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China!
Wunderbarstes Land des Ostens, riesiger Erdendrache, der seinen Zackenschwanz im tiefen Weltmeer badet, den einen Flügel in die Eisregionen Sibiriens und den andern in die dampfenden Dschungeln Indiens schlägt, und der, vom rasenden Teifun an das Gestade getrieben, über rauschende Flüsse, weite Seen, über Berge und Thäler auf nach Westen steigt, um seinen Kopf über die höchsten Giganten der Gebirge zu heben, die schreckliche Wjuga der Gobi zu atmen und aus den Wassern des Manasarowar zu trinken, werde ich es wagen dürfen, dir zu nahen, und werde ich deinen feindseligen Basiliskenblick mit meinem Barbarenauge ertragen können?
Größtes Volk der Erde, welches die ›Tschung-hoa‹ sein eigen nennt, darf ich nichtiges Würmchen auf einem Blatte dieser Blume ruhen, um die – Seligkeiten ihres Duftes zu erforschen? Heiliger und allmächtiger ›Tien-dse‹, zu dessen Füßen mehr als vierhundert Millionen Menschen anbetend im Staube liegen, gestattest du mir, meinen schmutzigen Fuß auf die Ecke deines Teppichs zu setzen? Ich bin nicht aus dem Lande der Franka und Ingli, welche mit Schwert und Pulver zu dir kommen, um deinen Kindern das Gift des Opiums aufzuzwingen, deine Städte zu verheeren und deinen PingsSoldaten. Sie tragen auf der Brust und Rücken ein Stück Leinwand, welches diese Inschrift zeigtzu sagen, daß sie Memmen sind. Ich stamme vielmehr aus dem Lande der Tao-dseDeutsch: »Söhne der Vernunft«, wie wir Deutschen gern von den Chinesen bezeichnet werden, die deine Herrlichkeit bewundern, deine Größe preisen und nichts anderes wünschen, als daß der Glanz deiner Weisheit strahle in Frieden auch über ihrem Haupte! – – –
Nachdem wir Potomba, den Ehri von Tahiti, seine liebliche Pareyrna, seinen Bruder Potai und den Diener Ombi auf der Samoa-Insel Opolu abgesetzt und den Kapitän Roberts vom ›Poseidon‹ mit seinen Marsgasten da gelandet hatten, waren wir einige Tage da vor Anker geblieben und dann über die Ellice-, Tarawa-, Radack- und Ralick-Gruppe nach den Marianen gegangen, von wo aus wir nach den Bonininsein segelten.
Kennt der freundliche Leser vielleicht aus Reisebeschreibungen oder auch nur aus der Karte diese liebliche Inselgruppe, welcher aus dem Seeverkehre zwischen Kalifornien und China eine bedeutende Zukunft erblühen wird? Die einsame, verborgen im großen Weltmeere gelegene Wasserfee wird berührt werden von einer der großen See- und Handelsstraßen und von ihr Bevölkerung, Reichtum und Berühmtheit erlangen, dafür aber auch leider den poetischen Zauber ihrer einsamen Ruhe verlieren, der einen Anziehungspunkt für manchen Schiffer bildete, welcher den Wal im hohen Norden jagte und sich nach dem gesunden Grün eines festen Landes sehnte.
Wer den weiten Ozean durchschifft hat, welcher seine Fluten zwischen Amerika und Asien wogen läßt; wer die Beschwerlichkeiten, Anstrengungen und Entbehrungen einer solchen Reise aus eigener Erfahrung kennen gelernt hat und – ringsum nichts als Wasser schauend – sich Tag für Tag sehnte nach einem Fleckchen Grün, an welchem das müde Auge sich ausruhen und der an den bekannten Schaukelschritt der Seefahrer gewöhnte Fuß eine feste Stütze finden möchte, der wird die unendliche Freude ermessen können, welche der russische Weltumsegler Lütke mit seinen Mannen empfand, als er am i. Mai 1828 die Bonin-Inseln erblickte, deren Aufsuchung und nähere geographische Bestimmung mit zu den Aufgaben der Expedition gehörte.
Er sah vier aus steilen Gebirgsmassen bestehende Gruppen, deren einzelne Inseln so nahe beieinander lagen, daß man sie von weitem schwer zu zählen vermochte. Man steuerte auf die nächste zu, die mit Ausnahme der nackten Felsen des Ufers überall schön bewaldet erschien. Da bemerkte man eine dünne Rauchsäule, die aus den Laubmassen eines nahen Vorgebirges emporstieg, welches von den dahinterliegenden Höhen weit überragt wurde.
Lütke wußte, daß diese Inseln bisher unbewohnt gewesen waren; es konnten daher nur Schiffbrüchige sein, von deren Feuer dieser Rauch abstammte. Da wurde neben dem Feuer eine kleine englische Flagge aufgehißt, und Lütke sandte ein Boot mit Lebensmitteln ab, um die jedenfalls halb Verschmachteten sofort erquicken zu können.
Den Leuten im Boote zeigte sich ein reizendes Landschaftsgemälde. Steile, wild zerklüftete Felsen, in phantastische Formen zerrissen und oft von natürlichen Tunnels durchbrochen, sprangen kühn ins Meer hinaus, und weiter hinein bedeckte eine prachtvolle Palmenwaldung die schroff aufsteigenden Höhen.
Das Boot wurde natürlich nach der Rauchsäule hingesteuert, und als es dem Ufer so nahe gekommen war, daß dessen Felswände den Leuten die Aussicht auf den Hintergrund benahmen, zeigte sich der Eingang zu einer schmalen, tiefen Bucht, ganz umschlossen von senkrechten Basaltmauern, reich an Höhlen und Riffen, von Farbe teils gelblichgrau, teils braunschwarz, doch oben und auf allen Vorsprüngen mild und heiter verziert und behangen von grünendem Strauchwerke und schönblumigen Rankengewächsen. Bei einer aus kolossalen, rundlichen Blöcken sehr auffallend zusammengesetzten Felsenwand krümmte sich die schmale Durchfahrt nach Norden hin, und bald darauf zeigte sich eine schmale Bucht mit sandigen Ufern, deren Hintergrund dicht mit Wald bewachsen war.
Hier warteten am Strande bereits zwei Männer in englischen Matrosenkleidern, aber sie waren barfuß. Sie hatten bei der Annäherung des Bootes die Höhe verlassen und bezeichneten durch Winke den Ort, an welchem man landen sollte. Wie staunten die Insassen des Fahrzeuges, als sie von dem älteren der beiden Männer in deutscher Sprache angeredet wurden! Ein langer, blonder Bart gab ihm ein außerordentlich stattliches und ernstes Aussehen, und er empfing die Landenden nicht mit der Miene eines Notleidenden, sondern mit der eines Mannes, der von keinem Menschen etwas zu erbitten hat. Er war ein deutscher Landsmann aus Pillau, der schon seit dreißig Jahren als Seemann das Meer unter englischer Flagge gepflügt hatte. Dieser, wie man wohl sagen darf, weit verschlagene Mann, und sein Begleiter, welcher ein junger Norweger war, hatten zur Mannschaft des Walfängers ›Williams‹ gehört, der vor zwei Jahren in dieser Bucht während eines fürchterlichen Orkanes von seinen Ankern gerissen worden und an den benachbarten Felswänden im Innern der Bai gescheitert war. Damals rettete sich die ganze Mannschaft an das Land, ward aber bald darauf von einem für das nämliche Haus fahrenden Walfänger an Bord genommen, wobei Wittrin und Petersen (so hießen die beiden) sich die Erlaubnis erwirkten, auf dem romantischen Eilande zu bleiben und bis zur Ankunft eines andern Schiffes eine gemütliche Robinsonade in das Werk zu setzen.
Das ungefähr war der Inhalt des ersten sehr lebhaften Gespräches der Einsiedler mit den fremden Ankömmlingen, und die ersteren führten die letzteren nach ihrer Wohnung, um sie dort zu bewirten.
Unter prachtvoll aufstrebenden Bäumen, deren Kronen einander erst in beträchtlicher Höhe berührten, während weiter unten der auffallende Mangel an größeren Ästen einen ziemlich freien Durchblick ermöglichte, so daß das Ganze einer riesigen, mit herrlichen Laubgewinden gezierten Säulenhalle glich, lag sehr anmutig das kleine aus den Trümmern des ›Williams‹ gezimmerte Haus, vor welchem ein artig angelegter Ziehbrunnen, aus einer eingegrabenen Tonne bestehend, viel zu dem wohnlichen Aussehen der kleinen Ansiedelung beitrug.
Die Schiffer hatten in menschenfreundlicher Absicht Lebensmittel herbeigebracht, um vermeintlich Notleidenden beizustehen, doch sie waren selbst in den Schoß des Überflusses geraten, und statt mit mittelmäßigem Schiffsproviant Hungrigen beizuspringen, wurden sie nun mit dem delikatesten Abendessen bewirtet. Von den mehr oder weniger zahmen Schweinen, welche die ländliche Scene belebten, ward von den freundlichen Wirten sogleich eines der fettesten geschossen; man lichtete den wohl versorgten Taubenschlag, und als Zuspeise gab es mehlige Kartoffeln, erfrischende Wassermelonen, welche der kleine Garten liefern mußte, Holundersuppe, frische Feigen und Maulbeeren, Pfannkuchen, Schildkröteneier und verschieden zubereitete Fische. Den Beschluß machte ein aromatischer Thee, welcher aus den Blättern des hier wild wachsenden Sassafras (Laurus Sassafras) bereitet worden war. Die beiden Einsiedler hatten sich sehr an ihn gewöhnt, und auch von den Gästen wurde er als ganz köstlich befunden.
Die Sorgfalt der Gastgeber ging sogar so weit, daß sie, weil ihr Tischgerät nicht für alle ausreichte, schnell einige Löffel improvisierten; es waren dies Muschelhälften, welche man an Stielen von Fächerpalmen befestigte. So schön weiß ein Robinsonleben den Erfindungsgeist zu wecken. Auch die innere Einrichtung der Hütte machte einen wohlthuenden Eindruck und zeugte von dem Ordnungssinn und den nicht ganz ungünstigen Verhältnissen ihrer Bewohner. Das Hausgerät, welches hauptsächlich aus Schiffskisten und den beiden Hängematten bestand, nahm sich ganz artig aus; auch bemerkte man einige vom Schiffe gerettete Bücher, die namentlich in langen Winterabenden die Abgeschiedenheit versüßt hatten. Auch für die zur Abendlektüre so notwendige Beleuchtung war gesorgt, denn es fehlte nicht an Walrat, womit das verunglückte Schiff hauptsächlich beladen gewesen war.
Den größten Teil der nächsten Nacht brachte die heitere Gesellschaft unter den herrlichen Bäumen vor der Klause zu, der köstlichen Scene sich erfreuend und Genüsse durch alle Sinne in sich aufnehmend; denn bald gesellte sich zur Lieblichkeit des Ortes und des Klimas bei völlig heiterem Himmel der Vollmondsglanz in seiner ganzen stillen Pracht. Solche Stunden sind unvergeßlich und werfen einen Lichtschein durch das ganze Leben.
Man benützte diese magische Beleuchtung, um nach dem sandigen Ufer zu wandern, wo man eierlegende Schildkröten in Menge fand, denn es war grad die günstige Gelegenheit, die Jahreszeit, in welcher diese Tiere von einem wunderbaren Instinkte angetrieben werden, die sandigen Ufer der abgelegensten Inseln zum Eierlegen aufzusuchen. Sie verweilen dann an diesen Stellen den ganzen Sommer durch in Menge, um das Ausschlüpfen der jungen abzuwarten und mit diesen dann im Herbste das offene Meer zu suchen.
Die Geräumigkeit der Löcher, welche diese Tiere in den Sand graben, ist staunenswert. Ein solches unterirdisches Nest nimmt eine ganz beträchtliche Menge von Eiern auf, die rasch nacheinander hineingelegt und dann sorgfältig wieder mit Sand bedeckt werden, bis der ebene Boden vollständig wieder hergestellt ist. Hierdurch werden die Eier vollkommen gegen die Angriffe der dort so häufigen und sehr lüsternen Raben geschützt, nicht aber gegen die aufwühlenden Schweine, welche nicht minder auf solch ein leckeres Mahl erpicht sind. Vor ihren Rüsseln ist kein Nest sicher, und obgleich sie erst mit dem ›Williams‹ auf das Eiland gekommen waren, drohte doch ihre Vermehrung der ganzen Schildkrötenkolonie den Untergang.
Es ist unberechenbar, welche Störungen und Umwälzung die Einführung eines neuen Tieres in der ursprünglichen Tierwelt eines Ortes hervorbringen kann. So hat z.B. in Neu-Seeland der flügellose Kiwi der Übersiedelung des europäischen Hundes nicht widerstehen können, und ebenso droht die dort eingeführte Katze dem Kakapo, einem dortigen Kuckuck, der auf niederen Zweigen zu nisten pflegt, mit dem vollständigen Untergange. Nicht allein die wilden Völkerstämme sind es, die bei der Ankunft des weißen Mannes ihr Todesurteil empfangen, auch die Haustiere, welche ihn begleiten, bringen den freien tierischen Bewohnern der Wildnis Verderben und Vernichtung.
Merkwürdig ist die Wehrlosigkeit jener großen Schildkröten, deren durchschnittliche Körperlänge wenig unter fünf Fuß beträgt, und die bei der Langsamkeit ihrer Bewegungen am Lande ihren Verfolgern sehr leicht zur Beute werden, obgleich sie im Wasser außerordentlich behend sind und schwimmend ihren Verfolgern leicht zu entgehen vermögen. Zwei Menschen müssen gewöhnlich ihre Kräfte vereinigen, um ein so schweres, im Sande fortkriechendes Tier umzuwälzen; einmal auf dem Rücken liegend, kann es sich nicht wieder umwenden, und nichts ist dann leichter, als es durch einen starken Hieb in die Kehle zu töten. Seine ganze Verteidigung besteht dann in einem kraftlosen, unbeholfenen Umherschlagen mit den flossenartigen Ruderfüßen; die scharfen Kinnladen, sein natürliches Gebiß, versteht es nicht zu gebrauchen.
Die beiden Ansiedler hatten den Platz Port Lloyd genannt, und da Lütke hier alles vereinigt fand, was er brauchte, so beschloß er, einige Zeit zur Ausbesserung seines Schiffes hier zu verweilen. Währenddessen hatte er volle Zeit, sich mit der belebten Welt der romantischen Insel bekannt zu machen.
Außer den mannigfaltigen Vögeln, vom Falken des Gebirges bis zum Pelekan des Strandfelsens, beschäftigte ihn besonders die Tierwelt der unterseeischen Gefilde. Reizend waren namentlich die Uferstellen, von welchen man auf die seichten Korallenbänke hinabschauen konnte, deren weißgelber Sand durch den flüssigen Krystall des Seewassers emporschimmerte. Zwischen den einzelnen mit lebenden Polypen versehenen Korallenstämmen sah man im bunten Gemisch Seesterne, Holothurien und Seeigel von wunderbarer Größe und Schönheit sich am Boden bewegen, während das beinahe zwanzig Fuß tiefe Küstenwasser, vollkommen durchsichtig wie Glas, in allen seinen Schichten von den prachtvollsten Fischen und Doriden, deren schönes Scharlachkleid mit einem glänzend weißen Mantelsaum verbrämt war, durchkreuzt wurde.
Das fortwährende Kommen und Gehen, die ewig wechselnde Scenerie dieser submarinen, in allen Prismafarben glänzenden, metallisch schimmernden Lebensformen, das unermüdliche Auf- und Abfluten dieser sich stets neu gestaltenden Wasserwelt gab ein Schauspiel, wie es nur der Küstenbewohner der Tropen zu sehen bekommt. Die meisten der Fische wurden als höchst schmackhaft befunden und ebenso die Krebse und Krabben der mannigfaltigsten Arten, welche nicht allein in den unterseeischen Klüften der Felsenufer sich versteckten oder auf Korallenbänken auf Raub ausgingen, sondern auch alle durch die Waldthäler rieselnden Bäche belebten.
Die Formen der Eidechsen und Schlangen fehlten dagegen gänzlich, und auch die Säugetiere waren nur widerwärtig oder unheimlich durch die Ratte und einen ziemlich großen Flatterer vertreten, welcher wegen der Ähnlichkeit der Gestalt der fliegende Bär (Pteropus ursinus) genannt wurde. Das Klima war ganz vortrefflich, und die beiden Einsiedler erzählten, daß sie selbst im Winter nie das Bedürfnis nach einer Fußbekleidung empfunden hätten, und die Hitze des Sommers wurde durch die frische Seeluft gemildert.
Die Natur hätte hier also alles vereinigt, um diesen Ort zu einem höchst wünschenswerten Aufenthalt für den Menschen zu machen, wenn sie ihn nicht bisweilen durch Erdbeben und furchtbare Stürme erschreckte. Die Orkane entfalten bekanntlich in den chinesischen und japanischen Meeren eine furchtbare Wut und rasen in ihrer ganzen entsetzlichen Stärke auch über die nahe liegenden Bonin-Inseln. Sogar im Innern der Bai geraten dann die Gewässer in einen so furchtbaren Aufruhr, daß sie den Anblick einer einzigen Masse weißen Schaumes darbieten. Und findet eines der hier nicht seltenen Erdbeben statt, so wird das Land bis in seine tiefsten Grundfesten erschüttert, und die Sturmflut steigt dabei zu einer solchen Höhe, daß sie alle Flächen und Thäler weithin unter Wasser setzt.
Wittrin und Petersen verließen mit der russischen Expedition ihre Einsiedelei, und Bonin blieb auf kurze Zeit den verwilderten Schweinen und fliegenden Bären überlassen.
Dann gründeten zwei unternehmende Männer, Richard Millichamp aus Devonshire in England und Mateo Mozaro aus Ragusa, mit einem Dänen, zwei Amerikanern und einer Anzahl Sandwich-Insulanern (fünf Männern und zehn Frauen) hier eine Kolonie, welche sich bald durch Matrosen, die von ihren Schiffen ausrissen, weiter vermehrte. Die Leute bauten süße Kartoffeln, Mais, Kürbisse, Tarowurzeln, Bananen, Ananas und eine Menge anderer Früchte so reichlich an, daß sie die hier nun oft anlegenden Schiffe vollauf damit zu versehen vermochten. Auch der Tabak war von außerordentlicher Güte und erreichte oft eine Höhe von über fünf Fuß. Später gab die einstweilen sich selbst regierende Kolonie sich eine Konstitution. Die Regierung liegt in den Händen eines Chefs und zweier Ratsherren, welche auf zwei Jahre gewählt werden. – –
Also diese Inselgruppe wollten wir ansegeln, hatten sie aber noch nicht erreicht, als der Kapitän plötzlich einige Striche mehr nach Südwest abfallen ließ, eine Maßregel, welche sofort meine Verwunderung erregte.
»Wollt Ihr vielleicht an den Bonin-Islands vorbei, Kapt'n?« fragte ich ihn.
Er sog die Luft mit der Bedachtsamkeit eines nach Champignons suchenden Wachtelhundes ein und machte ein sehr bedenkliches Gesicht.
Vorbeigehen? Hin, fällt mir gar nicht ein! Aber Ihr gebt doch zu, daß es gut sein wird, uns für jetzt ein wenig seewärts vom Lande zu halten.«
»Warum?«
»Riecht Euch doch einmal diese Luft an! Merkt Ihr etwas?«
Ich konnte trotz aller Aufmerksamkeit weder einen Veilchen-, noch einen andern Duft als den gewöhnlichen Seegeruch wahrnehmen, und antwortete darum:
»Ich merke nichts.«
»Und seht auch nichts?«
ich musterte den ganzen Gesichtskreis. Im Nordosten war es, als sei der Himmel da, wo er den Horizont berührte, mit glänzenden und maschenartig gekreuzten Nachsommerfäden überzogen, an deren oberem Rande sich eine kleine, helle und kaum einen Fuß im scheinbaren Durchmesser haltende Öffnung befand. Das alles war so seidenartig, so zart und weich gezeichnet, als hätte der Mundhauch einer Fee den sonst so freundlichen und lichten Horizont berührt, und ich konnte mir nicht denken, daß diese kaum bemerkbaren Linien in einem Zusammenhange mit der plötzlichen Veränderung unseres Kurses stehen könnten.
»Ich sehe nur jene unverfänglichen Striche dort zwischen Ost und Mitternacht.«
»Unverfänglich? ja, so kann bloß einer sagen, der kein Seemann ist, oder vielmehr, ich glaube sogar, daß dies auch ein sonst wohlbefahrener Wasserbär meinen könnte, falls er zum erstenmale in diese Meere kommt. Aber traut nur diesem Himmel nicht; er macht ein Sirenengesicht, und was darauf folgt, werden wir bald merken.«
»Sturm?«
»Sturm? Pah! Wollt Ihr einen Bären mit einer Spitzmaus vergleichen? Beide Tiere gehören, wie ich mir einmal habe sagen lassen, zu derselben Klasse von Raubtieren, aber ich glaube doch nicht, daß Ihr Meister Petz in einer Mausefalle fangen werdet. So ist es auch hier. Der Sturm und das, was wir zu erwarten haben, beides gehört ganz zu derselben Sorte von aeronautischen Belästigungen, aber zwischen einem regelrechten Sturme und dem Teifun ist ganz derselbe Unterschied, wie zwischen der Maus und dem Bären.«
»Einen Teifun erwartet Ihr?« fragte ich, halb erschrocken und halb befriedigt, daß es mir vergönnt sein sollte, diese fürchterlichste Lufterscheinung kennen zu lernen.
»Ja, einen Teifun. In zehn Minuten haben wir ihn. Es wird der elfte oder zwölfte sein, den ich in diesen Gewässern erlebe, und ich kenne also diese Sorte von Mailüftchen recht gut. Es giebt verschiedene Anzeichen, keines von ihnen aber ist so gefährlich, wie dieses verteufelte Netz da hinten. Ich sage Euch, Charley, in fünf Minuten werden die Fäden den ganzen Himmel umsponnen und sich zu einer pechschwarzen Wolkenmasse ausgebildet haben. Die weiße Öffnung dort wird bleiben, denn der Teifun muß doch eine Thür haben, durch welche er herunterblasen kann. Es ist ein Sturmloch. Macht, daß Ihr in Eure Kajüte kommt, und guckt nicht eher wieder heraus, als bis ich Euch entweder rufe oder unser guter ›Wind‹ unten auf dem Meeresgrunde für immer vor Anker geht!«
»Paßt mir schlecht, Kapt'n! Darf ich nicht an Deck bleiben?«
»Es ist meine Pflicht, jeden Passagier hinabzuschaffen, und doch würde ich bei Euch eine Ausnahme machen, aber ich gebe Euch mein Wort, daß Euch schon die erste oder zweite See über Bord nehmen wird.«
»Möchte es nicht glauben! Ich bin nicht zum erstenmale in See, und wenn Ihr wirklich Sorge habt, so nehmt ein Tau und sorrt mich fest an den Mast oder sonst irgendwo!«
»Unter dieser Bedingung mag es gehen; aber wenn der Mast über Bord geht, so seid auch Ihr verloren!«
»Wahrscheinlich! Aber dann wird ja überhaupt von dem Schiffe nicht viel übrig bleiben.«
»Well! Wenn Ihr es einmal auf den Mast abgesehen habt, so kommt her; ich selbst werde Euch mit ihm zusammensplissen.«
Er nahm ein starkes Tau zur Hand und band mich fest.
Unterdessen herrschte eine fieberhafte Geschäftigkeit am Deck. Die Gallantmasten und Raaen wurden heruntergenommen und alles Bewegliche so viel wie möglich befestigt oder durch die Luke in den Raum geschafft. Jedes Stück Leinwand wurde gerefft, und nur oben am Spenker blieb ein Sturmtopsegel, um dem Steuer so viel wie möglich zu Hilfe zu kommen. Auch an die Radspeichen des Steuers wurden Taue befestigt, für den Fall, daß bloße Armeskraft nicht zulänglich sei, das von den Wogen ergriffene Ruder zu regieren. Schließlich wurde jede in den Raum führende Luke oder Öffnung so fest als möglich luftdicht verschlossen, daß das Wasser keinen Zutritt finden konnte.
Und nun, als das alles mit der angestrengtesten Thätigkeit beendet war, brach, genau nach zehn Minuten, wie der Kapitän vorhergesagt hatte, das Wetter los. Der ganze Himmel hatte sich mit einer schwarzen Decke umzogen, und die Wogen besaßen jetzt eine tief dunkle, fast möchte ich sagen infernalisch drohende Farbe. Sie hatten keine schleunigere Bewegung als bisher, aber jede einzelne der Wellen glich einem schwarzen Panther oder dem zottigen Bison, welcher ruhig hält, um seine Kraft zu einem plötzlichen Sprung oder Stoß zu sammeln.
Das Sturmloch hatte sich erweitert; es besaß das Aussehen eines runden Fensters, durch welches ein feiner, rötlichgelber Rauch hereingetrieben wird. Da strich ein leises Säuseln über die Wasser, und es ließ sich aus weiter Ferne her ein Ton vernehmen, ähnlich dem einer überblasenen Baßposaune.
»Aufgepaßt, Boys, er kommt!« ließ sich die laute Stimme des Kapitäns vernehmen. »Steht nicht frei, sondern nehmt das stehende Tau in die Hand!«
Der Posaunenton ertönte stärker und näher, und – da kam es heran, eine schwarze, hohe, beinahe senkrecht aufsteigende Wägenmauer, und hinter ihr der Orkan, der sie emporgerissen hatte und vor sich hertrieb. Im nächsten Augenblick wäre selbst der Schuß eines Kruppschen Belagerungsgeschützes nicht zu hören gewesen; die Mauer hatte uns erreicht, stürzte über uns her und begrub uns vollständig unter ihrer bergesschweren Flut.
»Halte aus, mein guter ›Wind‹, halte aus!« waren meine Gedanken, und das brave Schiff gehorchte augenblicklich diesem Wunsche. Er erhob den vorn tief niedergestoßenen Bug und stieg aus der schwarzen, brüllenden Tiefe empor. Aber dieser eine Moment hatte der See ein vollständig verändertes Aussehen gegeben. Die Wogen wälzten sich scheinbar bergeshoch und von allen Seiten auf uns ein und schlugen haushoch über das Deck; noch rollte der Schwanz der einen über mich hinweg, so hatte mich bereits der Rachen der andern erreicht, und kaum blieb mir Zeit, den nötigen Atem zu erlangen. Das brüllte und heulte, das rauschte und sprudelte, das gurgelte und schäumte, das gellte und pfiff, das ächzte und stöhnte, das knarrte und prasselte rund um mich her, über mir, unter mir und – in mir, denn es war mir ganz so, als habe der fürchterliche Teifun auch mich selbst, meine Knochen und Muskeln, meine Sehnen und Flechsen und jede Faser und Fiber meines Innern gepackt.
Der Kapitän hielt sich an einem der laufenden Taue und hatte die Seetrompete ergriffen. Nur ihr scharfer schneidigschriller Ton vermochte es, das entsetzliche Chaos des uns umtobenden Stimmengewirres zu durchdringen. Seine Kommandos wurden verstanden und trotz der herkulischen Anstrengung, welche dabei erforderlich war, schnell vollzogen. Eine Handvoll braver Topgasten oder Vorkastellmänner warf sich immer auf einen der bedrohten Punkte, und man muß in solchen Augenblicken diese starken, todesmutigen Leute gesehen haben, um zu begreifen, welchen Wert ein jeder einzige von ihnen besitzt. Drei Männer standen am Steuer und vermochten trotz aller ihrer Anstrengung nicht, dasselbe zu regieren; sie mußten die Taue zu Hilfe nehmen.
Die Wogen gingen so schwer, daß sie unter ihrer Wucht das Schiff zu zermalmen drohten; von Minute zu Minute brach eine hohe See über uns her, und der Hauptmast, an dem ich befestigt war, bog sich wie eine Schilf- oder Weidengerte. Das Sturmloch hatte sich verschlossen, und wir befanden uns in vollständiger Nacht, durch deren Finsternis nur der sprühende Schaum der Wogenkämme gespenstig leuchtete. So wütete der Orkan zwei, drei, vier Stunden lang. Ich hatte mich bisher keinem noch so fürchterlichen Prairiebrande, keinem noch so gefährlichen Thiere der Wildnis, keiner noch so drohenden Naturerscheinung gegenüber hilflos gefühlt; jetzt aber durchbebte mich die ganze Erkenntnis menschlicher Schwäche, die uns zu den Füßen des Allmächtigen in den Staub darniederwirft. Ich dachte an jenen Sturm auf dem See Genezareth und an den Hilferuf des gläubig vertrauenden Jüngers: »Herr, hilf uns; wir verderben!« Und ist das Schiff noch so fest und sicher gebaut, klopft in der Brust des Kapitäns ein noch so mutiges und erfahrenes Herz, und thuen die Mannen alle ihre Schuldigkeit, es bleibt doch jedem Augenblick die Macht vorbehalten, das Fahrzeug mit allem darauf wohnenden Leben zu verderben. Und dann –
»Dann sitzet an dem frühen Morgen
Das Wrack am öden, fernen Strand;
Dann ruhet alles, tief geborgen,
Dort unten in des Meeres Sand;
Da liegt der Mensch mit seinem Hoffen,
Mit all dem Glück, das ihm gelacht,
In seiner besten Kraft getroffen
Von einer einz'gen Wettersnacht.«
Ich hatte noch niemals einen solchen Aufruhr der Elemente erlebt und erwartete alle Sekunden, von meinem Haltpunkte losgerissen und in die kochende See geschleudert zu werden. Eine Regeling um den Bord herum gab es bereits nicht mehr, sie war zerschmettert worden von denjenigen Gegenständen, welche der wütende Sturm von ihren Plätzen gelöst und in das Meer geworfen hatte. Da trat mit einemmale eine minutenlange, lautlose Stille ein, während welcher man das laute, angestrengte Klopfen des Pulses zu hören vermocht hätte.
»Achtung, Jungens; jetzt kommt es doppelt!«
Kaum waren diese Worte des Kapitäns verklungen, so zuckte ein blendender Blitzstrahl hernieder, es erfolgte ein Donnerschlag, unter dem die ganze See erkrachte und die Erde zu bersten schien, und dann wühlte sich der Teifun in das Wasser, daß dieses die Spitzen unserer Masten zu überspringen schien; wir wurden von dem Wogenstrudel gepackt und um unsre eigne Achse gedreht – ein allgemeiner Schrei der Todesangst, ein entsetzliches Krachen und Prasseln und Schmettern, dann schwiegen die Lüfte so plötzlich wie auf den Taktschlag eines allmächtigen Dirigenten, und nur das Branden der Wogen gegen unsere Planken ließ sich vernehmen.
