Fritz Mauthner
Der neue Ahasver
Fritz Mauthner

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XV.

Nur selten machte ein Brief Victors die Reise nach dem fernen Weltteil, wo Heinrich seine schwere Aufgabe mit heiterem Mute zu lösen versuchte. Wäre der Arzt nicht über jede Nachricht erfreut gewesen, so hätte ihn die Melancholie erschrecken müssen, die zwischen den Zeilen von Victors Berichten herauszulesen war. Der sonst so lebhafte Freund schrieb kurz und geschäftlich, von dem alten Übermut war schon gar nichts zu spüren.

Ein oder das andere Mal glaubte Heinrich dennoch, daß die Briefe ihm eine sorgende Miene in den Augen des Freundes zeigten, aber er war mit seinen Gedanken zu eng an seine Braut gefesselt, um eine andere Gefahr zu beachten als die, welche seiner Liebe drohen konnte. Und da das Schweigen, welches der alte Freiherr dem Brautpaare auferlegt hatte, ihm jedes Schreiben an Clemence verbot, mochte er auch dem vertrauten Victor nichts von seinem Fühlen mitteilen. Er beschränkte sich darauf, über sein Leben unter den Halbwilden und über seine Forschungen zu berichten.

Einmal konnte er ein kleines Abenteuer erwähnen.

Ein Schwarzer aus der Dienerschaft war ebenfalls an der schrecklichen Seuche erkrankt, deren Studium den Arzt nach Afrika geführt hatte. Die Verwandten machten nun den verzweifelten Versuch, die Heilung durch die eingeborenen Zauberer und Priester zu bewirken. Der Kranke aber schien unrettbar verloren, als Heinrich sich seiner annahm und den Aufgegebenen fast gegen den Willen seiner Verwandten und der Zauberer, welche singend um sein Lager standen, dem Leben wiedergab. Seit jenem Tage war der Schwarze sein treuer, nicht abzuweisender Begleiter und zuverlässiger Diener.

Es folgten einige Äußerungen der Zufriedenheit darüber, in weiter Ferne einen so ergebenen Mann gefunden zu haben. Dann aber kamen einige Zeilen über eine innere Veränderung in Heinrichs Denken.

»Seitdem es mir glücklich gelungen ist, das Zutrauen der Schwarzen zu erringen, steigern sich die Beweise ihrer Anhänglichkeit in fast bedenklicher Weise. Sie haben aus mir einen Wundermann gemacht. Sie besitzen in ihrer Religion einen unsterblichen Hohenpriester, eine Art Gott, einen Mann mit langen weißen Haaren, der nie stirbt, sondern sich nach seinem scheinbaren Tode immer wieder verjüngt hat, wenn eines schönen Tages ein neuer Hohepriester an seiner Stelle thront. Wenigstens glauben sie steif und fest an eine Verjüngung. Ich habe die Vermutung, daß die lieben Seelen ihren Halbgott, wenn er hinfällig geworden, eigenhändig totschlagen und die verjüngte Fortsetzung seines Daseins selbst in das eigentümliche Amt einführen.

So ein Fabelmensch und unsterblich zu heißen, ist selbst unter diesen erschwerenden Umständen für einen deutschen Arzt noch immer Ehre genug, und diese Ehre scheint man mir, nachdem mir einige Heilungen glücklich gelungen sind, allen Ernstes zuwenden zu wollen. Sie sollen am letzten Mondfeste beschlossen haben, den uralten Inhaber des unsterblichen Amtes demnächst zu verjüngen und meine Wenigkeit zum Hohenpriester zu machen. Was sagst Du dazu? »Seine Unsterblichkeit Dr. Heinrich Wolff« wäre gar kein übler Titel!

Auf mich hat diese Mitteilung Omars, der sich schon als Günstling meiner Unsterblichkeit fühlt, eine seltsame Wirkung geübt. Ich konnte die Nacht nicht schlafen. Du wirst es mir glauben, daß nicht die Eitelkeit mich fiebern ließ. Ich mußte daran denken, daß wir allesamt, wie unser guter Schneider Fränkel beklagt, nur gemeine Erdenkinder sind und daß wir darum nicht in die Sonne blicken können, daß darum ein armer Arzt seine Prüfungszeit unter barbarischen Schwarzen zubringen muß, die ihn erst unsterblich machen und dann totschlagen wollen, anstatt daß er zu Hause Dir gegenüber sitzen könnte und über die für uns unsichtbaren trennenden Linien hinweg Dir ins Auge blicken könnte.

Und wieder mußte ich mich besinnen und mich fragen: Hier liegst du schlaflos auf fremder Erde, ein Schiffbrüchiger am unwirtlichen Strand. Wohin gehörst du? Bist du wirklich der Kosmopolit, zu dem deine Überlegung dich gerne machen möchte? Fühlst du unter den Afrikanern das gemeinsame Menschliche, das dich zu ihrem Bruder macht?

Nein, ich habe kein so weites Herz! Je weiter ich von der Heimat entfernt bin, desto heiliger wird mir jeder Laut ihrer Sprache, desto vertrauter jeder Gruß, den freundliche Wandervögel mir herüberbringen. Ich werde in der Ferne täglich deutscher. Nur in einem bin ich toleranter geworden. Ich habe mich unter den Wilden mit dem Malheur ausgesöhnt, als Jude zur Welt gekommen zu sein. Seitdem ich in unglaublichen Städten und unter unglaublichen Verhältnissen, unter Mohren und Türken, Juden angetroffen habe, die deutsch sprachen – freilich ein tolles Deutsch –, seitdem ich sie im Verkehr mit ihrer Umgebung beobachtet habe, ist mein alter Groll gegen allerlei Gewohnheiten verschwunden. Es ist doch was Großes um so eine Tradition von ein paar tausend Jahren! Ja, Liebster, wenn Verachtung der Juden dazu notwendig wäre, dann kehrte ich nicht als Christ zu Euch zurück!

Du siehst, sooft ich jetzt an mein Judentum denke, werde ich sentimental und darüber rasch wieder zum Deutschen. Ja, es ist schön, ein Deutscher zu sein, schon um unserer Lieder willen, die ich hier zum Entsetzen der vorüberziehenden Störche und zum Entzücken der Eingeborenen in mondhellen Nächten mit meiner furchtbaren Stimme in die Brandung hinausschicke, als wären es eitel Hexensprüche, die mich über Land und Meer tragen könnten – zu Dir – zu Euch!«

Victor mußte beim Lesen lächeln. Er bemerkte, wie Heinrich während des Schreibens an Victors Stelle am Ende das Bild seiner Braut gestellt und in Gedanken an sie geschrieben hatte. Und er beeilte sich, am Abend zu Auenheims zu gehen, weil er wußte, daß sein Erscheinen die verlassene Clemence ein wenig tröstete.

