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Der Mount Winnetou liegt im südöstlichen Winkel von Arizona an der Grenze von New Mexiko. Die dortigen freien Indianer erkennen keine Regierung über sich an. Der Ausschuß des Denkmals für Winnetou war so pfiffig gewesen, sich an den Vereinigten-Staaten-Kongreß zu wenden, und hatte die Erlaubnis erhalten, ›am Mount Winnetou eine Stadt namens Winnetou City anzulegen, dem einstigen Häuptling der Apatschen dort ein Denkmal beliebiger Höhe und beliebigen Umfangs zu setzen und alle Einrichtungen zu treffen und alle Bauten vorzunehmen, die zur Erreichung dieser löblichen Zwecke nötig sind‹. So lautete die Genehmigung, die ihnen der zuständige Abgeordnete erwirkte.
Daraufhin hatten sie ihr Werk begonnen, ohne sich um die Überlieferungen und Rechte andrer zu bekümmern. Die Stämme der Apatschen waren leicht gewonnen, weil es sich angeblich um eine Ehrung ihres Winnetou handelte. Auch einige Komantschenstämme dazu, denn Apanatschka war ja der Häuptling der Kanean-Komantschen. Einen Häuptling, auf den alle Stämme der Apatschen hörten, gab es seit Winnetou nicht mehr, und was den alten Tatellah-Satah betraf, dessen Einfluß sich über alle roten Stämme erstreckte, so war er zwar nicht zu bewegen gewesen, in den Plan zu willigen; aber Old Surehand und Apanatschka glaubten, daß es ihnen doch noch gelingen würde, ihn auf ihre Seite herüberzuziehn. Sie rechneten dabei auf den Zwang der Tatsachen, der unabweisbar ist, und begannen also, zu schaffen und zu bauen, ohne seine Einsprüche zu beachten. Old Surehand und Apanatschka waren nicht mehr die Indianer oder die Westmänner, als die ich sie vor Zeiten kennengelernt hatte. Sie waren infolge ihrer Reichtümer und ihrer verzweigten Geschäftsverbindungen weit über ihre frühern Anschauungen und Verhältnisse hinausgewachsen, waren aber auch dem Geld hörig geworden. Woher dieses Geld stammte, ist in meiner Reiseerzählung ›Old Surehand‹ gesagt, wo von dem Bankhaus Wallace & Co. in Jefferson City die Rede ist. Die Brüder wollten mit ihrem Plan, kurz gesagt, ein ›Geschäft‹ machen; sie wollten ihre Söhne zu einer Berühmtheit emporschrauben, aus der immer neue Summen zu schöpfen waren.
Aber Tatellah-Satah war nicht der Mann, der auf das, was er für richtig hielt, so leicht verzichtete. Er wich zunächst dem Zwang, aber nur scheinbar. Er konnte sie nicht hindern, die Kraft des Wasserfalls in elektrische Ströme zu übersetzen, den Wald durch Steinbrüche zu entweihen und eine Menge roter Arbeiter herbeizuziehn, die sich gewiß nicht dazu hergegeben hätten, wenn sie nicht von ihren Stämmen ausgestoßnes Gesindel gewesen wären. Aber er sandte zu den Mescaleros, den Llaneros, den Jicarillas, den Taracones, den Navajos, den Chiricahuas, den Pinalenjos, den Kojoteros, den Gilas, den Lipans, den Mimbrenjos und den Kupferminenindianern. Das sind lauter Apatschenstämme, die den Bewahrer der großen Medizin als den bedeutendsten Mann ihrer ganzen Rasse verehren.