»Der Fock über Bord!« schrie der Kapitän mit Donnerstimme. »Kappt die Taue, schnell, kappt, kappt um Gottes willen!«
Alle Hände bewaffneten sich mit den Beilen. Das Schiff lag nach Starbord hinüber; eine Reihe von kräftigen, dumpfen Schlägen erfolgte – es rauschte und stürzte in den Fluten; das Schiff wankte und bog sich vorn tiefer, während eine Sturzsee nach der andern über das Deck rollte und uns in ihrem Wasser völlig begrub.
»Rascher, rascher, Jungens, sonst geht's hinab mit uns!« schrie Turnerstick.
»Ahoi, Kapt'n!« rief der Bootsmann. »Spriet auch vom Bug – hängt am Fock!«
»Kappt, kappt auch dieses!« erklang die Antwort.
Zu gleicher Zeit griff er sich an mir vorüber nach vorn, um sich selbst vom Stande der Dinge zu überzeugen. Wieder ertönten die Schläge, dann spritzte es vor uns hoch empor, und der Bug hob sich in die Höhe.
»Ahoi, Maate, steht's hinten gut?«
»Aye, aye, Sir!«
»Well! Zieht ein Reff auf, Jungens! Wir brauchen es, denn der Teifun ist vorüber.«
Er kam zu mir zurück.
»Ah, Charley, lebt Ihr noch?«
»Ein wenig!«
»Also ganz nicht? Glaube es. Werdet ein gutes Teil Salzwasser verschluckt haben, und das ist nicht jedermanns Sache. Wollt Ihr los?«
»Denke es, Sir. Ist diese Luft wirklich vorüber?«
»Natürlich. Der Teifun kommt plötzlich und nimmt ebenso rasch Abschied. Hat uns noch einen tüchtigen Fußtritt gegeben! Die See wird noch einige Stunden hoch gehen; Fock und Spriet samt Klüver sind fort, aber wenn wir unten noch heil sind, so will ich Gott danken, so gut davongekommen zu sein.«
Er band mich los, und ich hatte bei dem aufgeregten Wogengang, der nach und nach in eine erst schwere und dann leichte Deining überwechselte, alle Mühe, mich auf den Füßen zu erhalten. Die Wolkenhülle öffnete sich an mehreren Stellen; es wurde wieder Tag, und endlich rang sich auch der erste Sonnenstrahl wieder zu uns herab.
Auf dem Decke sah es fürchterlich aus, doch ging mich das jetzt nichts an, sondern ich stieg mit dem Kapitän hinab in den Raum, um dort nachzusehen. Im Frachtenraum herrschte eine wahrhaft heillose Verwirrung. Fässer, Ballen, Pakete und Kisten lagen wirr und ordnungslos durcheinander, und wir konnten uns erst nach langer Anstrengung eine Bahn durch dieses Chaos erzwingen. Kaum aber war dies geschehen, so schob mich der voransteigende Kapitän beiseite und eilte wieder empor.
»Was giebt's, Kapt'n?«
»Wasser im Raum. Wir haben ein großes, ein gefährliches Leck!«
Er stieg an Deck, um die Leute an die Pumpen zu kommandieren, und ich gab mir Mühe, so schnell wie möglich das Schlauchwerk in Ordnung zu bringen. Bereits nach zwei Minuten begann die Arbeit, während der Schiffszimmermann das Leck aufzufinden und zu verstopfen suchte. Dies war eine harte Arbeit, gelang aber doch wenigstens so weit, daß wir uns für den Augenblick in Sicherheit befanden.
Die andern waren beschäftigt, das Verdeck von Splittern und Tauschlissen zu säubern, und dann wurde ein Interimsspriet vorgeschoben und auch einstweilen ein Hilfsmast an dem Fockstumpfe aufgerichtet. Auch die Reiling wurde so viel wie möglich wieder hergestellt, und dann hieß der Kapitän den Maate, grad nach Nord abzufallen.
»Jetzt wird es gehen bis Port Lloyd,« meinte er.
»Wie weit ist es noch bis dahin?«
»Habe bereits nachgesehen,« antwortete er. »Dieser Teifun hat uns im Kreise herumgetrieben. Ihr müßt nämlich wissen, Charley, daß dieser Kerl nicht etwa ein ehrlicher Sturm ist, der aus einer Richtung bläst, wie manche Seeleute und Gelehrten annehmen, sondern meist beschränkt er sich auf ein sehr kleines, scharf abgegrenztes Gebiet und bläst dann aus allen möglichen Himmelsbacken auf einmal hernieder. Es ist leicht möglich, daß wir uns im Teifun befinden, während einige Meilen davon ein anderes Schiff bei kleinem Winde vorübergeht, ohne etwas von dem Orkane zu bemerken, höchstens daß es sich über die an seinem Buge auslaufende Deining wundert, die es sich nicht erklären kann. Also der Orkan hat uns beinahe im Kreis herumgeführt, und wir können trotz unsers schlechten Segelwerkes noch heute vor Nacht in Port Lloyd sein.«
»Das ist herrlich, obgleich diese Bonin-Eilande im Teifun eine sehr gefährliche Nähe für uns bildeten.«
»Deshalb schlug ich andern Kurs ein, bin aber froh, daß wir nicht weiter weg sind. Das Leck ist nur einstweilen verstopft, die Masten sind fort, und wie es da unten ausschaut, nämlich im Raum, ist es leicht möglich, daß wir einige Zeit in Port Lloyd bleiben müssen, um uns wieder seetüchtig zu machen. Bin nur froh, daß ich mein eigener Rheder bin und dergleichen Dinge nur vor mir selbst zu verantworten habe! Aber Euch wird die Zeit lang werden, Charley?«
»Meine es nicht, Master Turnerstick.«
»0 doch! Es giebt dort keine Konzerts und Theater, keine Zeitungen und Bibliotheken, wie Ihr sie als Büchermacher gern habt. Und als Nimrod haben wir dort auch kein Pläsir, denn es giebt weder wilde Rinder noch Leoparden und---«
»Aber wilde Ziegen und wild gewordene Schweine, Schildkröten und Wasservögel giebt es in Menge, Kapt'n.«
»Ist's wahr?«
»Natürlich; ich sage es ja!«
»Huzza, das ist prächtig! Dann werde ich einige Dutzend Ziegen, einige Mandel Schweine, einige Schock Schildkröten und einige Hundert von Pinguinen totschießen!«
Ich lachte.
»Wollt Ihr in diesen Breiten wirklich Pinguinen schießen?«
»Warum nicht, wenn sie da sind! Die Kerls sind außerordentlich fett und dabei so dumm, daß man sie mit Knüppeln totschlagen muß, ehe sie zu der Einsicht kommen, daß es ihnen an den Kragen geht.«
Der gute und ehrenwerte Master Frick Turnerstick war nämlich ein gar gewaltiger Jäger; er fürchtete sich weder vor irgend einem Menschen noch vor irgend einer wilden Kreatur; aber er litt an der sehr störenden Eigentümlichkeit, daß seine Faustschläge stets dahin trafen, wohin sie gerichtet waren, seine Kugeln aber stets nach West bei Süd hinüberschwenkten, wenn er auf Ost bei Nord gezielt hatte. Eine Pinguinjagd, bei welcher man lieber nach dem Knüppel, statt nach der Flinte greift, schien ihm also die interessanteste Jagdbeschäftigung zu sein, und darum bedauerte ich es, daß die Bonin-Inseln nicht das Einsehen gehabt hatten, sich etwas näher hinauf, nach dem Pole zu, zu plazieren.
Gegen Abend sahen wir Peel-Island, die südlichste der drei größten Bonin-Inseln, auf welcher auch der Haupthafen liegt, vor uns auftauchen, und eine halbe Stunde später gingen wir in Port Lloyd vor Anker. Hier war die See vollständig ruhig, und man hatte, wie wir später erfuhren, keine Spur von dem für uns so furchtbar gewesenen Teifun bemerkt. Der Kapitän schien mit seiner Erklärung, daß dieser Orkan sich oft auf einen streng abgeschlossenen Kreis beschränkt, also doch das Richtige getroffen zu haben. Wir hatten einen echten, richtigen Teifun gehabt und konnten natürlich nicht dagegen sein, wenn man auch andere in diesen Gegenden auftretende Orkane oder Stürme mit ganz demselben Namen bezeichnet.
Der anderswo beim Landen üblichen Formalitäten bedurfte es nicht. Wir hielten so weit wie möglich an das Land und ließen dann die Anker fallen. Ein anderes Schiff gab es nicht, und so zogen wir nur den Unions-JackEine kleine, blaue Flagge mit den Sternen der Vereinigten Staaten. Wenn das Schiff in Parade in den Hafen läuft, muß auch die große Flagge aufgezogen werden.auf und gaben einen Schuß ab, um unsere Ankunft und Nationalität zu melden.
Wir hatten während des Sturmes zwei Boote verloren. Der Kapitän ging in der kleinen Jolle an das Land, und es verstand sich ganz von selbst, daß ich ihn dabei begleitete.
Wir wurden von den Ansiedlern mit vieler Herzlichkeit aufgenommen und hatten das Vergnügen, auf dem festen Boden ein frisch bereitetes und ganz vorzügliches Nachtmahl einzunehmen. Während desselben konnte Turnerstick sich nicht enthalten, eine höchst wichtige und notwendige Frage auszusprechen:
»Sagt doch einmal, Gentlemen, wie steht es denn hier eigentlich mit der Jagd?«
»Sehr gut,« lautete die tröstliche Antwort.
»Was giebt es hier für Wild? Pinguine?«
»Nein.«
»Seehunde?«
»Nein.«
»Seelöwen?«
»Auch nicht.«
Der gute Kapitän schien es wirklich ganz besonders auf eine Knüppeljagd abgesehen zu haben. Leider hatte er seine Rechnung ohne – das Wild gemacht und fragte also weiter:
»Was giebt es sonst?«
»Schweine, Ziegen, Schildkröten, Wasservögel und fliegende Bären.«
»Alle Wetter! Ist das richtig? Habe all' mein Lebtag noch nichts davon gehört, daß die Bären auch in der Luft herumflattern! Oder ist diese Art von Viehzeug vielleicht ein ganz anderes Geschöpf als dasjenige, welches man sonst einen Bären zu nennen pflegt? Kenne nur den Eisbären, den grauen, braunen und schwarzen Bären, den Waschbären und die Sorte von Bären, die man anbindet oder einem andern aufheftet. Heraus, Charley; Ihr seid ja der Naturforscher unsrer berühmten ›The wind‹-Expedition!«
»Pteropus ursinus,« antwortete ich mit einer höchst wichtigen Miene.
»Perotus purgilus! Was ist das für eine Rede? Sprecht doch, wie Euch der Schnabel gewachsen ist!«
»Well, so will ich sagen ›Fledermaus‹, wenn Ihr es besser versteht.«
»Fledermaus? Hm, komische Mode, eine Fledermaus zu einem Bären zu machen! Wie groß ist denn dieses Riesentier?«
»Acht bis neun Zoll lang und mit ausgebreiteten Flughäuten etwa drei Fuß breit. Es lebt vorzugsweise auf den Fächerpalmen und ist einer von denjenigen wenigen Flatterern, welche bei Nacht schlafen und während der hellen Mittagsstunden ihrer Nahrung nachgehen.«
»Ist auch meine Art und Weise, gehöre also auch mit zu den Peroques purgatus, oder wie Ihr die Sippe vorhin genannt habt. Mag ihnen also nichts zu leide thun, und werde mich mehr an die andern halten, Ziegen, Schweine und Schildkröten. Aber eine Ziege zu schießen ist keine Heldenthat, nicht wahr, Charley?«
»Hm, eine Heldenthat eben nicht, oft aber sehr gefährlich. Denkt einmal an die Gemsen! Und die hiesigen Ziegen sind wild, während die Berge sehr schroff und steil aufsteigen.«
»Bin kein Freund vom Klettern und kentere dabei immer nach Starbord herüber oder nach Larbord hinüber. Bin ich dreißig Faden hinaufgesegelt, so rutsche ich ganz sicher fünfzig Faden wieder herunter. Wie steht es mit den Schildkröten? Kann man hier zu einer echten Mock-Turtle-Suppe kommen?«
»Wird schwer sein, Kapt'n,« lächelte ich.
»Warum? Sagtet Ihr nicht, daß es hier Schildkröten die schwere Menge gebe!«
»Allerdings, und daher könnt Ihr wohl Turtle-Suppe, aber keine Mock-Turtle-Suppe haben.«
»Das verstehe der Kuckuck! Erklärt es einmal deutlicher!«
»Mock-Turtle wird im gewöhnlichen Sprachgebrauche falsch angewandt. Turtle-Suppe heißt Schildkrötensuppe, Mock-Turtle-Suppe aber heißt nachgemachte Schildkrötensuppe.«
»Well, Charley, ich gebe Euch das Zeugnis, daß Ihr ein sehr gelehrter Natur- und Suppenforscher seid. Wenn man sich nur gleich noch heut eine echte Turtle fangen könnte!«
Rasch erklärte sich einer der Ansiedler, ein früherer Bewohner der Marquesas-Inseln, bereit, uns an einen Ort zu führen, wo wir vielleicht eines der Tiere finden könnten. Der Mond schien hell, der Abend war wirklich paradiesisch zu nennen, und so folgten wir ihm auf einem Wege, der durch einen prächtigen Palmenwald nach einer kleinen, einsam gelegenen Bucht führte.
Hier gab es ein Gebüsch von tahitischen Tamanus, Catappen und Feigenbäumen, vor welchem ein breiter, weißglänzender Sandstreifen langsam nach der Küste abfiel. Gleich als wir unter den Maulbeeren hervortraten, bemerkten wir zwei der Tiere, welche langsam vom Wasser her herbeigekrochen kamen. Wir hatten uns jeder mit einem Stocke versehen und wendeten sie um, so daß sie auf den Rücken zu liegen kamen und sich also nun vollständig in unserer Gewalt befanden. Dies war allerdings keine sehr leichte Arbeit, denn das größere Tier mochte wohl über dreihundert Pfund und das kleinere nicht viel weniger wiegen.
»Was nun?« fragte Frick Turnerstick.
Der Insulaner, welcher sich ganz leidlich englisch auszudrücken vermochte, meinte:
»Laßt sie liegen bis morgen früh. Sie können nicht fliehen und Ihr werdet sie dann holen lassen.«
»Fällt mir gar nicht ein!« antwortete der Kapitän, der trotz seiner rauhen Außenseite ein sehr weiches Gefühl besaß. »Dann müßten ja diese armen Kreaturen die ganze Nacht hindurch eine Todesangst ausstehen, die ich selbst so einem Tier nicht wünschen mag. Schade, daß Ihr Eure Büchsen nicht mit habt, sonst könntet Ihr ihnen eine Kugel geben!«
»Wäre sehr mutig von mir gehandelt,« meinte ich. »Giebt es kein Messer hier?«
Der Ansiedler zog das seinige hervor, und mit zwei kräftigen Streichen hatte er den Schildkröten die Köpfe abgetrennt.
»Jetzt tragen wir sie nach Hause!« bestimmte der Kapitän.
Er faßte die größere an und brachte sie auch wirklich empor; nach zwei Schritten aber warf er sie wieder in den Sand.
»Bei allen Masten und Stengen, das Ding hat ja ein Gewicht wie unser Stoppanker! Wir müssen sie wahrhaftig liegen lassen!«
Der Insulaner schien nun anderer Meinung zu sein. Er schnitt einige Feigenstangen ab, verband sie mit Schlingranken und bildete auf diese Weise eine Schleife, auf welche wir die schweren Tiere wälzten. Wir spannten uns dann zu dritt vor und brachten sie auf diese Weise ganz gut nach der Ansiedlung.
Hier sollten sie in unsere Jolle geschafft werden. Das Licht einer Fackel fiel dabei auf den Rücken des größeren Tieres.
»Stopp!« kommandierte der Kapitän. »Was ist denn das? Diese Turtle-Suppe hat ja den Suppenteller bereits auf dem Rücken!«
Ich bog mich nieder und ließ mir leuchten. Wirklich war der harten Schale des Tieres eine elliptisch runde Platte aufgeschlagen, welche durch das Wachstum der Schildkröte am Rande emporgerichtet worden war und infolgedessen die Gestalt einer kleinen, ovalen Schüssel angenommen hatte.
»Und hier ist eine Inschrift,« meinte Turnerstick. »Aber wer soll das Zeug lesen! Das ist weder englisch noch sonst etwas. Charley, beißt Ihr Euch einmal die Zähne aus!«
Die Platte war von jener Bronze gefertigt, welche nie vom Wasser angegriffen wird und deren Fabrikation nur die Chinesen und Japanesen verstehen. ich versuchte, die Inschrift zu lesen. Sie bestand aus zwei japanischen Namen, welche untereinander standen.
»Sen-to und Tsifourisima.«
»Was ist das, Charley?«
»Tsifourisima ist eine Insel, welche zu dem eigentlichen Japan gehört. Zuweilen wird auch die ganze, siebenundsiebenzig Inseln und Inselchen zählende Oki-Gruppe so genannt.«
»Horribel, wer so viel Zeit hat, sich solche Dinge zu merken!«
»Sen-to ist der hundertundzwanzigste Dairi von Japan; er regierte von 1780 bis 1817, wenn ich mich nicht irre.«
»Und was hat dieser Kerl mit meiner Mock – – wollte sagen, mit meiner Turtle-Suppe zu thun?«
»Die Schildkröten haben ein sehr langes Leben, dessen Dauer man oft dadurch zu erforschen gesucht hat, daß man einer gefangenen ein gewisses Zeichen giebt und sie dann wieder frei läßt. Sie scheinen ganz merkwürdig genaue und regelmäßige Wanderungen vorzunehmen und stets einen und denselben Ort wieder zu besuchen. Diese Turtle hier ist jedenfalls einmal auf Tsifourisima gefangen und, um eine Zeitangabe zu gewinnen, mit dem Namen des damals regierenden Dairi versehen worden. Wie alt sie ist, könnt Ihr Euch also wenigstens annähernd ausrechnen.«
»Fällt mir gar nicht ein, denn ich könnte dabei zu der unappetitlichen Erkenntnis kommen, daß ich mir eine siebenzigjährige Turtle-Suppe gefangen habe, und Ihr werdet zugeben, Charley, daß dies keine sehr erfreuliche Aussicht eröffnet. Werft sie in das Boot! Sie wird geschlachtet und verzehrt, und wenn ich einmal hier oder da mit diesem sogenannten Dairio oder Domino zusammenkomme, so soll er in den Besitz seiner tschifirigimilikischen Schüssel kommen!«
»Wollt Ihr nicht lieber mir die Platte überlassen, Sir? Ich möchte sie gern als Andenken mit nach Hause nehmen.«
»Als Andenken? Absonderlicher Kauz! An wen denn? An den Diarius oder an die Kröte?«
»An beide zugleich.«
»So nehmt sie immerhin! Ihr könnt meinetwegen die ganze Schildkrötschale mitsamt diesem Diarius bekommen, denn mir ist es nur um die Suppe zu thun.« –
Am andern Morgen gab es sehr viel auf unserem braven ›The wind‹ zu schaffen. Das Leck konnte nur von außen vollständig beseitigt werden, und da auf Peel-Island von einem Dock keine Rede war, so waren Taucherarbeiten erforderlich, denen ich mich großenteils unterzog, weil sich von den Mannen keiner lang genug unter Wasser halten konnte. Es ist eine beinahe unglaubliche Thatsache, daß die meisten Seeleute, natürlich diejenigen, welche eine Seemannsschule besucht haben, ausgenommen, sehr schlechte oder wohl auch gar keine Schwimmer sind. Man trifft Hunderte von Matrosen, welche sich auf einem alten, halb wracken Dreimaster vollständig sicher fühlen, von einer flotten Boots- oder Kahnfahrt aber nicht das Mindeste wissen wollen.
Am Mittage, als wir uns die Turtlesuppe schmecken ließen, wurde ich für meine Anstrengung von dem Kapitän belohnt, indem er mir einen sehr acceptablen Vorschlag machte:
»Was meint Ihr, Charley; werden diese wilden Ziegen gut zu verdauen sein?«
»Jedenfalls.«
»So nehmt Eure Büchse und macht mit! Wir wollen uns eine holen.«
»Ich bin dabei, schlage aber vor, nicht hier, sondern drüben auf Stapleton-Island zu jagen.«
»Warum?«
»Ich ließ mir gestern abend sagen, daß dort mehr und besseres Wild zu finden ist.«
»Well, so rudern wir uns da hinüber!«
»Nehmen wir noch jemand mit?«
»Ist nicht notwendig. Was verstehen diese Kerls von der Jagd? Sie würden uns nur das Wild vertreiben. Kommt in die Jolle!«
Ich hatte einmal gelesen, daß dieses Stapleton-Island sehr felsig sei, und wußte aus meinen Alpenwanderungen, welche Dienste bei Besteigung steiler Höhen ein Strick und ein Bergstock zu leisten vermögen. Mein Lasso war auf alle Fälle besser als jeder Strick; ich suchte ihn hervor, fand auch eine Bambusstange, die ich mit Hilfe des Schiffsschmiedes schnell in einen Bergstock verwandelte – oben ward ein alter Eisenhaken angenagelt und unten ein Stift eingeschlagen. Master Frick sah mich erstaunt an, als ich mit dieser seltsamen Ausrüstung erschien.
»Was sind denn das für Kinderlitzen, Charley, he? Will der Kerl mit einem Bambusstock und einem Lederriemen Ziegen schießen!«
»Pshaw! Ich bin Alpenjäger, Sir!« antwortete ich stolz.
»Alpenjä – – macht Euch nicht lächerlich und werft die Geschichte über Bord!«
»Abwarten!«
Ich stieg voran in die Jolle, und er folgte mir. Dann ergriffen wir die Ruder. Wir hatten allerdings eine Strecke von vier Stunden zurückzulegen, doch war die See ruhig und der Wind günstig. Wir passierten mehrere pittoresk geformte Felsen westlich von Peel- und Buckland-Island, hielten immer gerade nach Nord und erreichten Stapleton-Island bei einer Bucht, welche sich tief in steil emporstrebende Felsen hineinzog. Der Kapitän lachte mit dem ganzen Gesicht, deutete nach oben und meinte:
»Schaut, Charley, auf jeden Schuß wenigstens zwei!«
Wirklich sah ich die Spitzen und Vorsprünge der Berge förmlich mit wilden Ziegen bedeckt. Das mußte eine höchst ergiebige Jagd geben. Wir stiegen aus und zogen die Jolle so weit an den Strand herauf, daß sie von der Flut, welche übrigens dort nur drei Fuß hoch zu steigen pflegt, nicht erreicht werden konnte. Dann ging es vorwärts, immer die steilen Höhen hinan.
Es war wirklich eine vollständige Alpenlandschaft mit spitzen Zinnen, schroffen Zacken und scharfen Graten. Der Bambus leistete mir treffliche Dienste, während der hinter mir keuchende Kapitän oft auf allen vieren kroch um die Schwierigkeiten des Bodens zu überwinden. Endlich blieb er hustend und pustend stehen.
»Charley, haltet an! Wollt Ihr etwa bis zum Mond hinauf? Seht dieses Thal da drüben, es wimmelt von Ziegen. Wenn wir hinübergehen, so schießen wir mit vier Schüssen wenigstens zwanzig nieder.«
»Eben da hinüber will ich ja!«
Er sah mich mit offenem Munde und unsäglich erstaunter Miene an.
»Da – hi – nüber – ? Hört, Charley, einer von uns beiden ist verrückt, entweder Ihr oder ich; doch will ich Euch offen gestehen, daß ich meine Sinne vollständig im Kurse habe. Will der Mensch da nach Backbord hinab und segelt gradewegs nach Steuerbord hinauf!«
Ich mußte lachen.
»Sagt einmal, Kapt'n, was Ihr da unten im Backbord wollt?«
»Ziegen schießen, was denn anderes?«
»Well! So versucht es einmal. Ich zahle Euch zehn Dollars für jede, die sich von Euch schießen läßt!«
»Ihr wollt doch nicht etwa sagen, daß ich nicht zu schießen verstehe!«
»Nein, aber ich will sagen, daß sie Euch direkt im Winde haben.«
»Im Winde? Charley, nehmt mir's nicht übel, aber hier hört Eure Natur- und Suppenforscherei vollständig auf! Was soll eine Ziege vom Winde verstehen? Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß ich diese Mauer hier nicht mit emporklettere. Macht, was Ihr wollt; ich aber werde nicht mit zerbrochenem Halse an Bord zurückkehren!«
Er wandte sich wirklich nach Backbord und stampfte und dampfte hustend und pustend davon. Ich mußte mich sputen, wenn ich mir die Jagd nicht verderben lassen wollte. Übrigens hätte ich ihn gar nicht von mir gelassen, wenn ich nicht gemeint hätte, aus seinem Verhalten Nutzen zu ziehen.
Ich klimmte schnell empor und erreichte den Grat, hinter welchem die Höhe schroff in ein Seitenthal abfiel. Den Stock als Stütze und Balancier gebrauchend, rutschte und fuhr ich Mehr, als ich ging, hinab und eilte dann links weiter, bis wo die Schlucht in das Thal mündete, nach welchem sich mein guter Frick Turnerstick gewandt hatte. Hier lehnte ich mich hinter einen Felsen und wartete, den Henrystutzen in der Hand, welchen ich statt der Büchse mitgenommen hatte.
Ich brauchte nicht lange zu warten, denn kaum stand ich zwei Minuten hier, so kamen sie angaloppiert in eiliger Flucht, alle die Ziegen, von denen der tapfere Kapitän auf jeden Schuß zwei hatte treffen wollen. Das Hauptthal machte kurz vor mir eine Biegung: die Tiere konnten mich nicht sehen und liefen mir gerade in das Feuer. Zwei, drei, fünf, sechs Schüsse, dann waren sie vorüber, und sechs Tiere lagen am Boden. Eben wollte ich vortreten, als ich etwas heftig ächzen und schnauben hörte. Es kam förmlich wie eine Lokomotive angepufft und blieb erstaunt vor den getroffenen Ziegen halten. Es war der Kapitän.
»Tausend Geißen! Was ist das? Wer hat diese Gemsen geschossen?« rief er.
Ich trat, herzlich lachend, hervor.
»Ich, wenn Ihr nichts dagegen habt, Sir!«
»Ihr? Charley, Ihr? Wie kommt Ihr hierher?«
Der gute Frick riß vor Erstaunen den Mund auf, als wenn er alle seine ›tausend Geißen‹ auf einmal verschlingen wolle.
»Da oben von der Mauer herunter. Ich versprach Euch für jede Ziege, die sich von Euch schießen lassen würde, zehn Dollars. Wie viel habe ich zu bezahlen?«
Er machte ein höchst verlegenes und verdrießliches Gesicht.
»Ja, Charley, dieses Viehzeug ist mir wahrhaftig durchgebrannt, ehe ich nur dazu kommen konnte, die Piratenflagge aufzuhissen. Da habe ich alle Leinwand aufgezogen und bin ihnen nachgesegelt, daß meine Lunge bläst, wie der Teifun gestern. Wie will ich da vor Anker gehen, Atem holen, das Gewehr vom Rücken bringen, zielen, losdrücken, schießen und treffen können! Ihr dürft von einem wackeren Seemanne nicht sechsmal mehr verlangen, als ein anderer zu leisten vermag!«
»Habe ich verlangt, daß Ihr sechsunddreißig Ziegen schießen sollt?«
»Sechsunddreißig? Wie kommt Ihr auf diese Nummer?«
»Hier liegen meine sechs; sechsmal mehr habt Ihr gesagt, und sechsmal sechs ist sechsunddreißig.«
»Hm, die Rechnung stimmt,« antwortete er, erst sein Gewehr und dann meine Ziegen ansehend. »Hört, Charley, sollten diese Kreaturen wirklich etwas vom Winde verstehen?«
»Natürlich. Sie haben einen ausgezeichneten Geruchssinn, und außerdem werden sie Euch wohl gehört und gesehen haben, denn groß und breit genug seid Ihr ja, und Eure Lunge hörte ich schon achtzig Schritte weit.«
»Hört, Charley, soll ich etwa wegen einer Ziege ersticken? Fällt mir gar nicht ein! Wer meine Lunge nicht vertragen kann, der – der – –«
Er war so ärgerlich, daß er einen Nebensatz angefangen hatte, ohne den Hauptsatz finden zu können. Ich lachte herzlich und reichte ihm die Hand hinüber.
»Grämt Euch nicht, Sir! Wir haben hier sechs feiste Tiere, und mehr brauchen wir nicht für heute.«
»So? Meint Ihr?« funkelte er mich an. »Und was werden sie auf dem Schiffe dazu sagen? Master Charley hat alles geschossen, und der Kapt'n nichts, gar nichts. Ich will auf der Stelle gekielholt sein, wenn ich eher gehe, als bis ich auch meine sechs geschossen habe, hört Ihr's? Sechs, wenigstens sechs! Ich weiß nun, daß diese Tiere den Wind verstehen, und werde mich danach verhalten. Geht Ihr mit, oder bleibt Ihr da?«
»Natürlich gehe ich mit, doch werde ich Euch bitten, vorher noch ein wenig zu warten.«
»Warum? Ich habe keine Zeit, sonst läuft das Viehzeug immer weiter fort, und ich komme ihm all mein' Lebtage nicht nach!«
Ich konnte nicht umhin, ich mußte wieder laut auflachen.
»Glaubt Ihr denn wirklich, daß Ihr diese Ziegen einholen könnet? Helft mir, diese sechs unter die Zweige zu bringen und mit einigen Steinen zu beschweren, und dann werden wir ja einen Ort finden, wo Ihr zum Schusse kommen könnet!«
Wir brachten auf diese Weise die Beute einstweilen in Sicherheit und wandten uns dann einer andern Höhe zu, von welcher aus wir das unter uns liegende Terrain beobachten konnten. Dieser Weg wurde dem Kapitän wieder außerordentlich schwer. Er stöhnte mich an:
»Halt, Charley! Ich laviere in die Kreuz und Quere und komme doch nicht weiter. Gebt mit Euern Bambus!«
»Sollte ich ihn nicht über Bord werfen?«
»Habe ich mich etwa, so wie Ihr, auf allen Breiten herumgedrückt, um Land und Leute kennen zu lernen, he? Kann ich also wissen, wie alles gemacht werden muß? Wie man einen Dreimaster in einen Hafen bugsiert, das kenne ich ganz genau; auf welche Weise aber ein Kapitän zur See diesen unkultivierten Felsen in die Zähne zu beißen hat, das habe ich noch nicht gesehen. Also, alle Mann an Deck und weiter mit der Fahrt!«
jetzt ging es mit Hilfe des Bergstockes leichter und schneller vorwärts. Wir kamen oben an und bemerkten jenseits unten im Thale eine zahlreiche Herde, welche ruhig graste. Der Kapitän wollte, wie vorhin, gerade auf die Tiere zu. Ich hielt ihn zurück.