Clemence saß bleich da, als Victor eintrat und sogleich den Empfang eines Briefes meldete. Ihre Traurigkeit wich nicht, aber durch die Traurigkeit hindurch leuchteten ihre Augen auf. Kurt, der wieder da war, lächelte nur höhnisch, und Herr von Auenheim fragte mit seinem geckenhaften Schmunzeln, ob denn Herr Doktor Wolff gar nicht über die Rasse der weiblichen Eingeborenen schreibe.

Victors ganze Jugendlust war nötig, um hier nicht den Kopf hängen zu lassen. Glaubte er doch sogar, seit einiger Zeit hie und da einen bösen Blick Kurts aufzufangen, einen Blick, der Victors junges Herz frösteln mochte. Der böse Blick schien zu fragen: »Wie lange gedenkst Du noch zu leben, Du lustiger Mann mit dem Ehrenwort?«

Aber wenn es auch noch so oft wie ein Gespenst zwischen den Sprechenden aufstieg, immer war ja Evchen da. Sie wurde nicht müde, nach Heinrich zu fragen, Victor nicht müde zu antworten. Dann neckten sie einander, Evchen setzte den anwesenden Freund gegen den abwesenden mit so grotesker Übertreibung herab, daß Victor vor Lachen bald die hellen Tränen in den Augen standen und auch Clemence mit dankbarer Freude ein Lächeln nicht verbarg, das wie ein Sonnenblick zwischen Wolkenschatten über ihre klaren Züge hinflog.

Als Victor heute durch die dunklen Straßen wieder nach Hause zurückkehrte, war er so vergnügt wie schon lange nicht mehr. Er pfiff die Reveille vor sich hin, brach aber plötzlich ab. Durch die Nacht schien ihn der böse Blick Kurts anzustarren und an sein Ehrenwort zu mahnen.

Er konnte in seiner Stube lange nicht ans Einschlafen denken. Es überfiel ihn eine Spannung wie in der Schlacht, bevor die erste Kugel sauste. Er ahnte die Lebensgefahr, ohne sie sich eingestehen zu wollen. Und doch öffnete er das Fenster, lehnte sich hinaus und blickte sich nach allen Seiten um, ob denn von keiner Seite Hilfe kam. Es war ja nicht um ihn selbst! Bah! Aber Evchen würde gewiß weinen, wenn sie's erführe, und wenn das verhindert werden konnte, war's gewiß gut.

Wer sollte es aber verhindern?

Wenn Heinrich zur Zeit zurückkehrte! Aber Heinrich war in einem anderen Weltteile. Und wenn er auch zurückkehrte, und wenn er auch imstande war zu helfen – Victor hatte den Streich allein geführt, er mußte es allein tragen, wenn er auf ihn zurückfiel. Niemand, niemand brauchte ihn zu vermissen! Er war mutterseelenallein.

Und Victor legte sich getröstet zu Bett und schlief jetzt bald ein. Noch einmal schlich das Bild Evchens aus dem Dunkel der Träume hervor:

Victor lag tot auf dem Rasen, mausetot. Da kam Evchen heran, gab ihm einen Nasenstüber. Victor klappte die große Wunde auf seiner Brust zu, stand gesund auf, gab dem Evchen einen Kuß und sagte: »Ich danke schön, mein gnädiges Fräulein!«

Als Victor vier Wochen später nach Afrika schreiben wollte und wie immer die Pflicht hinausschob, da kam wieder ein Brief von Heinrich. Der Freund hatte Afrika bereits verlassen, war auf dem Heimwege. Wieder ergriff den jungen Offizier der heiße Wunsch zu leben, gerettet zu werden. Heinrich war wohlhabend, vielleicht reich, war jedenfalls in Geschäften nicht so ungewandt wie Victor. Wenn Victor sich ihm anvertraute, ihm alles sagte? Mußte, würde der Freund dem Freunde nicht sein Vermögen opfern? Würde er nicht herbeischaffen, was fehlte? Alle die Schritte tun, die Victor unmöglich schienen? Und wieder wies Victor den Gedanken von sich. Die Schlacht begann. Ein Feigling, der sich hinter dem Nachbarn versteckt! Und am Ende ist auch alles einerlei.

Freilich das Evchen!

In seinem heutigen Briefe kam Heinrich auf den Gegenstand des letzten zurück.

Seine eigenen Mitteilungen im letzten Schreiben hätten ihn so aufgeregt, so mit jedem Gedanken in die Heimat zurückgezaubert, daß er plötzlich den Entschluß faßte umzukehren. Seine Aufgabe sei nach Kräften gelöst und das schlimme Probejahr werde ja auch bald vorüber sein. Wenn er auf der Heimreise da und dort ein paar Tage verweile, so komme er nicht zu früh in Berlin an und sei doch schon der Braut um einige Tagesreisen näher. Ihm sei so beklommen zumute, als schwebe sein Liebstes in Gefahr. Victor solle nicht böse sein, daß er nicht ihn meine. Fausts Zaubermantel flöge ihm nicht schnell genug und der englische Dampfer, auf welchem er diese Zeilen schreibe, noch viel weniger.

Mit der afrikanischen Taufe, die er im Sinne gehabt, sei es nun nichts. Zwar befinde sich hier auf dem Dampfer ein Missionar, dieser habe aber auf die erste Andeutung Heinrichs einen so lästigen Übereifer für seine Sekte an den Tag gelegt, habe alle anderen christlichen Religionen so unverständig herabgesetzt, daß Heinrich von diesem Prediger am wenigsten das Bundeszeichen des Christentums hätte annehmen wollen. Es sei auch besser so. Vielleicht habe hinter dem romantischen Wunsche einer afrikanischen Taufe doch noch die Scheu vor dem öffentlichen Bekenntnisse gesteckt, das ihm einst wirklich als eine peinliche Formalität erschienen sei. Aber unter den Tropen habe er Ehrlichkeit gelernt. In der Heimat seiner Clemence, vor befreundeten Zeugen müßte der Übertritt stattfinden. Das sei er der reinen Seele seiner Braut, das sei er seiner eigenen Ehre schuldig.

Auch eine heitere Mitteilung enthielt der Brief. Heinrich komme in Begleitung seines treuen Schwarzen nach Europa. Der prächtige Bursche habe geweint wie ein Kind, da sich Heinrich von ihm trennen wollte. Er habe sich vor ihm im Staube gewälzt und darum gebeten, mitgenommen und der Diener des großen weißen Zauberers zu werden. Heinrich habe nein sagen müssen. Aber kaum sei das Land außer Sicht gewesen, so habe Heinrich den verschmitzt lächelnden Burschen in seiner Kajüte gefunden und habe sich, von dieser selbstlosen Anhänglichkeit gerührt, entschlossen, den braven Omar mitzunehmen. Das sei das einzige Stückchen Romantik seiner Reise, das er mit nach Europa bringe.

 

Nicht um vieles rascher als sein Schreiber war der Brief von Hafen zu Hafen, von Schiff zu Schiff, von Ort zu Ort geeilt.

