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Es lag in den Erlebnissen des heutigen Tags begründet, daß wir ausschließlich von Winnetou und seinen Apatschen sprachen. Ich erzählte einige bezeichnende Ereignisse von unsern gemeinsamen Fahrten; Hammerdull berichtete, wie er ihn kennengelernt hatte, und Holbers warf hier und da nach seiner trocknen Art eine Bemerkung dazwischen. Und der Junge Adler schilderte den tiefen Einfluß, den der Verstorbene auch noch nach seinem Tod auf die Indianer, besonders auf die Apatschen und die ihnen verwandten Stämme ausübte. Die beiden Enters hörten nur zu. Sie sprachen nicht, aber man sah es ihnen an, daß sie ganz bei der Sache waren. Das freute mich. Sie hatten wahrscheinlich von ihrem Vater und seinen Genossen so viel Feindseliges über mich und Winnetou gehört, daß es ihnen nichts schaden konnte, jetzt einmal etwas Besseres und Richtigeres zu erfahren. Der Junge Adler fühlte wohl, welch stille Absichten ich während dieses Gesprächs mit dem Brüderpaar verfolgte, und ging darauf ein, indem er mich in dem Bestreben, ihren Haß in Achtung umzuwandeln, unterstützte.
Das Abendessen brachte hierin nur eine kurze Unterbrechung. Als es vorüber war, griffen Dick Hammerdull und Pitt Holbers nach den Zigarren, von denen sie sich aus Trinidad einen Vorrat mitgenommen hatten. Die beiden Enters zogen ihre kurzen Pfeifen und die Tabaksbeutel aus den Taschen. Der Junge Adler rauchte nicht. Er erklärte, es nur bei Beratungen zu tun, und zwar nur aus dem Kalumet, sonst nicht. Was mich betrifft, so weiß man, daß ich sehr stark rauchte. Ich gestehe sogar ein, daß ich der stärkste von allen Rauchern war, die ich kennengelernt habe. Jetzt bin ich es nicht mehr. Es sind nun fünf Jahre her Das Werk ist 1909 geschrieben. Die Herausgeber, da bat mich meine Frau, nicht mehr so viel zu rauchen. Sie meinte, ich hätte meinen Lesern noch sehr viel mitzuteilen und müßte also trachten, so lange wie möglich zu leben. Daraufhin legte ich die Zigarre, die ich im Mund hatte, weg und sagte: »Das ist die letzte gewesen; ich rauche nie wieder!« So stand ich nun also auf demselben Punkt wie der Junge Adler: höchstens noch bei indianischen Beratungen zu rauchen, und zwar aus dem Kalumet, sonst nie!
Dennoch fällt es mir nicht ein, die anregende Wirkung einer guten, verständig genossenen Zigarre oder Pfeife zu leugnen, und ebensogut ist mir wohl bekannt, daß unsre Gedanken für gewöhnlich am liebsten und wohl auch am bequemsten auf Tabakswölkchen aus der Tiefe in die Höhe steigen. Das Gedächtnis scheint geöffnet und die Seele zur Mitteilung bereitwilliger zu werden. Das beobachtete ich jetzt auch am Jungen Adler. Er rauchte zwar nicht selber, aber seine Hand spielte mit den Ringeln und Ringen, die der neben ihm sitzende Hammerdull seinen Lippen entgleiten ließ. Er sog den Duft mit Behagen ein und schien hierdurch eine ganz andre Gedankenrichtung und Ausdrucksweise zu bekommen. Es ist gewiß mehr als sonderbar, daß der freie Indianer selten zum Gewohnheitsraucher nach unsern Begriffen wird, und doch, oder vielleicht grade deshalb, den bessern und reineren Wirkungen des Nikotins zugänglich ist. Er raucht in besonders wichtigen und heiligen Augenblicken, ist aber so von Religiosität durchdrungen, daß er keine Handlung ohne Anrufung seines Gottes und demzufolge fast nichts unternimmt, ohne zuvor, und vielfach auch darnach, ausgiebig zu rauchen.
Der Junge Adler besaß ein reiches Innenleben; aber er war schweigsam. Heut ging er zum erstenmal, seit ich ihn kannte, ein wenig aus sich heraus, aber auch nur vorsichtig und so nach und nach. Von sich selber sprach er nicht, sondern ausschließlich von Winnetou. Klara benutzte diese Gelegenheit zu einer Frage, deren Beantwortung ihr schon seit unserm kurzen Aufenthalt am Kanubisee am Herzen lag. Der junge Apatsche hatte soeben von unsrer Begegnung mit der schönen Aschta gesprochen, da fragte meine Frau:
»Ich sah den Stern auf ihrem Gewand, und ich sehe ihn auch hier bei Euch. Was ist es mit diesem Stern? Und was ist es mit ›Winnetou‹ und ›Winnetah‹? Oder handelt es sich um ein Geheimnis?«
Er schloß für kurze Zeit die Augen. Dann öffnete er sie wieder.