Er ließ ihre Häuptlinge kommen. Er erklärte ihnen, daß es sich hier weniger um die Ehrung ihres Winnetou, als vielmehr um eine Idee Young Surehands und Young Apanatschkas handle und überhaupt um ein gewöhnliches Geschäft. Es gelang ihm sogar, ihnen klarzumachen, daß es eine Versündigung an dem Andenken des stillen, bescheidenen Winnetou sei, ihn auf einen solchen Sockel zu heben. Er bewies ihnen, daß dies den Untergang ihres Volks nicht verzögern, sondern nur beschleunigen könne, weil es die andern Stämme neidisch mache gegen die Apatschen. Kurz, er errang sich bei den Häuptlingen einen durchschlagenden Erfolg und schickte sie zu ihren Leuten zurück, damit sie ihrerseits auf diese einwirkten. Der Clan der Winnetous war bereits gegründet; der wirkte mit. Das eigentliche, offne Vorgehn gegen den Stadt- und Denkmalsausschuß verschob Tatellah-Satah auf die Zeit der großen Meetings, die am Mount Winnetou abgehalten werden sollten. Diese Zeit war nun nahe. Er wollte zunächst Heerschau halten. Er mußte wissen, wer von den Häuptlingen für und wer gegen den Plan war. Doch hatte er sich bis jetzt noch niemand gezeigt. Er war auf seinem ›Schloß‹ verborgen geblieben und heut zum erstenmal seit langem herabgekommen, um mich zu empfangen.
Das erzählte er uns während des Mittagessens, wozu er uns geladen hatte. Es fiel ihm dabei nicht etwa ein, diese streitigen Dinge zu beklagen. Sein Blick war scharf und weitschauend. Er erkannte sehr wohl, daß es fast nur auf ihn ankam, die gegenwärtigen Verhältnisse zur Grundlage einer neuen, hoffnungsreichen Zukunft auszugestalten. Ein derartiges Zusammenströmen von Indianern aller Stämme wie jetzt war wohl in Jahrhunderten nicht wieder zu erwarten, abgesehn davon, daß diese Rasse überhaupt absterben mußte, wenn es jetzt nicht gelang, ihr neues, inneres Leben einzuhauchen. Darum war er fest entschlossen, diese Gelegenheit beim Schopf zu fassen und der erwachenden Seele seiner Rasse eine breite Bahn zu schaffen. Die Eigenschaften, die hierzu nötig waren, besaß er wohl alle, außer einer einzigen. Ich meine die wagemutige, einfach zupackende Rücksichtslosigkeit, die vorstoßende Offenheit. Die besitzt der Indianer überhaupt nicht. Er hat sie besessen, gewiß: aber sie ist ihm im Umgang mit den doppelzüngigen Bleichgesichtern verlorengegangen. Vor ihnen war er gezwungen, sich auf die heimliche List zurückzuziehn, und das ist ihm schließlich zum Wesenszug, zum Merkmal geworden. Nur hervorragend edle Indianer, wie Winnetou, haben sich nicht gescheut, nötigenfalls zum ehrlichen, offnen Angriff zu schreiten und dies sogar schon vorher anzukünden; gewöhnlich aber hält der Indianer es nicht für klug, in dieser Weise zu verfahren. Deshalb hatte Tatellah-Satah so lange gezögert. Und darum hatte er mein Kommen gewünscht. Ich will die Sache kurz beim richtigen Namen nennen: er traute mir den Mut zu, für ihn und seine Anhänger die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Deshalb war es ihm von größter Wichtigkeit gewesen, so bald wie möglich zu erfahren, auf welcher Seite ich zu suchen sein wurde, auf der seinen oder auf der der Denkmalbauer. Seit er vom Jungen Adler benachrichtigt worden war, daß ich treu zu ihm stehn würde, fühlte er sich von seiner schwersten Sorge befreit. Er hatte von Tag zu Tag gehofft, daß ich kommen würde, und nun ich endlich eingetroffen war, fragte er mich, ob ich bereit sei, in Wirklichkeit sein Shatterhand, seine Schmetterhand zu sein, mit deren Hilfe es ihm möglich werde, seine Gegner niederzuwerfen.
»Ich bin bereit«, antwortete ich. »Und ich schlage vor, daß wir sofort beginnen. Zunächst in Güte, dann aber, wenn das nicht wirkt, mit allen Fäusten.«
Das befriedigte ihn. Er gab mir Vollmacht, zu tun, was mir beliebte, und über alles zu verfügen, was mir nötig erschien. So war ich also Herr meiner selbst und ohne jede Fessel oder Schranke, die mich beengen konnte. Das nutzte ich denn auch ohne Zögern aus.