Auch Heinrich war der Heimat nahe. Nirgends fand er mehr Ruhe. Solange fremde Landschaften ihn umgaben, fremde Typen ihn anglotzten und fremde Idiome ihn umtönten, mußte er wohl oder übel vorübergehend den Reiz der Neuheit empfinden und sein Tagebuch mit kleinen Beobachtungen füllen, um nur die festgesetzte Frist nicht abzukürzen. Kaum aber betrat sein Fuß in Triest wieder europäischen Boden, kaum vernahm er mit unsäglicher Lust den ersten deutschen Laut – von einem Schaffner der österreichischen Südbahn –, als ihn die Sehnsucht nach dem Teuersten wieder wie ein Fieber packte und er Tag und Nacht nicht mehr innehielt, um nur endlich wieder in die geliebten Augen blicken zu können.

Sein treuer Schwarzer wurde ihm täglich lieber, weil er mit ihm ohne Scheu von allem, was ihn bewegte, sprechen durfte, soweit eine Unterhaltung mit Omar möglich war. Der intelligente Bursche hatte schon früher, wer weiß durch welchen Zufall, die wichtigsten englischen Worte gelernt, und Heinrich verstand etwa ebensoviel von der Muttersprache seines Dieners. Dazu hatte sich's der Arzt während der langen Seefahrt keine Mühe verdrießen lassen, dem Schwarzen soviel als möglich deutsche Vokabeln beizubringen. So konnte denn der heimkehrende Arzt in einem närrischen Sprachgemengsel dem Schwarzen von Berlin und seinen Herrlichkeiten, von der schönen und erhabenen Herrin Clemence, von der Macht des Kaisers und den großen Siegen, von der Religion und den Sitten der Christen erzählen.

Omar horchte auf und fragte immer nur, ob denn nicht Hanilich – so sprach er »Heinrich« aus – selbst der König der Christen und oberste Priester sei. Was auch Heinrich im Scherz und Ernst vorbrachte, um den Burschen von diesem Glauben abzubringen – Omar hatte nur immer sein halb verschmitztes, halb störrisches Lachen, und wenn es einmal dem Herrn wirklich gelang, in seinem Diener die Vorstellung zu erwecken, daß die hundert Männer auf den Bahnhöfen und im Wagen und außerdem viele, viele Tausende ebenso gewichtige Leute seien wie er, so zuckte über das Gesicht des Schwarzen ein so ungeheucheltes Entsetzen, daß Heinrich fast erschrak und zum ersten Male bedauerte, den schwarzen Burschen nicht wieder heimgeschickt zu haben.

Was konnte er auch bestenfalls mit Omar anfangen? Ein verhältnismäßig junger Arzt wie er durfte sich den Einfall, einen schwarzen Diener zu halten, nicht ohne Gefahr von Mißdeutungen erlauben. Und doch konnte er den anhänglichen Kerl, für dessen Begleitung er ja doch verantwortlich blieb, nicht in wildfremder Weltgegend auf die Straße setzen. Er hatte in der Fremde offenbar Europa ein wenig vergessen, er hätte das alles sonst voraussehen müssen.

Schon hier auf der Eisenbahn, wo doch alle Welt an fremde und abenteuerliche Erscheinungen gewöhnt war, wurden der Schwarze und sein Herr auf die lästigste Weise angestarrt. Auf jeder Station versammelten sich Mitreisende und Fremde um das Coupé und wiesen mit Fingern. Heinrich fühlte sich als Zielpunkt solcher Aufmerksamkeit um so unbehaglicher, je näher er der Heimat kam. Als Omar nun gar auf das Aufsehen, welches er erregte, eitel zu werden begann und durch alle Verbote nicht abgehalten werden konnte, die schmeichelhafte Neugier der Leute durch allerhand freundliche Grimassen zu erwidern, entschloß sich Heinrich, sich für den Rest der Reise von dem auffallenden Diener zu trennen. Sie reisten jetzt durch deutsche Bevölkerung, und so konnte gleich der Versuch gemacht werden, wie der Afrikaner sich allein zurechtfand. Omar jammerte diesmal bei der Ankündigung, daß eine kurze Trennung notwendig sei, gar nicht mehr so bitterlich wie damals in Afrika.

Ob die baldige Wiedervereinigung ihn tröstete, ob er vielleicht seine Eitelkeit besser zu befriedigen hoffte – Heinrich hatte nicht Lust, darüber nachzudenken. Kaum war er seines Begleiters ledig, so wanderten seine Gedanken zu Clemence. Clemence sollte wie über alles, wie über sein Leben und sein Wollen, auch über das Schicksal des treuen Schwarzen entscheiden. Heinrich malte es sich aus, wie er der Braut außer einer großen Zahl anderer afrikanischer Seltsamkeiten auch den Schwarzen mitbrachte und ihr ihn, wenn auch nicht als Sklaven, so doch als Eigentum zum Geschenk machte, soweit die Sitten Deutschlands es gestatteten. In dem vornehmen Hause des Herrn von Auenheim war ein Neger gar nicht so übel am Platz, und wenn erst Clemence das väterliche Haus verließ, dann... ja, dann lagen andere Gedanken näher als die an den armen Omar. Und Heinrich lehnte sich mit glücklichem Lächeln zurück und träumte von der Zeit, da Clemence das väterliche Haus verließ.

An der Grenze des deutschen Reiches wurde er geweckt. Heinrich hätte aufjauchzen mögen, als ihn der sächsische Zollbeamte anrief und nach steuerpflichtigem Gut fragte. Nun hatte er nur noch wenige Stunden bis nach Hause. Bevor es noch Mittag schlug, mußte er in Berlin sein.

Er begrüßte rasch seinen Omar, der in einer anderen Wagenklasse fuhr und stieg munter wieder in sein Coupé. Der Zug sauste an den wohlbekannten Stationen vorüber. Heinrich sah und hörte nichts. Immer voran mit seiner Sehnsucht, fand er die Geschwindigkeit zu gering, den Aufenthalt überall zu lang.

In Dresden füllte sich das Coupé, und aus der Sprache konnte Heinrich erkennen, daß seine Reisegenossen Berliner Herren und Damen waren. Das waren also lauter Leute, welche während dieses Jahres der Verbannung mit Clemence in derselben Stadt geatmet hatten; ihr vielleicht auf der Straße begegnet waren. Heinrich blickte einen nach dem andern an, ob es ihren Augen vielleicht noch abzumerken war, daß sie Clemence gesehen hatten; dann lächelte er über seine eigene Torheit und träumte in seiner Ecke weiter. Zwischen den übrigen ging ein lebhaftes Gespräch hin und her, ohne daß Heinrich auf die Worte geachtet hätte.

Plötzlich fuhr Heinrich auf.

»Das verdammte Judenpack«, hatte einer der Mitreisenden gesagt. Heinrich blickte um sich. Nein, er mußte sich verhört haben. Es waren ja wohlgekleidete ruhige Leute, die freundlich und in anständigen Formen miteinander sprachen. Ein so pöbelhaftes Wort konnte in diesem Kreise kaum gefallen sein und wäre gewiß nicht geduldet worden.