»Halt, Mr. Turnerstick; auf diese Weise vertreibt Ihr sie wieder. Steigt hier rechts hinab; da ist der Weg sehr leicht, und stellt Euch dort unter jenen Kiri-Holzbaum. Ich gehe links hinunter und treib' Euch die Ziegen gerade in den Schuß.«
»Well, so lasse ich es mir gefallen. Macht, daß Ihr hinunter kommt; ich muß in fünf Minuten sechs haben!«
»Mit zwei Kugeln?«
»Pshaw! Ich schieße allemal ihrer drei durch und durch!«
»Wird schwierig sein! Wollt Ihr nicht lieber meinen Henry-Stutzen nehmen? Ich habe ihn wieder geladen, und er hat fünfundzwanzig Schüsse, welche Ihr abgeben könnet, ohne laden zu müssen.«
»Das ist ja ganz außerordentlich profitabel! Gebt her, und zeigt mir, wie mit dem Dinge umzugehen ist!«
Ich erklärte ihm die Konstruktion; dann eilte er, nachdem er mir die Sonntagsbüchse eingehändigt hatte, von dannen. Es war wirklich urkomisch, seine breite Gestalt an dem Bergstocke mit weit gespreizten Seemannsschritten hinabwiegen und balancieren zu sehen.
Ich war viel eher zur Stelle, als er. Sobald ich ihn unter dem Kiri wußte, pirschte ich mich auf die Tiere zu und drückte auf etwa achtzig Schritte zweimal los. Beim ersten Schusse stürzte das Tier im Feuer, der zweite aber hatte, da ich des Gewehres nicht sicher war, weniger gut getroffen; die Ziege sprang seitwärts ab und floh die Höhe hinan, welche derjenigen gegenüber lag, von der wir herabgekommen waren.
Die übrigen Tiere galoppierten grad auf meinen wackern Frick Turnerstick los. Dieser ließ sie bis auf vierzig Schritte herankommen, trat dann hinter dem Baume hervor und hob das Gewehr. Zu meiner größten Verwunderung bemerkte ich, daß er nicht schoß. Er schnitt mir, der ich, hinter den Ziegen herrennend, ihm dieselben entgegentrieb, allerlei wunderliche Grimassen, strampelte ungeduldig mit den Füßen, hielt das Gewehr zum Abdrücken fertig und schoß doch nicht. Die Ziegen eilten an ihm vorüber; er drehte sich um, zielte und – arbeitete mit der Rechten in heftiger Aufregung an dem Stutzen herum.
Unterdessen entkamen die Tiere, und ich erreichte ihn.
»Warum schießt Ihr denn nicht, Sir?« fragte ich höchlich verwundert.
Er wandte sich zu mir herum. Sein sonst so gutmütiges Gesicht glänzte vor Wut wie Zinnober, und seine Stimme donnerte förmlich, als er mir antwortete:
»Was soll ich? Schießen soll ich? Wen denn? Doch wohl Euch? Schämt Euch, Charley, daß Ihr weniger Umsicht habt, als so ein Tier! Diese braven Ziegen waren so verständig, mir grad in das Rohr zu segeln, und ihr seid so unverständig, hinter ihnen dreinzuspringen. Und dabei mutet mir der Mensch zu, daß ich losdrücken soll. Wenn ich Euch nun erschossen hätte, he!«
»Mich erschossen?« fragte ich, beinahe steif vor Erstaunen bei diesem Vorwurfe. »Das ist ja ganz unmöglich, denn ich war ja volle zweihundertfünfzig Schritte hinter den Tieren.«
»Thut nichts! Das muß ich verstehen! Ich bin ein alter erfahrener Mann, und ihr seid noch jung. Laßt Euch ein Beispiel erzählen. Master Cornpush, den ich nicht leiden kann, kommt zu mir und sagt mir Dinge, die mich wütend machen. Ich nehme ihn und werfe ihn die obere Treppe hinab, oder vielmehr, will ihn nur die obere Treppe hinabwerfen; er aber ist so ungeschickt und stürzt alle beiden Treppen hinunter, und ich mußte eine schwere Menge Strafgelder zahlen. So ist es mir mit diesem unglücklichen Master Cornpush ergangen; warum kann es mit der Kugel nicht ganz dasselbe sein? Ich will bloß die Ziegen treffen, aber die Kugel will partout zu Euch hinüber, fliegt über die Ziegen hinweg und Euch in den Kopf – nun, was dann, he? Und Ihr fragt, warum ich nicht geschossen habe, statt daß Ihr mir dafür dankt, daß ich so geistesgegenwärtig war, Euch das Leben zu retten? Charley, das hätte ich nicht von Euch erwartet!«
Ich gestehe, ich war vollständig verblüfft über diesen Vorwurf, welcher mit solchem Ernste und solcher Überzeugung vorgetragen wurde; auch wollte ich den Mann nicht noch mehr in Harnisch bringen und darum antwortete ich nur:
»Aber warum schoßt Ihr denn nicht hinter den Ziegen her?«
»Konnte ich, wenn dieser Henry- oder Harry- oder Parrystutzen nicht losgehen will? Ich habe gedrückt und gekniffen, gezogen und geschoben aus Leibeskräften – pshaw, er wollte einmal nicht! Hier habt Ihr Eure Schießröhre wieder! Wenn ich wieder einmal auf Ziegen gehe, so nehme ich mir eine Feueresse mit; von der weiß ich doch wenigstens, daß sie losgeht! Wo nehme ich nun meine sechs Tiere her, he?«
»Hm, leider,« lachte ich; »sechs Ziegen auf zwei Schüsse!«
»Charley, bringt mich nicht in Krawall! Her mit meiner Büchse! Habt ihr etwas damit geschossen?«
»Ja, zwei. Die eine ist tot, und die andere ging dort hinauf; sie ist verwundet und hat stark geschweißt.«
»Ist das etwa zu verwundern?« fragte er ingrimmig. »Wenn so ein armes Tier verwundet ist und einen solchen Berg hinauf muß, wird es doch wohl schwitzen dürfen!«
jetzt wurde aus meinem Lachen ein förmliches Gelächter. Das aber brachte ihn so in Harnisch, daß er mir die Büchse aus der Hand riß.
»Charley, Ihr seid ein Barbar, ein vollständig gefühlloser Mensch; ich habe mit Euch nichts mehr zu schaffen. Segelt von Port Lloyd nach Canton, mit wem Ihr wollt, nur aber mit mir nicht!«
Er warf mir den Bergstock vor die Füße und schritt mit einer Gebärde der höchsten Indignation fort. Ich ließ ihn laufen, denn ich wußte sehr genau, daß er wieder kommen werde. Ich nahm also meinen Stock auf und stieg den Spuren der verwundeten Ziege nach. Gleich hinter der zu erglimmenden Höhe mußte die See liegen, wie ich von dem gegenüberliegenden Punkte der Thalwand gesehen hatte. Fährte und Schweiß waren deutlich zu erkennen und führten mich nach einem schmalen Plateau, welches sich senkrecht nach der See abzustürzen schien. Hart am Rande desselben lag die Ziege. Sie war schwer getroffen und versuchte, sich zu erheben, als sie mich erblickte. Ich machte durch einen sichern Schuß ihrer Qual ein Ende.
Kaum war der Knall verhallt, so war es mir, als ob ich tief unten einen Ruf vernähme. Ich legte mich nieder, bog den Kopf über den scharfen Rand des Felsens hinaus und blickte hinab. Ganz wie ich vermutet hatte, fiel die Felsenwand beinahe senkrecht zur Tiefe und bildete einen kleinen Halbkessel, welcher in seinem Hinterteile höchsten dreißig Fuß breit war, nach vorn, wo er von den Wogen der See bespült wurde, sich allmählich erweiterte und sich ringsum so streng abgeschlossen zeigte, daß ihn wohl noch nie ein lebendes Wesen betreten hatte. Von oben war wohl kaum hinabzukommen, und an der Wasserseite verwehrte eine scharfe Korallenbarre, über welche sich die See in hohen Wogen brach, den Zugang. Und doch stand ein Mensch da unten, der mich bemerkt hatte und mir durch Gestikulationen zu verstehen gab, daß er sich in einer verzweifelten Lage befinde.
Ich konnte die Laute hören, die Worte aber nicht verstehen, seine Kleidung jedoch sagte mir, daß er ein Chinese sei. Wie kam der Mann nach Stapleton-Island und noch dazu in diese unzugängliche Bucht? Freiwillig jedenfalls nicht. Aber wie war es möglich, ihn herauszubringen? Ich überlegte noch, wie dies möglich sei, als ich hinter mir Schritte hörte. Ich drehte mich gar nicht um, denn ich vernahm aus dem lauten Schnaufen, daß es mein reuig zurückkehrender Frick Turnerstick sei.
»Alle Wetter, war dies geklettert! Ich will lieber an tausend Mastbäumen hinauf, als diesen Berg wieder hinunter!« seufzte er.
Der gute Mann ließ ganz außer acht, daß er dennoch auf jeden Fall wieder hinab müsse.
»Wollt Ihr vielleicht auf dieser Seite hinab, Sir?« fragte ich, auf den Abgrund deutend.
Er streckte alle zehn Finger abweisend aus.
»Fällt mir niemals ein! Ich glaube, ich käme so unmäßig schnell in die Tiefe, daß der Kapitän Frick Turnerstick als Wrack unten läge, an welchem man weder Rumpf noch Masten oder Spieren und Stengen zu erkennen vermöchte.«
»Und doch müßt Ihr hinab!«
»Ich? Müssen? Warum? Charley, ich komme in ganz guter und rechtschaffener Absicht wieder, und Ihr wollt mich dafür geradezu in den Tod jagen. Ist das recht von Euch?«
»Ja, was soll denn aus dem Manne da unten werden, wenn ihr ihn nicht heraufholt?«
»Ein Mann? Wo?«
»Macht es, wie ich: Legt Euch nieder und seht ihn Euch an!«
Er folgte dieser Aufforderung mit sehr bedeutender Vorsicht und fragte dann:
»Ein Chinese, nicht, Charley?«
»Ja.«
»Wie kommt der Kerl in diesen Käfig?«
»Das wird er uns wohl sagen. Zur See können wir nicht zu ihm; das ist wegen der fürchterlichen Barre dort unmöglich; also müssen wir hier hinunter.«
Der Kapitän machte ein ganz verzweifeltes Gesicht.
»Hört, Charley, ich möchte dem Kerl von Herzen gern helfen, aber was kann es ihm nutzen, wenn ich seinetwegen Hals und Bein breche?«
»Das ist richtig. Also werde ich versuchen, hinabzukommen.«
»Wird Euch nicht anders gehen,« meinte er ängstlich.
»Wollen sehen! Ganz hinunter kann ich allerdings unmöglich, aber es ist gut, daß ich mein Lasso bei mir habe. Seht dort den Feyéam Rande stehen! Von da aus lasse ich mich auf den schmalen Vorsprung, den Ihr unter ihm seht, hinab, und ist Eure Aufgabe, den Lasso, welchen ich bei meiner Rückkehr werfen werde, aufzufangen und an den Stamm zu binden. Ihr haltet natürlich mit, wenn ich einporsteige.«
Wir schritten bis zu dem Feyé hin, an welchen ich, tief an der Erde, den Lasso befestigte. Dann warf ich Jacke und Mütze ab und ließ mich auf den erwähnten Vorsprung, welcher vielleicht fünfzehn Fuß unter uns lag, hinab.
»Den Lasso los, Kapt'n!«
»Aye, aye! Aber nehmt Euch in acht, Charley; wenn Ihr stürzt, so kann Euch niemand helfen!«
Ich legte mir den Lasso um den Leib und stieg weiter. Die ganze Höhe des Felsens mochte vielleicht zweihundert Fuß betragen. Von dem vier Fuß breiten Absatze, zu welchem ich mich niedergelassen hatte, war es für einen geübten und schwindelfreien Bergsteiger nicht schwer, bergab zu kommen, und nun ungefähr zwanzig und etliche Fuß über der Sohle des Kessels hörte diese Möglichkeit vollständig auf. Ich langte glücklich dort an.
Der Chinese war meinen Bewegungen mit gespanntem Auge gefolgt. jetzt aber stieß er einen Ruf der Enttäuschung aus. Ich drehte mich ihm zu und fragte im Kuan-hoa, da ich vermutete, daß er mich da jedenfalls verstehen werde:
»Wie heißest du?«
»Kong-ni.«
»Wo bist du her?«
»Aus Tien-hia, dort im Si, über dem Meere.«
»Aus welcher Provinz oder Stadt?«
»Aus Kuang-tscheu-fu in der Provinz Kuang-tong.«
»Wie kommst du hierher?«
»Ich war auf einem Lung-yenWörtlich »Drachenauge«. So nennen die Chinesen eine Art ihrer Dschunken, deren aufgerichtetes Vorderteil einem Drachenkopfe mit außerordentlich großen Augen nachgebildet ist., welcher gestern im Teifun zu Grunde ging. Die Wogen haben mich hereingeschleudert, und ich muß sterben, wenn du mich nicht rettest.«
»Kannst du gut steigen?«
»Ich war in allen Bergen des Westens; mein Auge ist gut, und mein Fuß zittert nicht. Aber mein Kopf ist an die Felsen geschlagen, so daß mir schwindelt, und mein linker Arm ist verwundet, so daß ich große Schmerzen habe.«
»Wenn du deine Schmerzen beherrschen willst, so kann ich dich retten.«
»Ich werde es!«
Ich schlang den Lasso los und ließ das Schlingende hinab.
»Lege dir diesen Riemen unter den Armen hindurch um den Leib; ich werde dich emporziehen!«
Wegen seiner weiten Kleidung und seines verwundeten Armes dauerte es lange, ehe er damit fertig wurde.
»Wirst du mich nicht fallen lassen?« fragte er empor.
»Nein. Halte dich mit dem rechten Arme vom Felsen ab, und hilf mit den Füßen nach!«
Er gehorchte dieser Weisung, und nach wenigen Augenblicken stand er vor mir, bleich und im höchsten Grade angegriffen. Er war noch ein sehr junger Mann von höchstens vierundzwanzig Jahren. Er mußte große Schmerzen haben, denn er hatte sich während meines Emporziehens die Lippen blutig gebissen.
»Gieb mir deinen Arm; ich will sehen, was ihm fehlt.«
»Bist du ein Arzt? Kennst du das ›Tschang-schi-yi-thuny‹Deutsch: »Die ganze Heilkunde von Tschang schi«, von Tschang lu yü, dem Sohne jenes berühmten Arztes, im Jahre 1705 herausgegeben. und das ›Wan-ping-tsui-tschün‹»Der zurückkehrende Frühling aller Krankheiten.« Beide Bücher gehören zu den vorzüglichsten klassisch medizinischen Werken der Chinesen.?« fragte er mich.
»Ich kenne beide, und auch den ›Yü-tsuan-i-tsung-kinkian‹Wörtlich: »Goldener Spiegel der Arzneikunst«, auch eines der klassischen Lehrbücher.,« antwortete ich, um ihm Vertrauen einzuflößen. »Zeige her!«
Er gab mir den Arm. Die Untersuchung mußte ihm höchst schmerzhaft sein, denn ich fand, daß er den Arm oberhalb des Ellbogens gebrochen hatte.
»Dein Arm ist entzwei, aber ich werde ihn heilen, sobald sich die Geschwulst ein wenig gesetzt hat. Kannst du hier emporklettern?«
»Ich könnte es leicht, aber ich bin matt. Stütze mich.«
Ich that dies, mußte aber bald einsehen, daß es in dieser Weise nicht gehen werde. Ich versuchte, sein Gewicht zu taxieren. Er war zwar kräftig, aber nicht zu stark gebaut.
»Wirst du dich mit den Beinen festhalten können, wenn ich dich auf meine Achseln nehme?«
»Wolltest du das wirklich thun?«
»Ja.«
»Aber ich weiß nicht, wer du bist, und ich mag nicht das Gesetz verletzen, welches mir vorschreibt, höflich zu sein.«
»Du wirst dieses Gesetz nicht verletzen, denn ich bin kein Dse-tschung-kuo, sondern ein Tao-dse, der dir helfen will. Komm, wollen es versuchen!«
Ich nahm ihn empor, daß er wie ein Reiter auf meinen Schultern saß und die Füße auf meinem Rücken ineinander schlang. Während er sich mit der Rechten an meinem Kopfe und ich mit der einen Hand seine Beine festhielt, versuchte ich, mit ihm bergan zu kommen. Es ging, obgleich ich höchst langsam und vorsichtig steigen mußte, um jeden Fehltritt zu vermeiden.
Es verging wohl eine halbe Stunde, ehe wir den obern Vorsprung erreichten. Dieser war, wie bereits erwähnt, nur vier Fuß breit, und daher bereitete uns das Absteigen bedeutende Schwierigkeiten. Wir konnten beide leicht hinabstürzen. Ich befahl ihm daher, die Augen zu schließen, kniete nieder und ließ ihn langsam von mir gleiten. Dann rief ich nach oben:
»Hallo, Master Turnerstick!«
»Hallo, bin schon da!«
»Fangt den Lasso auf!«
Es war nicht leicht, den Riemen empor zu bringen, aber es gelang. Der Kapitän band ihn oben fest, und ich schlang das andere Ende um den Leib des Chinesen.
»Bleib stehen, bis ich oben bin,« mahnte ich diesen. »Ahoi, Kapt'n! Ich komme. Ist der Riemen fest?«
»Well! Wenn er nicht reißt, so mag es gehen, denn ich halte fest.«
Ich griff mich empor und kam auch glücklich oben an. Turnerstick drückte mir freudig die Hand und sagte:
»Willkommen, Charley! Das war ein fürchterlicher Kurs, den Ihr gesegelt seid; eine solche Passage, und dabei diesen China-Mann auf dem Halse, das ist keine Kleinigkeit. Wer ist der Kerl, wie heißt er, wo kommt er her, was will er hier, und was hat er Euch berichtet?«
»Das ist ja eine ganze Schiffsladung von Fragen! Werde sie später beantworten, wenn er oben ist. Wir dürfen ihn nicht warten lassen; er hat den Arm gebrochen und leidet große Schmerzen.«
»Den Arm gebrochen? Armer Teufel! Herauf mit ihm, daß Ihr ihn wieder zusammensplissen könnt!«
Wir waren jetzt zu zweien; darum ging es besser und leichter als das vorige Mal. Trotzdem sank er, als wir ihn oben hatten, sofort vollständig zu Boden. Die Kraft eines festen Willens hatte ihn bisher aufrecht erhalten, jetzt aber nahm ihn eine wohlthätige Ohnmacht in ihre Arme.
»Mit dem steht's schlimm, Charley. Er wird uns doch nicht etwa unter den Händen sterben?« meinte der Kapitän.
»Nein. Er hat Schiffbruch gelitten und ist von den Wellen in die Bucht geschleudert worden. Das ist natürlich nicht ohne Stöße und Püffe abgelaufen; der Arm ist entzwei; er hat seit gestern oder vielleicht wohl noch seit länger weder gegessen, noch getrunken, so daß es gar kein Wunder ist, wenn er nach der jetzigen Anstrengung die Besinnung verliert. Aber ich muß diese Ohnmacht benutzen und ihn hinunter in das Thal und an das Wasser schaffen. Was Euch betrifft, so bleibt Ihr doch wohl hier?«
»Ich? Warum?«
»Diese Höhe blickt gar weit in die See hinaus, und ich denke, daß Ihr sie als Leuchtturm schmücken wollt.«
»Ich? Wer hat Euch das weisgemacht?«
»Ihr selbst, Sir. Oder sagtet Ihr vorhin nicht, daß Ihr lieber an tausend Masten hinauf als hier wieder herunter wollt?«
»Redensart, Charley, nichts als Redensart! Wenn einem Menschen die Rakete in den Kopf fährt, so ist er im stande, Dinge zu sagen, an die er selber niemals glaubt. Aber auf welche Weise werden wir diesen Mann hinunterbringen? Ich habe mit mir selbst grade genug zu schaffen, wenn ich nicht wie eine Bombe nieder in das Thal platzen will.«
»Ich werde Eure Hilfe gar nicht brauchen; nur bitte ich Euch, mein Gewehr zu tragen.«
»Eigentlich wollte ich das unglückselige Ding gar nicht wieder anrühren, aber wenn es nicht anders sein kann, so werde ich Euch den Gefallen thun. Gebt es her!«
Er war mir behilflich, den Ohnmächtigen aufzunehmen; dann stiegen wir die Höhe hinab. Unten angekommen, fragte er:
»Wo legt Ihr ihn nieder?«
»Hier nicht, da es hier kein Wasser giebt. Wir müssen bis zu dem Bache, den wir vorhin passierten.«
»Aber unsere Ziegen?«
»Um diese können wir uns jetzt nicht bekümmern. Wir werden sie morgen holen oder holen lassen!«
»Meinetwegen. Also vorwärts!«
Wir hatten bis zu dem erwähnten Bache gar nicht weit. Ich legte den Chinesen dort nieder und entfernte die Kleidung von dem Arme, um die Geschwulst mit Hilfe des Wassers zu kühlen. Er erwachte dabei und bat:
»Gebt mir zu trinken!«
Dies geschah, und auch von unserm mitgenommenen Proviante aß er mit einer Begier, welche sehr deutlich zeigte, daß er gehungert hatte.
»Sage mir deinen Namen,« bat er dann, »damit ich weiß, wie ich dich nenne, wenn ich dir danken will.«
Ich nannte ihm denselben. Er schüttelte den Kopf.
»Wenn man ein Wort sagt, muß man sich dabei etwas denken können, aber dein Name hat keine Seele. Erlaube mir, daß ich dich in der Sprache rufe, welche im Schin-tan gesprochen wird! Du bist ein Tao-dse; welchen Rang hat dir dein Kaiser gegeben?«
»Ich reise in allen Ländern der Erde und schreibe dann Bücher über das, was ich gesehen habe.«
»So bist du nicht bloß ein Hieu-tsai oder ein Kieu-jin sondern ein Tsin-sse»Vorgerückter Mann«, so viel wie Doktor. Auf diesen drei Graden beruht die Anstellungsfähigkeit in China, und nur einem Tsin sse werden vornehmere Ämter übertragen. und hast Recht zu den höchsten Ehrenstellen deines Landes. Du bist groß und stark und klug; ich werde dich Kuang-si-ta-sse nennen, denn dein Land liegt im Ti-si. Wirst du es mir erlauben?«
Kein Volk ist so höflich wie die Chinesen, und es ist eine beinahe tödliche Beleidigung, einen Bewohner der Mitte grob zu nennen. Der Name, welcher mir erteilt wurde, war ein sprechender Beweis, daß Kong-ni keine Ausnahme bildete. Dieser Name war zwar beinahe mehr als hochtrabend, aber was konnte es schaden, wenn ich ihn acceptierte? Darum antwortete ich:
»Ich erlaube es dir. Wie hieß die Dschunke, mit welcher du Schiffbruch littest?«
»Fu-schin-hai. Der Teifun hat sie mit allen Leuten getötet, und ich bin ganz allein entkommen.«
»Willst du mit uns nach Kuang-tscheu-fu gehen?«
»Hast du ein Schiff, welches dorthin fährt?«
»Es gehört diesem Manne, welcher mit demselben bereits durch alle Meere gefahren ist.«
Er wandte sich zum Kapitän herüber.
»So bist du ein Ti-tuEin Ti-tu ist ein Admiral. Der Chinese versetzte in gewohnter Höflichkeit den Kapitän in diesen hohen Rang.! Wie ist dein Name?«
Ich antwortete an Stelle des Kapitäns:
»Er spricht noch nicht die Sprache deines Landes, und ich werde also zwischen ihm und dir den Tun-sse, machen. Kapt'n, dieser Mann heißt Kong-ni und möchte auch Euern Namen wissen!«
»Turnerstick,« antwortete der Angeredete.
»Tu-re-ne-si-ki? Wirst du die Gnade haben, Ti-tu Tu-rene-si-ki Kuon-gan, mich mit nach Kuang-tscheu-fu zu nehmen?« fragte der Chinese.
Ich übersetzte dem ›Admiral Tu-re-ne-si-ki, Excellenz‹ diese höfliche Erkundigung. Er lachte im ganzen Gesichte und fragte mich:
»Was heißt ›ja‹ auf Chinesisch?«
»Das kommt auf die Mundart an; entweder tsche oder ssche.«
Er wandte sich zu Kong-ni und nickte mit dem Kopfe.
»Tsche und meinetwegen auch ssche, alter junge! Haben wir dich aus der einen Patsche herausgefischt, so werden wir dich doch nicht etwa in eine andere stecken. Wißt Ihr etwas, Charley? Dieser Mann hat sich einigermaßen erholt und wird wohl bis zum Strande laufen können. Es wird abend, und wir wollen machen, daß wir hier fortkommen!«
Das war mir recht. Kong-ni erklärte, daß er genug Kraft besitze, selbst zu gehen. Ich gab ihm mein Taschentuch als Bandage, in welcher sein Arm ruhen konnte, und dann brachen wir auf. Der kurze Weg bis zur Jolle war bald zurückgelegt. Wir schoben sie in das Wasser, stiegen ein und griffen zu den Rudern. Kong-ni hielt sich wacker, und wir brachten ihn, der ohne unsere Jagdexpedition auf dem einsamen Stapleton-Island elend hätte verschmachten müssen, glücklich auf unser Schiff, wo ich seinen Arm sofort in die Behandlung nahm.
Die Reparaturen, deren unser ›The wind‹ bedurfte, stellten sich leider als sehr umfangreich und langwierig` heraus. Der Teifun hatte das ganze Gebäude des Schiffes arg zusammengerüttelt, dessen Fugen durch das Zerbrechen des Fock- und Bugmastes arg erschüttert worden waren. Zudem fehlten die beiden Boote, und um nur das Hauptsächliche herzustellen, bedurften wir eines Aufenthaltes von zwei Wochen in Port Lloyd. Dann endlich gingen wir in See nach Canton, wo die Hauptreparaturen bewerkstelligt werden sollten.
Der Arm Kong-nis machte mir keine Sorge, denn die Heilung schien einen ganz guten, regelrechten Verlauf zu nehmen. Überhaupt war mir die Anwesenheit des Chinesen sehr vorteilhaft; er sprach den weicheren, wohllautenden südlichen Dialekt, ich aber hatte meine Übungen im Dialekte von Peking gemacht. Deshalb behielt ich ihn fast während des ganzen Tages bei mir, um, ohne daß er es merkte, sein Schüler zu sein.
Darauf war der Kapitän aufmerksam geworden.
»Charley, sagt einmal, ist denn dieser Chinese gar so ein prachtvoller Mensch, daß Ihr keine Minute von ihm lassen könnt?« fragte er mich. »Ich muß Euch offen sagen, daß ich höchst unzufrieden mit Euch bin, denn Ihr vernachlässigt mich auf eine wahrhaft schauderhafte und unverzeihliche Weise.«
»Ihr habt einigermaßen recht, Kapt'n, aber Ihr werdet mir verzeihen, wenn ich Euch gestehe, daß ich mich meist der Sprache wegen zu Kong-ni halte. Ihr glaubt nicht, wie viel man schon in einer einzigen Woche zu lernen vermag, wenn man Gelegenheit hat, seine Studien in dieser praktischen Weise vorzunehmen.«
»Ah, das ist es also, Ihr Schlaukopf! Ich bin ein wenig weit in der Welt herumgekommen und könnte es sehr gut gebrauchen, wenn ich mir hier und da einiges von anderen Sprachen zusammengelesen hätte; aber einesteils kommt man mit unserm Englischen an jedem Orte durch, andernteils habe ich ein ganz außerordentliches Talent, in fremden Sprachen weniger als nichts zu lernen. Ich habe einst sechs Monate lang Französisch getrieben und weiß nur noch, daß vaisseau Schiff heißt, und auch das werde ich in acht Tagen vergessen haben. Aber eine Schande ist und bleibt es doch, daß ich nach Canton will und kein Wort Chinesisch verstehe. Wollt ihr mir nicht einiges lehren, Charley?«
»Sehr gern, wenn es Euch Spaß macht!«
»Spaß weniger, aber Arbeit wird es mir machen. Jedoch, ich habe mir sagen lassen, daß diese Leute nur einsilbige Wörter haben, und da denke ich, daß die Geschichte nicht gar so schwierig sein wird.«
Diese Ansicht war allerdings belustigend, aber ich begann doch mit dem Unterrichte und muß gestehen, daß er reißende Fortschritte machte im – Vergessen. Drei Worte, welche er mir heute fünfzigmal hersagen mußte, hatte er bereits morgen schon wieder vergessen oder gebrauchte sie in einer Weise, welche mir die Lachthränen in die Augen trieb, und als wir Canton erreichten, war er imstande, eine englischchinesische Rede zu halten, von der kein Mensch ein Wort verstehen konnte, weil sie aus Redeteilen bestand, welche er für den Augenblick extemporierte.
Die Granitfelsen der Insel, auf welchen Hong-kong erbaut ist, stiegen vor uns empor; die uns begegnenden Fahrzeuge waren immer zahlreicher geworden, und als wir die Landspitze douplierten, hinter welcher Victoria liegt, wie die Engländer die Stadt benannt haben, sahen wir im wahrsten Sinne des Wortes Tausende von Dschunken um uns her, teils mit Fischerei und teils mit Transport und Küstenhandel beschäftigt.
ich stand mit dem Kapitän auf dem Hinterdeck. Er beobachtete mit großem Interesse das uns umflutende Treiben und meinte:
»Wißt Ihr, Charley, daß ich einen sehr außerordentlichen Entschluß gefaßt habe!«
»Welchen?«
»Ich habe Euch bisher nicht begreifen können, daß Ihr in der Welt herumstöbert, bloß um Land und Leute kennen zu lernen; jetzt aber ist mir die Sache einleuchtender geworden. Ich hänge von keinem Menschen ab, muß mein Schiff hier wieder seetüchtig machen, woraus ein längerer Aufenthalt entsteht, und da ich mir unter Eurer vortrefflichen Leitung eine so ganz unerwartete Fertigkeit im Chinesischen angeeignet habe, so bin ich entschlossen, mich Euch hier anzuschließen, um auch einmal in Eurer Weise ›Land und Leute kennen zu lernen‹. Ihr nehmt mich doch mit, Charley?«
»Mit Vergnügen, denn ich hoffe, daß Ihr mit Eurem Sprachschatze auskommen werdet!«
»Habt keine Sorge, alter junge! Das Chinesische ist tausendmal leichter, als man glauben sollte. Kan-tong, Nanking, Hon-kong, Pe-king, Gin-seng; habt Ihr aufgepaßt? Alles lautet auf ong, ing, eng, ung und so weiter; das ist doch kinderleicht.«
»Schön! Wie würdet Ihr also zum Beispiel einen Chinesen grüßen?«
»Wollt ihr mich etwa verblüffen? Im Englischen grüße ich ›good day‹, im Chinesischen also ›goodeng daying‹. Wer das nicht versteht, ist so dumm, daß ihm kein Doktor helfen kann. Nun, Charley, wollt Ihr mich noch weiter examinieren?«
»Nein, ich habe zur Genüge!« lachte ich. »Laßt Euch ganz aufrichtig sagen, daß ich noch niemals einen so geistesgegenwärtigen Schüler gehabt habe!«
»Ist das ein Wunder? Geistesgegenwart ist ja die erste Erfordernis bei einem tüchtigen Seemanne, und Master Frick Turnerstick ist nicht ein Kapitän, der sich unter die schlechten rechnen läßt. Aber jetzt müßt Ihr mich entschuldigen; ich habe keinen Lootsen und muß mich deshalb selbst um das Einlaufen bekümmern.«
Wir gingen in Parade vor Anker, und die üblichen Salutschüsse wurden gewechselt. Kong-ni stand dabei neben mir.