»Es ist kein Geheimnis. Jedermann darf es hören. Ja, wir wünschen sogar, daß alle Welt es erfährt und dasselbe tut wie wir. Ich weiß nur nicht, ob grad jetzt der gegebene Augenblick ist, davon zu sprechen.«
Während dieser Worte streifte sein Blick die beiden Enters. Ich verstand ihn und erwiderte:
»Warum nicht? Es gibt kein Hindernis.«
»So sei es!«
Er schloß die Augen wieder und dachte nach. Dann begann er:
»Ich wollte, ich dürfte in der Sprache der Apatschen zu euch reden; denn diese Sprache bildet das Gewand, in dem das, wovon ich spreche, mir ins Herz gestiegen ist. Die Sprache der Bleichgesichter wirft fremde Falten um diese Gestalten meines Innern.«
Er hatte die Augen noch geschlossen gehalten. Jetzt schlug er sie auf und fuhr fort:
»Es gibt in weiter Ferne von hier ein Land mit dem Namen Dschinnistan. Nur uns, den roten Männern, ist es bekannt.«
Man kann sich meine Überraschung denken, als ich diesen Namen und diese Worte aus diesem Mund hörte. Meiner Frau ging es ebenso. Sie griff rasch nach meiner Hand, als ob sie eine Hilfe brauche, um nicht mit der Mitteilung herauszuplatzen, daß er im Irrtum sei, da er uns für uneingeweiht hielt.
»Dschinnistan?« fragte ich. »Ist dieses Wort aus der Sprache der Apatschen?«
»Nein, sondern aus einer hier vollständig unbekannten Sprache. Es sind viele tausend Jahre her, da war Amerika noch mit Asien verbunden. Es gab im hohen Norden eine Brücke von dort nach hier herüber. Diese Brücke ist jetzt in einzelne Inseln zerrissen und zerfallen. Zu dieser Zeit, also vor Tausenden von Jahren, kamen große, herrliche Menschen, die körperlich und geistig Riesen waren, über diese Brücke zu unsern Ahnen herüber und brachten Grüße von ihrer Herrscherin, der Königin Marimeh.«
Wieder drückte meine Frau mir heimlich die Hand. Sie fühlte ebenso wie ich, daß unsre Marah Durimeh gemeint sei. Der Junge Adler fuhr fort:
»Ihre Boten hatten köstliche Geschenke mitgebracht. Es war ihnen verboten, Gegengeschenke zu nehmen, denn eine Gabe, die erwidert werden muß, ist kein Geschenk, sondern eine Nötigung. Die Gesandten Marimehs erzählten von dem hochgelegnen Reich Dschinnistan. Darin gibt es nur ein einziges Gesetz, das ›Gesetz der Schutzengel‹. Darum wird Dschinnistan auch das ›Land der Schutzengel‹ genannt. Ein jeder Untertan dort muß im stillen der unbekannte Schutzengel eines andern sein. Wer sich entschließt, der Schutzengel seines eignen Feindes zu sein, der gilt als Held, denn er hat sich selber überwunden. Das gefiel unsern Urvätern, denn sie waren ebenso edel wie die Bewohner des Erdteils Asien. Sie baten die Gesandten der Königin Marimeh, ihnen zur Einführung dieses Gesetzes hier in Amerika behilflich zu sein. Die Fremden taten gern, worum man sie gebeten hatte, und zogen dann wieder heim.«
»Kamen sie wieder?« fragte meine Frau.
»Dieselben nicht, aber andre. Nach jedem Menschenalter kam eine Gesandtschaft, um Geschenke zu bringen und nachzusehn, ob das Gesetz auf dieser Seite der Erde noch gelte. So vergingen mehrere Jahrtausende. Der Himmel wohnte auf Erden. Das Paradies stand weit geöffnet. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen Engel und Mensch, weil jeder Mensch ein Engel war, nämlich der Schutzengel eines andern. Da plötzlich blieb die Gesandtschaft aus, die nächste, die übernächste auch. Man erkundigte sich, man schaute nach. Die Brücke von Asien nach Amerika war eingestürzt. Nur noch die Pfeiler standen, die von einer wilden See umtobten Inseln.«
»Wenn ich mich nicht irre, stehn sie heute noch«, fiel Dick Hammerdull ein. »Glaube, man nennt sie die Alëuten.«
»Das stimmt«, nickte ich und fügte lächelnd hinzu: »Ihr seid ein guter Geograph, Mr. Hammerdull.«
»Ob Geograph oder nicht, das bleibt sich gleich, aber es gehört zu dem wenigen, was ich mir aus der Schule gemerkt habe.«
»Es vergingen viele, viele Menschenalter, ohne daß sich wieder eine Gesandtschaft sehn ließ«, fuhr der Junge Adler fort. »Die Verbindung blieb unterbrochen.«
»Konnte man nicht versuchen, sie wieder anzuknüpfen?« fragte meine Frau.
Der Gefragte lächelte trübsinnig.
»Von unsrer Seite geschah nichts dazu«, antwortete er. »Wir waren ja Indianer! Wir wollten glücklich und selig sein, doch ohne Mühe und Anstrengung. Ein erkämpftes Glück war uns zu teuer. Wir glaubten, es billiger haben zu können. Wir ahnten nicht, daß der große, allweise Manitou uns prüfte, daß das Ausbleiben der Gesandtschaft von ihm verordnet war, um uns aufzurütteln und zu eigner Tätigkeit anzuspornen. Unsre Ahnen aber regten sich nicht. Sie hatten das Gesetz von Dschinnistan dankbar angenommen, aber sie hatten keine entgegenkommende Tat für Manitou, für die Königin Marimeh, für die Erhaltung ihres Paradieses, ihres Glücks. Das ist die große, die unverzeihliche Sünde unsrer Ahnen, deren Folgen wir zu tragen haben bis auf den heutigen Tag!«
Da stöhnte Sebulon leise:
»Die Ahnen – die Väter!«
»Schweig und störe nicht!« bat sein Bruder.