Es galt zunächst, den Entwurf des Standbildes zu sehn. Darum ritten wir gleich nach dem Essen hinab zur Stadt, Klara und ich mit Intschu inta, dem Diener. Dieser bat mich, sechs junge, erfahrne und gewandte Winnetous mitnehmen zu dürfen, die meine Leibwache sein sollten. Tatellah-Satah wünsche das so. Ich willigte um so lieber ein, als ich verschiedenes vorhatte, wobei mir diese Leute von Nutzen sein konnten.
Wir ritten nicht gleich in die Stadt, sondern ich lenkte unten im Innental zunächst nach dem Schleierfall. Dort untersuchten wir seine ganze Umgebung, besonders auch die Kanzeln zu beiden Seiten des freien Platzes. Wir taten das so unbefangen wie möglich, um nicht aufzufallen, und ich äußerte kein Wort über die Gedanken, die ich dabei hatte. Aber Intschu inta war, wie ich bald bemerkte, ein scharfer Beobachter, was mich nicht wundernahm, da Winnetou ihn geschult hatte. Er achtete auf jeden meiner Blicke. Er dachte nach und kam infolge seines wohlgeübten Scharfsinns sehr bald auf die richtige Fährte. Als wir umkehrten, um nun auf jenem tief ausgefahrnen Talweg hinaus nach der Stadt zu reiten, brachte er sein Pferd für einige Augenblicke neben das meinige.
»Old Shatterhand wollte nicht den Schleierfall sehn.«
Ich schaute ihn fragend an.
»Auch nicht den angefangnen Winnetou, den man bauen will«, fuhr er fort.
»Was sonst?« forschte ich.
Er hatte recht. Nur deswegen hatte ich den Weg nach dem Innental eingeschlagen. Die beiden Plätze waren mir sehr wichtig. Noch viel wichtiger als der herrliche Wasserfall.
»Hm!« brummte ich.
Das veranlaßte ihn, aus sich herauszugehn.
»Ich kenne sie«, versicherte er. »Aber es ist nicht wahr, was man von ihnen sagt. Man kann stehn, wo man will, man hört doch nichts.«
»Hast du schon alle Stellen ausprobiert?«
»Ja, alle. Sogar hinten war ich, wo niemand hingehn darf. Aber auch dort hört man nichts.«
»Versprichst du mir, verschwiegen zu sein?«
Er legte die Hand aufs Herz.
»Ich verspreche es dir wie einst Winnetou.«
»So wirst du bald hören lernen. Ich werde dir zeigen, wie man das macht. – Kennst du das Tal der Höhle am Mount Winnetou?«
»Sehr genau!«
»Vielleicht auch die Höhle selber?«
»Auch sie.«
»Ist sie groß? Und lang?«
»Sehr groß und sehr lang! Man reitet von hier aus fast vier Stunden, bis man sie erreicht, und doch ist sie so lang, daß sie bis zum Schleierfall zurückgeht und erst in seiner Nähe endet.«
»Wir reiten morgen früh bin, um sie zu untersuchen. Bereite alles vor! Doch sage keinem Menschen ein Wort davon!«
Damit war unsre Unterhaltung beendet. Wir hatten nun das Innental hinter uns, ritten durch das Felsentor und sahen die Zeltstadt vor uns liegen. Es herrschte dort ein regeres Leben als zur Stunde unsrer Ankunft. Eine Reiterschar kam uns entgegen, die allem Anschein nach hinauf zum Schloß wollte. Als diese Leute uns erblickten, hielten sie an. Nur zwei von ihnen kamen auf uns zu. Es waren Athabaska und Algongka. Sie machten sich beide prächtig im Sattel. Nach ihrem indianisch höflichen Gruß begann Athabaska:
»Wir wollten nach dem Berg, um Old Shatterhand, den Gast der roten Männer, zu begrüßen. Wir hatten ihn lieb, noch ehe wir ihn sahen. Wir schätzten ihn hoch, als wir ihn damals kennenlernten, ohne seinen Namen zu wissen. Und nun, da er hier eingetroffen ist und sich zu erkennen gegeben hat, dürfen wir nicht warten, bis er zu unsern Zelten kommt, sondern wir reiten zu ihm, weil er der Höhere ist.«
»Kann es unter Brüdern einen geben, der über den andern steht?« fragte ich. »Wir gehören alle einem Vater, und das ist Manitou. Unter seinem Schutz stehn wir einander gleich. Ich besuche meine Brüder und will an ihren Zelten die Pfeife des Willkommens mit ihnen rauchen.«