Indessen sprach die Stimme, von welcher Heinrich das abscheuliche Wort gehört zu haben glaubte, weiter. Der Redner war ein schlanker, klug blickender Mann von etwa dreißig Jahren. Er sprach etwas nervös, aber so unbefangen, als handelte es sich um die Frage der Maikäfervertilgung.

»Mit halben Maßregeln, mit dem bloßen Verachten und Ankrakeelen ist's nicht getan. Sie müssen aus dem Lande gewiesen werden. Solange sie in großen Scharen unter uns in Deutschland leben, solange sind wir nicht sicher vor ihren Kniffen. Auch mit gesetzlichen Bestimmungen kommt man gegen die schlauen Schurken nicht auf. Sie hängen aufs engste zusammen, bilden einen kolossalen außerstaatlichen Geheimbund und wissen alle Paragraphen zu ihren Gunsten umzudeuten. Darum sag' ich: Keine halben Maßregeln! Hinaus mit ihnen aus Deutschland.«

Heinrich lächelte wieder. Er mußte sich vorhin wirklich verhört haben.

Nun wußte er aber doch nicht, von wem die Rede war. Die Mode wechselt ja mit ihrer Liebe wie mit ihrem Haß. In solchen Ausdrücken sprachen unmündige Menschen bald von einem gottgefälligen Mönchsorden, bald von atheistischen Weltumstürzlern. Wem galt heute der Zornruf? Da hatte er ein Jahr lang ohne Zeitungen gelebt und schon kannte er darum plötzlich die Feinde seines Volkes, seine Feinde nicht. Er mußte nachzuholen suchen.

Der Nachbar Heinrichs, ein dicker langsamer Herr, nahm das Wort:

»Ich glaube, Sie gehen ein bißchen zu weit, Herr Ingenieur. Ich sage nicht, daß die Gefahr gering ist. Aber bei uns in Preußen sind die Gesetze bisher nicht überflüssig auf der Welt gewesen und können nicht so leicht umgangen werden. Man kann sie ja einfach von gewissen öffentlichen Ämtern ausschließen.«

»Ja«, bemerkte das Gegenüber des Ingenieurs, eine lange Frau mit entsetzlich großen Augen, »mein Kaufmann ist auch ein Jude und hat niemals gute Butter!« und ihre Nachbarin fügte hinzu:

»Es ist ja bekannt, daß die Juden nie gute Milch haben.«

Heinrich wußte nicht, wie ihm geschah. Jetzt hatte er deutlich zum zweiten Male das Wort »Jude« vernommen. Auch paßte das ganze Gespräch nicht auf die Sozialisten, noch weniger auf die Jesuiten. Um was handelte es sich denn? Er war doch in Deutschland, auf der Eisenbahn zwischen Berlin und Dresden, unter geistig gesunden Menschen? Er war doch nicht etwa selbst wahnsinnig geworden?

Indessen ergriff der Ingenieur wieder das Wort: »Sehen Sie, meine Gnädige, das kommt davon, daß Sie Ihre Einkäufe nicht bei ehrlichen Christen machen. Sie unterstützen mit Ihrem Gelde nur die Blutsauger Deutschlands und müssen dafür noch verdorbene Judenware essen, an der Sie sich den Magen verderben.«

»Es sollte kein Jude Kaufmann werden dürfen », sagte die Lange und ihre Nachbarin: »Bäcker auch nicht. Meiner ist zwar ein Christ, aber die Brote sind immer zu klein.«

»Was sollen die Juden denn eigentlich werden?« fragte der dicke Herr ironisch. »Wollen sie was anderes werden als Kaufleute, so rufen wir: Nein. Und bleiben sie wieder beim Handel, so ist's den Frauen nicht recht. Wie soll man aus dem Zirkel herauskommen?«

»Indem man sie aus Deutschland herausfoltert«, rief der Ingenieur erregt. »Gesetze helfen gegen die Sorte nicht. Wenn man den Juden nicht zu einem Amte zuläßt, so läßt er sich taufen, deshalb aber bleibt er doch ein Jude. Drum bleib' ich dabei: Raus!«

»Das möchte ich doch nicht so schroff hinstellen«, sagte Heinrichs Gegenüber, ein alter Herr mit scharfem Profil. »Wer sich freiwillig zum Christentum bekennt, darf nicht mehr unter die Verdammung fallen. Wenn er selber vielleicht auch den alten Adam nicht ganz auszieht, seine Kinder und Kindeskinder entgehen doch endlich dem alten Fluche.«

Die Stimme des Alten klang bitter, als spräche er in eigener Sache.

»Nein«, schrie der Ingenieur, »es gibt keinen Ausweg! Wir müssen darin einmal von der alten Judenenergie lernen. Bis ins dritte und vierte Geschlecht müssen sie verfolgt werden, und in wessen Adern nur ein Tropfen Judenblut nachzuweisen ist, muß raus, raus mit dem ganzen Judenpack!«

Heinrich hatte mit steigender Entrüstung, mit steigendem Entsetzen zugehört. Er faßte sich an den Kopf. War es denn möglich? Träumte er noch immer? Sollte er über die tolle Einbildung lächeln? War es denn möglich?

Aber wenn das ganze Gespräch nur ein böser Traum war, so war auch sein Protest nur ein Traum: und er war im Traum ein Feigling, wenn er jetzt schwieg.

Und Heinrich rief dem Sprecher zu:

»Ich verbiete Ihnen, in diesem Raum so unanständige Reden zu führen. Wenn Sie sich an öffentlichen Orten nicht zu benehmen wissen, so werde ich den Schaffner bitten müssen, Ihnen ein Coupé für Ihresgleichen anzuweisen.«

Heinrich sah, daß seine Worte unerwartet kamen. Alles blickte ihn verlegen an, und der Ingenieur wurde purpurrot. Doch faßte er sich und sagte:

»Wie soll man mitten in Deutschland daran denken, daß man heutzutage noch Judenfreunde antrifft, die es übel nehmen, wenn man ihre Genossen beim rechten Namen nennt.«

»Noch einmal«, rief Heinrich zornig. »Sie werden auf der nächsten Station das Coupé verlassen. Wenn Sie aber mit Ihren frechen Schmähungen nicht aufhören, so werde ich Sie sofort selbst zum Schweigen bringen. Ich bin Jude und kann eine solche Sprache unter keinen Umständen dulden.«

Heinrich errötete vor Zorn, als er diese Wort sprach. War er in eine Narrenwelt geraten? Langsam hatte sich die Wandlung in ihm vollzogen, er hatte sich als Christ fühlen gelernt, stand im Begriffe, den Übertritt auch öffentlich zu vollziehen und da – sein erstes Wort nach der Rückkehr war eine Lüge: Er bekannte sich zum Judentum und konnte doch nicht anders.

Doch jetzt war keine Zeit zu solchen Gedanken. Sämtliche Mitreisende suchten zu beschwichtigen. Die beiden Damen versicherten lebhaft, daß sie persönlich gar nichts gegen die Juden hätten, daß sie in ihren Neigungen sogar keinen Unterschied der Religionen machten.