Der junge Apatsche erzählte weiter.
»Dem Gesetz von Dschinnistan fehlte die bisher von Geschlecht zu Geschlecht bewirkte Erneuerung der Heimatkraft. Es wurde schwach; seine Wirkung ging verloren. Die Engel wurden wieder zu Menschen. Das Paradies verschwand. Die Liebe starb. Der Haß, der Neid, die Selbstsucht, der Hochmut begannen wieder zu herrschen. Das eine, große Reich mit dem einen, großen Gesetz fing an zu wanken. Der Rasse, die sich an dem Gesetz aufgerichtet und emporgebildet hatte, ging diese Stütze, dieser Pfeiler verloren. Sie fiel in sich zusammen, zwar langsam, Jahrhunderte hindurch, aber sicher. Die Herrscher wurden zu Bedrückern, die Hüter des Gesetzes zu Zuchtmeistern. Hatte es erst nur ein Gesetz der Liebe gegeben, so gebot nun nur noch ein Gesetz des Zwangs. Was vorher segnete, das fluchte; was vorher zusammenstrebte, das bestand jetzt darauf, sich zu meiden. Die einzig mögliche Rettung schien in der Hand der Macht, der schonungslosen Strenge zu liegen. Und sie kamen, die Zwingherrn, die Gewaltherrscher. Sie regierten mit eisernen Fäusten, aber nur einige wenige Jahrhunderte lang. Jeder Druck erzeugt Gegendruck, erzeugt Wärme und innre Hitze, die nach außen strebt, um sich zu befreien. Dieser Druck der nur durch Gewalt zusammengehaltenen Wasser wuchs, bis die Ufer nicht mehr widerstehn konnten. Das Gewicht der verflossenen Jahrtausende begann zu wirken. Ich bediene mich eines geographischen Bildes zur Verdeutlichung einer geschichtlichen Tatsache: Der Obere See drängte auf den Michigansee, dieser auf den Huronsee und dieser wieder auf den Eriesee. Da mußten selbst Felsenufer brechen. Und sie brachen! Der Niagara bildete sich. Erst der Fluß, dann der Fall, der fürchterliche, der unaufhaltsame Fall, durch den die rote Rasse in winzige Teilchen zerstäubte und noch weiter zerstäubt, wenn sich nicht aus der Tiefe dieses Sturzes ein großer, rettender Gedanke erhebt, in dem die Macht verborgen liegt, die Stäubchen, Tropfen, Wellen und Wasser zu sammeln und im zukünftigen Ontario wieder zur Einheit zusammenzufassen. Dieses Bild wird euch fremd und nicht geläufig sein –«
»Es ist uns geläufig«, fiel meine Frau schnell ein. »Es hat sich auch in uns, ohne Zutun andrer, geformt. Wir haben oft darüber gesprochen, daheim und auch hier im Land. Das letztemal am Niagara selber, mit Athabaska und Algongka, den Häuptlingen der –«
»Mit Athabaska und Algongka?« fuhr der Junge Adler in froher Überraschung auf.
»Ja.«
»Zu gleicher Zeit mit beiden?«
»Zu gleicher Zeit. Sie waren beisammen.«
Diese Nachricht brachte ihn offensichtlich aus der Fassung. Ich ahnte wohl, was diesen jungen Indianer so heftig bewegte, sagte aber nichts dazu, sondern ließ ihn ruhig gewähren.
»Sie waren beisammen!« rief er aus. »Sie sind gemeinsam nach dem Niagara gekommen! Und dann – – dann – –? Wißt Ihr, wohin sie von dort aus wollten?«
Ich antwortete auch jetzt noch nicht, sondern überließ es meiner Frau, das Wort zu sprechen, auf das der Junge Adler meiner Ansicht nach mit brennender Sehnsucht wartete. Ein Blick von mir sagte ihr Bescheid, und so fiel das erlösende Wort.
»Nach dem Mount Winnetou«, sagte sie.
Da legte er die Hände zusammen, hob den Blick wie dankend empor und sagte im Ton einer tief innerlichen Freude:
»Nach dem Mount Winnetou! Gerettet – gerettet!«
»Was ist gerettet?« fragte meine Frau.
Er zögerte mit der Antwort, gab sie aber doch, indem er sich langsam wieder niedersetzte:
»Der große Gedanke, der sich aus der Tiefe des Niagara erheben soll, ist gerettet.«
»Er ist also schon gefunden?«
»Er brauchte nicht gefunden zu werden. Er ist schon seit Jahrtausenden da. Er wurde mit ins Verderben, in den Strudel des Falls gerissen. Aber er wurde nicht zerschmettert und zermalmt wie wir, sondern grad, als ihn die Wasser für immer verschlungen zu haben schienen, tauchte er rein, klar und wie ein Wunder leuchtend aus ihren Wirbeln auf, um von den Nachkommen derer erfaßt und festgehalten zu werden, die es einst der Mühe nicht für wert erachteten, ihn, den Gast aus Dschinnistan, in bleibenden Schutz zu nehmen.«
Er hatte in schöner Begeisterung gesprochen, die auch auf meine Frau überzugehn schien, denn sie rief, ebenso entflammt:
»Ich weiß, was Ihr meint! Ich kenne ihn, diesen rettenden Gedanken!«
»Ihr wollt ihn kennen?« warf er ungläubig ein.