Diese Höflichkeit erfreute sie. Algongka antwortete:
»Wir sind stolz auf diesen Wunsch unsers weißen Bruders. Er komme mit uns! Er wird Freunde sehn, Bekannte aus früherer Zeit. Als sie hörten, daß Old Shatterhand anwesend sei, baten sie uns, mit auf den Berg reiten zu dürfen, um sich an seinem Angesicht zu erfreuen. Dort warten sie.«
Dabei zeigte er auf die Gruppe, die halten geblieben war. Wir ritten hin. Und wen erkannte ich, trotz der langen Zeit, die zwischen dem Damals und der jetzigen Stunde lag? Es waren Wagare-Tey, der Häuptling der Schoschonen, Matto Schahko, der Häuptling der Osagen, und mehrere ihrer Unterhäuptlinge. Die Freude des Wiedersehns war groß auf beiden Seiten. Auch Avaht-Niah war da, der Hundertjährige! Ich hatte sein Kommen kaum für möglich gehalten. Selbstverständlich hatte er jetzt nicht mit nach dem Berg reiten können. Er war vor seinem Zelt sitzengeblieben, und ich bat, ihn zuerst aufsuchen und begrüßen zu dürfen. Man hatte Wagare-Tey und Matto Schahko veranlassen wollen, ihre Zelte in der Unterstadt aufzuschlagen: sie aber waren so klug gewesen, sich nach den Verhältnissen zu erkundigen, und was sie da hörten, hatte sie veranlaßt, nach der Oberstadt zu reiten, um sich Athabaska und Algongka beizugesellen.
Wir ritten also zunächst nach dem Zelt Wagare-Teys, der mit seinem alten Vater beisammen wohnte, hatten uns aber kaum in Bewegung gesetzt, so kamen uns zwei Kanean-Komantschen entgegen, die auch hinauf ins Schloß wollten. Als sie uns sahen, hielten sie an und wandten sich an mich. Sie waren von Young Surehand und Young Apanatschka geschickt, mich zu den beiden jungen Künstlern einzuladen, die bei unsrer Ankunft nicht da gewesen waren. Bei ihrer Rückkehr hatten sie dann davon erfahren und forderten mich nun sogleich durch ihre Boten auf, zu ihnen zu kommen, damit sie mir noch heut ihr Kunstwerk, das Standbild Winnetous, zeigen könnten. Schon öffnete ich den Mund, um Antwort zu geben, da bat mich Athabaska durch eine Handbewegung zu schweigen: er nahm die Sache selber in die Hand, indem er zu den beiden Komantschen sagte:
»Ihr seht hier Athabaska und Algongka, die Häuptlinge der fernsten, nördlichen Völker, außerdem Matto Schahko, den Häuptling der Osagen, und Wagare-Tey, den Häuptling der Schoschonen. Kehrt sofort zu Young Surehand und Young Apanantschka zurück und sagt ihnen, daß wir mit ihnen sprechen möchten! Sie sollen sogleich zu uns kommen. Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges!«
Er sprach in einem so gebieterischen Ton, daß die beiden Boten kein Wort zu entgegnen wagten und schleunigst umkehrten. Dann setzten wir unsern Weg fort. Die Zelte Athabaskas, Algongkas, Wagare-Teys und Matto Schahkos standen nahe beisammen. Wir sahen dort, noch ehe wir sie erreichten, den hundertjährigen Avaht-Niah sitzen. Sein weißes, nach hinten gebundnes Haar hing ihm lang über den Rücken hinab. Er war kein Skelett wie Kiktahan Schonka und konnte sich noch recht gut bewegen. Sein Auge war klar und der Ton seiner Stimme so frisch und bestimmt, wie bei einem Sechzigjährigen. Als er uns kommen sah, stand er ohne fremde Hilfe von der Erde auf. Er erfuhr von Wagare-Tey, seinem Sohn, daß der Trupp bereits auf halbem Weg unerwartet auf mich und meine Squaw getroffen sei. Das Gesicht des Alten war voller Fältchen, die es aber nicht verunzierten. Es zeigte keine Spur von Häßlichkeit, Unreinheit oder Verfall, was im Alter doch häufig vorzukommen pflegt. Er war ein wirklich schöner Greis. Prüfend ruhte sein Blick auf mir, Dann begannen seine alten, guten Augen vor Freude zu strahlen. Er kam auf mich zu, legte beide Arme um mich und zog mich an sich.