So bekannt er mir geworden war, in einer Beziehung war er mir doch ein Rätsel geblieben: ich hatte nie erfahren können, welchem Gewerbe oder Berufe er angehöre und in welchen familiären Verhältnissen er sich befinde. Zwar hätte ich sehr leicht eine direkte Frage aussprechen können, da er aber meine Andeutungen nicht verstehen wollte, so hatte ich dies unterlassen.
Der junge Mann hatte nicht jenes nichtssagende und nur schlau blickende Gesicht, welches bei den Chinesen stereotyp zu sein scheint; er besaß vielmehr recht intelligente Züge, und die eingehenden Unterhaltungen, welche wir gepflogen hatten, waren mir oft Beweisführer geworden, daß er eine unter seinen Landsleuten nicht gewöhnliche Bildung besaß.
»Wie lange wirst du in Hong-kong bleiben?« fragte er mich.
»Das ist noch unbestimmt.«
»Willst du bloß nach Kuang-tscheu-fu gehen?«
»Nein. Ich werde weiter gehen.«
»Das werden dir die Kuang-fuKuang fu sind diejenigen Beamten, welche wir gewöhnlich Mandarine nennen. Dieses letztere Wort kennen die Chinesen gar nicht; es wird nur von den Europäern gebraucht und darf vielleicht von dem portugiesischen mandar, d.i. befehlen, hergeleitet werden. nicht erlauben.«
»So werde ich selbst es mir erlauben.«
»Ich habe dich ›Kuang-si-ta-sse‹ genannt und weiß, daß du klug und mutig bist; aber du wirst dennoch nicht weiter als bis Kuang-tscheu-fu kommen. Ihr nennt diese Stadt Canton und dürft sie besuchen; aber wer von euch hat sie schon einmal richtig gesehen? Es ist euch nur erlaubt, die Straßen zu betreten, die nicht zur chinesischen Stadt gehören. Wie willst du noch weiter kommen, wenn du kein Chinese bist?«
»So werde ich einer!«
»Das ist schwer. Du hast mir das Leben gerettet, und ich möchte dir gern dankbar sein. Erlaube mir, dir einen Rat zu geben!«
»Spricht!«
»Willst du der Sohn eines Fu-yuen werden?«
Ich erstaunte bei dieser Frage, welche grad ebenso klang, als wenn mir daheim ein einfacher Bürger angeboten hätte, der Adoptivsohn des Königs von Bayern oder Sachsen zu werden. Kong-ni konnte nicht wagen, einen Scherz mit mir zu treiben, und ich besaß ja kaum irgendwo eine nähere Kenntnis des rätselhaften Landes, welches zu betreten ich im Begriffe stand. Deshalb fragte ich einfach:
»Ist das möglich?«
»Ich mache es möglich, dir zuliebe.«
Diese Antwort wurde in einem Tone gegeben, der wie die vollständige Überzeugung klang. Ein Fu-yuen ist der erste Beamte des Tsung-tu, den wir in Europa Vizekönig zu nennen pflegen, und hat die ganze Civilverwaltung einer Provinz in der Hand. Wer war dieser Kong-ni, daß er mir einen solchen Vorschlag machen konnte? Ich hatte hier mit unbekannten Verhältnissen zu rechnen und mußte mich also so passiv wie möglich verhalten.
»Ich habe bereits einen Vater,« antwortete ich.
»Dein Vater ist nicht hier. Du bist kein Diener des Fo und auch nicht des Buddha, sondern ein Tien-tschu-kiaoWörtlich: »Religion des Himmelsherrn«; so wird von den Chinesen die christliche Religion und so wird von ihnen auch jeder einzelne Christ genannt. . Verbietet dir dein Glaube, hier einen zweiten Vater zu haben, so lange du in Tai-tsing-kun bist?«
»Nein.«
»So thue, was ich dir vorschlage, denn dann wirst du ein Tschin-dse und kannst gehen und reisen, wohin es dir gefällt!«
Das Anerbieten, welches er mir machte, konnte nicht vorteilhafter sein. Wie mancher, der sein Leben an die Erforschung Chinas gewagt hatte, wäre glücklich gewesen, einen solchen Vorschlag hören zu dürfen; aber er war mir unbegreiflich, ich möchte sogar sagen, ungeheuerlich, so daß ich beinahe Lust hatte, ihn zurückzuweisen. Dennoch meinte ich nach einigem Überlegen:
»Wird ein Diener des Fo oder Buddha einen Kiao-yu zum Sohne nehmen?«
»Ja. Warum sollte er nicht können oder nicht wollen? Euer Gott sagt: »ich bin nur der Eurige,« unser Tien-wen aber lehrt uns, daß es einen Vater giebt, und wir alle sind seine Kinder. Es giebt drei große Religionen: die unsrige, die eurige und diejenige der Hoeï-hoeï»Muselmänner.« Im engen Sinne bezeichnet dieser Ausdruck die Bewohner von Kaschgar.. Sie haben Li-pai-sse und sagen: »unsere Religion ist die beste«; ihr habt Ting-sin-loWörtlich: »Stadt des ehrerbietigen Glaubens«, wie der Chinese unsere Kirchen bezeichnet. und sagt: »unser Gott ist der einzige,« und wir haben Pagoden und Tempel und sagen: San-kiao-y-kiao, die drei Religionen sind nur eine. Warum solltest du also nicht der Sohn eines Mannes werden, der deinen Glauben ebenso sehr schätzt, wie du den seinigen?«
Es hätte keinen Zweck gehabt, mich in diesem Augenblicke mit ihm in einen religiösen Disput einzulassen. Seine Worte klangen außerordentlich tolerant und bestechlich, aber sie zeigten mir das Haupthindernis, welches in China der christlichen Mission entgegengebracht wird – die Gleichgültigkeit. Den Worten ›San-kiao-y-kiao‹ begegnet man allüberall im großen Reiche der Mitte, aber dieser Ausspruch: ›die drei Religionen sind nur eine‹, ist nicht etwa das Ergebnis eines eingehenden Studiums oder einer sorgfältigen Vergleichung der betreffenden Dogmen, sondern das Produkt einer religiösen Gleichgültigkeit, wie man sie kaum sonst irgendwo zu finden vermag. Die christliche Propaganda hat ihren Weg rund um die Erde beinahe vollendet; das islamitische ›Allah il allah, Muhammed rahsul allah‹ wurde den Horden wilder asiatischer Eroberer vorangetragen; das berühmte ›Omm, mani padme hum!‹ aber kennt nicht die Aufgabe unseres gewaltigen ›Gehet hin in alle Welt!‹. Nicht aus Rücksichten der Religion, sondern aus politischen Gründen wurde China den andern Nationen verschlossen; die Religion läßt den Chinesen vollständig kalt, und wenn man ihm einen noch so langen und eindringlichen Vortrag über die Herrlichkeit der christlichen Lehre hält, so hört er geduldig und scheinbar höchst aufmerksam zu, wie es ja die bekannte chinesische Höflichkeit erfordert, und meint dann sehr freundlich: »Das ist gut, das ist schön, und ich lobe dich, daß du das alles glaubst; warum sollte ich mich also mit dir streiten? Deine Religion ist gut, die Religion der Hoei-hoei ist gut, und die meinige ist auch gut; San-kiao-y-kiao, die drei Religionen sind ja eine, und wir alle sind Brüder!« Nach diesen Worten würde es eine große Verletzung des Anstandes sein, wenn man den Gegenstand noch einmal aufnehmen wollte, und thut man es dennoch, so lächelt er überlegen und entgegnet: »Du hast wohl noch nie das Li-king gelesen, ›das Buch der Anweisung zum Benehmen für alle Klassen, an allen Orten und bei allen Gelegenheiten und in allen Erfahrungen des Lebens‹? Komm zu mir, und hole es dir! Oder soll ich es dir lieber schicken?«
Diese Passivität ist schwerer zu besiegen, als selbst ein aktiver Widerstand, wie jeder erfahrene chinesische Missionär bestätigen wird. Ich war nicht als ein solcher nach Hongkong gekommen und daher durfte ich mir wohl erlauben, von einem religiösen Streite mit Kong-ni abzusehen. Ich antwortete deshalb.-
»Und dieser Mann ist ein Fu-yuen?«
»Ein Fu-yuen,« nickte er.
»Also einer der höchsten Beamten des Landes!«
»Er ist ein Kuang-fu (Mandarin) mit dem roten Knopfe. Er ist sehr mächtig, aber bereits sehr alt. Der Hoang-schan hat ihm die Erlaubnis gegeben, zwei Pfauenfedern zu tragen und von seinem Amte auszuruhen.«
Also ein pensionierter Beamter! Einflußreich aber mußte er sein, da er ein Mandarin des ersten Ranges war und zwei Pfauenfedern tragen durfte, während nur die vornehmsten Ko-lao deren drei, die Ta-hia-suZweite Klasse des Dienstadels, aus welcher die Vicekönige, Präsidenten etc. ernannt werden. deren gewöhnlich aber nur eine tragen dürfen.
»Hat er keinen Sohn?« erkundigte ich mich weiter.
»Er hat einen.«
»Aber darf er denn nach eurem Gesetze einen zweiten nehmen?«
»Das Gesetz erlaubt es nicht, aber der Kaiser erlaubt es.«
»Ist dieser Sohn bei ihm?«
»Nein; er ist bei dir.«
Ich blickte überrascht auf.
»So sprichst du von deinem Vater und bist der Sohn eines Unterstatthalters?«
»Ja. Willst du mein Bruder werden?«
Das war nun allerdings beinahe abenteuerlich. Wollte er mich durch dieses Angebot dafür belohnen, daß ich ihm das Leben gerettet hatte? Ich war nicht gewillt, einen solchen Vorteil zurückzuweisen.
»ja,« antwortete ich daher.
»Du sprichst unsere Sprache. Kannst du sie auch schreiben?«
»Nur die Siang-hing, und das ist wenig genug.«
»So wirst du mir diktieren, und ich werde schreiben.«
»Was?«
»Du wirst eine Schrift verfassen, welche wir dem Ly-pu einsenden. Der Sohn eines Fu-yuen muß ein Gelehrter sein, um Nan, Phy, Hèu oder KungDiese fünf Worte könnte man mit Ritter, Baron, Graf, Marquis und Herzog übersetzen. werden zu können.«
Das war frappant! Fast kam es mir vor, als ob dieser Chinese Komödie mit mir spiele. Ein deutscher ›Weltläufer‹ sollte sich in China um einen akademischen Grad bewerben! Ich ging auf den Spaß sofort ein:
»Was soll ich werden? Ein Sieu-tsai, Keu-jin oder vielleicht gar ein Tsin-sse?«
»Du bist sehr weise und kannst ein Tsin-sse werden. Um das gleich zu können, wirst du drei Schriften verfassen, für jeden Grad eine. Diese werden dem Ly-pu übergeben, und du kannst dann gleich durch eine einzige Prüfung den höchsten Rang erwerben.«
»Ich werde es thun. Wann kannst du schreiben?«
»Wann es dir gefällt.«
»So werden wir sofort das Schiff verlassen, um Papier, Tusche und Pinsel zu bekommen.«
»Willst du mir eine Bitte erfüllen?«
»Welche?«
»Laß mich allein aussteigen; ich werde dir schnell bringen, was du brauchst!«
»Ist mir auch recht,« lächelte ich, denn ich bekam den guten Kong-ni in Verdacht, daß er mir so fulminante Anträge gemacht habe, um mir mit seinem Danke nur auf gute Weise durchbrennen zu können. »Wie heißt dein Vater?«
»Phy-ming-tsu.«
Also nach unsern europäischen Begriffen ungefähr ein Graf!
»Wo wohnt er?«
»Das wirst du bald erfahren!«
Ich wollte mich weiter erkundigen, wurde aber von meinem alten Frick Turnerstick durch einen Ruf unterbrochen, der so eigentümlich war, daß ich mich sofort umwandte.
Wir waren während meines Gespräches mit Kong-ni zwischen einem Engländer und einem Holländer vor Anker gegangen und wurden von zahlreichen Booten umschwärmt, deren Insassen der Bemannung unsers Schiffes alles mögliche zum Verkaufe anbieten wollten. Ein Fruchthändler hatte sich bereits an das hinabgeworfene Tau gelegt, und er war es, dem der possierliche Zuruf des Kapitäns galt:
»Guteng Taging! Was hasteng dung zung verkaufang?«
Der Chinese hatte ihn natürlich nicht verstanden, ahnte aber, was er meinte.
»Li-chy, Li-chy!« rief er herauf, indem er seinen Fächer als Schallbrecher an den Mund hielt. »Li-chy, Li-chy! Si-kua, Si-kua!«
Der Kapitän winkte mir.
»Charley, kommt doch einmal her! Was brüllt denn eigentlich der Kerl herauf? Was ist Li-chy?«
»Er meint die Nüsse, welche im Boote liegen. Sie sind sehr gut und schmecken fast wie Melonen.«
»Und dieses Si-kua?«
»Wassermelonen.«
»Alle Wetter, kann er das nicht gleich sagen!«
Er bog sich über die Regeling und winkte hinab.
»Wir werding kaufang! Kommung zumong Fallreeping heraufeng!«
Er gab Befehl, das Fallreep niederzulassen, und der Chinese brachte an einem über die Achsel gelegten Bambusstabe eine ziemliche Menge seiner in Matten gewickelten Früchte herauf.
»Seht, Charley, der Mann hat mich verstanden! Freilich, es ist etwas außerordentlich Erhebendes, zu wissen, daß man die Sprache fremder Nationen spricht. Das habe ich Euch zu verdanken, Charley, Euch und meinem ungemeinen Talente für fremde Sprachen, an dem ich bisher unbegreiflicherweise so sehr gezweifelt habe. Ich werde dem Kerl den ganzen Kram abkaufen!«
Der Händler hatte seine Matten ausgebreitet. Turnerstick trat zu ihm, zeigte auf die Li-chy und klopfte ihm sehr herablassend auf die Achsel.
»Was kosteng die Nüssang?«
Der Gefragte hob, da er die Pantomime wohl verstanden hatte, eine Handvoll der Li-chy empor und antwortete:
»Y tsien!«
»Seht Ihr's, Charley, daß er mich schon wieder verstanden hat? Aber er scheint das Chinesische schwerer zu sprechen, als er es versteht! Was meint er mit seinem Y tsien?«
»Das heißt: ein Tsien.« »Was ist ein Tsien?«
»Die kleine Münze, welche Ihr hier an seinem Halse an die Schnur gefädelt seht. In Europa nennt man sie Sapeke, der Mongole sagt Dehos und die englisch sprechenden Völker heißen sie Cash. Sie unterliegt einem nicht ganz unbedeutenden Kurs, und es gehen zweihundertfünfzig bis dreihundert auf eine deutsche Mark.«
»So bekomme ich also eine Handvoll Nüsse für einen Drittelpfennig?«
»Allerdings. Es ist hier alles ungeheuer billig.«
»Well – so werde ich weiter fragen!«
»Thut es, Sir!« antwortete ich in lustiger Neugierde auf sein weiteres Chinesisch.
Er zeigte auf die Melonen.
»Der Preising von diesong Meloneng?«
Der Chinese hob zwei der schönsten hervor.
»San tsien!«
»San tsien?« meinte Turnerstick. »Der Kerl spricht ein schauderhaftes Chinesisch. Was meint er, Charley?«
»Drei Sapeken.«
»Zwei solche riesige Melonen für drei Sapeken, also für einen Pfennig? Der Mensch muß seine Ware gestohlen haben! Ich werde alles behalten!«
Er machte eine Armbewegung um den ganzen Vorrat herum.
»Ich behaltong die ganzung Nussang und Meloneng!«
Der Händler zählte ab und schob alles zusammen.
»Was habing zu bezahleng?« »Y tschun!« »Was meint er, Charley?«
»Einen Tschun oder Tsian; das sind hundert Sapeken, also höchstens dreißig bis fünfunddreißig Pfennige. Ich weiß noch nicht, wie der Kurs heute ist.«
»Für einen solchen Haufen Früchte? Warte, er hat noch welche im Boote; ich nehme sie alle, weil dieser Mann mich so prächtig versteht!«
Er zeigte hinunter auf das Boot.
»Heraufing mit dem ganzeng Kramong. Ich werdeng ihn kaufing!«
Der Chinese machte ein höchst vergnügtes Gesicht und holte alles herbei.
»Nun, was kosting das alles zusammong?«
»Sse tschun!«
»Schauderhaftes Chinesisch! Was meint er, Charley?«
»Vier Tschun oder vierhundert Sapeken.«
»Schrecklich billig! Aber wo nehme ich Sapeken her?«
»Ich habe auch keine. Gebt ihm englisches oder amerikanisches Kleingeld; er wird es schon kennen.«
Er gab einen ganzen Dollar hin und bekam beinahe die ganze Sapekenschnur, welche der Chinese um den Hals hangen hatte, als Rückgeld ausgezahlt. Diese Tsien sind die einzige in China kursierende Münze; Gold und Silber gelten nur als Ware und werden in Barrenform nach dem Gewichte als Zahlung angenommen. Die Sapeken sind von Kupfer und rund; sie haben in der Mitte ein viereckiges Loch, damit man sie auf Schnüren reihen kann. Für fünf Dollars Sapeken zu tragen, ist schon eine Last, zu der man Kräfte besitzen muß.
jetzt kamen auch Mietgondeln herbei, und Kong-ni machte sich bereit, in eine derselben zu steigen. Er war natürlich von allen Mitteln entblößt, und ich bot ihm meine Hilfe an.
»Du bist gut; aber ich brauche nichts,« war seine Antwort.
Er stieg nun in die Gondel und fuhr davon. Ich erwartete nicht, ihn jemals wieder zu sehen, und wandte mich beobachtend dem Leben zu, welches infolge der Ankunft der Hafenbeamten und anderer Leute auf unserm Verdecke sich entwickelte. Da wurde ich einen Kahn gewahr, welcher, von zwei Ruderern getrieben, sich uns näherte. In demselben saß ein Mandarin fünfter Klasse mit dem krystallenen Knopfe.
Der Kahn legte an, und der Mandarin kam an Bord; es war –Kong-ni.
Ich erstaunte, weniger über die Umwandlung, welche in so kurzer Zeit mit ihm vorgegangen war, als vielmehr über den Umstand, daß er die Abzeichen eines Kuang-fu trug, ohne das dazu nötige gesetzliche Alter erreicht zu haben. Er kam auf mich zu und begrüßte mich lächelnd.
»Jetzt wirst du wissen, wer Kong-ni ist. Hast du Zeit, mir zu diktieren?«
»Ja. Komm herab in die Kajüte!«
Er folgte mir und zog unten aus den weiten Ärmeln seines Kaftans die erforderlichen Schreibutensilien. Dann setzte er sich und fragte:
»Worüber willst du schreiben, um ein Sieu-tseu zu werden?«
Ich besann mich ein wenig und wählte ein geographisches Thema, weil ich durch dasselbe mein ›blühendes Talent‹, wie ja Sieu-tseu zu deutsch lautet, am besten in das Licht zu stellen hoffte.
»Ich wähle den Titel ›Nian-yan-kui-dse‹. Bist du einverstanden?«
»Ja, denn das ist ein Stoff, der dich sehr berühmt machen wird.«
Die Arbeit begann. Ich diktierte, und er schrieb. Trotz der Schwierigkeit der chinesischen Schriftzeichen ging es ihm so schnell von der Hand, als ob er stenographiere. Natürlich langten meine Sprachkenntnisse bei weitem nicht zu; er mußte daher gehörig nachhelfen, und nach zwei Stunden hatte ich meine kurze Abhandlung zum Abschluß gebracht. Den beiden folgenden Arbeiten gab ich den Titel ›Pen-tsaoy-jin‹ und ›Hio thian-ti‹. Sie waren beendet, noch ehe der Abend hereinbrach, und sogar der brave Kong-ni staunte über die ›außerordentlich unbeschreiblichen Kenntnisse‹, die ich nach seiner Meinung in ihnen niedergelegt hatte. Ich aber will offen und ehrlich gestehen, daß ich mich bemüht hatte, mir die ungereimtesten Dinge zu ersinnen und sie in ein Gewand zu kleiden, welches gar nicht bombastischer gedacht werden konnte. Ein Europäer hätte ganz sicher schon beim zwanzigsten Worte erkannt, daß es sich entweder hier um eine ungeheure Aufschneiderei handele oder daß der Autor zu den unheilbar Wahnsinnigen gehöre.
Wir waren eben damit beschäftigt, die Blätter, welche nach chinesischer Weise nur auf einer Seite beschrieben waren, zusammenzulegen, als der Kapitän eintrat.
»Charley, Ihr habt mich gebeten, Euch nicht zu stören, aber ich muß dennoch kommen, denn der Kerl macht es mir zu heiß.«
»Welcher Kerl?«
»Da legt vor einer Stunde ein Kahn mit verschiedenen Paketen bei uns an, und ein Mensch steigt an Deck, der mir wahrhaftig ganz heiß gemacht hat. Sein Chinesisch ist noch viel schlechter, als es da oben bei den Finnen und Lappen gesprochen würde, und ich bringe nichts weiter heraus, als ›krank pfui‹ und ›komm ja!‹Jjedenfalls ist einer krank, der den schönen Namen Pfui hat, und man denkt, daß ich einen Arzt an Bord habe, der ja kommen soll.«
»Werde einmal sehen!«
ich vermutete wieder einen sprachlichen Geniestreich des Master Frick Turnerstick und hatte mich auch nicht geirrt. Als wir an Deck kamen, lauerte der Mann an der Kajütentreppe auf uns.
»Paßt einmal auf,« meinte der Kapitän. »Ich werde ihn noch einmal ganz langsam und deutlich fragen, und Ihr werdet nichts als sein ›krank pfui‹ und ›komm ja‹ zu hören bekommen.«
Er hob mit bedächtiger Miene den Zeigefinger der rechten Hand empor, wie man es zu thun pflegt, wenn man jemand pantomimisch zur Aufmerksamkeit ermuntern will, und fragte, »Was willingst du auf meineng Schiffang?«
»Kuang-fu« – antwortete der Gefragte.
»Krank pfui! Da habt Ihr es, Charley!«
Er deutete hinunter nach dem Boote und fragte:
»Wähing willst du fahreng?«
»Kom-tscha!«
»Komm ja! Habe ich recht oder nicht, Charley?«
Ich bemühte mich, ein ernsthaftes Lächeln zu behalten.
»Der Mann spricht allerdings ein Chinesisch, wie es Euch noch nicht vorgekommen sein mag; aber ich werde mich bemühen, seine Sprache verständlicher zu machen. Kuang-fu heißt Mandarin; er meint damit jedenfalls unsern Kong-ni, der gleich aus der Kajüte kommen wird.«
»Ach so! Und dieses ›Komm ja‹?«
»Der Mann sollte Kom-tscha sagen. Kom-tscha hat eine vielfältige Bedeutung. Es heißt erstens so viel wie Frei-Thee, grad in dem Sinne, wie es bei uns Freikonzerts, Frei-Bier und dergleichen giebt; sodann heißt es soviel wie Tribut, wie Reukauf, wie Angeld oder Draufgeld, wie Schwanzgeld beim Viehhandel und endlich auch soviel wie das arabische Bakschisch, also Geschenk, Trinkgeld.«
»Fertig? Das ist ja ein Wort, welches einen geradezu zur Verzweiflung bringen kann, denn da möchte man einen Kopf haben wie ein Fregattenrumpf, um sich das alles merken zu können! Aber wie kommt er denn da zu uns? Ich habe ihm weder ein Freikonzert, noch einen Reukauf, noch einen arabischen Bakschisch abverlangt.«
»Kong-ni wird uns die Sache erklären können. Da kommt er.«
Der Genannte trat eben aus der Kajüte; er erblickte den Bootsführer und gab ihm einen Wink, worauf dieser in den Kahn stieg und die Pakete heraufbrachte.
»Kuang-si-ta-sse,« wandte sich der jugendliche Mandarin zunächst zu mir, »du hast mir das Leben gerettet und mir den Arm so weit geheilt, daß ich heut bereits wieder schreiben konnte. Dafür bin ich dir Dank schuldig. Thue mir den Gefallen und nimm diesen Kom-tscha von mir an!«
Er zeigte auf einige der Pakete und drehte sich dann zu dem Kapitän.
»Tu-re-ne-si-ki, du hast mich auf dein Schiff genommen und hierher gebracht, hast mir Speise und Trank gegeben, ohne mich zu fragen, ob ich dich bezahlen kann. Du bist edelmütig, und ich bin dankbar. Nimm diesen Kom-tscha für das, was du an mir gethan hast!«
»Gut! Eine Liebe ist der andern wert, und ich will dich nicht beleidigen,« antwortete Turnerstick; »ich werde also das Freibier und den Reukauf annehmen. Aber thu mir den Gefallen und nenne mich doch ordentlich Frick Turnerstick und nicht Tu-ru-nu-ku-su-mu-lu, oder wie das Ding geklungen hat. Und willst du mir mit Gewalt einen fremden Namen aufzwingen, so sprich wenigstens chinesisch; da heiße ich Turningsticking. Verstanden, alter Chinesischverderber?«
Diese Ermahnung war so ernstlich gemeint, daß ich die größte Mühe hatte, ein lautes Lachen zu unterdrücken. Der gute Master Turnerstick hatte vom Leichtmatrosen auf gedient, verstand sein Fach aus dem Fundamente und hatte sich niemals Mühe gegeben, sein Wissen über das Seewesen hinaus zu erweitern. Andernfalls wäre es ja vollständig unbegreiflich gewesen, einen Seekapitän, und wenn derselbe auch nur einen einfachen Kauffahrer befehligte, sich in einen so wahrhaft chinesischen Irrtum hineinarbeiten zu sehen. Mir allerdings gab seine edle sprachliche Selbsterkenntnis so viel Spaß, daß ich mir keine Mühe nahm, dieser Unerschrockenheit ein Ende zu machen.
Es wäre ein hoher Grad von Unhöflichkeit gewesen, wenn wir die Geschenke abgelehnt hätten; darum nahm auch ich die meinigen an und bedankte mich bei Kong-ni. Dieser griff unter seine Kleidung und brachte eine seidene Schnur hervor, an welcher ein kleiner Gegenstand hing, den ich für ein Medaillon hielt.
Ach werde jetzt dieses Schiff verlassen; aber ich kehre zurück, um dich abzuholen,« sagte er zu mir. »Wirst du bis dahin hier bleiben?«
»Wann wirst du kommen?«
»In sechs Tagen.«
»Diese ganze Zeit kann ich nicht an Bord verweilen. Ich werde flußaufwärts gehen und mir Canton ansehen.«
»Gehst du allein?«
»Nein; der Kapitän wird mich begleiten.«
»So befolge den Rat, welchen ich dir gebe: Wenn du deine jetzige Kleidung beibehältst, so besuche nur diejenigen Orte, welche die Y-jin betreten dürfen.«
»Läuft man Gefahr, wenn man weiter geht?«
»Ja; denn die Polizei hat jeden Fremdling zu fassen und vor das Gericht zu bringen.«
»So werde ich mir chinesische Kleider kaufen.«
»Thue das,« antwortete er lächelnd; »dann kannst du gehen, wohin du willst; denn du sprichst die Sprache der Sse-hai-dseSse hai = »Vier Meere« nennen die Chinesen ihr Land und sich selbst Ssehai dse d. i. »Söhne der Vier Meere.«, und niemand wird dich für eine Fremden halten, wenn du einen Pen-tse trägst.«
»Sind Pen-tses zu bekommen?«
»So viele, wie du brauchst, und so lang du sie haben willst,« antwortete er mit demselben Lächeln. »Aber hüte dich vor den Lung-yin und vor den Kuang-ti-miao, sie sind dem Fremden gefährlich.«
»Vor den Lung-yin werde ich mich in acht nehmen, aber warum auch vor den Kuang-ti-miao?«
»Das wirst du noch erfahren. Kommst du aber in Gefahr, bevor ich wiederkehre, so nimm hier diesen Talisman, den du um den Hals zu tragen hast. Zeige ihn den Lung-yin, und sie werden dich als Freund behandeln.«
Er gab mir die Kette. Es war eine wahrhaft bewundernswerte chinesische Schnitzarbeit. Jedes einzelne Glied derselben bestand aus einem Apfelkerne, welcher mit mikroskopischer Genauigkeit zu einem Kahne ausgeschnitzt war, in welchem ein Mann mit zwei Rudern saß. Das Medaillon war ein Aprikosenkern; er bildete eine Kriegs- oder Mandarinendschunke mit Baldachin, acht Ruderern und dem Befehlshaber, welcher in der Mitte des Fahrzeuges saß und in der Rechten einen offenen Sonnenschirm und in der Linken den unvermeidlichen Fächer trug. Das war eine jener unvergleichlichen chinesischen Arbeiten, welche uns die Minutiosität, den Fleiß und die ungeheure Ausdauer ihrer Verfertiger lebhaft bewundern lassen und dennoch einen wahrhaft lächerlich niedrigen Preis besitzen. Die Kette, welche ich in meiner Hand hielt, kostete hierzulande wohl kaum zwei Dollars, während sie in meiner Heimat von dem Liebhaber gern mit mehreren hundert Mark bezahlt worden wäre.