»Was wäre die Menschheit ohne Toleranz!« sagte die Lange, und die Andere:

»Ich meinte auch nur die schlechte Milch.«

Der dicke Herr berief sich darauf, daß er dem Ingenieur gleich nicht recht gegeben hätte. Diese Angelegenheiten sollten in gesetzgebenden Körperschaften geregelt und nicht von Unberufenen in fremder Gesellschaft verhandelt werden.

Der Ingenieur war bei Heinrichs Drohung blaß geworden. Er brummte etwas wie »Feiglinge« zwischen den Zähnen hervor. Als der Zug hielt, sagte er mit geheuchelter Ruhe zu den Damen:

»So, hier bin ich am Ziele. Wir könnten sonst das Gespräch fortsetzen.«

Damit stieg er aus.

Nun überboten sich alle in Versicherung ihres Bedauerns. Dieser Mensch sei zu schlecht erzogen, um mit gebildeten Leuten in derselben Wagenklasse zu fahren.

Heinrich war außer sich. Ja handelte es sich denn bloß um eine Frage der Höflichkeit? War denn dieser Mensch wirklich kein Wahnsinniger?

Die Reisenden blickten einander verwundert an. Nur der alte Herr, der Heinrich gegenüber saß, lächelte traurig und sagte, indem er die Hand zutraulich auf Heinrichs Knie legte:

»Sie waren krank oder in weiter Ferne, nicht wahr? Wie lange?«

»Ich lebte ein Jahr in Afrika und habe dort keine deutsche Zeitung zu sehen bekommen.«

»Darum auch«, sagte der Alte. »Sie sind unseren kultivierten Ländern ein wenig entfremdet und werden einige Zeit brauchen, um sich in den Gewohnheiten unserer Zivilisation wieder zurechtzufinden. Was Sie so in Zorn versetzt hat, ist bei uns die sogenannte Tagesfrage. Sie wird seit einigen Monaten von hoch und nieder, von früh bis spät, im Ernst und Scherz, mit Gründen und Grobheiten, mit Scham und Ingrimm erörtert, erörtert vor den Ohren der Unmündigen und der Kinder, vor den Ohren der Juden und der Heiden. Der Herr, der soeben das Feld geräumt hat, gehörte zu den wenigen Heißspornen, welche doch ein bestimmtes Programm aufstellen. Sie wollen die Juden totschlagen oder aus dem Lande jagen. Das läßt sich ja hören. Da wissen doch die Juden, woran sie sind. Aber die große Masse, welche heute von der Tagesfrage spricht, wie sie gestern von der vierten Dimension gesprochen hat und morgen vom großen Kometen sprechen wird, die weiß nicht, was sie will. Sie muß nur wieder einmal jemanden haben, auf den sie ungestraft einhauen darf. So ist es Mode geworden, auf die Juden zu schimpfen. Aber glauben Sie einem alten Manne, bester Herr, auch diese Mode wird vorübergehen, wie alle Moden vorübergegangen sind, nachdem die nötigen Opfer gefallen; die Krinoline, die Guillotine, alles hat seine Zeit. Nur daß die eine Mode noch unbequemer ist als die andere.«

Heinrich hörte immer mit starren Augen zu, während der andere ihm erzählte, was sich seit einem Jahre in der Hauptstadt begeben. Als der Fremde endlich ermüdet schwieg, sank Heinrich wie gebrochen zurück.

Plötzlich kam ihm der Einfall, daß sein armer Omar vielleicht in Gefahr sei. Bei diesen unerhörten Formen des nationalen Chauvinismus war es nicht unmöglich, daß ein Mohr in Deutschland vogelfrei geworden war. Wenn man einen deutschen Mann mit Austreibung bedrohen durfte, nur weil er ein Jude war, wie mochte es dem armen Schwarzen ergehen?

Den nächsten Aufenthalt benutzte Heinrich dazu, um nach dem Diener zu sehen. Derselbe saß vergnügt inmitten einer Schar von Bauern und Mädchen, die ihn jubelnd umringten, ihm zu trinken gaben, mit ihm anstießen und seinen krausen Worten lauschten.

Auf Heinrichs Frage antwortete der halb trunkene Omar, es ginge ihm vortrefflich in Deutschland, die Leute wären alle gut und hätten ihn schon ein deutsches Lied gelehrt. Und Omar begann unter dem wiehernden Lachen seiner neuen Freude ein Spottlied auf die Juden zu singen.

Mit ingrimmigem Lachen kehrte Heinrich auf seinen Platz zurück und brachte den Rest der Fahrt in dumpfen Brüten zu. Trotz den Aufklärungen des alten Herrn verstand er noch immer nicht und wollte nicht verstehen. Es tat ihm so weh, das Gehörte glauben zu müssen, daß er sich immer wieder einredete, er schlafe und träume einen bösen Traum.

In Berlin angekommen, fuhr er mit dem fröhlichen Omar in das Hotel Unter den Linden, wo er für einige Tage zu wohnen gedachte. Es war nicht gar weit von Auenheims gelegen, und Heinrich vergaß hier wieder das Erlebte. Segnend und flehend breitete er von seinem Fenster die Hände nach der Wohnung der Geliebten aus. Dann, bevor der Reisestaub noch abgewaschen, schrieb er eine Karte an das teure Mädchen. Er sei da und frage, wann sie zu Hause und für ihn recht, recht lange zu sprechen sei.

Er verfolgte den Boten im Geiste auf dem Hin- und Rückwege. Jetzt brachte ein Kellner die Antwort aufs Zimmer. Heinrich entfärbte sich beim Lesen; das war nicht ihre Hand. Der Herr von Auenheim sprach mit kühler Höflichkeit die Bitte aus, der Herr Doktor möchte der Familie am Abend die Ehre eines Besuches schenken und recht viel von seinen großen Reisen erzählen. Kein Wort von Heinrichs Hoffnungen und Plänen.

Heinrich schritt heftig auf und nieder. Was war da vorgefallen? Hatte sich Clemence ebensosehr verwandelt wie sein schönes Deutschland? Nein, nein, weg mit einem so häßlichen Verdacht. Sicherlich war Clemence unschuldig, und nur ihre Familie war dem Arzte untreu geworden. O, dann hatte Heinrich keine Furcht. Gegen eine Welt von Vätern, Großvätern, Freunden und Vettern wollte und durfte er um sein Glück kämpfen.

Er ließ einen Wagen holen und fuhr zu Victor; der war mit der Familie in Verbindung geblieben und konnte ihm Auskunft erteilen.