»O Manitou, du Großer und Gütiger! Wie danke ich dir für dieses Glück! Wie sehnte ich mich, den besten Freund aller roten Völker noch einmal zu sehn, bevor ich das unbekannte Wasser des Todes mit letzter Kraft schwimmend zerteile! Meine Sehnsucht ist erfüllt. Setzt euch im Kreis und bringt mir die heilige Pfeife! Es soll mir eine der letzten und der schönsten Ehren sein, diese Versammlung des Grußes zu leiten. Old Shatterhand setze sich zu meiner Rechten, seine Squaw zu meiner Linken. Man entzünde das Feuer der Freude!«
Es war ein rührendes, gegenseitiges Willkommen, das sich nun entwickelte. Die Pfeife ging unaufhörlich von Hand zu Hand. Tausend Erinnerungen tauchten auf, alle mit dem Namen Winnetou verknüpft. Doch durften wir uns ihnen nicht allzu lang hingeben; die Gegenwart forderte ihr Recht.
Mitten in diesen lebhaften Austausch hinein kamen Young Surehand und Young Apanatschka. Sie waren zu Pferd, wie dort jedermann. Als sie abgestiegen waren, wollten sie eine laute Begrüßung beginnen. Aber niemand ging darauf ein. Da stutzten sie, standen eine Weile ratlos und wendeten sich schließlich ab, um wieder fortzureiten. Doch es kam nicht so weit.
»Die Söhne von Old Surehand und Apanatschka mögen näher treten!« rief Athabaska.
Seine Stimme hatte etwas so Zwingendes, daß die beiden ohne weiteres wieder umkehrten. Niemand sprach ein Wort. Man konnte das leise Knistern des kleinen Feuers hören. Da fragte Athabaska die zwei:
»Sind Young Surehand und Young Apanatschka Häuptlinge?«
»Nein«, antworteten sie.
»Ist Old Shatterhand ein Häuptling?«
»Ja.«
»Es sind schon fast siebzig schwere Winter, die er erlebte; sie aber haben noch nicht einmal dreißig leichte Sommer hinter sich. Und doch gehn sie nicht zu ihm, sondern sie verlangen, daß er zu ihnen kommt! Seit wann ist es bei den roten Männern Sitte, daß das Alter der Jugend gehorchen soll und die Erfahrenheit der Unerfahrenheit? Wir wollen, daß unser Volk vom Schlaf aufersteht und endlich seine Rechte und seine Pflichten erkennen lernt. Wir wollen, daß es sich zu den gebildeten Völkern zählen kann. Wie aber sollen wir das erreichen, wenn wir nicht einmal das Gesetz achten, daß die Jugend das Alter ehren muß?«
Da warf Young Surehand stolz den Kopf zurück.
»Wir sind Künstler!«
»Uff! Uff!« rief Athabaska. »Ist das etwas Besseres, als reif, als alt und erfahren zu sein? Ich glaube nicht. Denkt an Winnetou! Er war vor allen Dingen bescheiden. Stets achtete und ehrte er das Alter selbst im geringsten Menschen. Ihr scheint Winnetou nie verstanden zu haben. Wie könnt ihr uns da ein wahres Bild von ihm geben?«
Sie senkten die Köpfe und schwiegen.
