte:
»Heilige Sonne, die Du uns einen letzten Blick noch gönnest, ein Festtag ist es heute für Dich. Zwei Sonnenkinder kehren zu Dir zurück, aufzugehen in Deiner heiligen Glut und in seliger Einheit ewig zu lächeln über die jammervolle Erde. Heilige Sonne! Nicht allen ist es beschieden, zu Dir zurückzukehren, solange Du noch flammst in sengender Pracht. Wenn Du aber einst erkaltet sein wirst, ein Tummelplatz für niedrigere Geister, dann sei uns gnädig, heilige Sonne, und nimm auch uns auf in Deine Herrlichkeit, die edle Doretta, den stattlichen Siegfried und auch mich, den Schneider Oswald Fränkel, dem die Erde ganz und gar nicht mehr gefällt.«
Ende