»Gewiß! Er ist uns sogar schon lange bekannt. Ihr meint doch das Gesetz von Dschinnistan: Ein jeder Mensch soll der Engel eines andern Menschen sein! Habe ich recht?«
Ein tiefes Staunen ging über sein Gesicht.
»Wirklich, Ihr habt mich begriffen! Wie ist das möglich, Mrs. Burton?«
»Weil es überall in der Welt Menschen gibt, die nach Höherem streben«, antwortete sie. »Und weil – paßt auf, was ich Euch sage – weil man überall Dschinnistan kennt und auch die Königin Marimeh, obwohl Ihr behauptet, daß nur die Roten davon wüßten.«
Er sah mich fragend an.
»Sie hat recht«, bestätigte ich. »Wir wissen sogar den richtigen Namen der Königin. Sie heißt nicht Marimeh, sondern Marah Durimeh. Diese fünf Silben wurden im Lauf der Zeit von euch in drei zusammengezogen.«
»Das wird wohl so sein«, erwiderte er. »Ich frage jetzt nicht danach. Ich freue mich darüber, daß ihr die Königin kennt; ihr kennt Dschinnistan, und ihr kennt auch das wunderbar einfache und doch allumfassende Gesetz dieses Landes. Da seid ihr uns ja eine noch viel größere und wirksamere Hilfe als Athabaska und Algongka, denen ihr auch schon begegnet seid. Wissen sie, wer ihr seid?«
»Nein. Wir verschwiegen es ihnen. Wir waren Mrs. und Mr. Burton für sie.«
Da strahlte sein sonst so ernstes Gesicht vor Vergnügen.
»Wie glücklich macht mich das alles!« sagte er. »Welch eine Überraschung, wenn man euch erkennt! Welch ein schöner und beglückender Eindruck auf Tatellah-Satah, meinen geliebten Meister, wenn er erfährt, daß Old Shatterhand nichts andres will als er! Ihr wurdet gewünscht, aber doch gefürchtet, Mr. Burton!«
»Weshalb gefürchtet?«
»Weil Tatellah-Satah Euch äußerlicher nimmt, als Ihr seid. Weil er befürchtet, daß Ihr dem geplanten Denkmal, diesem Prunkwerk oberflächlicher und engstirniger Menschen, beistimmen könntet. Eure Stimme wiegt schwer; das weiß er, und das wissen wir alle. Fällt sie auf die Seite der Prahler, so erwartet uns anstatt der ersehnten Neugeburt die völlige Vernichtung. Die Seele unsres Volks, unsrer Rasse ist erwacht. Sie streckt sich. Sie beginnt zu denken. Sie will ihre Glieder als ein Zusammengehöriges, als ein großes Ganzes empfinden. Alle Einsichtigen streben nach diesem beseligenden, Stärke verheißenden Einheitsgefühl. Nun aber seht die Sioux, die Utahs, die Kiowas, die Komantschen! Sie greifen zu den Waffen, nicht gegen die Weißen, sondern gegen sich selber. Sie stehn bereit, diese Seele, die soeben erst im Erwachen ist, niederzutreten, sie für immer zu vernichten. Warum?«
Er wollte seine Frage wohl selber beantworten, aber meine Frau kam ihm zuvor.
»Weil Old Surehand, Apanatschka, ihre Söhne und ihr Anhang das wohlberechtigte Volksgefühl dieser Stämme verletzen, indem sie im Begriff stehn, dem Häuptling der Apatschen eine beispiellos überschwengliche Ehre zu erweisen, die ihm nicht gebührt.«
Da warf er einen erstaunten, fast erschrocknen Blick zunächst auf sie und dann auf mich. Es war, als glaubte er seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.
»Wie sagte Mrs. Burton?« fragte er. »Sie nennt diese Ehre eine beispiellos überschwängliche, die ihm nicht gebührt?«
»Ja, das tue ich!« erklärte sie.
»Und Ihr liebt unsern Winnetou, Mrs. Burton?«
Er war sehr ernst geworden. Es hatte in diesem Augenblick den Anschein, als sei sein Gesicht aus Marmor gehauen. Denselben Ernst zeigte auch meine Frau.