»Wo sind eure Väter?« fuhr Athabaska fort. »Sind sie daheim?«
»Noch nicht. Sie ritten heut früh fort und kehren erst am Abend zurück.«
»So sagt ihnen, sobald sie kommen, folgendes: Die hier versammelten Häuptlinge verlangen von ihnen, daß sie zu Old Shatterhand kommen, der mit ihnen ein Wort über ihre Söhne zu reden hat. Wir aber werden nach Verlauf einer Stunde bei euerm Standbild im Blockhaus eintreffen, um zu prüfen, ob ihr wirklich Künstler seid oder nicht. Jetzt könnt ihr gehn!«
Sie sprangen in die Sättel und ritten fort, ohne ein einziges Wort der Entschuldigung zu sagen oder etwa gar eine Verteidigung zu wagen. Und als wir zur angegebnen Zeit bei dem großen, hohen Blockhaus ankamen, worin sie an dem Entwurf gearbeitet hatten, standen sie an der Tür und empfingen uns still und ehrerbietig wie Leute, die gern grollen möchten und doch nicht dürfen. Sie waren übrigens prächtige junge Menschen, und ich sah es meiner Frau an, daß sie im Innern gern bereit war, sie zu verteidigen. Sie lächelte ihnen heimlich zu; ich aber durfte ihnen nur einen grüßenden Blick geben, weiter nichts, um mir nichts zu vergeben.
Als wir in das Gebäude traten, sahen wir dort sämtliche Herrn vom Ausschuß versammelt. Sie hatten sich eingestellt, um auf die Häuptlinge einzuwirken, wurden aber von diesen so ablehnend behandelt, daß sie es nicht wagten, sich ihnen zu nähern oder gar sie anzusprechen.
Das Haus war rund wie ein Zirkus gebaut und enthielt nur einen einzigen Raum. Die mit Leinwand überkleidete Holzblockmauer zeigte ein wohlgelungnes Rundbild des hiesigen Platzes mit dem Mount Winnetou und seinen beiden wuchtigen Felstürmen: dem vordern, kleinern Turm mit dem Schloß Tatellah-Satahs, und dem größern, höhern mit der von oben stolz herabschauenden riesigen Winnetoufigur, die jetzt freilich erst mit wenigen Strichen entworfen war. Als Probearbeit vollendet aber ragte diese Figur in der Mitte des Raums. Sie war etwa zwei Meter doch und stand unter der günstigen Wirkung des durch die offnen Dachspalten hereinbrechenden Oberlichts. Für die dunklen Abendstunden war elektrische Beleuchtung vorhanden; der hierzu nötige Strom wurde ohne großen Kostenaufwand am Wasserfall erzeugt. Es war berechnet, daß er später für die ganze Stadt Winnetou ausreichen sollte.
Mein erster Blick galt dem Gesicht Winnetous. Es war überraschend gut getroffen. Und doch erschien es mir fremd. Es war genau sein Gesichtsschnitt; aber die Züge waren nicht so freundlich ernst, so gütig und so lieb, wie ich sie kennengelernt hatte, sondern sie zeigten einen Ausdruck, der dem Apatschen im Leben niemals eigen gewesen war. Dieser Ausdruck stimmte allerdings zu der herausfordernden Bewegung, die der Gestalt von ihren Schöpfern verliehen worden war. Die Kleidung war mit peinlichster Gewissenhaftigkeit ausgeführt: die mit Stachelschweinsborsten geschmückten Mokassins, die gestickten Leggins, der eng anliegende, fast faltenlose, lederne Jagdrock, die über die Schulter geschlagne, prächtige Saltillodecke, unter der die Schlingen des Lassos hervorschauten, der von der rechten Achsel nach der linken Hüfte ging. Am Gürtel hing der Pulver- und Kugelbeutel früherer Zeit. Daneben steckte das Messer in lederner Scheide und unweit davon ein Revolver. Den rechten Fuß wie zum Sprung vorgesetzt, stützte sich die Figur auf die mit der linken Hand gehaltne Silberbüchse, während die Rechte einen zweiten Revolver drohend vorstreckte. In dieser vorwärtsstrebenden Bewegung hatte die Gestalt etwas Schlangenhaftes. Oder man konnte auch an einen Panther denken, der sich aus seinem Hinterhalt hervorschnellt, um sich auf die Beute zu stürzen. Hierzu paßte der drohende, ja wild verlangende Ausdruck des Gesichts, der um so befremdender wirkte, je deutlicher die Schönheit dieser Züge trotz alledem hervortrat.