Und diese Kette sollte ein Talisman gegen die Drachenmänner sein? Das klang ja grad so, als ob Kong-ni mit diesen fürchterlichen Leuten in irgend einer freundlichen Beziehung stehe! Ich nahm das Geschenk und fragte:
»Wo werden wir uns treffen, wenn du zurückkehrst?«
»Bist du hier auf dem Schiffe?«
»Ja; ich werde mich danach einzurichten wissen.«
»So hole ich dich von hier ab. Deine gelehrten Arbeiten werde ich im Kao-pan niederlegen.«
»Ich denke, du schickst sie dem Ly-pu ein?«
»Weißt du nicht, daß die Prüfungen im Kao-pan stattfinden? Die Ausarbeitungen werden dann mit dem Berichte an das Ly-pu nach Peking gesandt und kommen zurück, um im Wen-tschang-kun niedergelegt zu werden.«
»Ich habe gehört, daß die Prüfungen im Kao-pan mündlich vorgenommen werden.«
Er lächelte überlegen.
»Geht der Wind, wie er soll? Mein Vater ist Vorsteher der Provinzialbehörde für Staatsprüfungen; er wird thun, was gut und vorteilhaft für dich ist. Lebe wohl, bis ich wiederkehre!«
»Tsing leao!« antwortete ich, ihm die Hand reichend.
Auch Frick Turnerstick gab ihm die Rechte:
»Lebing wohl, alter Jungang, und wenn dung wiederkommst, so bist dung uns willkommang!«
Das Boot, welches den jungen Mandarin von dannen trug, verschwand bald im Gewimmel der andern Fahrzeuge und wir machten uns nun daran, unsere Pakete zu öffnen. Sie enthielten allerlei Lack- und solche Waren, welche der Chinese Ku-tung nennt und die sowohl in China selbst als auch im Auslande sehr teuer bezahlt werden. Für mich war außerdem ein vollständiger Anzug beigelegt, bei dessen Besichtigung ich mit Erstaunen bemerkte, daß es eine Mandarinenkleidung sei, an welcher nur der Hut mit dem Knopfe fehlte. Und dabei lag ein künstlicher Zopf, welcher so lang war, daß er mir beinahe vom Kopfe bis nieder zur Ferse reichte. Jetzt verstand ich das zweideutige Lächeln, welches ich im Gesichte Kong-nis bemerkt hatte, als ich davon sprach, daß ich mir eine chinesische Kleidung nebst Zopf kaufen werde.
Als Turnerstick dieses Symbol der Mitte erblickte, lachte er, daß ihm die Thränen über die Wangen liefen.
»Gratuliere, Charley, gratuliere! Von dieser Länge hat ihn nicht einmal ein preußischer Grenadier gehabt. Aber sagt einmal, wollt Ihr diesen famosen Schwanz wirklich ins Schlepptau nehmen?«
»Natürlich! Wenn ich als Chinese gelten will, muß ich mich auch als solchen kleiden. Nicht?«
»Well! Aber wenn ich mit Euch laufe, werde ich am Ende auch so ein Ding haben müssen!«
»Natürlich! Als Kong-ni seine Einkäufe machte, hat er nicht gewußt, daß Ihr Euch mir anschließen werdet, sonst hätte er wohl in derselben Weise auch für Euch gesorgt. Unseren ersten Ausflug aber machen wir in unserer gewöhnlichen Kleidung.«
»Einverstanden! Paßt es Euch vielleicht gleich morgen früh?«
»Ist mir recht. Wir werden also heute abend nicht vom Schiffe gehen, um beizeiten munter zu sein.«
»Nehmen wir unsere Büchsen mit?«
»Wozu?«
»Giebt es hier keine Jagd?«
»Nein, im besten Falle könnten wir einige Enten schießen, wenn wir weit in das Land gehen. Zunächst aber möchte ich mir Canton ansehen. Geraten allerdings ist es, ein Messer und einen Revolver mitzunehmen, da man in einem fremden Lande nie wissen kann, was einem begegnet.«
»Well; ich werde mich bewaffnen, obgleich ich denke, daß es keine Gefahr geben wird, da wir ja beide der Sprache vollständig mächtig sind.«
»Scheint mir auch so, obgleich es mich befremdet, daß diese Bewohner von Hong-kong ein Chinesisch sprechen, welches man bei aller Mühe und Aufmerksamkeit kaum verstehen kann.«
»Wird wohl stromaufwärts besser werden!«
Als ich mich schlafen legte, verscheuchten mir die fleißigen Gedanken lange Zeit die Ruhe. Die Geschenke Kong-nis schienen zu beweisen, daß es ihm mit allem, was er mir gesagt und versprochen hatte, wirklicher Ernst gewesen sei. Auf den ersten Augenblick schien die Bewerbung um einen akademischen Grad ein fast mehr als bizarres Unternehmen zu sein, schien aber bei näherer Prüfung einen etwas andern Augenschein zu bekommen.
Der chinesische Kaiser regiert dem Namen nach vollständig despotisch, doch findet seine Gewalt das stärkste Gegengewicht in der ›Körperschaft der Gelehrten‹. Diese Körperschaft ist eine Oligarchie, von welcher die gesamte Staatsverwaltung alle wirklichen und unmittelbaren Einflüsse empfängt. Der Kaiser ist gezwungen, alle seine Beamten aus dem Gelehrtenstande zu nehmen, und muß sich dabei an diejenigen Klassen und Grade binden, welche infolge der Prüfungen vorhanden sind. Die Körperschaft der Gelehrten ist im elften Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, also in den letzten Regierungsjahren der Schangs gegründet worden, doch das jetzt übliche System der Prüfungen, welche jeder bestehen muß, der in den Staatsdienst treten will, datiert aus dem achten Jahrhundert nach Christus, also von der Zeit der Dynastie Tang her. Jeder Chinese, der ein Zeugnis des Wohlverhaltens aufweisen kann, hat das Recht, nach Zurücklegung des gesetzlichen Alters sich zu diesen Prüfungen zu melden. Diese letzteren zeichneten sich früher durch Ernst und Würde aus und waren bekannt wegen der Unparteilichkeit, mit welcher sie vorgenommen wurden. jetzt aber ist dies anders – sie sind ausgeartet. Die Korruption hat in China nichts verschont und auch die Examina, die Examinatoren und – die Kandidaten ergriffen. Die Gesetze und Vorschriften sind allerdings sehr streng, und jede Willkür soll unmöglich gemacht werden, damit es sich herausstelle, was der zu Prüfende wirklich gelernt hat; aber das Geld ist mächtiger als alle Verbote und Vorkehrungen. Dem Reichen ist es sehr leicht möglich, bei den. mündlichen Prüfungen die Themata im voraus zu erfahren, und, was das allerschlimmste ist, die Stimmen der Examinatoren sind dem Meistbietenden feil. Und noch weiter: ist es dem Reichen ja nicht möglich, sein Thema vor dem Examen zu erfahren, so mietet er sich irgend einen armen Gelehrten, der dann seinen Namen annimmt, an seiner Statt das Examen macht und sich für ihn das Zeugnis ausstellen läßt. Und dies geschieht so offen, daß die Chinesen für einen auf solche Weise Graduierten die Bezeichnung ›Baccalaureus, der hinter dem Reiter sitzt‹, erfunden haben. Sogar Abwesende können das Examen, welches in diesem Falle ein schriftliches ist, bestehen, wenn sie gehöriges Geld oder nachhaltige Protektion besitzen; sie schicken eine Dissertation ein, deren Thema sie sogar selbst wählen dürfen.
Vielleicht hatte Kong-ni seine Würde auch in dieser letzteren Weise erlangt, und warum sollte ganz dasselbe nicht auch mir möglich sein?
Außer den obigen Betrachtungen drängte sich mir seine Warnung auf. Daß ich mich vor den Flußpiraten hüten sollte, konnte ich sehr leicht begreifen; warum aber auch vor den Kuang-ti-miao, vor den Tempeln des Kriegsgottes? Er hatte mir auf diese Frage nur geantwortet: ›Das wirst du erfahren.‹
Dieser Kuang-ti ist, so zu sagen, der chinesische Mars. Er stammt aus der Provinz Sse-tschuen, deren Bewohner auf diese Landsmannschaft außerordentlich stolz sind, und lebte im dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Er war ein ausgezeichneter Krieger, erfocht zahlreiche Siege und machte seinen Namen so berühmt, daß derselbe noch heute im ganzen Reiche eine außerordentliche Popularität besitzt. Die Chinesen erzählen von ihm viele Sagen; sie behaupten, er sei gar nicht gestorben, sondern zum Himmel gefahren und dort unter die Götter versetzt worden. Nun sei er Gott des Krieges.
Die Mandschu-Dynastie hat ihn bei ihrer Thronbesteigung in feierlicher Weise zum Gott erklärt und zum Schutzgeiste ihres Herrscherstammes erhoben. Die Regierung ließ ihm in allen Provinzen Tempel erbauen, in denen er sitzend abgebildet ist: zur Linken sein Sohn Kuang-pin, vom Kopfe bis zum Fuße bewaffnet, und zur Rechten sein getreuer Stallmeister, der sich auf ein breites Schwert stützt und eine möglichst fürchterliche Miene macht, um aller Welt Angst und Schrecken einzuflößen.
Der Kultus dieses Kuang-ti gehört zur amtlichen Staatsreligion. Das indifferente Volk bekümmert sich ebensowenig um diesen Mars, wie um die buddhistischen Gottheiten. Seine Tempel werden, gerade wie die ihrigen, zwar von dem gewöhnlichen Manne besucht, aber nicht etwa zum Zwecke der Anbetung, sondern aus ganz anderen Gründen. Man übernachtet da; man hält feil, arrangiert da Familien- und andere Feste und macht es sich so bequem wie in jedem andern Hause. Aber die Beamten, besonders die Militärmandarinen, müssen an bestimmten Tagen diese Miao besuchen, dort vor dem Bilde des Götzen auf die Kniee fallen und dabei duftende Tsan-hiangWörtlich: »Räucherwerk aus Thibet«, in Stäbchenform. Man verfertigt die echten nur in Thibet aus wohlriechenden Hölzern, die man zu Pulver zerstößt und mit Moschus und Goldstaub vermischt. Sie werden vor den Götzenbildern verbrannt und geben einen herrlichen Wohlgeruch. verbrennen. Die Mandschu haben wohl, als sie diesen Kultus einführten, dabei politische Zwecke verfolgt: er ist ihnen ein Mittel, um Einfluß auf die Soldaten zu üben, und darum haben sie auch die Sage verbreitet, daß Kuang-ti in allen Kriegen, welche die Dynastie geführt hat, sich leiblich habe blicken lassen. Er hat da über ihrem Heere in den Lüften geschwebt und ihnen stets den Sieg verliehen.
Und jetzt sollte mir dieser brave Götze gefährlich werden? Vielleicht weil ich ein Tao-dse und kein Mandschu war!
Was die Lung-yin, die ›Drachenmänner‹, betrifft, so hatte ich über dieselben bereits sehr viel gehört und gelesen. Chinesische Seeräuberdschunken hat es zu allen Zeiten gegeben und giebt es auch noch heute. Diese Räuber auf offener See sind ein mutiges Volk, noch verwegener aber sind die Flußpiraten, welche in denjenigen fließenden Gewässern Chinas, an denen bedeutende Städte liegen, ihr verbrecherisches Wesen treiben. Sie vollführen ihre blitzesschnellen Überfälle sowohl bei Tage als bei Nacht, mitten in einer Bevölkerung, die nach Millionen zählt, und haben Verbindungen von den untersten Schichten bis hinauf in die höchsten Mandarinenkreise. Sie bilden weitverzweigte und dennoch enggeschlossene Huis, die nach sehr strengen Gesetzen regiert werden, fürchterliche Parasiten im Volkskörper, Raubstaaten im Staate, der sich ihrer nicht erwehren kann. Wenn in einer Stadt von der Bevölkerung Pekings, Nankings oder Cantons täglich eine Anzahl von Menschen spurlos verschwindet, so erregt das keinerlei öffentliche Aufmerksamkeit; wagen sich jedoch die Piraten, was allerdings auch nicht selten geschieht, an einen Ausländer, so treten die Konsuln ein, und es beginnt eine Untersuchung, welche gewöhnlich den Erfolg hat, daß die Verbrecher – straflos entrinnen.
Hierzu giebt es Gründe, unter denen jedenfalls einige sind, welche gewisse Mandarinen nicht gern besprechen möchten,
Endlich schlief ich ein; aber noch im Traume verfolgten mich die Gedanken weiter. Mein Zopf nahm die Gestalt einer Boa constrictor an und schlang sich um meinen Leib, um mich zu erwürgen; der gute Frick Turnerstick saß als oberster Götze in einer Pagode, spie mir Feuer entgegen und schrie: ›Reiß aus, Charlung, sonst werdang ich dich fresseng!‹ Ich floh; aber die Pagode verwandelte sich in einen riesigen Drachen, welcher mich einholte, mich erfaßte, mit mir in die Lüfte stieg und mich dann herunterwarf in einen Haufen von Wassermelonen und Nüssen, die alle lebendig wurden und von mir verspeist sein wollten. Ich that ihnen diesen Gefallen, und als ich die letzte verschluckt hatte, erschien der chinesische Kriegsgott, schnitt mir ein zorniges Gesicht, faßte mich beim Arme, schüttelte mich drohend und rief.
»Alle Wetter, Charley, wacht doch endlich einmal auf, wenn Ihr nicht tot seid! Oder soll ich Euch etwa den Arm auszerren?«
Ich schlug die Augen auf und sah mich sehr angenehm enttäuscht: der Furcht erweckende Kriegsgott hatte sich in meinen guten Frick Turnerstick verwandelt.
»Was giebt es, Kapt'n?,« fragte ich ihn.
»Was es giebt? Hm, Tag giebt es bereits seit zwei Stunden, und Ihr liegt noch da, ächzt, stöhnt und wimmert, daß es einen Stein erbarmen möchte. Was für ein Unglück ist Euch denn widerfahren, he?«
»Mir träumte, Ihr säßet als Götze in einer Pagode und wolltet mich verschlingen.«
»Ich – Euch? Könnte mir allerdings nur dann einfallen, wenn ich ein Götze wäre! Aber macht Euch reisefertig. Das Frühstück steht für Euch bereit; ich bin schon fertig damit, und dann kann es fortgehen.«
Ich war bald an Deck, um meinen Thee zu trinken. Unterdessen suchte sich der Kapitän unter den Lohnbooten eines aus und winkte es herbei. Der Führer desselben gehorchte dem Winke und legte am Fallreep an.
»Kommang heraufing!« rief Turnerstick hinab.
Die Handbewegung, welche diese Worte begleitete, war so deutlich, daß sie der Mann verstehen mußte. Er kam herauf.
»Wir wolleng nach Canton. Wolling stu uns fahreng?«
»Canton? Kuang-tscheu-fu?« fragte der Angeredete. »Tsche!«
»Tsche! Horribles Chinesisch! Was meint der Mensch, Charley?«
»Wißt Ihr nicht mehr, daß Tsche ›ja‹ heißt?«
»Ah so! Hm, das hatte ich beinahe aus der Acht gelassen. Aber Ihr seht doch ein, daß ich ein ganz famoses Chinesisch spreche, denn der Mann hat mich Wort für Wort verstanden, sonst hätte er nicht ja geantwortet. Wollen wir ihn mieten, Charley?«
»Habe nichts dagegen, Kapt'n. Macht die Sache mit ihm ab!«
Der Kapitän folgte dieser Aufforderung:
»Wir fahren zwei Manning. Was verlang stu für deng Taging?«
Der Gefragte nickte lächelnd mit dem Kopfe. Turnerstick trat ihm näher und erklärte:
»Wie viel du haben willingst?«
Er hatte denselben Erfolg wie vorher und wandte sich zu mir:
»Dieser Mensch versteht nicht einmal seine Muttersprache. Versucht Ihr einmal Euer Heil, Charley!«
»Ganz wie Ihr wollt, Kapt'n. Vorher muß ich Euch aber doch fragen, ob wir mit dem Boote dieses Mannes wirklich den weiten Weg bis Canton zurücklegen wollen. Von hier bis Wam-poa braucht ein Dampfer beinahe einen vollen Tag, und von dort aus haben wir noch volle zwölf englische Meilen bis Canton.«
»Weiß das alles auch, Charley; aber ich will Land und Leute kennenlernen; versteht Ihr mich? Daher nehme ich einen solchen Bambuskahn, um beliebig hüben oder drüben anlegen zu können, so oft es mir einfällt, an das Land zu gehen. Wie weit es bis Canton ist und wann wir dort ankommen, das ist mir sehr egal, denn wir haben Zeit. Der Steuermann hat seine Instruktion und wird mich vertreten, so lange ich abwesend bin. Übrigens können wir uns ja von einem Dampfer ins Schlepptau nehmen lassen, wenn wir rasch vorwärts kommen wollen. Verstanden, Charley?«
»Vollständig. Aber wenn wir wirklich Land und Leute miteinander kennen lernen wollen, so möchte ich am liebsten gleich hier in Hongkong anfangen, das uns doch am nächsten liegt.«
»Habt recht, vollständig recht. Und so mag uns dieser Mann zunächst da hinüberfahren.«
Ich mietete den Chinesen für drei Tschuns, also ungefähr eine Mark täglich; dann stiegen wir ein und ließen uns in die Stadt fahren.
Hongkong wurde von den Engländern als Ort ihrer Niederlassung mit jenem praktischen Scharfblick gewählt, welcher dem britischen Inselvolke so sehr zu eigen ist. Die Insel, auf deren Nordseite es liegt, ist sehr gebirgig und hat ungefähr achtzehn bis zwanzig englische Meilen im Umfange. Die Lage dieser Insel gewährt dem geräumigen Hafen den Vorteil zweier Eingänge, die sich gegenüberliegen, so daß also beinahe bei jedem Winde gefahrlos eingelaufen werden kann. Das Wasser des Hafens ist so tief, daß Schiffe von fünfzehn Fuß Tiefgang in ganz geringer Entfernung vom Lande ankern können. Ein weicher, zäher Lehmboden giebt ausgezeichneten Ankergrund bis dicht an die Küste, und die hohen Berge, welche das Hafenbassin umgeben, gewähren guten Schutz gegen die hier so häufigen Herbst- und Winterstürme.
Wir spazierten miteinander durch die Straßen der chinesischen Stadt. Sie waren meist schmutzig, stinkend und kloakenhaft. Wir fanden enge, dunkle Gassen und Gäßchen, in denen sich eine nicht sehr appetitlich aussehende Bevölkerung hin und her drängte, kleine Bambushäuschen, deren unteres, offenes Stockwerk meist als Verkaufslokal dient, dahinter ein paar finstere Gemächer und eine schmale Treppe, die nach oben führt, wo die etwas vorspringenden Schlafgemächer sind. Die Läden sind nach ihrer ganzen Breite hin offen und gestatten einen Blick in das innere Familienleben.
Hier sieht man einen Schuster jene Seidenzeugschuhe verfertigen, deren Sohlen aus einem sehr starken Filze bestehen; dort giebt es einen Lackierer, welcher Täßchen fertigt, deren mehrfacher Lacküberzug ein ganzes Jahr zu trocknen hat. Daneben ist der Laden eines Geldwechslers, der mit seinem Suan-pan, so schlau umzugehen versteht, daß es großer Aufmerksamkeit bedarf, nicht von ihm betrogen zu werden. Ihm gegenüber arbeitet ein Schneider, grad so auf seinen untergeschlagenen Beinen hockend wie unsere einheimischen ›Tailleurs‹; dieses Genus besitzt ja überhaupt in allen Erdteilen eine unleugbare Familien-Ähnlichkeit. In seiner Nähe giebt es eine Garküche, deren Speisezettel nach den zur Schau liegenden Früchten, Gemüsen und Fleischsorten ein sehr reichhaltiger sein muß, und in der Nähe dieses verführerischen Ortes treibt sich eine ganze Menge jener geflügelten, pfiffigen Spitzbuben herum, welche in der alten Welt allüberall und seit einiger Zeit auch bereits in der neuen Welt zu finden sind. Der Türke nennt sie Muhassil-Baschi, der Chinese ruft sie Kia-niao-eul, und der Deutsche kennt sie als Herr Spatz und Madame Sperlingin. Ich gestehe offen, daß ich mich über den Anblick dieser laut zirpenden und räsonnierenden Wegelagerersippe herzlich freute; es waren ja ›Heimatsklänge‹, wenn auch nicht – von Gungl.
Vor dem Laden des Geldwechslers machte der Kapitän Halt.
»Was meint Ihr, Charley; werden wir einzelnes Geld brauchen?«
»Allerdings.«
»So wollen wir uns jeder einen Dollar umwechseln lassen?«
»Mir recht. Kommt herein!«
»Laßt mir den Vortritt!«
Er trat ein, musterte den Laden mit einer höchst unternehmenden Miene und fragte dann:
»Guteng Taging! Könnung mir wechsang-eln einang Dollering?«
Er griff dabei in die Tasche und zog das genannte Geldstück hervor.
»Sie wünschen Cash für einen Dollar, Sir?« fragte da der Wechsler in einem sehr geläufigen Englisch.
Frick Turnerstick trat überrascht einen Schritt zurück.
»Englisch! Ein Chinese und Englisch! Alle Wetter, wozu lernt man denn eigentlich Chinesisch? Habe ich etwa dieses Kang-keng-king-kung-kong studiert, nur um mich hier englisch anreden zu lassen? Gebt Eure Scheidemünze her, und dann sind wir miteinander fertig!«
Der Wechsler wußte wahrhaftig nicht, wie ihm geschah, denn ihm mußte der Grimm, den Turnerstick darüber hegte, daß er seine Sprachkenntnisse nicht zeigen durfte, vollständig unverständlich sein. Er gab uns für die beiden Dollars seine Tsiens, und dann gingen wir. Draußen blieb der Kapitän stehen.
»Charley, ist Euch schon einmal so etwas vorgekommen?«
»Was?«
»Daß Ihr Chinesisch gelernt habt und könnt es nicht gebrauchen?«
»Nein! das ist mir allerdings noch nicht vorgekommen.«
»Na, also! Weshalb gehe ich denn eigentlich an das Land, um Land und Leute kennen zu lernen, he? Doch wohl nur, weil ich die Sprache verstehe und diesen Leuten zeigen will, daß hinter dem Berge auch noch Fricking Turnerstickings wohnen. Und da schreit mich dieser Kerl gar englisch an! Ich mag von diesem Hongkong nichts mehr wissen. Wir müssen tiefer in das Land hinein, wo man gebrauchen kann, was man gelernt hat!«
Eine Viertelstunde später trieben wir in unserm Bambuskahn mit der Flut stromauf. Die Ufer des Stromes waren felsig und zwar so pittoresk, wie ich es gar nicht erwartet hatte; nach und nach aber wurden sie niedriger. Flüsse und Kanäle durchschneiden in allen Richtungen die weiten Ebenen, und an mehreren derselben liegen Dörfer und Ortschaften, entweder auf erhöhtem Terrain und dann von soliderem Materiale erbaut, oder in der Niederung, nur von Bambus und auf Pfählen errichtet. Wenn dann die steigende Flut die Felder unter Wasser setzt, liegen diese Ortschaften wie kleine Inseln darin.
Schwerfällige Dschunken glitten den Fluß entlang, und kleine Fischerboote durchkreuzten denselben nach allen Richtungen. Die ganz großen Handelsdschunken sind ungeschlachte Dinger von bedeutender Größe, sehr hochbordig und ragen wie Elefanten oder Nilpferde aus dem Wasser. Sie haben einen sehr breiten Stern gleich demjenigen eines altholländischen Linienschiffes, der bunt bemalt und vergoldet ist, und das Verdeck ist mit einem ungeheuren Strohdache versehen, welches das Fahrzeug noch viel schwerfälliger erscheinen läßt. Die Masten, welche ungemein dick sind und aus einem einzigen Stücke bestehen, haben an der Spitze eine Rolle, durch welche ein schweres, drei Zoll im Durchmesser haltendes Tau läuft, mit Hilfe dessen das schwere Mattensegel aufgehißt wird. Das Vorderteil eines solchen Fahrzeuges ist meist rot bemalt und hat rechts und links vom Buge je ein oft fünf Fuß im Durchmesser haltendes Glotzauge, von welchem diese Dschunken den Namen Lung-yen, erhalten haben, und die dem Schiffe jenen drohenden Ausdruck geben, durch welchen böse Geister und andere Ungetüme, welche nach chinesischem Glauben das Wasser bevölkern, hinweggetrieben werden sollen. Wegen der so gefürchteten Flußpiraterie haben diese großen Handelsdschunken gewöhnlich eine Kanone oder auch zwei dieser Geschütze an Bord.
Die Kriegsdschunken sind etwas schärfer gebaut und auch nicht so übermäßig hochbordig. Sie führen gewöhnlich vier bis sechs Drei- oder Vierpfünder an den Seiten, einen oder zwei Sechs- bis Neunpfünder im Vorderteile und zuweilen auch im Sterne einige kleine Kanonen. Einige Gingals oder Wallbüchsen mit sechs bis acht Fuß langem Laufe und einer zwei Zoll im Durchmesser haltenden Mündung drehen sich in Zapfen auf ihrem Gestelle, welches an den Schiffsseiten befestigt ist. Die Mannschaft ist mit Luntenflinten, Lanzen, Schilden und Säbeln bewaffnet; doch tragen viele auch noch Bogen und Pfeile. Die Segel werden durch fünfundzwanzig bis dreißig Ruder unterstützt. Die Disziplin ist auf einem solchen Kriegsfahrzeuge eine echt chinesische. Täglich wird dreimal ein Gebet zu dem Kriegsgott gehalten, wobei ein wahrhaft ohrenzerreißendes Klingeln, Pauken und Schreien nebst Abbrennen von Schwärmern und Raketen stattfindet.
Unser Boot strich vor der Flut und der guten Brise, welche sich fest in unser Bastsegel legte, recht munter durch die Wogen. Ich wußte, daß von der Mündung des Flusses aus bis hinauf nach Canton vier Pagoden zu finden seien, und wir beschlossen, eine derselben zu besuchen. Die erste hatten wir bereits hinter uns; als die zweite vor uns auftauchte, hielten wir auf das Ufer zu, legten an und stiegen aus.
Pagoden sind in fast unglaublicher Menge über ganz China zerstreut, und man findet wohl kein Dorf, welches nicht wenigstens eines dieser Gebäude aufzuweisen hätte. Die Chinesen erzählen, daß es in Peking mit Umgebung zehntausend Pagoden gebe, doch soll diese Zahl wohl nur ›sehr viele‹ bedeuten. Man findet sie an den Landstraßen und Flüssen ebensowohl, wie mitten in den Städten, Ortschaften und Feldern. ihre Architektur ist eine sehr verschiedene. Meist unterscheiden sie sich nicht sehr von den gewöhnlichen Wohnhäusern, und viele derselben sind nur kleine Kapellen oder gar Nischen, in welchen ein Götzenbild steht, vor dem sich die Gefäße für das Rauchopfer befinden.
Oft aber besitzen diese Bauwerke bedeutende Dimensionen, und zu diesen gehörte auch die Pagode, welche wir besuchen wollten.
Unser Bootsführer blieb am Ufer zurück; wir aber schritten in das freie Feld hinein und auf ein Dorf zu, hinter welchem sich das Gebäude erhob. Ich hatte erwartet, daß die Bewohner des Dorfes uns mit großer Neugierde empfangen würden, sah mich aber enttäuscht – der Ort mußte öfters von Fremden besucht werden. Man betrachtete uns zwar mit einiger Aufmerksamkeit, sonst aber erregten wir weiter kein Aufsehen, als daß einige Frauen unter die Thüren traten und eine kleine Schar hoffnungsvoller Jungens hinter uns hertrabte und in allen Tonarten und Modulationen ihr ›Bief-stä, Bief-stä!‹ riefen.
»Was wollen diese Rangen, was meinen sie, Charley?« fragte Turnerstick.
»Sie halten uns für Engländer, die ja durch die ganze Welt den Ehrentitel ›Beefsteaks‹ tragen. Ihr macht hier also die höchst interessante ethnographische Beobachtung, daß zwischen den Gassenjungen aller Länder eine sehr erfreuliche Übereinstimmung herrscht.«
jetzt lag das Dorf hinter uns, und zur Höhe führte ein sehr gut unterhaltener Weg, welcher zu beiden Seiten von Ziersträuchern eingefaßt war. Wir folgten seinen Schlangenwindungen und standen endlich vor der Pagode. Der Kapitän betrachtete sich das aus braunen, mit weißem Kitt verbundenen Ziegelsteinen aufgeführte Gebäude.
»Acht Stockwerke! Wozu das, Charley?«
»Eine indische Überlieferung erzählt, daß man Buddhas Leiche verbrannt und seine Asche in acht Teile gesondert und in ebenso viele Urnen verschlossen habe. Zur Aufbewahrung der Asche baute man nun einen achteckigen und achtstöckigen Turm und verwahrte in jedem Stockwerke eine der Urnen, so daß die Asche der Füße in das Parterre, diejenige des Kopfes aber in die höchste Etage kam. Dieser Turm nun hat den späteren Bauwerken als Muster gedient.«
»Well, so laßt uns zunächst einmal die Fußpartie betrachten!«
Vor dem Eingange der Pagode hielt ein alter Mann mit Früchten und jenen chinesischen Strohcigaretten feil, von denen man tausend für eine deutsche Mark bekommt. Die Kinder waren uns bis hierher gefolgt; ich kaufte den ganzen Korb voll Früchten für einen staunenswert billigen Preis und gebot dem Manne, den Vorrat unter die Jungens zu verteilen. Diese milde Stiftung erregte ungeheuern Jubel, und als ein jeder der Jungens aus der › Blume der Mitte‹ noch eine Cigarette bekam, da hatte es mit dem ›Bief-stä‹ vollständig aufgehört, und alles eilte in das Dorf zurück, um dort die Kunde von unserer Freigebigkeit zu verbreiten.
jetzt traten wir ein. Der achteckige Raum erhielt sein Licht durch einige den Schießscharten ähnliche Öffnungen. Rechts führte eine schmale Treppe empor; in der Mitte des Hintergrundes saß Buddha, außerordentlich wohlbeleibt, was ja nach chinesischer Anschauung die erste Erfordernis der Schönheit ist, mit dicken Hängebacken und kleinen, schief geschlitzten Augen. Der Ausdruck seines Gesichtes war ein höchst jovialer; die Statue schien mir weniger einen Gott als vielmehr einen Gastronomen vorzustellen, der soeben ein feines Mahl beendet hat und nun vergnügten Sinnes und mit fröhlich blinzelnden Augen sich anschickt, ein Mittagsschläfchen zu halten. Von Bedeutung aber war mir der Umstand, daß die Nase ganz nach kaukasischem Schnitte geformt war, und ich mußte dabei an die weit verbreitete Anschauung denken, daß die Tienhio aus dem Westen gekommen sei.
Zu beiden Seiten des Götzen saßen zwei kleinere Figuren, deren Gesichtsausdruck ein außerordentlich grimmiger war. Vor allen dreien standen eherne Gefäße zur Aufnahme der Räucherstäbchen, und vor Buddha lagen außerdem mehrere Blumensträuße, während seine zornigen Gefährten auf diesen Schmuck verzichten mußten.