»Ich liebe und achte ihn, wie außer meinem Mann keinen andern Menschen.«
»Und doch sprecht Ihr von Überschwang und Unverdienst?«
Er stand langsam wieder von seinem Sitz auf. Klara tat ebenso. Auch ich erhob mich von der Erde. Ich hatte die Empfindung, daß in diesem Augenblick eine Vorentscheidung getroffen wurde, von der Vieles und Großes abhängig war. Ich war dreimal so alt wie dieser junge Mann, aber es fiel mir trotzdem nicht ein, mich nun auch für dreimal so klug zu halten. Für mich verkörperte sich in ihm nicht nur die soeben beginnende Bewegung, die mit dem Wort Jungindianer bezeichnet worden war, sondern das Schicksal und die Zukunft der ganzen indianischen Rasse. Er war vier Jahre lang bei den Weißen gewesen und hatte es, wie es schien, zu ungewöhnlichen Erfolgen gebracht. Er kannte Athabaska und Algongka. Er stand in Briefwechsel mit Wakon, dem Berühmten. Er war der Schüler und Liebling von Tatellah-Satah, also der Nachfolger meines Winnetou im Herzen und in der Seele des größten Medizinmannes aller roten Völker. Deshalb durfte ich ihn nicht unterschätzen und mich nicht überheben. Er stand trotz seiner Jugend geistig ebenbürtig neben mir. Darum antwortete jetzt ich an Klaras Stelle:
»Grad weil wir ihn in dieser Weise lieben, dürfen wir nicht dulden, daß man ihn für die Nachwelt lächerlich macht. Man baue sein Denkmal noch so hoch, in Wahrheit steht er immer noch höher! Wer ihm ein sichtbares Denkmal setzt, erhöht ihn nicht, sondern zwingt ihn herabzusteigen. Winnetou war weder Gelehrter noch Künstler, weder Schlachtensieger noch Städtegründer. Er besaß kein einziges sichtbares Verdienst. Wofür also ein Denkmal? Und wozu ein so beispiellos schreiendes? Womit hat unser unvergleichlich edler Freund eine solche Kränkung verdient? Es ist wahrlich keine Herabsetzung, wenn ich von ihm behauptete, er sei nicht Gelehrter oder Künstler, nicht Schlachtensieger oder Städtegründer gewesen; denn er war mehr als das alles: Er war Edelmensch! Und er war der erste Indianer, in dem die Seele seiner Rasse aus dem Todesschlaf erwachte. In ihm wurde sie neu geboren. Darum war er nur Seele und wollte nur Seele sein. Weg also mit allen Denkmalen! Er hat in unserm Herzen gewohnt und soll diese Wohnung behalten! Wer da glaubt, ihn uns aus dem Herzen reißen und in Metall oder Stein begraben zu können, der bekommt es mit uns zu tun! Er soll leben und leben bleiben, in mir, in uns, in euch, seinen Erben, in – – der Seele seines Volks, die in ihm zu dem Bewußtsein kam, daß für ein dem Untergang geweihtes Volk das große Gesetz von Dschinnistan der einzige Weg ist, sich von diesem Untergang zu retten. Er hätte sich gar wohl als Held, als Feldherr aufspielen können. Er verzichtete darauf, denn er erkannte, daß er so das Ende nur beschleunigt hätte. Er riet zum Frieden, und wohin er kam, da brachte und gab er nur Frieden. Er war der Engel der Seinen. Er war der Engel eines jeden Menschen, der ihm begegnete, ganz gleich, ob Freund, ob Feind. Als die Seele seines Volks in ihm erwachte, erwachte sie notwendigerweise zum Bewußtsein jenes Engelsgesetzes, in dessen letzten Tagen sie einst eingeschlafen und hingeschwunden war. Winnetou war also seelisch der unmittelbare Nachfolger des letzten, großen, altindianischen Herrschers, zu dem die Gesandten der Königin Marimeh kamen, die Boten, die dann nicht wieder erschienen. Habt ihr das begriffen, ihr, seine Brüder und Erben? Habt ihr begriffen, daß es keinem Volk erlaubt ist, Kind zu bleiben? Habt ihr begriffen, wie es gesühnt werden muß, wenn Hunderte von Indianerstämmen und Indianerstämmchen, die doch eines Blutes sind, sich tausend Jahre lang untereinander bekämpfen und vernichten? Daß es ein millionenfacher Selbstmord war, woran ihr zugrunde gegangen seid? Daß ihr nur durch Liebe sühnen könnt, was ihr durch Haß verschuldet habt? Daß der Himmel eurer Ahnen verlorenging, sobald ein jeder rote Mann zum Teufel seines Bruders wurde? Und daß dieser Himmel sich nur dann wieder zur Erde neigt, wenn jeder rote Mann sich bestrebt, der Engel seiner Brüder zu sein, wie es war zu jener Zeit, in der Marimeh, die Königin, noch nicht gezwungen war, euch aufzugeben?«
Das war eine ausführliche Erklärung, die ich da gegeben hatte, fast so, als hätte ich eine Schar von Zuhörern vor mir; und doch waren ihrer so wenige. Aber es stand in Winnetous Brief, daß ich in meinem Herzen von heut an seine Gegenwart in warmer Beseelung spüren würde, und so kamen mir Gedanken und Worte über die Lippen, die ich sonst vielleicht zurückgehalten hätte. Der Junge Adler stand vor mir, als wollte sein Blick mir jedes Wort vom Mund nehmen. Kaum hatte ich geendet, so erklang seine verwunderte Frage:
»Sagt, Mr. Burton, wart Ihr wirklich noch nicht bei Tatellah-Satah?«
»Niemals«, antwortete ich.