»Schade, jammerschade!« flüsterte mir Klara zu.
»Ja«, nickte ich betrübt. »Und sie sind wirkliche Künstler!«
»Ohne Frage! – Nur die Auffassung ist falsch. Wie man Winnetou so mißverstehn kann, begreife ich nicht. Und das will man auf diesen herrlichen Berg setzen?«
»Ich werde alles daran setzen, daß es nicht geschieht. Und wenn man mich nicht hört, so greife ich zum letzten Mittel und zertrümmere die Figur vor aller Augen.«
Die Häuptlinge waren still. Sie schritten langsam und gemessen rund um das Bild, um es von allen Seiten zu betrachten. Young Surehand und Young Apanatschka standen in der Nähe. Siegesgewiß verfolgten sie uns mit ihren Blicken. Sie schienen vollständig überzeugt, daß der Eindruck ihres Werks auf uns überwältigend sei. Die Herren vom Ausschuß waren anscheinend derselben Meinung. Sie hatten erwartet, uns in Ausrufe des Entzückens ausbrechen zu hören. Als aber Minute um Minute verging, ohne daß einer von uns ein Wort äußerte, begannen sie, uns Vorspann zu leisten, indem sie nun ihrerseits das taten, was wir unterließen. Sie ergingen sich in lobenden Bemerkungen, um uns zu verleiten, ihrem Beispiel zu folgen. Aber die Wirkung ihrer Bemühungen war grad entgegengesetzt: die Häuptlinge wandten sich, einer nach dem andern, wortlos dem Ausgang zu. Meine Frau und ich folgten. Da kam der Ausschuß, die beiden Künstler voran, uns nachgeeilt. Sie wollten ein Urteil hören. Athabaska saß aber bereits im Sattel und wartete, bis wir andern ebenfalls aufgesessen waren. Dann wandte er sich an die Herren.
»Euer Winnetou ist die größte Lüge, die jemals hier zwischen den Bergen ersonnen wurde. Zerschmettert sie! Da hinauf kommt sie nie!«
Er deutete bei diesen Worten nach dem leuchtenden Gipfel des Mount Winnetou.
»Nie!« stimmte Algongka bei.
»Nie – nie – nie – nie!« fielen auch die andern Häuptlinge und Unterhäuptlinge ein.
»Das ist ein ungerechtes Urteil!« rief Young Surehand.
»Das ist eine Vergewaltigung der Kunst!« behauptete Young Apanatschka.
Und Mr. Antonius Paper, der immer Voreilige, kam zu uns herangeschlingert und schmetterte uns an:
»Wir sind der Ausschuß zur Errichtung des Winnetou-Denkmals! Was wir beschließen, das geschieht. Das Bild kommt hinauf!«
Er fuchtelte dabei mit den Armen, grad vor Matto Schahkos Pferd. Dieser gab schnell Schenkeldruck, ritt Paper über den Haufen und rief:
»Wirklich? Ihr seid der Ausschuß? So setzen wir euch ab und wählen einen andern.«
»Ja, einen andern!« riefen die Unterhäuptlinge, während sich Mr. Antonius Paper vom Boden aufraffte und hinter den andern Mitgliedern des Ausschusses Schutz suchte.
Da kam dem ersten Vorsitzenden, Professor Bell, eine Ahnung, daß es mit ihrem Vorhaben denn doch nicht so sicher stände, wie er bisher angenommen hatte, und daß der jetzige Augenblick vielleicht gar der entscheidende sei. Er tat schnell einige Schritte zu mir heran.
»Welcher Meinung seid denn Ihr, Mr. Shatterhand? Ich bitte um ein offnes Wort!«
»Ach, auf das, was ich denke, kommt es hier doch gar nicht an!« wehrte ich ab.