Da ließen sich Schritte auf der Treppe vernehmen. Aus dem oberen Stockwerke kam ein Mann herabgestiegen, der gemütlich eine Cigarette schmauchte.
»Wer ist das?« fragte der Kapitän.
»Der Ho-schang,« antwortete ich.
»Ho-schang! Was ist das?«
»Der Priester und Wärter dieser Pagode. Die Ausländer nennen sie Bonzen, der Chinese aber kennt dieses Wort gar nicht, sondern sagt Ho-schang oder Sing.«
jetzt erblickte uns der Bonze und neigte grüßend seinen Papierfächer.
»Tsching-tsching!« grüßte er uns kordial, indem er jedem eine seiner Hände reichte.
»Ihr seid der Sing von dieseng Pagodang?« fragte Turnerstick.
»Sing, tsche!« nickte der Gefragte.
»Seht Ihr es, Charley, daß er mich versteht! Dieser Priester ist ein gebildeter Mann, und ich werde mich sehr angenehm mit ihm unterhalten.«
Er deutete auf das mittlere Götzenbild und fragte:
»Wer ist der alting, guteng Herrang hier?«
»Fo!« lautete die Antwort.
»Fo? Wer ist das, Charley?«
»Buddha, welcher in China Fo genannt wird.«
»Und wer sind die beideng andern Leuting?« fragte er weiter, auf die beiden Nebenfiguren deutend.
Der Bonze erklärte sich die Frage aus der Pantomime und antwortete, erst auf das eine und dann auf das andere Götzenbild deutend:
»Phu-sa und O-mi-to.«
»Hört, Charley, ich sehe zu meiner Verwunderung, daß sogar die Gebildeten in China ein so schlechtes Chinesisch reden, daß man sie ganz unmöglich verstehen kann. Was meint er?«
»Er spricht chinesisch und japanesisch. Phu-sa nennen die Chinesen den berühmten buddhistischen Patriarchen Bodhisatwa, dessen Bild diese Figur sein soll. Und O-mi-to ist japanesisch, denn diesen Namen hat Buddha in Japan erhalten.«
»ja, wer und was ist denn nun eigentlich dieser Buddha?«
»Buddha ist ein Wort aus dem Sanskrit und bedeutet eigentlich ›Weiser‹. Buddha war ein berühmter Religionslehrer, lebte tausend Jahre vor Christus und hatte zum Vater Sudhodana, König von Mogadha, welches jetzt Behar heißt. Sein eigentlicher Name war Sramana Gautama; doch wurde er auch Sockja Muni genannt und –--«
»Stopp, stopp, stopp, Charley!« rief Turnerstick, sich die Ohren zuhaltend. »Wenn Ihr noch eine Minute lang mit solchen Namen um Euch werft, so schnappe ich über. Ich will doch lieber im stärksten Teifun segeln, als mich von so einem Fremdwörterorkan anblasen lassen. Wir wollen uns lieber dieses alte Gemäuer einmal betrachten.«
Und sich zu dem Bonzen wendend, fuhr er fort, auf die Treppe deutend:
»Dürfang wir aufsteiging?«
Dies wurde uns ohne Widerrede erlaubt, aber bereits im zweiten Stockwerke blieb der Kapitän halten.
»Charley, klettert ihr allein weiter. Das ist hier ja schlimmer als auf unserer Ziegenjagd! Ich werde mich verschnaufen und Euch hier erwarten.«
Ich stieg mit unserm Führer weiter; hätte ich eine großartige Tempeleinrichtung erwartet gehabt, so wäre ich vollständig enttäuscht worden, denn all diese Räume enthielten gar nichts und zeigten nur die nackten Wände. Das einzige, was mich für das mühselige Aufsteigen belohnte, war die weite Rundschau, welche mir auf dem sicher zweihundertfünfzig Fuß hohen Turme geboten wurde.
Der Bonze war – eben ein Bonze, und damit ist alles gesagt. Seine ganze Bildung bestand in der Kenntnis der rein mechanischen Opfergebräuche, und ich fühlte die Meinung bestätigt, welche ich mir vorhin über ihn gebildet hatte, als er die beiden Nebengötter für Phu-sa und 0-mi-to erklärte. Er kannte nicht einmal die richtigen Namen der Figuren, welche er anbetete. Die Bonzen sind im allgemeinen höchst unwissende Menschen; sie leben teils von der Mildthätigkeit anderer und teils von den Gaben, welche sie erhalten, um die Sünden anderer auf sich zu nehmen und durch ein frommes Leben abzubüßen. Da sie jedoch im Cölibate leben, sind sie kinderlos, kaufen sich aber gewöhnlich ein Kind, einen Sohn armer Eltern, den sie sich zum Nachfolger erziehen, indem sie ihm die wenigen Handgriffe und die kurzen Gebete lehren, die ihr ganzes Können und Wissen ausmachen.
»Du bist kein Fo-dse?« fragte mich der Bonze.
»Nein; ich bin ein Kiao-yu, ein Christ.«
»So wunderst du dich wohl, daß du diesen Tempel betreten darfst?«
»Nein, denn die Tempel meines Gottes darf auch ein jeder, also auch jeder Fo-dse betreten.«
»Betet und räuchert ihr auch zu eurem Tien-tschu?«
»Ja.«
»Betet ihr ihn auch an mit Glocken und Gongs?«
»Wir bringen ihm schöneres Glockengeläute und bessere Musik als ihr.«
»Wie ist das möglich? Ihr seid ja Barbaren und habt gar keine Musik!«
»Die Tien-tschu haben schönere Musik als die Fo-dse, die Hoeï-hoeï, die Tsang, die Dschi-pen und die Tung-da-dse. Eure Musik ist sehr leicht, die unserige aber ist so schwer, daß sie kein Chinese spielen kann.«
»Soll ich dir glauben?« »Thue es, oder auch nicht, mir ist es ganz gleich!«
»Wie ist dein Name?«
»Kuang-si-ta-sse.,«
»Das ist ein großer Name. Kennst du die Instrumente, welche wir spielen?«
»Ich kenne sie.«
»Aber du kannst sie nicht spielen!«
»Ich habe noch kein einziges in der Hand gehabt, aber ich würde jedes sofort spielen.«
Er lächelte überlegen.
»Den Gong?«
»ja.«
»Den GamelangEs giebt zwei Arten des Gamelang, welche man Glocken und Metallharmonika nennen könnte; die erstere hat Glocken, die andere Metallplatten, und beide klingen unserer Glasharmonika sehr ähnlich.?«
»Ja.«
»Den AnklongEin aus hohlen Bambusstücken bestehendes Instrument von einer Schwere bis zu fünfzig Pfund.?«
»Ja. Aber du fragst mehr, als du darfst, denn der Anklong und der Gamelang sind keine chinesischen, sondern malayische Instrumente.«
Mein Einwurf schien ihn verlegen zu machen. Er fragte weiter:
»Kennst du auch die Pi-pa und die Kiü? Sie sind sehr schwer zu spielen, schwerer als jede andere Musik in der Welt.«
»Ich habe sie gesehen, aber sie noch nicht gespielt, doch ist die Musik für einen Christen so leicht, daß er die Kiü und die Pi-pa sofort spielen würde. Die Christen haben Instrumente, welche ein geschickter Mann nur dann richtig spielen kann, wenn er sich zehn bis zwanzig Jahre alle Tage fleißig geübt hat. Solche Instrumente habt ihr nicht.«
»Du willst, daß ich dies glauben Soll, und darum will ich nicht zweifeln, aber du bist sehr kühn, die Kiü und die Pi-pa sofort spielen zu wollen! Ich habe beide in meiner Wohnung. Willst du mitgehen?«
»Ja.«
Er machte eine siegesgewisse Miene und schritt voran. Turnerstick hatte mit Ungeduld auf uns gewartet. Er fragte:
»Wie war es da oben auf dem Top dieses Turmes, Charley?«
»Hoch, Kapt'n.«
»Hoch? Well, das konntet Ihr Euch hier unten denken! Was thun wir jetzt?«
»Wir gehen mit in die Wohnung dieses Mannes.«
»Was wollen wir dort?«
»Spielen.«
»Monte, Whist, Tarok oder Scat?«
»Nichts von alledem. Wir sollen die Kiü und Pi-pa spielen.«
»Die Kühe und die Pipen? Ihr seid verrückt!«
»Nicht ganz. Die Kiü ist eine Geige und die Pi-pa eine Guitarre.«
»Ah so; das muß man eben nur gesagt bekommen! Aber ich – – –«
»Ich geige also die Kiü, und Ihr klimpert auf der Pi-pa!«
»Ich – ? Auf der Pipa – – ? Bleibt mir mit Eurer Pi-papum vom Halse! Dies von mir zu verlangen, wäre ja grad so Viel, als wenn ein Walfisch Filet stricken sollte! Ich habe in meinem ganzen Leben noch keine solche Wimmerei in der Hand gehabt.«
»So werde ich es allein machen müssen.«
›Ja, könnt Ihr denn das?«
»Ich denke es!«
»Charley, ich will Euch einmal unter vier Augen etwas sagen: blamiert Euch nicht etwa vor diesen Chinesen! Einem Bären oder einem Tiger eine Kugel durch den Kopf zu jagen oder ein paar wilde Ziegen zu schießen, dazu gehört nicht viel, denn man braucht nur zu zielen und loszudrücken; aber eine solche Pi-pa ist ein ganz gefährliches Ding, so gefährlich, daß nicht einmal ich mich hinwagen möchte.«
»Wollen sehen!«
Unterdessen hatte der Bonze einige Worte mit dem Früchtehändler gesprochen, welcher eiligst nach dein Dorfe schritt. Ich dachte mir, daß er ein Publikum herbeiholen Solle, um meine mutmaßliche Niederlage zu einer öffentlichen zu machen.
Von der Pagode schlängelte sich ein schmaler Pfad auf der Höhe hin nach einem Häuschen, welches die Wohnung des Bonzen bildete. Es war ganz aus Bambus gebaut und mit grauen Dachziegeln gedeckt. Es bestand nur aus einem Erdgeschosse, vor welchem ein Pfeilerdach einen schattigen und luftigen Aufenthalt bot.
Bei unserer Ankunft kam ein Knabe aus der Thür und begrüßte uns, jedenfalls war er der Schüler des Bonzen. Dieser flüsterte ihm einige Worte zu, und darauf hin wurde uns Thee gebracht, den wir nach chinesischer Weise aus winzigen Täßchen und ohne Zucker und Milch genossen.
»Herrliche Mode!« brummte der Kapitän, der allerdings ganz andere Trinkgefäße gewohnt war. »Wenn ich da meinen Jungens einen Thee geben wollte, so würde ein jeder seine zwölfhundert von diesen Fingerhüten austrinken und dann gemütlich fragen, wann eigentlich der Thee kommen werde. Aber wann wird dieser Mann eigentlich seinen Pa-pum bringen?«
»Wird uns nicht mehr lange warten lassen, Kapt'n, denn seht, das Publikum wird sich gleich einfinden!«
Vom Dorfe her bewegte sich eine stattliche Schlange von Männern, Frauen und Kindern auf uns zu, und alle hatten Blumen und Sträuße in der Hand. Als sie das Haus erreichten, wurden wir begrüßt und erhielten die Blumen als Gegengabe für die Früchte und Cigaretten, welche ihre Jungens erhalten hatten. In China wird auch das kleinste Geschenk mit hoher Dankbarkeit geehrt, und meine Gabe hatte mir die Herzen des ganzen Dorfes gewonnen.
»Was werden wir mit diesen Sträußen thun, die wir doch unmöglich fortbringen können?« fragte Turnerstick.
»Wir nehmen einiges mit uns und lassen das andere dem Bonzen hier.«
»Aber bedanken müssen wir uns doch?«
»Allerdings; ich werde es sofort thun.«
»Stopp, Charley! Ich bitte um die Freundlichkeit, das einmal mir zu überlassen.«
»Meinetwegen! Macht's nur schön und rührend!«
»Soll nicht fehlen!«
Er erhob sich, wandte sich an die Leute und stellte sich in Positur.
»Chineseng, Manning, Weibing und Kinding! Wir sind gekommeng, um Landing und Leutang kennung zu lernang, und bei euch macheng wir den Anfang. Da habeng wir es sehr gut getroffung, denn ihr bringt uns Blumang und Sträußing für Früchtung und Cigarettang. Wir statteng euch unsere Danksagung ab und hoffeng, daß ihr uns allzeiting in giftong Andenkung behaltang werdet!«
Dieser ›Speech‹, welcher mit begeisterter Beredsamkeit vorgebracht worden war, wurde mit großem Beifall aufgenommen, obgleich kein Mensch ein Wort davon verstanden hatte. Die Leute merkten die Absicht und waren mit dieser zufrieden, ohne weitere, sprachliche Anforderungen zu stellen.
»Seht Ihr's, Charley, daß sie mich Wort für Wort verstanden haben? Ich will wünschen, daß Ihr mit Eurer Pu-po ebenso besteht, wie ich mit meiner Rede! Hier bringt der Mann bereits seine Klimperei!«
Allerdings brachte der Bonze die beiden Instrumente aus dem Innern des Hauses und reichte sie mir dar. Ich wies ihn noch zurück.
»Ich habe weder die Kiü noch die Pi-pa spielen hören. Willst du mir nicht einmal zeigen, wie es gemacht wird, damit ich es nachahmen kann?«
Er lächelte überlegen, wie einer, der nichts anderes erwartet hat, und meinte:
»Du wirst es nicht bringen, obgleich ich dir es zeige!«
Dann griff er zunächst zur Violine. Sie besaß eine von den unserigen etwas abweichende Form, hatte aber auch einen Steg und vier Saiten, die allerdings in einer andern Stimmung standen. Der Bogen war schwer und hatte die sägeähnliche Form unserer Violinbaßbogen. Nachdem er denselben mit gewöhnlichem Pech bestrichen hatte, begann er.
Die Chinesen lauschten mit Entzücken seinen Tönen; er schien bei ihnen als ein Meister zu gelten, spielte aber weder eine erkennbare Melodie, noch hörte ich irgend eine Harmonie heraus. Eine Takteinteilung war auch nicht zu erkennen, und das ganze Spiel bestand aus dem Anstriche immer derselben vier Töne, die er in sehr abwechselndem Metrum erklingen ließ.
Als er den Bogen absetzte, blickte er mich mit einer Miene an, in welcher sich die deutliche Erwartung meiner ganz besonderen Anerkennung aussprach. Als diese nicht erfolgte und ich bloß leise winkte, meinte er:
»So wird ein Christ nie spielen lernen!«
»Hast du noch nie die Musik der Van-kui-dse oder Fu-len in Hong-kong oder Macao gehört?« fragte ich.«
»Nein. Sie sind Barbaren, und ich mag sie weder sehen noch hören.«
»Du hast mir das Spiel auf der Kiü gezeigt; lehre mich auch das auf der Pi-pa!«
Er nahm die Guitarre zur Hand. Sie hatte die Form unserer altmodischen Zithern, besaß einen ziemlich langen Hals mit halbtönigen Griffdrähten und hatte sieben Saiten.
Sein Spiel war ein ebenso monotones wie vorher. Zwar griff er mit den Fingern der Linken zuweilen in die Saiten ein, doch bekamen wir weder eine Melodie noch irgend zwei harmonierende Töne zu hören, und es war mir vollständig unbegreiflich, wie jemand ein so vollkommen angelegtes Instrument besitzen könne, ohne es auch ohne Lehrer zu einer bessern Geschicklichkeit zu bringen. Das Muster zu diesen Instrumenten mußte von den Europäern eingeführt worden sein, ohne daß auch die richtige Technik mit importiert worden war.
Als er geendet hatte und von den Zuhörern mit einem beinahe demütigen Beifall belohnt worden war, reichte er mir die Guitarre hin.
»Nun versuche, ob du das zustande bringst!«
Ich gab den sieben Saiten eine deutsche Stimmung nach H E A d g h e, versuchte kurz einige Griffe und spielte dann einen schnellen Walzer, bei welchem die linke Hand so viel zu thun hatte, daß meine Zuhörerschaft in sichtliches Erstaunen geriet.
»All devils!« rief Turnerstick, als ich geendet hatte, und versetzte mir einen kräftigen Schlag auf die Achsel. »Ihr seid ja ein wahrer Virtuos auf der Pupa oder Dingsda oder wie der Kasten heißen mag! Und davon habt Ihr mir nichts gesagt?«
Ich lachte.
»Ihr seht wenigstens, daß ich mehr kann als Bären und wilde Ziegen schießen, wobei man nur zu zielen und loszudrücken braucht.«
Dann stimmte ich das Instrument nach spanischer Weise auf H D G d g h d, gab zunächst das bekannte ›Glockengeläut‹ zu hören und spielte dann einen Fandango. Die Chinesen ließen, als ich geendet hatte, keine Bewegung sehen und keinen Laut hören, und der Bonze war unwillkürlich bis unter die Thüre zurückgetreten, von wo aus er mich anstarrte wie einer, der vollständig aus dem Sattel geworfen ist.
Der Kapitän hatte sich auf einen niedrigen Mattensessel niedergelassen und schlug vor Vergnügen ein Rad mit seinen beiden Beinen.
»Charley, hier bleiben wir noch länger; hier ist es schön, hier ist es gemütlich, hier gefällt es mir, denn Ihr macht Eure Sache beinahe so gut, wie ich vorhin mit meiner Rede. Spielt weiter!«
jetzt nahm ich die Geige und stimmte sie nach unserer Weise in Quinten. Erst spielte ich einen dreistimmigen Choral, dann ein Brinkmannsches Lied ohne Worte, nachher einen amerikanischen Reel und dann einen lauten, kräftigen Hopser, der so nach dem Geschmacke Master Turnersticks war, daß dieser, sich auf dem Sessel wiegend, mit den Armen und Beinen in der Luft herumgestikulierte und sich redlich bemühte, mit allen zehn Fingern schnalzend, den Takt zu markieren.
»Huzza, bravo, excellent, köstlich, unvergleichlich!« rief er, als ich den letzten Strich gethan hatte. »Das war mir aus der Seele gegeigt, Charley, denn bei so einer Musik wird es einem, als wenn man mit voller Leinwand geradewegs in alle türkischen Himmel hineinsegeln müsse. So eine Musik kann mich auf die Beine bringen, obgleich ich nichts davon verstehe. Ich gäbe sehr viel darum, wenn ich bei diesem famosen Konzerte auch eine Nummer übernehmen könnte!«
»Das könnt Ihr.?«
»Ich? Wie – was – wo! Wie meint Ihr das? Soll ich vielleicht das Brummeisen blasen?«
»Könnt Ihr nicht singen, Kapt'n?«
»Singen? Hm, o ja; aber nur ein einziges Lied. Aber das singe ich auch so ausgezeichnet, daß die Fugen krachen und die Masten splittern, wenn ich einmal damit anfange.«
»Welches ist es?«
»Welches? Kuriose Frage! Natürlich den Yankee-doodle!«
»So macht los! Ich singe mit.«
»Well, das ist prächtig. Fangt an!«
Ich nahm die Guitarre wieder zur Hand, präludierte kurz und hatte kaum mit dem Liede begonnen, so fiel Turnerstick mit einer Stimme ein, welche allerdings die Masten erkrachen machen konnte. Von musikalischem Gehör war keine Rede und infolgedessen von reinen Tönen noch weniger; er brüllte den Text mit einer Bärenstimme, welche zwischen fis und g lag und hier und da einen sehr kühnen Sprung hinauf zwischen es und d hinein machte; aber der ganze Text wurde zu Ende gebracht, und als wir aufhörten, erdröhnte rund um uns ein Beifall, welcher wenigstens ebenso ohrenzerreißend war, wie der Gesang des begeisterten Seekapitäns.
Dieser war vor Anstrengung krebsrot im Gesicht geworden, aber seine Augen funkelten vor Vergnügen, und er befand sich in einer Stimmung, als habe er in einem berühmten ›paddle‹-Klub den ersten Preis gewonnen. Er rief entzückt:
»Blitz und Donner, das war gesungen! Nicht, Charley?«
»Sehr!«
»Wollen wir nicht noch einmal anfangen?«
»Es wird genug sein, Kapt'n; der Mensch darf seine Vorzüge nicht verschwenden.«
»Richtig! Diese Leute wissen nun sicher, woran sie mit uns sind; darum wollen wir dieses famose Lied für später aufheben, damit auch andere erfahren, was es heißt, wenn Kapitän Frick Turnerstick den Yankee-doodle losläßt.«
Ich gab dem Bonzen seine beiden Instrumente zurück.
»Glaubst du nun, daß die Christen Musik machen können?«
»Deine Musik ist viel schöner und auch viel schwerer als die unserige. Aber, hast du die Pi-pa und die Kiü wirklich noch niemals gespielt?«
»Nein; doch wir haben in unserm Lande Instrumente, welche den deinigen sehr ähnlich sind, und daher kommt es, daß ich auch diese zu behandeln weiß.«
»Sagtest du nicht, daß du ein Fu-lan seist?«
»Nein. Ich bin ein Tao-dse.«
»Das ist gut, denn wir hassen die Fu-lan und die Yankuidse, die unsere Städte niederschießen und uns mit ihren Kanonen zwingen, sie reich zu machen, indem wir ihnen ihr Gift abkaufen müssen. Von Tao-dse-kue aber habe ich gehört, daß seine Bewohner friedfertige Menschen sind und alles wissen und verstehen, wonach man sie nur fragen kann. Und das ist wahr, denn ich habe es jetzt gesehen. Wollt ihr nach Kuang-tscheu-fu?«
»Ja. Wir sind nur ausgestiegen, um deine Miao anzusehen, und du hast uns dies erlaubt. Willst du die Gefälligkeit haben, ein Kom-tscha von uns anzunehmen?«
»Ich bin arm und lebe von den Gaben derer, welche barmherzig sind. Dein Kom-tscha wird mir willkommen sein.«
Natürlich hatte Turnerstick diese Worte nicht verstanden, als ich aber in die Tasche griff, merkte er, wovon die Rede gewesen war.
»Halt, Charley, Ihr wollt dem Mann ein Trinkgeld geben?«
»Ja.«
»Das überlaßt mir! Ich habe zwar den Turm nicht so weit erklettert wie ihr, aber ich habe dafür Eure Musik auf seiner Pum-po gehört und werde sie bezahlen.«
Er zog seinen langen Zugbeutel hervor und wandte sich an den Bonzen:
»Hast mir sehr gefalleng, mein Junging; darum werdang ich dir gebung zwei Dolling und deinen Knabeng hier einen Dolling. Kannst dir Tabangk, Cigarretting oder ein paar Flascheng Rumang dafür kaufing. Lebung wohl, alter Pagodangwächter, und denke zuweilen an den Kapitän Turningstikking und an sein famoses Yanking-doodling!«
Der Bonze machte ein höchst erstauntes Gesicht. Für seine Bedürfnisse und die hiesigen Preise waren zwei Dollar ein kleines Vermögen. Es war ihm unmöglich, die Freude über ein so reiches Geschenk für sich zu behalten; er sprang unter die anwesenden Chinesen hinein, zeigte ihnen die beiden Geldstücke und pries in den kräftigsten Ausdrücken die Mildthätigkeit der fremden Tao-dse. Dann faßte er mich bei der Hand und zog mich zur Seite.
»Du willst nach Kuang-tscheu-fu. Darf ich dir einen Rat geben, weil du so gütig gegen uns bist?«
»Du darfst.«
»Ich bitte dich, keinen Menschen hören zu lassen, was ich dir jetzt sage: hüte dich vor den Lung-yin und vor den Kuangti-miao!«
Diese Warnung überraschte, ja, sie frappierte mich; es war beinahe wörtlich ganz dieselbe, welche ich bereits aus dem Munde von Kong-ni gehört hatte. Darum fragte ich.
»Warum?«
»Das darf ich dir nicht sagen. Hast du nicht gehört, daß die Lung-yin gern Fremdlinge gefangen nehmen, um ein Lösegeld zu erhalten?«
»Ich weiß es. Erst vorgestern ist die Frau eines portugiesischen Kaufmanns in Macao verschwunden, und allen Vermutungen nach von den Drachenmännern gefangen genommen worden. Doch, ich fürchte mich nicht vor ihnen.«
»Du kennst sie nicht, sonst würdest du dich vor ihnen fürchten. Es giebt nichts Schlimmeres, als in ihren Händen zu sein und sie zu erzürnen. Hätte ich die Macht, so würde ich dir einen Talisman geben, der dich vor ihnen schützt.«
»Giebt es einen solchen Talisman?«
»Ja.«
»Hast du ihn gesehen?«
»Ich habe selbst – – ja ich habe ihn gesehen.«
»Wie ist er?«
»Das darf ich dir nicht sagen.«
Ich griff an den Hals und zog das Medaillon hervor.
»War es ein solcher?«
Kaum hatte er den Gegenstand erblickt, so verschränkte er die Arme über die Brust und verbeugte sich beinahe bis zur Erde.
»Herr, verzeihe mir. Ich wußte nicht, daß du ein Yeu-ki der Lung-yin bist!«
»Woher siehst du dies?«
Er schien sich über diese Frage zu wundern.
»Du hast den Talisman und mußt also wissen, daß es für jeden Grad eine besondere Art desselben giebt. Oder hättest du ihn nicht verdient, sondern nur gefunden? Das könnte dein Tod sein!«
Ich hielt es nicht für nötig, ihn aufzuklären. Aber dieser buddhistische Bonze schien die Organisation des Flußpiratentums zu kennen; es war mir von Interesse, zu erfahren, ob er vielleicht gar ein Mitglied der Drachenmänner sei.
»Ich habe ihn nicht gefunden. Zeige mir den deinen!«
»Ich habe ihn im Hause, aber du mußt ja an meiner Tasse gesehen haben, daß ich zu euch gehöre!«
Also das war es! Ich hatte zufälligerweise seine eigentümliche Handstellung beim Theetrinken bemerkt; er faßte die Tasse mit den Spitzen des Daumens, Zeige- und Goldfingers an, während er die beiden andern steif ausstreckte. Ich mußte mehr zu erfahren suchen.
»Kennst du auch die andern Zeichen?«
»Es sind ja nur die beiden Grüße, und die kennt jeder: ›Tsching-tschi-ng‹ und ›Tsching-lea-o‹. Nun weißt du auch ohne den Talisman, daß ich zu euch gehöre. Aber du hast mir nicht die Wahrheit gesagt; du bist kein Y-jin, sonst hättest du nie Mitglied oder gar ein Oberster werden können.«
Also der Gruß war auch ein Erkennungszeichen; er wurde so ausgesprochen, daß die letzte Silbe eine Dehnung erhielt, also Tsching-tschi-ng statt Tsching-tsching und Tsching-lea-o statt Tsching-leao. Dies erfahren zu haben, konnte mir von großem Vorteile sein.
»Ich habe dich nicht belogen, aber trotzdem ist der Talisman mein rechtmäßiges Eigentum. Dir aber muß ich sagen, daß du sehr unvorsichtig bist!«
»Warum? Wir beide gehören zu der großen Lung-hui und können also über dieselbe reden!«
»Hast du gewußt, daß ich dazu gehöre? Ich habe dir das Zeichen nicht gegeben, und dennoch warntest du mich vor den Drachenmännern. Weißt du, was für eine Strafe darauf folgt?«
»Der Tod, wenn ich kein Ho-schang wäre. Aber einem Diener des großen Fo darf niemand als nur der Hoang-schan das Leben nehmen, denn nur er allein ist der Oberste aller Priester. Du warst gut und wohlthätig, und da ich dich für einen Fremden hielt, habe ich dich warnen wollen.«
»Warum auch vor den Kuang-ti-miao?«
»Das kann ich nun nicht sagen, denn du mußt es selbst wissen.«
»So lebe wohl! Aber eins muß ich dir noch sagen: Weißt du nicht, daß im Li-king zu lesen ist: ›Die Höflichkeit verbietet streng, das Angesicht eines Mannes schamrot zu machen‹?«
»Ich weiß es. Warum fragst du mich?«
»Hast du mich nicht beschämen wollen? Hast du nicht gezweifelt an dem, was ich dir sagte? Und doch habe ich dir bewiesen, daß es die Wahrheit gewesen ist. Nun ist dein Gesicht rot vor Scham. Sei in Zukunft höflicher mit den Fremden, denn sie sind weiser und klüger als ihr. Tschin-lea-o!«
»I lu fu sing! Und vergieb mir, was ich Unrecht gethan habe.«
Der Kapitän war mir schon vorausgegangen. Als wir an das Ufer des Stromes kamen, fuhr eben eine kleine Gondel ab, welche neben der unsrigen gelegen hatte.
»Wer war dieser Mann?« fragte ich den Schiffer.
»Ein Fischer, welcher hier ausruhen wollte.«
Wir stiegen ein und nahmen unser Segel wieder empor. Der Kapitän legte sich selbst in die Ruder; der Bootsmann nahm das Steuer, und ich betrachtete das auf dem Flusse herrschende rege Treiben. Wir hatten uns bei der Pagode länger verweilt, als es erst unsere Absicht gewesen war; der Abend schien nicht mehr fern zu sein, und die geschäftige Flußbevölkerung suchte die kurze Helle noch zu benutzen, um mit dem Tagewerke zu Ende zu kommen.
Es fiel mir auf, daß die Gondel, welche neben unserm Boote gelegen hatte, in grader Richtung auf das jenseitige Ufer zuhielt. Es konnte unmöglich die Absicht des Mannes gewesen sein, bloß auszuruhen. Dies hätte vorausgesetzt, daß er entweder eine längere Fahrt zurückgelegt oder noch vor sich habe; im ersteren Falle hätte er sicher gleich nach drüben eingelenkt, und im letzteren wäre er stromauf- oder stromabwärts gegangen, anstatt nach jenseits hinüber zu steuern.
Der chinesische Ritual-Canon.
»Möge dich der Glücksstern auf deiner Reise begleiten!«
»Kanntest du den Fischer?«fragte ich unsern Bootsmann.