»Sonderbar! Auch von Winnetou könnt Ihr das nicht haben!«
»Was?«
»Die Gedanken, denen Ihr soeben Worte gabt.«
»Ein jeder Mensch hat seine eigne Gedankenwelt. Ich stehle nicht aus andern Welten. Auch die Fragen, die ich Euch vorlegte, sind mir aus eigenen Erwägungen erwachsen. Es steht Euch frei, sie zu beantworten oder nicht.«
»Ich antworte gern. Nicht nur durch das Wort, sondern auch durch die Tat. Ihr fragtet mich, ob wir begriffen haben. Vielleicht nicht alles, aber doch wohl das meiste. Der Beweis liegt hier.«
Er deutete auf den zwölfstrahligen Stern auf seiner Brust und fuhr fort:
»Mrs. Burton wünscht zu wissen, was das zu bedeuten hat, und ich gebe Bescheid: Daß wir bereit sind, die Vergangenheit zu sühnen. Daß wir nicht länger hassen, sondern lieben wollen. Daß wir aufgehört haben, die Teufel unsrer Brüder zu sein, und uns bemühen, des verlorenen Paradieses wieder würdig zu werden. Kurz, das Gesetz von Dschinnistan soll wieder bei uns gelten. Wir wollen innig verbunden sein, nicht länger auseinanderstreben. Wir haben keinen Herrscher, der uns das befehlen könnte; wir befehlen es uns selber. Von Tatellah-Satah, dem Meister, ging dieser Gedanke aus. Ich war der erste, den er zum ›Winnetou‹ ernannte. Bald wurden es zehn, dann zwanzig, fünfzig, hundert; jetzt zählen ›Winnetous Erben‹ schon nach Tausenden.«
»Warum wähltet ihr grad Winnetous Namen?« fragte Klara.
»Gab es irgendwo einen bessern? War Winnetou nicht ein Vorbild in der Erfüllung aller unsrer Gebote und Verpflichtungen? Sind die Namen Winnetou und Old Shatterhand bei den roten Völkern nicht zum Sinnbild der Freundes- und der Menschenliebe, der Hilfsbereitschaft und der Aufopferung sogar bis in den Tod geworden? Wo ist das Wort, daß einer der Schutzengel des andern sein soll, reiner verkörpert als in ihnen? Was wir getan haben, ist nichts Besondres. Wir haben einen neuen Clan gegründet, wie es deren so viele gab und heut noch gibt bei den roten Männern. Ein jedes Mitglied verpflichtet sich, der Schutzengel eines anderen Mitglieds zu sein, das ganze Leben hindurch, bis in den Tod. Wir haben diesen Clan den Clan Winnetou genannt und treffen damit das Richtige, denn wir ehren das Andenken des besten Häuptlings aller Apatschen, indem wir uns seine geistigen Erben nennen. Aber das soll das einzige Denkmal sein, das ihm die rote Rasse setzt. Es gibt kein besseres und kein wahreres. Er soll unsre Seele werden, unsre Seele sein. Dann steht er höher als der höchste Punkt der Felsenberge! Und dann ist er größer als das Riesenbild, das ihm kleine Menschen jetzt errichten wollen! Es macht mich glücklich, gehört zu haben, daß Old Shatterhand derselben Meinung ist. Ihr werdet bei Tatellah-Satah, also am Mount Winnetou, den Clan der ›Erben‹ genau kennenlernen.«
»Dürfen wir nicht schon jetzt Eingehendes erfahren?«
»Ich bin ein Heimkehrender, also kein zuverlässiger Belehrer. Zwar stand ich auch in der Ferne mit dem Mount Winnetou im Verkehr, aber nur für Wichtiges und Allgemeines. Um Auskunft zu erteilen, bin ich jetzt selber nicht unterrichtet genug.«
Die beiden Enters hatten sich bisher schweigsam verhalten. Es fiel uns also auf, daß Hariman sich grad in diesem Augenblick hören ließ.
»Darf man nicht wenigstens erfahren, ob auch Weiße Mitglieder dieses Clan Winnetou werden können?«
Der Junge Adler gab Bescheid.
»Er wurde ursprünglich nur für Indianer gegründet, doch würde es gegen seinen Grundgedanken sein, die Weißen auszuschließen. Wir wünschen, daß die Nächstenliebe, nach der wir streben, nicht nur uns, sondern die ganze Menschheit vereint.«
»Könnte man uns wohl verbieten, für uns einen besondern Clan Winnetou zu gründen?«
»Kein Mensch kann euch das verwehren.«
»Darf jedes Mitglied sich das andere wählen, das es beschützen will?«
»Nein. Er muß seine Wünsche melden, und es wird ihnen, wenn es möglich ist, Rechnung getragen; denn wenn einem jeden die Wahl seines Schützlings freistünde, so würde es bald sehr viele Personen geben, die zahlreiche Beschützer haben, und ebenso viele, die gar keinen Schutzengel besitzen. Jemand, den man liebt, zu beschützen, ist kein Verdienst. Aber der Engel eines Verhaßten oder gar Verachteten zu sein, das ist ein Opfer und ein Prüfstein der edlen, wahren Menschlichkeit.«
»Und kennt man öffentlich den Beschützer und seinen Beschützten?«
»Nein. Das bleibt Geheimnis. Nicht einmal der Beschützte kennt seinen Beschützer. Erst nach dessen Tod werden die Beziehungen der beiden zueinander offenbar. Beide werden eingeschrieben. Und jeder Beschützer trägt den Namen seines Schützlings auf der Innenseite des Sterns auf seiner Brust. Löst man nach seinem Tod diesen Stern vom Gewand, so sieht man, wessen Engel er gewesen ist.«
» Well! Das soll man auch bei mir sehn!«
»Bei dir?« fragte sein Bruder erstaunt.
»Ja, bei mir!« antwortete Hariman in sehr bestimmtem Ton.