Er fand ihn nicht zu Hause. Der Bursche war in großen Sorgen und hocherfreut, den Freund seines Leutnants zu erkennen. Der Herr Doktor komme gerade zur rechten Zeit von den Menschenfressern zurück. Jetzt könne alles wieder gut werden. Seit einigen Wochen seien der Herr Leutnant nicht mehr der Alte. Sie seien furchtbar sanft gegen ihn, den armen Jochem, und überhaupt lange nicht mehr so lustig wie sonst. Auch schlafen der Herr oft schlecht und gehen bei Nacht hin und her. Heute seien sie mit dem frühen Morgen im Galopp davongeritten und nicht zurückgekommen. Überall reiten der Herr Leutnant die Pferde zuschanden. Jochem fürchte, es stecke ein Duell in der Luft. Der Pistolenkasten stehe bereit.

Heinrich erschrak. War es noch Zeit und war es überhaupt möglich, dieses Duell zu verhindern? Er bestürmte den Burschen mit Fragen.

Jochem schüttelte den Kopf. Wenn der Herr Leutnant sich schießen wollen, so helfe das nicht.

Heinrich ging und hinterließ nur einen Gruß und eine Zeile mit seiner Adresse.

Was sollte er die lange Zeit bis zum Abend unternehmen? Er ging nach einem Speisehaus, in welchem er vor Jahren zu mittag zu essen pflegte. Niemand kannte ihn wieder, auch er sah nur fremde Gesichter. Schon begann mit dem ersten Bissen und mit dem ersten Schluck eines alten Moselweins Heinrichs Munterkeit wieder zu erwachen. Da vernahm er vom Nachbartische wieder ein Wort, das ihn vor Zorn erbeben machte. Wieder wurde die sogenannte Tagesfrage behandelt. Niemand gebrauchte ein Schimpfwort. In wissenschaftlichen Ausdrücken, in gutem Deutsch wurde die Frage erörtert, ob es einen Juden geben könne, der Deutscher sei. Und ein vornehm redender Herr sagte:

»Die Juden mögen meinetwegen mehr Talente, mehr Tugenden und mehr Verdienste um die Menschheit haben; aber Deutsche werden sie doch nicht, wenn wir uns den Spaß machen, sie nicht anzuerkennen.«

Heinrich verlor seine Gelassenheit. Er mochte, bevor er die ganze Sachlage nicht verstand, nicht wieder zornig auffahren. Aber hastig stand er auf, warf die Bezahlung auf den Tisch und ging davon.

Jetzt fiel ihm eine Erklärung für das tolle Treiben ein. Es mußte von einem Juden irgendein scheußliches Verbrechen, ein Vaterlandsverrat verübt worden sein. So ließ sich der allgemeine Wahnsinn vielleicht entschuldigen. Er mußte die Vorgänge des letzten Jahres studieren.

Er ging an einem Buchladen vorüber und blickte unwillkürlich nach der Auslage, wo stets die neuesten Erscheinungen ausgehängt zu werden pflegten. Es war, als ob die Juden ein neu entdeckter Volksstamm und die deutschen Schriftsteller ihre Entdecker wären. Band an Band, Broschüre an Broschüre reihte sich dort unter geschmacklosen Titeln, welche bald einen Angriff, bald eine Lobrede auf das Judentum versprachen. Heinrich hoffte, aus diesen Massen von Streitschriften Klarheit über den Ursprung der ganzen Bewegung zu schöpfen und kaufte ein Dutzend davon.

Er ging in ein neu errichtetes Café, um dort einige Zeitungen durchzusehen. Was ihn im allgemeinen Leben so sehr entsetzt hatte, das äußerte sich noch häßlicher in den Tagesblättern. Neue Zeitungen mit marktschreierischen Namen waren erschienen und lagen in zahlreichen Exemplaren umher. Als er eins – den »Arminius« – zu lesen begann, traute er wieder seinen Augen nicht. Wo er hinblickte, überall starrte ihm das Wort »Jude« entgegen.

Ein phrasenreicher Leitartikel bewies, daß die Juden nicht die moralische Befähigung besäßen, um Hausbesitzer zu sein.

Aus dem Auslande wurde gemeldet, daß irgendwo im Osten oder Südosten ein paar hundert Juden ausgeplündert worden, und die Zeitung fügte hinzu, daß ihnen nur ihr Recht geschehen sei.

Als politische Nachrichten aus dem Reiche selbst wurden Mitteilungen über die Stammbäume hervorragender Menschen gebracht; angesehene Gelehrte, herrschende oder entlassene Minister, mächtige Präsidenten, berühmte Volksredner wurden auf Tropfen semitischen Blutes untersucht.

Noch enger lehnten sich die Berichte aus dem Leben der Hauptstadt an die Tagesfrage an.

Die Geburt von Drillingen in einer armen jüdischen Familie gab zu der Bemerkung Anlaß, daß die gefährliche Fruchtbarkeit der Juden schon in Ägypten zu Repressalien geführt habe.

Im Süden der Stadt hatte ein toller Hund einen christlichen Knaben gebissen. Es sei zu vermuten, daß der gegenwärtige Besitzer, der allerdings Christ sei, den Hund von einem Juden gekauft haben werde.

Ein Offizier habe sich Schulden halber erschossen. Er war in den Händen von Wucherern gewesen. Die Wucherei sei bekanntlich ausnahmslos in den Händen der Juden.

Im Norden Berlins seien zahlreiche Fälle von Trichinenkrankheit vorgekommen. Die Juden äßen kein Schweinefleisch; so wäre es denn natürlich, daß die armen Kranken ohne Ausnahme Christen sind.

Im Tiergarten habe sich ein Arbeiter aufgehängt. Da dieser Mann offenbar keine Arbeit finden konnte, die Industrie aber in den Händen der Juden sei, so seien die Juden für diesen Selbstmord verantwortlich zu machen.

Andere zahlreiche Selbstmorde seien darauf zurückzuführen, daß der materialistische jüdische Geist im Volke den Glauben an das Jenseits erstickt habe.

So sah das Blatt aus, welches sich auf der ersten Seite rühmte, seit der kurzen Zeit seines Bestandes viele tausend Leser unter den Gesinnungsgenossen gefunden zu haben. Immer noch suchte Heinrich nach dem Anlaß der ganzen Bewegung, er fand ihn nicht.

In trüben Gedanken kehrte Heinrich in sein Hotel zurück. Hier öffnete er mit Ekel die gekauften Broschüren. Er konnte es nicht über sich bringen, auch nur eine einzige zu Ende zu lesen. In einer Sprache, die dem Geiste des dreißigjährigen Krieges entlehnt zu sein schien, wurden Gründe für und wider angeführt. Die Gegner des Judentums warfen dem auserwählten Volke dieselben Dinge vor, um derentwillen schon vor Jahrhunderten Blut geflossen war, und die Verteidiger antworteten mit Bibelstellen. Mitten im Herzen Deutschlands wurde ein Kampf geführt, ein geistiger Kampf, wie man sagte, und alle Wissenschaft, alle Humanität wurde dabei vergessen. Die mühsam aufgestapelte Kultur der Nation wurde beiseite gestellt und einstweilen mit den verrosteten Waffen aus schlimmen Zeiten gestritten. Heinrich saß hilflos da. Er verstand nicht.