»Nein.« »Was habt ihr gesprochen?« »Nichts.«
Hätte mir ein schweigsamer Araber diese Antwort gegeben, so wäre es mir nicht eingefallen, an der Wahrheit seiner Worte zu zweifeln; der Chinese ist im höchsten Grade rührig und geschwätzig, und es war nicht anzunehmen, daß die beiden Männer so nahe neben einander gelegen hatten, ohne sich zu unterhalten. Warum aber belog mich der Chinese? Ich konnte mir keinen Grund denken. Ich erkundigte mich weiter:
»Nach Wam-poa können wir heute nun nicht kommen?« »Nein.«
»So müssen wir uns einen Ort suchen, an welchem wir diese Nacht bleiben können. Weißt du einen solchen?«
»Es giebt überall Kung-kuanGemeinde Haus oder Gemeinde Palast, wo vornehme Reisende auf Staatskosten verpflegt werden oder Tien. Die beste ist die Schen-kuang-tien, weiter oben am rechten Ufer.«
»Wie weit ist es bis dorthin?«
»Fünfzehn LiDer Li ist eine chinesische Meile, deren zehn auf eine starke deutsche Wegstunde gehen. Wir sind in einer Stunde dort, wenn der Wind sich so hält, wie jetzt.«
»Bis dahin ist es vollständig Abend.«
»Das ist gut, denn dann wirst du sehen, wie schön der Fluß des Nachts für Fremde ist. Willst du in dieser Herberge einkehren oder soll ich dir eine andere nennen?«
»Wir werden dort einkehren.«
je weiter wir kamen, desto dunkler wurde es. Unser Bootsmann steckte eine bunte Papierlaterne auf; jedes, auch das kleinste Boot war mit einer derselben versehen, und die größeren Fahrzeuge wimmelten förmlich von ihnen. Diese Beleuchtung war außerordentlich notwendig; zwar war keine größere Stadt in der Nähe, aber so weit sich die Lichter erkennen ließen, schien der Fluß von Fahrzeugen förmlich bedeckt zu sein.
Da kam ein sehr hochmastiges Boot hinter uns her, welches, so viel man beim Scheine der Laterne sehen konnte, von zehn Ruderern getrieben wurde. Es schien hart an uns vorübergehen zu wollen, noch aber hatte seine Spitze unsern Stern kaum erreicht, so erscholl es von derselben zu uns herüber:
»Kiang –!«
»Lu!«»Drache.« Dieses mongolische Wort hat also dieselbe Bedeutung wie das chinesische »Lung«. antwortete unser Bootsmann.
Im Nu verlöschten drüben die Laternen; es kam etwas herüber geflogen, was wie ein Topf auf den Boden unseres Bootes aufschlug und sofort einen so lähmenden, so erstickenden Geruch verbreitete, daß ich auf der Stelle meiner Sinne beraubt wurde. Ich sah nur noch, daß unser Bootsmann unter das Wasser tauchte. Er war schleunigst über Bord gesprungen, als drüben die Laternen verlöschten.
Als ich wieder zur Besinnung kam und die Augen öffnete, lag ich gebunden in demselben Boote, welches uns überfallen hatte; neben mir lag mein guter Master Turnerstick. Ich hatte ebenso wie er einen Knebel im Munde, welcher uns verhinderte, ein Wort zu sprechen.
Der Mann am Steuer war mir bekannt. Der Schein der Laterne fiel ihm in das Gesicht, und ich sah sehr deutlich, daß es der Fischer war, welcher mit seiner Gondel neben der unsrigen gelegen hatte. Es war ein Lung-yin, und ich vermutete vielleicht mit Recht, daß unser Bootsmann mit den Drachenmännern im Einvernehmen gestanden hatte.
›Kiang-lu‹ war also die Losung dieser Leute. Und ›Kiang-lu‹, das heißt ›Flußdrache‹, wurde allüberall der Anführer der Piraten genannt, welcher also, diesem Worte zufolge, von mongolischer Abstammung sein mußte. Es hat Flußpiraten gegeben, so lange eine chinesische Geschichte existiert; doch nie aber hatten sie eine solche Organisation besessen, wie gerade in der gegenwärtigen Zeit, und es herrschte eine Panik vor ihnen, welche selbst die Beamtenkreise erfaßt hatte, so daß es schwer hielt, staatliche Hilfe gegen ihre Streiche zu erlangen. Jetzt befand ich mich in ihren Händen. Furcht hatte ich nicht, wie ich aufrichtig gestehen muß. Ich hatte mich mit der afrikanischen ›Gum‹, mit nordamerikanischen Bushheaders und ähnlichen Leuten herumgeschlagen und war jetzt, so zu sagen, neugierig, wie ich diese Drachenmänner finden würde.
Es saßen dreizehn Mann im Boote, zehn Ruderer, ein Steuerführer, und zwei am Buge, die sich miteinander unterhielten. Sie wußten, daß wir Fremde seien, und schienen anzunehmen, daß wir nicht Chinesisch verständen, sonst würden sie leiser gesprochen haben, da wir ganz in ihrer Nähe lagen und jedes Wort deutlich verstehen konnten.
Neben ihnen standen einige Thongefäße von ganz derselben Form wie die indischen Tschatties. Diese festverschlossenen Gefäße waren jedenfalls ›Stinktöpfe‹, welche die chinesischen und malayischen Seeräuber gebrauchen, um ihre Opfer zu betäuben, wie ich und der Kapitän es ja soeben auch erfahren hatten.
»Wer sind die beiden Männer?« fragte der eine der beiden Sprecher.
»Dieser Ta ist ein Tao-dse, und der Dicke muß ein Tung-yin sein, wie uns sein Bootsmann verraten hat. Beide sind reich, denn sie waren die Herren ihres Schiffes.«
»Und du wirst sie dem Dschiahur übergeben?«
»Ja. Wir werden die Hälfte ihres Lösegeldes erhalten, und die andere Hälfte wird er mit dem Kiang-lu teilen.«
»Wie viel müssen sie zahlen?«
»Das wird der Dschiahur bestimmen.«
Wo wirst du sie ihm übergeben?«
»Im Kuang-ti-miao.«
»Ist dort Platz für sie?«
»Ja, denn es befindet sich dort nur das Weib des Por-tu-ki, welches wir wegnahmen, weil diese Barbaren so dumm sind, daß sie glauben, ein Weib habe auch eine Seele. Sie lieben ihre Frauen gerade so wie sich selbst und bezahlen gern ein hohes Lösegeld, um sie wieder zu bekommen. Ihr Mann wird Nachricht erhalten durch denselben Boten, welchen wir auf das Schiff dieser zwei Barbaren senden werden.«
Das waren für uns recht tröstliche Aussichten! Wir sollten gefangen gehalten werden, bis einer dieser Biedermänner das Lösegeld von unserer Barke geholt haben würde. Ich hätte diesem Bootsmann, welcher die Güte gehabt hatte, uns an die Piraten zu verraten, alles mögliche Schlimme anwünschen können, wenn ich es vermocht hätte, mein lebhaftes Interesse für das gegenwärtige Abenteuer zu überwinden. Ich besaß nicht einmal die Mittel, ein Lösegeld zu bezahlen, und wenn ich mich nicht auf die Kasse des Kapitäns verlassen wollte, so mußte ich mein stets bewährtes gutes Glück und vielleicht auch – den Talisman in Rechnung ziehen, welchen ich von Kong-ni erhalten hatte.
Wir sollten nach einem Tempel des Kriegsgottes Kuang-ti geschafft werden – darum also die wiederholte Warnung vor den Kuang-ti-miao. Es schien, als ob die Drachenmänner gar in den öffentlichen Tempeln ihre Geschäftsbureaux aufzuschlagen gewohnt seien, eine Thatsache, die allerdings nur in dem Reiche der Mitte denkbar sein kann. Und was dabei meine höchste Teilnahme erregte, war der Umstand, daß die Portugiesin, von welcher ich zu dem Bonzen gesprochen hatte, in demselben Miao gefangen gehalten wurde. Es schien wahrhaftig mein ›Kismet‹ zu sein, auf allen meinen Reisen mit Personen in Berührung zu kommen, die ihrer Freiheit beraubt worden waren.
Wir waren seit meinem Erwachen wohl über eine Wegstunde stromaufwärts gekommen, als das Boot nach links hinüber lenkte und in einen jener vielen Kanäle einbog, welche in Form engmaschiger Netze die chinesischen Niederungen durchziehen. Das rege, bunte Leben, welches auf dem Flusse geherrscht hatte, hörte auf, und die Laternen verschwanden. Es wurde finster um uns her; nur die Sterne leuchteten zu unserer nächtlichen Fahrt, und einsam klangen die Schläge unserer Ruderer in die still und wellenlos dahingleitenden Wasser. Es wurde öfters in einen Seitenkanal eingebogen, so daß ich über unsere Richtung immer unklarer wurde, zumal ich am Boden des Bootes lag und der Bord desselben mir jede Aussicht verwehrte.
Endlich tauchte eine dunkle Masse vor uns auf, vor welcher wir hielten. Es war ein umfangreiches Mauerwerk, welches ich aber nicht lange zu betrachten vermochte, da uns beiden jetzt die Augen verbunden wurden. Dann löste man die Stricke, welche unsere Füße gefesselt hielten, und wir mußten uns erheben. Wir stiegen aus dem Boote und wurden an beiden Armen ergriffen.
Zunächst führte man uns eine, wie es schien, ziemlich breite Stufenreihe empor, dann durch mehrere schmale Eingänge über einige Höfe hinweg, bis wir endlich in einen geschlossenen Raum traten, wie ich an dem Widerhall unserer Schritte hörte. Hier nahm man uns die Binde wieder von den Augen, und ich erkannte nun, daß wir uns im Innern eines Tempels befanden.
Das Gebäude war aus sehr dicken Backsteinmauern errichtet, schien nur aus diesem einen Raume zu bestehen und zeigte die bekannten Figuren des Kriegsgottes, seines Sohnes Kuang-ping und seines martialischen Stallmeisters, welche von dem Lichte mehrerer Lampen hell erleuchtet wurden. Auf den bloßen Steinen des Fußbodens saßen oder lagen in allen möglichen Stellungen wohl an die zwanzig Männer, welche mit Pfeil und Bambusknüppeln, unmöglichen Pistolen und allen Sorten von Messern, Dolchen und Degen bewaffnet waren. Einer von ihnen trug sogar eine beinahe löcherig gerostete Luntenflinte mit einem so langen und wie einen Korkzieher gebogenen Laufe, daß man hätte glauben sollen, das sonderbare Ding sei bloß gefertigt worden, um Röhren damit auszubohren.
Sie alle gaben sich übrigens die Mühe, eine wenigstens ebenso abschreckende Miene zustande zu bringen, wie der Stallmeister ihres dicken Kriegsgötzen. Ich verspürte aber nicht die mindeste Empfänglichkeit, mich ins Bockshorn jagen zu lassen; die Männer machten vielmehr infolge ihrer antediluvianischen Bewaffnung, ihrer langen Zöpfe, ihrer schiefen Augen, ihrer Stumpfnäschen und ihrer schlafrockähnlichen Bekleidung einen grade entgegengesetzten Eindruck, und es war mir ungefähr zu Mute, als sei ich auf einer Dilettantenbühne als gefangener Heldenspieler unter Räuberstatisten getreten.
Mein guter Frick Turnerstick schien ganz dieselbe Ansicht zu hegen; wenigstens zwinkerte er mir mit den Augen in einer Weise zu, als habe er die größte Luste, seine riesigen Seemannsfäuste zu gebrauchen, sobald dieselben von ihren Banden befreit worden seien, und ich wußte, daß er allerdings der Mann sei, es mit einer Anzahl von ihnen aufzunehmen. Der Chinese zeichnet sich mehr durch List und Verschlagenheit als durch Körperkraft aus; er bramarbasiert gern, läßt sich aber durch Energie und Charakter sofort einschüchtern, und selbst wenn sich hier und da ein körperlicher Riese findet, so wohnt grad oft in einem großen Gehäuse eine desto kleinere und verzagtere Seele. Wenn es ja zum Kampfe kam, so waren wir allerdings nur auf unsere Arme angewiesen, da man uns die Waffen nebst allem, was sich in unsern Taschen befand, abgenommen hatte.
Endlich zog man uns die Knebel aus dem Munde, so daß wir nun wenigstens vollständig zu atmen vermochten; dann gab man uns pantomimisch zu verstehen, daß wir uns setzen sollten. Ich nahm grad zwischen den Knieen des Kriegsgottes Platz, da ich dort die möglichste Bequemlichkeit erwartete und nur von vorn angegriffen werden konnte. Der Kapitän setzte sich neben den grimmigen Stallmeister, dessen Figur er sehr aufmerksam betrachtete.
»Was meint Ihr wohl, Charley,« fragte er mich, »ob das fürchterliche Schwert, auf welches sich dieser Götze stützt, wirklich von gutem Stahl ist?«
»Ob von Stahl, das ist zweifelhaft, von Eisen aber jedenfalls, wie Ihr sehr leicht erkennen könnt.«
»Well! Da steht der Kerl so eine lange Zeit, ohne einen guten Hieb zu versuchen. Ich denke, daß ich ihm einmal zeigen werde, wozu man eigentlich einen Säbel in die Hand bekommt. Oder wollt Ihr vielleicht in dieser Mausefalle stecken bleiben?«
»So lange es Euch gefällt, bleibe ich auch. Gute Kameraden dürfen einander nicht verlassen.«
»So wollen wir machen, daß wir fortkommen!«
»Bringt Ihr den Strick entzwei?«
»All devils, ja, daran habe ich nicht gedacht! Aber könnten wir uns nicht mit einer Anzahl guter Fußtritte hindurchzwingen?«
»Geht nicht, Kapt'n! Denkt einmal: zwanzig Mann waren vor uns da; dreizehn kamen mit uns, macht dreiunddreißig. Es ist unmöglich, uns ohne Waffen durchzuschlagen, selbst wenn wir nicht gefesselt wären. Jeder zwei Revolver, das wären vierundzwanzig Schüsse – vielleicht der einzige Weg, uns frei zu machen; aber erstens haben wir unsere Drehpistolen nicht, und zweitens sehe ich keinen Grund, ein Blutbad anzurichten. Übrigens ist es sehr leicht möglich, daß sie unsere Revolver zu gebrauchen verstehen, und dann wäre der Ausgang des Kampfes für uns ein jedenfalls unglücklicher. Ihr wißt ja: viele Hunde sind des Hasen Tod!«
»Wenn man nämlich ein Hase ist, Charley; versteht Ihr mich?«
»In diesem Falle verstehe ich Euch allerdings nicht, zumal Ihr sehr genau wißt, daß ich kein Hasenfuß bin. Man kann Entschlossenheit besitzen, ohne grade tollkühn zu sein.«
»Well; so thut, was ihr wollt! Ich werde Euch gehorchen.«
»Wir werden ja mit diesen Leuten sprechen, und wenn sie keinen Verstand zeigen, ist es auch noch Zeit, an Gewaltmaßregeln zu denken.«
»Richtig; gesprochen muß mit ihnen werden! Aber das werdet Ihr nicht thun, sondern ich werde sie selbst vornehmen, und zwar so, daß sie ganz genau erfahren sollen, woran sie mit uns sind. Soll ich anfangen?«
»Wartet noch ein wenig! Wie ich sehe, stehen sie eben im Begriff, die Unterhaltung zu eröffnen.«
»Sollen merken, in welcher Weise sich ein Seemann mit solchen Schlang-, Schleng, Schlong-, Schlung-, Schlingels zu unterhalten hat!«
Während unsers Gesprächs hatte man eine kurze Beratung gehalten. Jetzt trat einer der Männer näher und redete uns in gebrochenem Englisch an. Er mochte der einzige sein, welcher dieser Sprache in etwas mächtig war.
»Wer seid ihr?«
»Wer wir sind? Hm, Leute sind wir natürlich!« antwortete Turnerstick mit sehr verheißungsvoll knurrender Stimme.
»Was seid ihr?«
»Was wir sind? Hm, immer noch Leute, natürlich!«
»Wie heißt ihr?«
»Thut nichts zur Sache, mein Junge.«
»Du wirst antworten, wenn ich dich frage; sonst werden wir dir das Reden lernen!«
»Müßte nicht übel klingen, old blunt-nose!«
Sich ›alte Stumpfnase‹ von seinem Gefangenen titulieren zu lassen, schien sehr gegen die Absicht des Chinesen zu sein. Er trat hart an den Kapitän heran und erhob drohend die Faust.
»Soll ich dich niederschlagen, Mensch?«
Die Brauen des Kapitäns zogen sich zusammen, und mit dem lautesten Schalle seiner Stimme donnerte er:
»Away – ffffforrrrrt!«
Der Chinese erschrak bei diesem Tone so, als hätte der Blitz vor ihm niedergeschlagen und sprang mehrere Schritte zurück.
»Komm noch einmal so weit heran,« drohte Turnerstick, »so blase ich dich in die Luft, du Flaumfedersperling!«
Er befand sich ganz in der Stimmung, ein ganzes Register von Drohungen loszulassen, hielt aber bereits nach dem letzten Kraftworte inne, denn hart hinter uns erhob sich eine weibliche Stimme.
»Help, per todos los santos! Help, Mesch'schurs!«
Die halb spanischen und halb amerikanischen Worte wurden jedenfalls hinter der Mauer gerufen, vor welcher sich die drei Götzenbilder befanden; die Hilfesuchende war sicher keine andere als die gefangene Portugiesin, welche das Gespräch vernommen und daraus auf die Anwesenheit von Leuten geschlossen hatte, von denen sie vielleicht Beistand erwarten konnte.
»Hört Ihr's, Charley? Wer mag das sein?«
»Die portugiesische Kaufmannsfrau, von welcher wir gestern gehört haben.«
»Steckt die denn hier in dieser Götzenbude?«
»Ja.«
»Wißt Ihr es genau?«
»Ganz genau. Die Drachenmänner sprachen vorhin davon.«
»So muß sie heraus! Ich breche diesem thönernen Behemoth oder Leviathan, oder wen der Kerl eigentlich vorstellen soll, den Säbel heraus und schlage damit die ganze Bande zu Hackfleisch!«
»Habt Ihr die Hände frei?«
»Holla, es ist ja wahr! Was werden wir thun?«
»Abwarten!«
»Ja, bis wir auch in irgend einem Loche stecken!«
»Das werden sie wohl nicht so schnell fertig bringen. Diese Leute scheinen es nicht richtig zu verstehen, einen Gefangenen auf ordentliche Weise zu fesseln. Sie haben uns nur die Oberarme an den Leib gebunden, so daß wir die Hände recht gut bewegen können. Wie ich sehe, ist der Knoten Eures Strickes nicht schwer zu lösen, und wenn Ihr nur eine Minute hier grad vor mir zu halten vermöchtet, würde ich die Fessel öffnen können.«
»Eine Minute? Pshaw! Ich sage Euch, Charley, zehn Minuten, eine halbe Stunde, einen ganzen Tag werde ich mich halten. Soll ich kommen und dann auch Euch losbinden?«
»Wartet noch, sie scheinen einen Entschluß gefaßt zu haben.«
Die Chinesen hatten jetzt wieder miteinander beraten und schienen zu einem für uns keineswegs angenehmen Resultate gekommen zu sein, denn der Dolmetscher trat wieder herbei, ihm zur Seite zwei andere, mit starken Bambusstöcken in der Hand. Ich hatte zunächst die Macht meines Talisman erproben wollen; fiel es aber diesen Leuten ein, per Prügel mit uns zu sprechen, so war ich entschlossen, auf diese Art der Konversation einzugehen. Nachdem sich je einer der beiden andern vor den Kapitän und mich hingestellt hatte, begann der Dolmetscher:
»Ich werde euch jetzt wieder fragen; antwortet ihr nicht, so erhaltet ihr den Stock!«
Er wandte sich zunächst wieder an den Kapitän:
»Du bist ein Yankee?«
»Mache dich hinweg, Boy, das sage ich dir! So lange wir diese Stricke am Leibe haben, ist mit uns nicht sehr gut zu reden.«
»Die Stricke behaltet ihr daran, bis ihr ausgelöst seid. Und werdet ihr nicht ausgelöst, so werfen wir euch in das Wasser. Also, du bist ein Yankee?«
Der Kapitän antwortete nicht; der Dolmetscher winkte seinem Gefährten, zuzuschlagen, aber es kam nicht dazu, denn Turnerstick fuhr blitzschnell von seinem Sitze auf, sprang auf ihn ein, rannte ihn zu Boden und versetzte dann dem andern einen so kräftigen Fußtritt in die Magengegend, daß er sich überstürzte. Der dritte, welcher vor mir stand, hatte einen malayischen Kris in seinem Baumwollengürtel stecken, und auf diese Waffe war natürlich mein Augenmerk gerichtet. Da ich die Unterarme ein wenig erheben konnte, war es mir leicht, dem Überraschten, der sich keines so schnellen Angriffes versehen hatte, den Dolch zu entreißen, und dann flog er, von dem Absatze meines schweren Seemannsstiefels außer Halt gebracht, um einige Schritte weit zurück.
»Niedergebückt, Kapt'n!« rief ich diesem zu.
»Well; aber macht rasch!«
Turnerstick folgte augenblicklich meinem Gebote und brachte auf diese Weise mir seinen Strick vor den Dolch. Ein Schnitt, und er war frei. Sofort ergriff nun er den Kris und zerschnitt auch meine Bande. Das ging so schnell, wie einstudiert, so daß wir fessellos waren, noch ehe uns einer der Gegner wieder nahe kommen konnte.
»Jetzt drauf! Come on, Charley!« rief der Kapitän.
Mit beiden Fäusten zugleich ausholend, schlug er den Arm des Stallmeisterbildes entzwei und erfaßte das wohl fünf Fuß lange und vier Zoll breite zweischneidige Schwert. Für mich gab es außer dem Dolche, der mir nicht viel nützen konnte, keine andere Waffen, als die ehernen Räucherbecken, welche vor den Bildern standen. Ich hatte kaum Zeit, eines derselben emporzunehmen, so sah ich mich auch schon angegriffen.
Die guten Chinamänner schienen vor dem riesigen Schwerte weit mehr Respekt zu besitzen, als vor meinem Becken, denn während sie den Kapitän nur umzingelt hielten, drangen sie auf mich in hellen Haufen ein. Ich trat zwischen die Beine des in imponierender Korpulenz dasitzenden Kriegsgottes zurück und verteidigte mich. Das Becken war so schwer, daß jeder Schlag mit demselben den Getroffenen besinnungslos zu Boden werfen mußte – schon beim vierten Hiebe zogen sich die Angreifer zurück, trotz der Luntenflinte, alias Röhrenbohrer, mit welcher der Träger derselben mit fürchterlicher Miene auf mich gezielt hatte, ohne im glücklichen Besitze einer Lunte zu sein. Selbst wenn er imstande gewesen wäre, zu schießen, hätte ich seine Spiralkanone nicht zu fürchten gebraucht, da diese für ihn weit gefährlicher sein mußte, als für jeden andern.
»Abgeblitzt, Kapt'n,« lachte ich, »aber noch immer im Belagerungszustand. Wollen wir einen Ausfall riskieren?«
»Was wollen diese Nußschalen gegen zwei solche Dreimaster ausrichten, wie wir sind? Vorwärts, wir segeln sie in den Grund!«
»Wird Euer Schwert nicht zu lang sein?«
»Je länger desto besser. Ich wollte, es wäre so lang wie der Hauptmast einer Fregatte!«
Er faßte den Griff seiner Waffe mit zwei Händen und rückte zur Attaque vor. Ich unterstützte diesen Angriff zunächst durch eine Kanonade, welche ich mit den übrigen Becken eröffnete und die von sehr günstigem Erfolge begleitet war, und dann setzte auch ich mich als Centrum in Bewegung. Der andere Flügel fehlte, da wir nur zu zweien waren.
Die feindliche Linie zog sich um einige Schritte zurück; dies verdoppelte den Mut des Kapitäns. Wie der vorige Inhaber des Riesenschwertes, stützte jetzt er sich auf dasselbe, was ihm aber wegen der Länge der Waffe nicht vollständig gelang, und begann, nach dem Vorbilde der Helden und Recken des Altertums, eine herausfordernde Rede zu sprechen:
»Chineseng, Räuber, Drachenmanning, Mörder und Spitzbuben! Hier steht der Kapitän Turningsticking und dort sein Freund Charleng, der die Indianer totgeschlagung und die Löwang totgeschossing hat. Was seid ihr gegeng uns! Es wird euch zwei Minutang Zeit gegebong; habt ihr bis dahing die Waffeng nicht gestreckt, so seid ihr verlorung und werdet von uns ing deng Grund geborang!«
Diese in dem zuversichtlichsten Tone gehaltene Ansprache schien, allerdings nur infolge eben dieses Tones, nicht ganz ohne Wirkung zu sein, doch wurde dieser Eindruck durch den Dolmetscher vollständig vernichtet, denn dieser brach in ein lautes Gelächter aus und rief:
»Dieser Yeng-kie-li ist wahnsinnig; er will die Sprache der Mitte reden und versteht sie nicht. Schlagt ihn nieder!«
Doch auch wir erhielten eine Aufmunterung, mutig zu sein, denn hinter der Mauer hervor ertönte es:
»Maten à los Carajos!«
»Was sagt die Portugiesin?« fragte Turnerstick.
»Sie spricht spanisch. Wir sollen die Kerls niederschlagen.«
»Well, so thun wir es auch. Wir sind die beiden Ritter dieser Dame und müssen sie unbedingt herausholen!«
Der Vorschlag des ›ritterlichen‹ Kapitäns war doch nicht ganz nach meinem Geschmacke. Diese Chinesen hätten uns bereits förmlich ersticken müssen, wenn ihre Feigheit nicht eine so beispiellose, eine beinahe unmögliche gewesen wäre. Es war mir wirklich unbegreiflich, wie solche Leute Flußpiraten sein konnten. Doch war jetzt ihre Überzahl gegen uns zwei so bedeutend, daß ich wirklich vorzog, zunächst meinen Talisman zu erproben. Schon langte ich nach der Schnur, da öffnete sich der Eingang, und es erschien ein Mann, der eine solche Länge besaß, daß er mich ganz sicher um einen vollen Kopf überragte. Der Bau seiner Glieder war dieser Länge vollständig proportionabel, so daß er den Eindruck einer mehr als ungewöhnlichen Körperkraft machte.
»Der Dschiahur!«
So hörte ich es aus dem Munde einiger Chinesen erklingen, und unwillkürlich zogen sie sich noch weiter von uns zurück, wie um anzudeuten, daß nun er der Herr unsers Schicksales sei.
Das also war der Unteranführer des berüchtigten Kianglu! Bei ihm gab es sicherlich keine Spur von Feigheit, das war aus seiner Nationalität zu schließen. Die Dschiahurs bilden nächst den Kolos, welche von den Chinesen Si-fan genannt werden, denjenigen mongolischen Völkerstamm, welcher von der Kultur noch am wenigsten berührt worden ist. Sie sind stark, tapfer, genügsam, aber auch rachsüchtig und roh, und allgemein ist von ihnen bekannt, daß der Raub als eine Art Sport von ihnen ausgeübt wird. Dieser Dschiahur war sehr gut bewaffnet; er hatte, was in dieser Gegend eine Seltenheit ist, hohe mongolische Stiefeln, und die wenigen, aber wohlgepflegten Haare seines dünnen Schnurrbartes hingen ihm beinahe bis zum Gürtel hernieder.
Er überflog die ganze Versammlung mit einem raschen stechenden Blick seiner kleinen, listig kalten Augen und trat dann zu den beiden Männern, die das Boot befehligt hatten, von welchem wir überfallen worden waren. Sie statteten ihm halblaut einen kurzen Bericht ab, im Laufe dessen sich seine Stirn mehr und mehr verfinsterte. Am Schlusse desselben überblitzte er die Seinigen mit einem drohenden Blick und schritt dann grad auf den Kapitän zu, der ihm am nächsten stand.
»Weg mit dem Schwert!« gebot er in chinesischer Sprache.
Auch wer dieselbe nicht verstand, mußte sich über den Sinn seiner Worte im klaren sein, da die begleitende Handbewegung eine sehr deutliche war; dennoch behielt Turnerstick die Waffe in der Hand und öffnete den Mund zu einer Antwort. Er kam aber zu keinem Laute, denn die mächtige Faust des Dschiahur traf ihn so an die Stirne, daß er lautlos zusammenbrach.
Das war ja mein eigener Jagdhieb, der mir zu dem Beinamen ›Old Shatterhand‹ verholfen hatte! Es zuckte mir in der Faust, aber ich blieb ruhig, denn mein Schlag sollte ihn nicht so unerwartet und heimtückisch treffen, wie der seinige meinen armen Kapitän. Für den Fall eines Faust- oder Ringkampfes war mir nicht bange; es war sehr leicht zu sehen, daß ich hier einer sehr hohen Kraft gegenüberstand, der ich physisch wohl nicht gewachsen, in anderer Beziehung aber vielleicht überlegen war.
Er trat jetzt zu mir heran.
»Weg mit dem Becken!«
Ich regte kein Glied. Sein Arm zuckte blitzschnell empor und gegen mich hernieder; fast zu gleicher Zeit aber auch stieß er einen Schrei aus und wich einen Schritt zurück. Er hatte sich die Rechte verstaucht, da ich mit der Faust den Hieb gegen seine Handwurzel pariert hatte. Unter einem zweiten Schrei der Wut riß er mit der Linken sein Messer hervor und holte gegen meinen Hals aus – ein Schlag von unten mit der Linken gegen sein Kinn, fast in demselben Momente ein zweiter mit der Rechten gegen seine Schläfe, und er krachte neben Turnerstick auf den Boden nieder.
Das war den andern denn doch zu viel; sie drangen laut heulend auf mich ein. Ich riß den Talisman hervor, denn jetzt war der Augenblick gekommen, an welchem ich seiner am notwendigsten bedurfte.
»Halt – sao-sao!« rief ich ihnen entgegen. »Wer will es wagen, gegen dieses Zeichen zu kämpfen!«
Die vorderen blieben halten, und schon nach dem ersten Augenblick war ich überzeugt, daß sich das Erkennungszeichen bewähren werde.
»Ein Yeu-ki,« ertönte es. »Er steht eine Stufe höher als der Dschiahur, der nur Tü-ßü ist!«
Diese Worte belehrten mich, daß die Drachenmänner für ihre Offiziere ganz genau die militärische Gradation in Anwendung brachten. Das Geschenk Kong-nis war kein Talisman, sondern ein geheimes Rangabzeichen. Wie aber war Kong-ni zu demselben gekommen? War vielleicht auch er ein Oberst der Flußpiraten? Er hatte auf mich nicht den Eindruck eines solchen Mannes gemacht. Das Bewußtsein, für einen hervorragenden Unteranführer der Lung-yin zu gelten, gab mir die nötige Sicherheit.
»Ja, einen eurer Yeu-ki habt ihr gefangen genommen, gefesselt und geknebelt, so daß er sich euch nicht einmal zu erkennen geben konnte. Ihr habt mir alles genommen, aber es war eure Pflicht, mich vollständig auszusuchen; dann hättet ihr das Zeichen gefunden.«
»Verzeihe uns, o Herr!« meinte einer. »Nur die sind schuld, welche dich gefangen nahmen.«
Da trat einer der beiden Bootsanführer hervor.