Da lachte Sebulon auf.
»Bist du etwa auch ein Winnetou?«
»Nein, aber ich will einer werden!«
»Laß dich nicht auslachen! Meinst du, daß man grade dich als ersten Weißen zulassen würde?«
»Das bilde ich mir nicht ein. Aber ich werde trotzdem ein Winnetou sein. Die Sache gefällt mir; ich will sie zu der meinigen machen.«
»Auf welche Weise?«
»Ich gründe einen Clan für weiße Winnetous.«
»Wann?«
»Heut, hier, jetzt, sogleich!«
»Verrückter Kerl!«
Sebulon machte bei diesem Ausruf eine geringschätzende Handbewegung. Hariman aber ließ sich nicht beirren.
»Lach, soviel du willst! Ich tue es doch. Ich muß! Und du wirst wohl auch noch müssen.«
»Ich? Müssen? Fällt mir nicht ein.«
»Mir ist es anfangs auch nicht eingefallen. Es kommt, ohne daß man es will. Und wenn es da ist, muß man gehorchen. Also, ich gründe jetzt einen Clan Winnetou für Weiße. Ob ich das erste und einzige Mitglied dieses Clans bin und bleibe, darauf kommt es in diesem Augenblick nicht an. Und ob ich mich damit lächerlich mache, ist mir gleichgültig. Ich wünsche aber, daß wenigstens noch einer beitritt, und dieser eine bist du, Sebulon!«
»Darauf rechne nicht!«
»Ich rechne dennoch darauf, und du wirst sehn, daß du mußt! – Mrs. Burton, ich vermute, Ihr habt Nähzeug mit?«
»Allerdings«, antwortete sie.
»Ich bitte um eine Nähnadel und um einen Faden schwarzen Zwirn! Auch um eine Schere!«
»Das sollt Ihr haben.« Sie ging nach dem Zelt, das Gewünschte zu holen.
»Und Ihr, Mr. Burton, seid Schriftsteller«, wandte er sich an mich. »Ihr habt also wahrscheinlich Tinte und Feder bei Euch?«
»Ein Reiseschreibzeug ist da«, erklärte ich.
»So gebt mir, bitte, eine Feder und einige Tropfen Tinte! Papier habe ich selber.«
»Meine Frau wird beides mitbringen.«
»Was willst du mit Tinte und Feder?« fragte Sebulon.
»Den Namen desjenigen aufschreiben, den ich beschützen will.«
»Wahnsinn! Darf ich denn wenigstens wissen, wer der Betreffende ist?«
»Nein! Kein Mensch soll es wissen. Du am allerwenigsten!«
Nachdem meine Frau die erbetenen Gegenstände gebracht hatte, schnitt Hariman aus dem Fell des heut verzehrten Hasen einen kleinen, zwölfstrahligen Stern heraus, von dem er mit Hilfe seines scharfen Messers die Haare schabte. Dann schnitt er sich ein Stückchen Papier zurecht und schrieb, das Blatt auf sein Knie legend, in langsamen, sorgfältigen Zügen den betreffenden Namen darauf. Nun bezeichnete er sich die Stelle auf seinem Rock, wo der Stern sitzen sollte, zog das Kleidungsstück aus und schickte sich an, das Abzeichen dort festzunähen. Sebulon folgte jeder dieser Bewegungen mit gespannten Blicken. Auf seinem Gesicht wechselte der Ausdruck des Spotts mit dem einer tiefen, ängstlichen Spannung. Hariman hatte kein Geschick zum Nähen. Schon nach den ersten Stichen trennte er alles wieder auf. Das wiederholte sich. Er wurde ungeduldig.
»Es ist, als ob es nicht sein sollte; ich tue es aber doch!« zürnte er.
Da fragte meine Frau:
»Wollt Ihr nicht mir erlauben, den Stern festzunähen? Ich bringe das wohl leichter fertig.«
»Wolltet Ihr's tun, Mrs. Burton? Wie lieb Ihr seid! Ja, da habt Ihr den Rock, den Stern, das zusammengeschlagne Papier, das unter dem Stern liegen soll, alles! Aber bitte, wahrt mein Geheimnis!«
Sie legte den gefalteten Zettel an die bezeichnete Stelle des Rocks, den Stern darauf und begann, die Arbeit sorgfältig auszuführen. Zwölf Strahlen erforderten viele Stiche.
»So große Mühe hätte ich mir nun freilich nicht gegeben«, gestand Hariman. Und nach einer Weile fügte er, wie zu sich selber sprechend, hinzu: »Es ist doch eigentümlich mit dieser Sache! Als ich den Namen schrieb, war es mir, als unterschriebe ich mein Todesurteil. Und doch war es mir so leicht und so wohl dabei!«
Sebulon verwendete keinen Blick von meiner Frau. Aber seine Aufmerksamkeit hing mehr an ihrem Gesicht als an ihrer arbeitenden Hand. Zuweilen schloß er die Augen, als empfände er einen Schmerz darin. Und – – was war denn das? – – Ich sah einen Tropfen von seiner Stirn rinnen und noch einen und wieder einen. Schwitzte er? Seine Hände zuckten nach dem Hasenfell. Er schien nicht zu wollen, ergriff es aber doch. Dann nahm er die Schere und schnitt, ganz wie vorher sein Bruder, einen zwölfstrahligen Stern heraus. Das geschah so widerwillig, fast wie im Traum. Jetzt schabte er die Haare herunter, schob meiner Frau den Stern zagend hin und ersuchte sie:
»Bitte, Mrs. Burton, mir dann auch!«
»Annähen?«
»Annähen«, nickte er.