Endlich war der Nachmittag soweit vorgerückt, daß er seinen Besuch bei Auenheims abstatten konnte. Er nahm den Schwarzen mit, der eine große Kiste mit bunten afrikanischen Absonderlichkeiten tragen mußte.

Heinrich war so erregt, als er die wohlbekannten Treppen emporstieg, daß er oftmals innehalten mußte. Nun stand er oben. Noch ein tiefer Atemzug, dann zog er die Klingel.

Ein fremder Diener öffnete und starrte den Neger verdutzt an. Heinrich gab seine Karte ab und wartete.

Plötzlich flog die Tür auf und Evchen stürmte ins Vorzimmer. Sie war größer und noch hübscher geworden. Aber mit dem gewohnten kindischen Ungestüm faßte sie Heinrichs Hände und rief unter Tränen:

»Gottlob, daß Sie da sind! Verlassen Sie uns nicht wieder! Alles ist wie verwandelt! Clemence wird noch krank werden! Und Victor braucht Ihre Hilfe. Ich weiß nicht, was ihm fehlt, aber er braucht Sie!«

Nun erschien auch der schöne Auenheim auf der Schwelle. Mit sauersüßem Lächeln hieß er den Herrn Doktor willkommen und führte ihn in das Zimmer. Hier saß Clemence, seltsam bleich und doch unverändert schön und edel, über ihre Handarbeit gebeugt und neben ihr, lachend und intim auf sie einredend – Kurt von der Egge. Heinrich fühlte, wie ihm bei diesem Anblick das Blut aus allen Adern zum Herzen zurückströmen wollte.

Bei seinem Eintritt erhob sich Kurt gemächlich. Clemence stand zitternd auf, ohne den Rückkehrenden anzublicken. Kurt reichte ihm die Hand, Heinrich wandte sich ruhig zu Clemence, aber kein Blick, keine Bewegung gab ihm den Mut, ihre Finger zu fassen.

Mühsam besann sich Heinrich darauf, daß niemand von den Anwesenden sein Verhältnis zu Clemence kannte. Vielleicht kam ihre Zurückhaltung nur daher. Aber nein, dann durfte sie ihn doch wenigstens anblicken! Er hatte ja ihre Augen noch gar nicht gesehen!

Was sollte der Zwang, der nicht enden wollte? Und wenn er sich wirklich jetzt vergaß, wenn er die herrliche Gestalt umschloß und an seine Brust drückte, was war's für ein Unglück?

Er hatte die Probe bestanden. Das Haupt der Familie hatte ihm die Hand der Geliebten zugesagt! Nun war es Zeit, die Heimlichkeiten aufzugeben und froh vor aller Welt seine Liebe zu bekennen!

Aber das war nicht Scham, nicht Verlegenheit, was Clemence so dastehen ließ! Was mochte vorgefallen sein?

Heinrich hatte Zeit, sich zu sammeln, während Evchen ihn auf einen Stuhl niederzog, der Hausherr ihm Zigarren anbot und Kurt einige Redensarten über afrikanisches Klima machte. Als Heinrich wieder zu Wort kam, bat er um die Erlaubnis, seinen Schwarzen mit den Reiseerinnerungen hereinrufen zu dürfen.

Omar kam vergnügt grinsend herein. In dem Jubel Evchens, dem Kauderwelsch des Schwarzen, den Danksagungen des schönen Auenheim und den Spöttereien Kurts ging es unbeachtet hin, daß Clemence den Gast noch mit keinem Worte begrüßt hatte und auch jetzt stumm daneben stand und die für sie mitgebrachten Geschenke nicht ansah.

Heinrich wollte sie zum Sprechen zwingen und wandte sich plötzlich persönlich an sie. Er habe ihr noch ein kleines Geschenk zugedacht, den Schwarzen selbst, der sich gewiß glücklich schätzen würde, ihr dienen zu können.

Da aber wurde Herr Auenheim selbst lebhaft, ließ sich von Heinrich erzählen, wie er zu dem Schwarzen gekommen, wie er zu behandeln sei, was er esse, was er spreche.

»Dieses Geschenk freut mich sehr, lieber Herr Doktor«, sagte er. »Ein Mohr war immer meine Passion. Wenn ich mit Clemence über die Straße gehe, so glauben die Leute immer, sie sei meine Frau. Mein Gott, man täuscht sich so leicht über das Alter! Nun noch ein Mohr hinter uns, das wird himmlisch werden. Kurt, Du nimmst den Mohren gleich zu Dir und wirst ihn für unsern Dienst zureiten.«

Man setzte sich um den Tisch herum, und das Gespräch wurde allgemein.

Heinrich wandte sich heimlich an Evchen und suchte durch allerlei Fragen zu erfahren, was hier im Hause die Veränderung hervorgebracht haben konnte. Die Briefe Victors hatten ihm nichts von Kurts neuem Leben gemeldet. Wie kam es nur, daß dieser Herr hier vertraulicher als je verkehrte, sich mit dem Hausherr duzte und überhaupt mit weit größerer Sicherheit auftrat als sonst?

Heinrichs erste Frage galt dem Freunde. Er sagte nichts von Jochems, des Burschen, Besorgnissen, aber er erzählte, daß er Victor nicht zu Hause getroffen habe und sich wundere, ihn auch hier nicht zu finden. Kurt mußte die Absicht haben, das Gespräch nicht weitergehen zu lassen, immer wieder fiel er mit irgendeiner Schnurre ein. Auch Evchen schien, wenn auch aus anderen Gründen, über Victor in Gesellschaft nicht reden zu wollen. Sie machte ein Mäulchen, und als Heinrich nicht abließ, die Frage nach dem Freund zu wiederholen, rief sie schnippisch:

»Ich weiß nicht, wo sich Herr von Laskow jetzt herumtreibt. Seit Wochen sah man ihm den Zwang an, den er sich antat, sooft er uns die Ehre seines Besuches erwies. Und seit acht Tagen hat man ihn mit keinem Auge gesehen.«

Doch mit gänzlich verändertem Ausdruck fügte sie hinzu:

»Ich bitte Sie herzlich, Herr Doktor, schauen Sie so bald wie möglich nach ihm. Ich fürchte oft, es könnte ihm ein Unglück zustoßen.«

Unwillkürlich blickte Heinrich nach Kurt hinüber. Dieser saß mit fahlem Gesicht da, boshafte Freud und Schauder malten sich auf seinen Zügen. Als er Heinrichs Blick bemerkte, lächelte er, versuchte rasch einen Scherz zu machen, aber die Lippen schlossen sich wieder, ohne daß er mehr als einen heiseren Ton hervorgestoßen hätte.

Nun mischte sich auch der schöne Auenheim ins Gespräch. Victor habe ihm immer gut gefallen, aber das Benehmen des jungen Mannes sei in der letzten Zeit nicht zu loben. Wenn man in einer Familie so viel verkehre, wenn man die Töchter so auszeichne, wie Victor es getan, so ziehe man sich nicht plötzlich zurück, ohne den Grund anzugeben.