»Nein, Herr, wir sind auch nicht schuld. Dein Ruderer sagte, du seist ein Tao-dse und dein Begleiter ein Yeng-ki-Ii. Du fuhrst auf einem gewöhnlichen Tschuan, so daß wir nicht wissen konnten, daß du zu den Unsrigen gehörst. Hättest du einen Lung-tschuan oder einen Lung-yen benutzt und unsere Laterne aufgezogen, so würden wir dir deine Ehre erwiesen haben.«
»Willst du mir gebieten, was ich zu thun habe? Der Dschiahur hat nach mir geschlagen, ohne mich zuvor zu hören. Bindet ihn!«
»Dürfen wir es?«
»Ihr müßt es!«
Während sie meinem Befehle Folge leisteten, begann der Kapitän, sich zu regen.
»Charley!« seufzte er, indem er die Augen öffnete.
»Kapt'n!«
»Alle Wetter! Wo bin ich? Warum brummt und summt es mir in den Ohren, als hätte ich mit einer Handspeiche einen Hieb –-- ah, Charles, jetzt weiß ich es!«
Er sprang auf. Der Hieb des Dschiahur hätte einen andern getötet, Turnersticks Schädel aber besaß eine so gediegene Bauart, daß ihm eine bloße Faust nichts anzuhaben vermochte. Mit der Besinnung war ihm auch sofort das Bewußtsein alles Geschehenen zurückgekehrt.
»Potz Blitz, da liegt ja der Halunke! Habt Ihr ihn in den Grund gebohrt?«
»Ja.« Und leiser fügte ich hinzu: »Ich gelte für einen Obersten der Strompiraten. Verhaltet Euch darnach!«
»Wie – wa – was? Ah, gut; da hissen wir alle Segel, ziehen alle Flaggen und Wimpel und machen uns in großer Parade schleunigst aus dem Staube.«
»Ohne die Portugiesin?«
»Well, Charley, die hätte ich in der Eile vergessen. Die nehmen wir natürlich in das Schlepptau!«
»So thut mir vorher den Gefallen, und dreht diesem Riesen hier einmal Eurer Taschentuch in den Mund.«
»Warum? Er ist ja gebunden.«
»Er wird bald erwachen, und wenn er zu sprechen vermag weiß man nicht, was für Hindernisse er uns bereiten kann.«
»Richtig; er soll das Sacktuch bekommen!«
Während er dem Gebundenen den Knebel gab, wandte ich mich zu den übrigen:
»Zurück mit dem, was ihr uns abgenommen habt!«
Es geschah, und sobald ich mich im Besitze des Messers und der Revolver wußte, fühlte ich mich so sicher, als ob ich mich an Bord unsers ›The wind‹ befände.
»Ihr habt eine Gefangene hier?«
»Ja. Es ist eine Por-tu-ki.«
»Bringt sie herbei!«
Der, welcher für alle antwortete, verschwand hinter den Götzenbildern. Ich hörte eine Thüre knarren, und dann erschien er mit der Gefangenen.
»Goeden avond – good evening, Mesch'schurs!« grüßte sie niederländisch und englisch, indem sie rechts und links die Seitenfalten ihres Rockes erfaßte und einen sehr tiefen, respektvollen Knix machte.
»Goeden avond, Mejuffrouw,« antwortete ich, und indem ich meine holländischen Sprachbrocken zusammensuchte, fragte ich: »Gij zijt uit Nederland?«
Der Kapitän blickte mich ganz erstaunt an, daß ich eine Portugiesin holländisch anredete; ich aber hatte auf den ersten Blick gesehen, daß wir es mit einer Niederländerin zu thun hatten. Dieses breite, kräftig gerötete Gesicht, diese mehr als volle Gestalt, das schlichtblonde Haar, die blauen Augen, die großen Hände und Füße – es wäre unmöglich gewesen, diese Person für eine Portugiesin zu halten, selbst wenn ihre Tracht nicht eine echt und spezifisch niederländische gewesen wäre. Ich hätte sofort jede Summe gewettet, daß sie der dienenden Klasse angehöre; die Frau eines reichen portugiesischen Kaufmanns war sie auf keinen Fall, und hier mußte also auf irgend einer Seite ein Irrtum vorliegen.
Sie machte ein höchst freudiges Gesicht, als sie ihre Muttersprache hörte, und fragte, mir die Hand zum Willkommen entgegenstreckend:
»Zijt gij ook een Nederlander?« »Neen; ik ben een Duitscher.«
»Eeen Duitscher? O, ik kann ook deusch spreken; ik war in Berlin twee Jahre und drie Weeken Köchin.«
»Wie kommen Sie von Berlin nach China?«
»lk kam von Berlin nach Hertogenbosch und Amsterdam, wo ik bei eenen reichen Koopman Köchin wurde. Er zog nach dem Kap, wo de Mann eenen Naastbestaanden hatte, dessen Wisselbank er übernehmen sollte. De Huisgezin starb aus, und ik fand de Vrouw van eenen Koopmann aus Lissabon, die mij met nach Macao nahm.«
»Alle Tausend! Da sind Sie ja recht weit in der Welt herumgekommen! Waren Sie bis jetzt bei dieser Frau?«
»ja, bis voor drie Dagen.« »Wie kamen Sie von ihr weg und hierher?«
»Wij waren spazieren; da kamen deze Räuber und hebben mij gefangen genommen.«
»Was geschah mit Ihrer Herrin!« »Zij is ausgerissen.«
jetzt war mir der Fall klar. Die Drachenmänner hatten es auf die reiche Kaufmannsfrau abgesehen gehabt, die als Portugiesin jedenfalls weit schmächtiger gebaut war, als unsere dicke Holländerin. Da nun bei den Chinesen die Korpulenz als die höchste weibliche Schönheit gilt und aus diesem Grunde jede vornehme Frau sich Mühe giebt, wohlbeleibt zu werden, so hatte man die Dienerin für die Herrin angesehen, die erstere entführt und die letztere entkommen lassen.
»Wie heißt Ihr Herr?« fragte ich weiter.
»Petro Gonjuis.« »Wie konnte man Euch mitten in der Stadt anfallen?«
»Het war am späten Namiddag und bald dunkel geworden.«
»Was that man mit Ihnen?«
»Zji hebben mij in een Doeck gewickelt und in een Kahn getragen, und dann hebben zij mij hierher gefahren.«
»Und von da an haben Sie da hinten gesteckt?«
-ja. Und da is het mij voorbeeldelos, slecht gegangen. Niemand heeft mij besucht; niemand heeft mij een Maaltyd gebracht; ik konnte niet slapen, weil es rondam an een immerwährendes Roepen und Loopen ging, so daß ik ganz zwak und dor geworden bin. Sobald ik wieder in Macao ben, werde ik die ondeugende Gezelschap bestraffen laten!«
Ich hätte beinahe darüber lachen müssen, daß sie glaubte, vor Hunger, Durst und Ruhelosigkeit ›schwach und dürr‹ geworden zu sein. Aber dazu that sie mir doch zu leid. Ich fragte noch:
»Haben Sie Verwandte, und waren Sie vielleicht verheiratet?«
»Ik ben een Meisje; ik ben nooit eene Vrouw gewesen. Mijn Vader und mijne Moeder zien tot, und die andern hebben mij vergeten.«
»So werde ich mich Ihrer annehmen und Sie zu Ihrer Herrschaft zurückbringen oder wenigstens zurückbringen lassen!«
Während dieses Gespräches war der Dschiahur erwacht. Er konnte weder reden noch sich bewegen, aber er funkelte mich mit grimmigen Augen an, und es stand zu erwarten, daß ich in ihm einen sehr zu beachtenden Feind gewonnen hatte. Ich wandte mich an seine Leute:
»Dieses Weib ist nicht die Frau des Por-tu-ki, sondern nur ihre Dienerin. Der Por-tu-ki wird für sie keinen Li bezahlen, und ich nehme sie mit mir, um ihr die Freiheit wiederzugeben.«
Es entstand ein leises Murren, und einer wagte sogar den Widerspruch:
»Das Weib gehört uns, und niemand darf sie uns nehmen. Sie ist die Frau des Por-tu-ki, denn sie ist schöner als diejenige, welche mit ihr ging!«
Wenn ich ihnen glücklich entkommen wollte, durfte ich mir das nicht bieten lassen. Ich trat daher hart an ihn heran,
»Ich sehe an deinem Gesichte und an deinen krummen Beinen, daß du kein Tschiad-se, sondern ein Tatar bist. Glaubst du, daß ich als euer Yeu-ki es leide, wenn mich ein Tsao-ta-dse»Stinktataren«. So lautet bei den Chinesen der Schimpfname für die nomadisierenden Mongolen. für einen Lügner erklärt? Oder meinst du, daß es mir schwerer wird, dich niederzuschlagen, als den Dschiahur, welcher um zwei Köpfe größer ist, als du?«
Ich faßte ihn bei der Kehle und am Oberschenkel, hob ihn empor und warf ihn gegen die Mauer, daß er sicher nun unschädlich war.
»Richtig, Charley!« meinte Turnerstick. »Soll ich Euch bei diesem Ballspiel helfen? Der Hieb dieses Menschen hat mich in eine ganze besondere Leidenschaft für solche Zerstreuungen gebracht.«
»Ist nicht notwendig, Kapt'n, denn ich denke, daß diese guten Leute uns parieren werden.«
Es war ihnen wirklich anzusehen, daß ich ihnen imponiert hatte.
»Tretet einmal näher!« gebot ich den beiden Männern, welche das Boot befehligt hatten. »Euer Boot liegt noch draußen vor dem Kuang-ti-miao?«
»Ja, Herr.«
»Wie lange seid ihr bereits an diesem Orte?«
»Drei Tage.«
»Wie lange werdet ihr noch bleiben?«
»Du willst uns versuchen, denn du weißt, daß wir in jedem Kuang-ti-miao nur vier Tage bleiben dürfen.«
»Gut! Macht euch fertig, uns nach dem Strome zu bringen!«
»Befiehlst du einen Angriff auf ein Fahrzeug?«
»Nein. Ihr habt unsere Fahrt unterbrochen und werdet uns daher nach Kuang-tscheu-fu bringen.«
»Wir gehorchen!«
jetzt nahm ich eines der Lichter und trat hinter die drei Statuen. Im Rücken des Kuang-ti führte eine Thür in einen engen, dunklen Raum, welcher zur Aufbewahrung des Tempelinventars zu dienen schien, denn ich erblickte neben künstlichen Kränzen und Guirlanden eine Menge geölter Papierlaternen, mehrere Räucherbecken, Tamtams und sogar eine Pauke von chinesischer Konstruktion. Das war das Gefängnis der Niederländerin gewesen. Die Thür hatte ein Schraubenschloß, ähnlich den alten deutschen Mutterschlössern, bei denen der Drücker zugleich als Schlüssel dient, indem er abgedreht und wieder angeleiert werden kann.
»Kapt'n, bringt einmal den Gefangenen herbei!« sagte ich.
»Well! Wollt ihn wohl in diese Koje stauen?«
»Aus Vorsicht. Mitnehmen können wir ihn nicht, und ihn so wie jetzt liegen zu lassen, ist nicht ratsam, wie Ihr leicht begreifen werdet.«
Er nahm den Dschiahur beim Kragen und schleifte ihn herbei. Wir brachten ihn in den Raum, und dann verschloß ich denselben und steckte den Schlüssel zu mir.
Die Drachenmänner hatten dies ruhig mit angesehen; jetzt aber fragte mich einer derselben:
»Was befiehlst du, daß mit dem Dschiahur geschieht? Wer soll seine Gefangennahme dem Kiang-lu melden, du selbst oder wir? Ich bin der Yng-pa-tsung unserer Abteilung und müßte ihn nach Li-ting bringen, wenn du nicht selbst hingehst.«
Li-ting ist eine kleine Stadt am Pe-kiang und wegen ihrer Goldkarpfenzucht berühmt. Dort also war der Kiang-lu zu suchen.
»Ich habe Wichtigeres zu thun,« antwortete ich. »Der Dschiahur bleibt bis zum Morgen hier, und dann schaffst du ihn gebunden zum Kiang-lu.«
»Wird dein Bericht dann bei ihm angekommen sein? Der Tsiang-ki-um steht streng auf Pünktlichkeit.«
»Du hast mir keine Lehren zu geben, sondern nur zu thun, was ich dir befehle!«
»So gieb mir den Schlüssel!«
Diese Forderung, so einfach und selbstverständlich sie war, harmonierte nicht mit meinen Absichten, doch war ich, um alles Mißtrauen zu vermeiden, gezwungen, ihr zu entsprechen.
»Hier ist der Drücker; aber ich gebiete dir, diese Thür nicht eher zu öffnen, als bis der Tag angebrochen ist.«
»Welchen Namen soll ich beim Tsiang-ki-um nennen, wenn ich von dir spreche?«
Ich konnte keinen andern nennen als denjenigen, welchen mir Kong-ni gegeben hatte:
»Ich heiße Kuang-si-ta-sse.«
»Dein Name ist schöner und höher als der meinige; ich werde dir in allen Stücken gehorchen!«
»So sorge dafür, daß die Dienerin der Por-tu-ki Speise in dem Boote finde! Ihr habt sie hungern und dürsten lassen. Wurde euch das vom Tsiang-ki-um geboten?«
»Herr, du weißt ja selbst, wie die Gefangenen behandelt werden müssen. Wenn sie hungern und dürsten, gehen sie leichter auf alles ein, was wir von ihnen verlangen.«
»Zounds, Charley, seid Ihr bald fertig mit Eurer Behandlung?« ließ sich jetzt der Kapitän vernehmen. »Ihr sprecht ja ein so schauderhaftes Chinesisch miteinander, daß es ganz unmöglich ist, auch nur ein einziges Wort zu verstehen!«
»Ich bin zu Ende, und wir können also aufbrechen.«
»Well! Vorher aber muß ich diesen Leuten erst noch meine Meinung zu verstehen geben.«
»Thut das, Kapt'n! Es kann ihnen nicht schaden, wenn wir mit der gehörigen Malice abtreten.«
»Sagt mir vorher noch, was Adieu auf Chinesisch heißt?«
»Tsing leao.«
»Tsing leao, tsing leao! Ich werde das doch nicht etwa bis zum Schlusse meiner Rede vergessen!«
Er stellte sich in Positur.
»Mesch'schurs Pirateng, Robbers und Galgengstricklings! Ihr habt einseheng müssang, daß wir zwei von eureng höchsting Anführers sind. Ihr werdet zugesteheng –--«
»Tsing leao!« wiederholte er leise, sich zur Seite drehend; dann fuhr er laut fort:
»Daß wir diejenigeng Kerls sind, die sich vor dem Teufel und euch nicht fürchteng. Dieser Charling hier hat eureng Hauptmann niedergeschlagong – – –«
»Tsing leao!« flüsterte er wieder abseits –
»Und ich, der Kapiteng Turningsticking, werde jedeng massakrierang, der es wagt, zu emeutireng – – –«
»Tsing leao!« klang es leise zum drittenmal –
»Oder sich gegen uns zu empörang. Jetzt geheng wir fort. Leimt dieseng Beel zu Babel wieder zusammung, und haltet uns in guteng Andenking! Tsing leao, lebing wohleng, gutung Nacht!«
Sie hatten diese Musterrede mit schuldiger Aufmerksamkeit angehört, und sogar dem Dolmetscher war diesesmal kein Lächeln beigekommen. Natürlich mußte auch ich einige Worte hören lassen; ich machte es kurz:
»Wir gehen. Yng-pa-tsung, du weißt, was ich dir befohlen habe. Grüße mir den Kiang-lu!«
jetzt verließen wir den Tempel, welcher für uns so verhängnisvoll hätte werden können. Einige Papierlaternen leuchteten uns auf dem Wege nach dem Wasser; ihr Licht war nicht intensiv genug, daß ich die Bauart des Gebäudes hätte betrachten können. Am Landeplatze lagen mehrere Boote, deren eines wir bestiegen; es war dasselbe, in welchem wir angekommen waren, und dieselbe Mannschaft, welche uns gebracht hatte, stieg ein, um uns fort zu rudern.
Der Lieutenant hatte für Trinkwasser und Früchte gesorgt, so daß die Niederländerin ihren Hunger und Durst stillen konnte.
»God sei Dank,« meinte sie, »dat ik armes Schepsel een Avondeten finde! Het is kein Wildbraad und kein Ham oder gebraden Vleesch, aber het stillt den Hunger und den Schmerz, den ik im Maagen heb.«
Das gute ›Meisje‹, wie sie sich selbst bezeichnet hatte, schien nicht bloß in einer Beziehung von sehr substantieller Gewöhnung zu sein; in zehn Minuten war der ganze beträchtliche Vorrat, der zur Sättigung mehrerer Personen gelangt hätte, ein Opfer ihres ›Magenschmerzes‹ geworden, und es war wirklich drollig, die verwunderten Ausrufe zu hören, zu welchen dieser Appetit die sehr genügsam gewöhnten Chinesen veranlaßte.
jetzt wurde sie redselig; ich erfuhr, daß sie Hanje Kelder heiße, und bekam eine ausführliche Biographie von ihr zu hören. Sie zeigte sich sehr erstaunt darüber, daß sie nicht nur von den Drachenmännern, sondern auch von dem allgemeinen Gerüchte mit ihrer Herrin verwechselt worden war, und gab die sehr energische Absicht kund, die Räuber alle ›ophangen te laaten‹.
Dies brachte auch mich zu der stillen Frage, in welcher Weise ich mich zu den Strompiraten verhalten würde. In gewisser Beziehung war es ganz sicher meine Pflicht, meine Erfahrungen bei der Polizei zur Anzeige zu bringen; aber welche Unannehmlichkeiten, Plackereien und Zeitversäumnisse konnten daraus entstehen! Dabei durfte ich auch der Gefahren nicht vergessen, in welche ich mich dadurch bringen konnte; den Umstand gar nicht gerechnet, daß diese Anzeige ein Verrat gegen Kong-ni war, der sich mir so ungewöhnlich dankbar gezeigt hatte.
In diesen Betrachtungen wurde ich durch einen Ausruf des Kapitäns gestört:
»Horcht, Charley! War das nicht Ruderschlag hinter uns?«
Ich lauschte und vernahm allerdings jenes unverkennbare Geräusch, welches durch des Eintauchen der Ruder entsteht.
»Es kommt ein Boot hinter uns her, Kapt'n!«
»Yes! Aber was für eines? Ich denke, daß wir ein wenig Ursache haben, vorsichtig zu sein.«
»Allerdings. Es ist sehr leicht möglich, daß dieser Lieutenant den Dschiahur befreit hat, der in diesem Falle höchst wahrscheinlich auf den Gedanken gekommen ist, uns zu verfolgen.«
»Was thun, Charley? Die Drachenmänner hier werden ihm natürlich helfen.«
»Wir müssen einen Vorsprung zu gewinnen suchen und sie dann unschädlich machen. Legt Euch mit in die Riemen; wir sind kräftiger als die Chinesen!«
»Well, wollen ihnen einmal zeigen, daß wir ein Boot fliegen lassen können!«
Ich gebot den Leuten, sich kräftiger in das Zeug zu legen; wir griffen selbst mit zu und verdoppelten die Schnelligkeit des Fahrzeuges. Nach einiger Zeit erreichten wir den Einfluß eines Seitenkanals, in welchen ich einbiegen ließ; dann gebot ich, die Laternen auszulöschen. Die Bootsleute gehorchten mir, obgleich sie meine Absicht nicht begreifen konnten.
»Legt an!« befahl ich, als wir eine Strecke einwärts gekommen waren.
Das Boot berührte das Ufer.
»Alle aussteigen!«
»Warum, Herr?« fragte der Mann am Steuer.
»Du hast nur zu gehorchen. Vorwärts!«
Sie stiegen, allerdings zögernd, aus.
»Bleibt hier, und verhaltet euch ruhig, bis ich euch wieder einsteigen lasse!«
Ich stemmte das Ruder ein, stieß das Boot vom Ufer ab und ließ es hinüber an das jenseitige Ufer gehen.
»Well done, das ist richtig, Charley,« meinte Turnerstick; »jetzt sind wir diese Kerls los. Aber horcht!«
»Kiang!« rief es vom Hauptkanale her.
»Lu!« antworteten unsere Bootsleute trotz meines Befehles, sich ruhig »zu verhalten.
Das Boot, welches wir gehört hatten, war an die Kreuzungsstelle der beiden Kanäle gekommen, und die Insassen desselben hatten durch die Losung erfahren wollen, nach welcher Richtung wir gegangen waren.
»Wir sind verraten, Charley. Was thun?« frage der Kapitän.
»Schnell an das Land alle drei, und dann abwarten, mit wem wir es zu thun haben!«
Wir befestigten das Boot an einem Baumwollenstrauch, welcher am Wasser stand, und stiegen aus.
»Wird deze Gefahr groot sein, Mynheer?« fragte die Holländerin leise.
»Das wird sich bald zeigen,« antwortete ich.
»Ik vrees mij niet. Geeft mii een Stock oder een Ruder, und ik werde es den Kerls um die Hoosdeen slaan, dat ihnen die Ohren wie eene Baßgeige brummen!«
Das war ja ein recht beherztes ›Meisje‹! Eine andere wäre in dieser Lage vor Angst in Ohnmacht gefallen.
»Bravo, Fräulein Kelder! Die Ruder liegen schon bereit. Greifen Sie zu, und wenn sie wirklich Ernst machen, so versuchen Sie, nur immer auf die Köpfe zu treffen.«
»Hebt niet Angst! Ik word dezen Menschen schon zeigen, wat eene Hollanderin für kräftige Armen und Vuiste hat!«
jetzt ertönte der Ruderschlag ganz in der Nähe.
»Kiang!« rief es noch einmal.
»Lu!« antwortete es drüben.
Das Boot legte bei unsern Leuten an.
»Wo ist euer Tschuan?« fragte eine Stimme, in welcher ich sofort diejenige des Dschiahur erkannte.
»Drüben am andern Ufer.«
»Wo ist der Ta-Yin mit dem Weibe und seinem Gefährten?«
»Auch drüben.«
»Warum habt ihr euren Tschuan verlassen?«
»Der Yeu-ki befahl es.«
»Er ist kein Yeu-ki, kein Oberst der Drachenmänner. Er hat das Zeichen gestohlen. Er wird es herausgeben und dann sterben. Wartet hier!«
Das Boot lenkte zu uns herüber. Eine Flucht war nicht geraten, da wir das von vielen Wassern durchschnittene Terrain nicht kannten; wir mußten uns wehren. Dabei konnte es meine Absicht nicht sein, sie ungehindert das Ufer erreichen zu lassen.
»Halt!« rief ich ihnen entgegen. »Hier wird nicht gelandet!«
»Das ist er. Drauf; stecht ihn nieder!«
Ich sah die Riesengestalt des Dschiahur inmitten des Bootes stehen. Dieses stieß an, und mehrere der Leute sprangen an das Land. Wir hatten das Ruder erhoben; zwei Schläge und noch zwei – wir waren von ihnen befreit.
»Nehmt auch die Ruder,« gebot der Mongole. »Schlagt die Yeng-kie-li-tsey nieder!«
Er blieb im Boote stehen; die übrigen sprangen heraus. Drei davon warfen sich auf mich. Sie holten zu gleicher Zeit aus. Den vordersten traf mein Hieb, die beiden andern vermochte ich nicht zu gleicher Zeit zu parieren; ich erhielt einen Schlag auf die linke Achsel; dann wurde ich von vorn und von hinten gepackt.
»Haltet ihn fest!« rief der Dschiahur.
Ein rascher Sprung brachte ihn an das Land. Ich schüttelte die beiden kleinen Männer von mir ab, brachte es aber nicht schnell genug fertig. Er konnte seine verstauchte Rechte nicht gebrauchen, doch in seiner Linken blitzte das Messer. Ich bog mich zur Seite, und die Klinge fuhr mir an das Ohr. Ich packte ihn bei der Kehle und beim Arme, wurde aber zu gleicher Zeit von den beiden andern wieder gefaßt, strauchelte über eines der Ruder, welche wir weggeworfen hatten, und wurde zu Boden gerissen. Schon sah ich das Messer des Mongolen über mir.
»Stirb, Yen-dschi!« rief er.
In demselben Augenblick aber erhielt er einen wuchtigen Schlag auf seinen Arm, und ich bekam Zeit, mich aufzuraffen. Die Holländerin hatte den Hieb geführt.
»Believen de Heeren niet auszureißen?« rief sie. »Oder soll ik euch Beene maken!«
»Hilfe, Charley!« rief in diesem Augenblick der Kapitän.
Ich sah mich um und bemerkte, daß er am Boden lag und sich nur mit Mühe seiner Angreifer erwehrte. Mit beiden Fäusten zugleich rannte ich gegen den Dschiahur. Er überstürzte sich und flog in das Wasser. Ich warf die beiden Chinesen zur Seite und sprang Turnerstick zu Hilfe.
»Gebt acht, Mynheer!« rief da die mutige Köchin.»Da in het Water kommen zij wie de Vische gezwommen!«
Ich machte dem Kapitän Luft, so daß er aufspringen konnte, und wollte mich nun nach dem Kanale wenden, als ich einen Ruderschlag auf den Kopf erhielt, daß mir Hören und Sehen verging. Ich fühlte mich in einen Zustand halber Betäubung versetzt, so daß ich von jetzt an wie im Traume handelte. Ich sah Gestalten aus dem Wasser springen und sich der Ruder bemächtigen; es waren jedenfalls die Leute unseres Bootes, welche schwimmend den ihrigen zu Hilfe kamen; ich sah den Kapitän wie einen Wütenden um sich schlagen; auch die Köchin gebrauchte das Ruder. Der Schlag auf den Hinterkopf schien mir die Nerven für den Augenblick gelähmt zu haben. Das Ruder wurde mir zu schwer, und ich griff nach den beiden Revolvern.
Als ich die ersten Schüsse abgab, hörte ich die Stimme Turnersticks:
»Blitz und Knall, an diese Dinger habe ich gar nicht gedacht! Heraus damit! Zwölf Schüsse, das giebt zwölf Spitzbuben!«
Seine Schüsse krachten. Ich sah die Feinde in die Boote springen und sandte ihnen so viele Kugeln nach, als ich noch geladen hatte; doch glaube ich nicht, daß eine einzige getroffen hat, da mir in eigentümlicher Schwäche die Hände zitterten. Auch der brave Turnerstick wird kein großes Blutbad angerichtet haben, da er es von jeher besser verstand, um die Ecke als geradeaus zu schießen.
Dennoch aber hatten die schnell aufeinander folgenden Schüsse ihre Schuldigkeit gethan – die Drachenmänner waren verschwunden; leider aber auch die Boote mit ihnen.
»Wohin denn so schnell?« rief ihnen Turnerstick nach. »Feige Memming, elende Haseng, furchtsamong Pack! Kornmung doch her, du Mongoling! Der Kapitang Turningstikking will dir das Lebung-wohl in die Physiognoming schlageng!«
»Zij zihn verschwunden!« meinte die Köchin, welche sich außerordentlich musterhaft benommen hatte. »Hoe vaart gij, Mynheer?«
»Nicht sehr wohl, Mejuffrouw Hanje,« antwortete ich, indem ich mir Mühe geben mußte, deutlich zu sprechen. »Ich habe – einen sehr – – unbequemen Schlag – auf den Kopf erhalten.«
»Was ist denn das, Charley?« fragte Turnerstick besorgt. »Ihr lallt ja wie ein Betrunkener! Traf euch der unglückselige Hieb vielleicht auf den Hinterkopf?«
»Allerdings!«
»Das ist bös! An die Stirn oder auf den oberen Schädel könnt Ihr mich klopfen, so viel und so sehr Ihr wollt; aber da hinten, da liegt das Leben, grad wie bei einem Schiffe das Steuer, und wenn dieses beschädigt ist, so ist es mit der guten Fahrt vorbei. Was ist zu machen?«
»Nicht viel. Ich brauche Ruhe und Kühlung.«
»Das könnt Ihr ja beides haben. Hier ist Wasser die Menge, und vor Tages-Anbruch werden wir diesen unglückseligen Ort doch nicht verlassen können, so daß Ihr also Zeit habt, Euch zu erholen.«
Das Wasser stand bis an den Rand des Kanales; ich grub mit dem Messer eine kleine Vertiefung, welche sich sofort mit Wasser füllte, und legte, mich auf dem Rücken ausstreckend, den Hinterkopf hinein.
»Was der Kerl praktisch ist! Auf diese Weise braucht er weder Umschläge noch einen Krankenwärter.«
»Zal ik Euch helpen, Mynheer?« fragte die Niederländerin.
»Danke! Sie haben leider selbst Mangel an jeder Bequemlichkeit.«
»Het is te ertragen. lk word mij auf die Aarde legen und sehen, ob ik slapen kann.«
Der Kapitän war ihr behilflich, aus Lieuzweigen ein Kopfkissen anzufertigen, welches allerdings die Zartheit eines Dunenbettes nicht haben konnte; sie streckte sich aus, und bald bewies ein kräftiges Schnarchen, daß es unserer Gefährtin gar nicht schwer falle, hier im Freien, wo allerdings eine sehr milde Luft herrschte, ein gemütliches ›Slapje‹ zu halten.
»Wäre es nicht besser, wir hätten einen andern Ort aufgesucht, Charley?« fragte der Kapitän.
»Warum?«
»Weil ich denke, daß die Kerls wieder kommen können.«
»Werden sich hüten!«
»Meint Ihr? Dann könnte ich wohl nichts Besseres thun, als mir auch ein Kopfkissen machen; denn ich glaube nicht, daß hier jemand so freundlich sein wird, uns eine Hängematte zu bringen.«
»Thut es. Ich werde wachen.«
»Aber habt Ihr auch den gehörigen Verstand dazu? Ich denke, Ihr seid betäubt, und da schläft man ja sehr leicht ein.«
»Habt keine Sorge. Das Wasser hält mich munter!«
»Well! So; da ist das Bett fertig. Weckt mich in einer Stunde, damit ich Euch ablösen kann. Good night, Charley!«
»Gute Nacht, Kapt'n!«
In zwei Minuten war aus dem Schnarchmonologe der Köchin ein Duett geworden, welches mir geeignet erschien, die Strompiraten zu verscheuchen, wenn es ihnen ja einfallen sollte, zurückzukehren. Über mir aber leuchteten die Sterne des Reiches der Mitte. Ich blickte zu ihnen empor lange, lange Zeit, und ein wunderbarer Frieden senkte sich in mein Inneres bei dem Gedanken, daß ein allgütiger und allmächtiger Vater über uns wacht, auf welchem Punkt der Erde wir uns auch befinden mögen. Mein ganzes Denken und Fühlen floß da in einem stummen Gebet zusammen, bis mir die Augen schwer wurden. Turnerstick hatte recht – ich schlief ein. – – –