»Mit einem Papier?«
»Ja, den Namen schreib ich jetzt.«
»Also doch! Habe ich's nicht gesagt?« rief Hariman aus.
»Schweig!« fuhr ihn sein Bruder an. »Ich tue es nicht, weil du es wolltest, sondern weil ich es will! Ich kann auch beschützen! Verstanden?«
»Aber wen?« fragte Hariman.
»Das ist mein Geheimnis! Hast du mir etwa den von dir geschriebnen Namen gesagt? So erfährst also auch du den meinen nicht!«
Er griff zu Feder und Papier und schrieb. Es handelte sich nur um einen Namen, also um ein einziges Wort: aber er brachte doch längere Zeit damit zu. Er unterbrach sich mehrere Male und holte dabei tief Atem. Endlich war er fertig, ließ die Schrift trocken werden, legte das Papierchen mehrfach zusammen und schob es meiner Frau hin.
Was die Brüder taten, löste ein eigenartiges Empfinden in mir aus. Wohl mancher an meiner Stelle hätte es als Kinderei bezeichnet. Und doch wäre es mir unmöglich gewesen, darüber zu lächeln. Ich hatte das Gefühl, als sei dabei ein innerer Zwang vorhanden, dem weder der eine noch der andre widerstehn konnte.
Als Klara mit der Arbeit fertig war, zogen die Brüder ihre Röcke wieder an. Sie betrachteten einander, erst ernst, fast feindselig, dann freundlicher und immer freundlicher. Endlich lachte Hariman; Sebulon aber lächelte nur.
»Weißt du, was du nun bist?« fragte Hariman.
»Ein Winnetou«, antwortete Sebulon.
»Ja. Aber weißt du auch, was das bedeutet?«
»Daß ich der Engel eines Menschen bin, den ich zu beschützen habe.«
»Ganz recht. Hoffentlich hast du richtig gewählt.«
Sebulon sah seinen Bruder mißtrauisch von der Seite an.
»Was meinst du damit?«
»Du mußt überlegen, daß ...«
»Nichts habe ich mir überlegt!« brauste Sebulon auf. »Ich tue, was ich will! Das Überlegen bringt nur fremden Willen. Ich bin ein Winnetou geworden, und –«
»Nein, Ihr seid noch keiner!« fiel der Junge Adler ein.
Es war das erstemal, daß er ungefragt zu Sebulon sprach.
»Nicht?« fragte dieser. »Was fehlt noch daran?«
»Der Schwur, der Euch auf die sittlichen Gebote des Clan verpflichtet.«
»Der Schwur? Man muß schwören?«
»Ihr müßt es. Ihr seid Weiße. Ihr müßt geloben Eurer Schutzengelpflicht treu zu sein. Die roten Männer brauchen keinen Schwur. Bei ihnen genügt der Handschlag, denn er ist ihnen ebenso heilig wie der Eid.«
»Uns auch!« rief Hariman.
»Ja, uns auch!« rief Sebulon.
»So steht auf!« gebot ihnen der Jüngling.
Sie taten es. Auch er erhob sich von seinem Sitz. In diesem Augenblick warf Hammerdull ein großes, harziges Holzstück ins Feuer. Die Flamme loderte auf. Sie züngelte nach allen Richtungen. Da schien sich der Wald mit geistergleichen Wesen zu beleben. Die nächtlichen Schatten der Bäume und Sträucher bewegten sich. Sie huschten hin und her. Sie sprangen empor und sanken zu Boden.
»Reicht euch die Hände!« befahl der junge Indianer.
Sie gehorchten. Da trat er dicht zu ihnen heran und legte seine Hand auf die ihrigen.
»Sprecht mir die Worte nach: ›Unsern Schützlingen treu bis in den Tod!‹«
»Unsern Schützlingen treu bis in den Tod!« erklang es vereint aus dem Munde der Brüder.
»Dieses Wort ist unser Schwur! Sprecht das nach!«
»Dieses Wort ist unser Schwur!« fügten sie hinzu.
»So! Nun erst könnt ihr behaupten, Winnetous geworden zu sein. Denn nicht der Stern tut es, sondern der Wille. Und diesen Willen habt ihr kundgegeben. Des bin ich Zeuge. Gebt auch mir, dem Zeugen, eure Hände!«
»Hier ist die meine«, sagte Hariman.
»Und hier die meine«, sprach Sebulon.
Der junge Apatsche ergriff beide, die eine mit seiner Rechten, die andre mit seiner Linken.
»Seid ihr euch der Wichtigkeit dieses Augenblicks bewußt?«
Keiner antwortete. Da fuhr er fort:
»Was ihr nicht wißt, weiß Manitou, und was ihr nicht könnt, kann er. Wer andre beschützt, beschützt sich selber. Indem ihr euch vorgenommen habt, die Engel eurer Schützlinge zu sein, sind in Wirklichkeit sie eure Engel geworden. Bleibt euch und ihnen treu! Dann werdet ihr in Wahrheit sein, was ihr anstrebt: Winnetous Erben!«