»Victor hat Schulden«, warf Kurt jetzt plötzlich ein. Und wieder blickte Heinrich erschreckt nach dem Sprecher und wieder beobachtete er dieselbe Unruhe in seinen Zügen.

Da sprach Clemence errötend das erste Wort:

»Ich bitte Sie, Herr Doktor, gehen Sie morgen zu Victor und schauen Sie nach dem Rechten.«

Einen Augenblick lang blickte sie mit erschreckten Augen auf, dann arbeitete sie emsig weiter.

»Früher stand Herr von Laskow so gut mit Großpapa«, rief jetzt Evchen mit ängstlicher Stimme. »Sehen Sie doch zu Herrn Victor, lieber Herr Doktor, und sagen Sie ihm, er solle nach Eggerwitz hinausfahren. Großpapa wird ihn gewiß freundlich aufnehmen, wenn er auch seit dem Tode Brunos wunderlich geworden ist.«

Heinrich horchte hoch auf. Es war gewiß aus einem empfindlichen Zartgefühl geschehen, daß Victor ihm von Brunos Tode nichts gemeldet hatte. Was hatte dieser unerwartete Todesfall für Folgen gehabt?

Und Heinrich sagte offen, wie sehr ihn die letzten Worte überrascht hätte, da er nichts von dem Unglück wußte. Nun wurde erzählt. Heinrich beobachtete heimlich Kurt, dem es bei den Mitteilungen Evchens und ihres Vaters nicht behaglich zu sein schien. Heinrich erfuhr, wie an dem großen Schreckenstage auch Bruno umgekommen sei. Seit jenem Tage habe Großpapa Eggerwitz nicht mehr verlassen. Auch dürfe ihn niemand dort besuchen. Nur Kurt, der sich mit dem Großpapa ausgesöhnt habe – »der letzte Egge« nannte ihn Herr von Auenheim – komme allwöchentlich hinaus.

»Der letzte Egge« ging inzwischen nervös im Zimmer auf und nieder.

»Großpapa trauert längst nicht mehr um den Knaben«, sagte er jetzt ärgerlich. »Das unselige Attentat hat ihn nur so menschenscheu gemacht. Gottlob, daß jetzt eine große nationale Bewegung begonnen hat, welche unsere sozialen Zustände von Grund aus bessern und dem Adel seine Freude am Leben wiedergeben wird.«

Und Kurt warf dem Arzte einen herausfordernden Blick zu.

Heinrich begann zu ahnen, daß der unsichtbare Feind, der ihn seit seiner Rückkehr unablässig verfolgte, auch in diesem Hause wohnte. Sein Blut klopfte stürmisch in den Schläfen. Er faßte sich rasch und suchte nach einer Antwort. Plötzlich fiel ihm das Erlebnis auf der letzten Fahrt ein, er erzählte den Hergang und schloß, während seine Stirnader jäh hervortrat:

»Und wahrhaftig, ich hätte den kecken Gesellen zum Fenster hinausgeworfen, wenn er seine Worte wiederholt hätte.«

Heinrich war mit der Wirkung seiner kleinen Geschichte zufrieden,

Evchen rief fortwährend: »Das war recht von Ihnen, das war recht!« Und Clemence, welche die Häkelnadel ruhen ließ, seitdem Heinrich erzählte, und in atemloser Spannung dasaß, schaute ihn jetzt mit einem kurzen leuchtenden Blicke, an. Es war kaum zu bemerken, aber für Heinrich war es genug, um wieder Hoffnung zu fassen.

Auenheim suchte verlegen nach Worten. Er murmelte nur immer etwas von Toleranz und Rücksichten, von konservativen Interessen und Revolution. Heinrich verstand den Sinn nicht.

Kurt aber stand mit frecher Miene dem Arzte gegenüber und sagte:

»Ihre Erzählung wird auch für den alten Herrn von der Egge interessant sein. Ich fahre morgen früh nach Eggerwitz und werde ihm mit Ihrer freundlichen Erlaubnis mitteilen, daß Sie sich erst heute und öffentlich zum Judentum bekannt haben. Das war sehr edel von Ihnen! Feige und ehrlose Juden würden sich jetzt taufen lassen, um von der Verfolgung nicht betroffen zu werden.«

Heinrich erschrak. Waren diese Worte so giftig gemeint, wie sie klangen, dann mußte Kurt von allem wissen, dann war Kurt der Vertraute des alten Freiherrn geworden, dann stand alles wieder in Frage. Einstweilen begnügte sich Heinrich zu antworten:

»Ich habe Ihr Lob nicht begehrt, Herr von der Egge. Dem alten Herrn können Sie jedes meiner Worte wiedererzählen, wenn Sie ein zuverlässiges Gedächtnis besitzen.«

Als Heinrich sich den Damen wieder zuwenden wollte, war Clemence aus der Stube gegangen. Sie hatte ihn in dem Augenblicke verlassen, da ihre gemeinsame Zukunft in Frage gestellt wurde.

Nun duldete es Heinrich nicht länger in dem einst so traulichen Raume. Er nahm eilig Abschied, antwortete kaum auf des Hausherrn höfliche, auf Evchens dringende, ja flehende Bitte, bald wiederzukommen, und verließ das Haus.

Er begab sich in sein Hotel, um nach den furchtbaren Mühen der Reise den Schlaf zu suchen, dessen er bedurfte, um seine Sorgen zu betäuben. Aber er vermochte nicht einzuschlummern.

In fieberhaften Bildern zogen die Erlebnisse der letzten Stunden an ihm vorüber. Alles war wüst und traurig.

Wo stand der Feind? Herr von Auenheim wußte offenbar gar nichts von den Geheimnissen der Geliebten. Evchen war herzig wie immer. Kurt stand ihm wohl feindlich gegenüber, aber Clemence – das hatte Heinrich wohl bemerkt –, Clemence war dem Vetter nicht näher getreten. Woher also ihre unerklärliche Haltung? Liebte sie ihn nicht mehr? War Deutschland während seiner Abwesenheit ganz sonnenlos geworden?

Hatte der geheime Widersacher, der ihn aus allen Äußerungen des öffentlichen Lebens angrinste, auch sie gewonnen, auch sie?

Wo stand der Feind? War es kein Gegner, den man fassen und zermalmen konnte? War es kein Mensch von Fleisch und Blut?

Nein, es war ein Geschöpf, wie es Heinrich einmal von einem Fischer aus dem Meere hatte ziehen sehen.

Eine ekle Masse wälzte sich umher, ohne Mittelpunkt, ohne sichtbare Organe; nur lange Fangarme streckten sich aus dem Molluske nach allen Seiten und legten sich in kalter, scheußlicher Umklammerung um die Hand, die sie fassen wollte, und saugten das Blut aus. Und wenn es gelang, einen der Fangarme abzubauen, so sank wohl das getrennte Glied schlotternd zusammen, die schlammige Masse aber rollte zuckend wieder auf und streckte neue Fangarme aus, unangreifbar, unbesiegbar, widerlich, tödlich.


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