»O doch!« widersprach er. »Ich bin überzeugt, daß man tun wird, was Ihr anratet. Darum ersuche ich Euch, mir zu sagen: Was schlagt Ihr vor?«
»Dazu ist jetzt nicht die richtige Zeit und hier auch nicht der richtige Ort. Ich kenne überhaupt den mir angewiesnen Platz noch nicht. Ich kann also erst dann sprechen, wenn ich meine Nummermarke habe. Vielleicht hat euer Schriftführer die Güte, sie mir nach meiner jetzigen Wohnung zuzustellen.«
Ich ritt davon. Die andern folgten sogleich. In der Oberstadt gab es dann nur noch eine kurze Beratung. Wir alle waren der Ansicht, daß nichts geschehn konnte, bevor wir mit Old Surehand und Apanatschka gesprochen hatten. Das war also abzuwarten. Hierauf verabschiedeten wir uns von den Häuptlingen und ritten zu den Zelten der Siouxfrauen, um unsre Freundinnen, die beiden Aschtas, für heute abend zu uns einzuladen. Sie sagten freudig zu.
Dann kehrten wir ins Schloß zurück, gaben dort unsre Pferde ab und stiegen langsam durch den Wald nach dem Wachtturm hinauf, um den Jungen Adler aufzusuchen und auch ihn für den Abend zu uns zu bitten. Es waren mehrere Indianer und Indianerinnen bei ihm, die sich mit leichten Holz- und Bastarbeiten beschäftigten; warum und wozu, fragte ich nicht.
Tatellah-Satah war heut nicht mehr zu sehn. So blieben wir am Abend mit unsern drei Gästen allein und beobachteten mit stiller Freude, wie sich die Herzen der jungen Leute behutsam einander näherten. Später gesellten sich auch Dick Hammerdull und Pitt Holbers hinzu, die – der eine schmunzelnd, der andere wehmütig – dreinschauten. Ich hatte es für möglich gehalten, daß Old Surehand und Apanatschka sich gleich nach ihrer Rückkehr bei mir einstellten. Das geschah aber nicht. Dafür fand ich, als ich am andern Morgen aufstand, einen Boten von ihnen vor. Sie ließen mir sagen, daß ich wohl wüßte, wie sehr sie mich liebten und achteten und wie sehr sie sich freuten, mich wiederzusehn; aber es sei ihnen unmöglich, mich in der Wohnung ihres Gegners Tatellah-Satah aufzusuchen. Ich müsse wählen zwischen ihnen und ihm; ein Drittes gebe es nicht. Übrigens seien sie, falls ich zu ihnen nach der Unterstadt käme, zu jeder Zeit für mich zu sprechen. Bei dieser Gelegenheit könnte ich auch mit ihnen über ihre Söhne reden, die offenbar mein Mißfallen erregt hätten.
Es fiel mir nicht ein, mir diese Botschaft zu Herzen zu nehmen. Es wirkten da jedenfalls Dinge mit, die ich nicht kannte. Bedauerlich war nur die Entfremdung zwischen den alten Freunden und mir. Sie sollte nicht in Streit ausarten. Sobald mir Zeit dazu blieb, wollte ich mich mit der Sache befassen. Jetzt mußte ich nach dem Tal der Höhle, um über die Örtlichkeit im Bild zu sein, wenn die Feinde kamen, sich dort zu verstecken.
Intschu inta, unser riesiger Diener, stand mit seiner Leibwache schon seit dem Morgengrauen bereit, uns dorthin zu begleiten. Er hatte für alles gesorgt, für Speise und Trank, für Lichte, Fackeln, Stricke, Haken und alle möglichen andern Gegenstände, deren wir bedurften, um die Höhle gründlich und gefahrlos kennenzulernen. Sie besaß für mich große Wichtigkeit. Seit ich gesehn hatte, wie der Schleierfall plötzlich in der Erde verschwand, und seit ich wußte, daß die unterirdische Höhle bis nahe an diesen Fall heranreichte, ließ mich der Gedanke nicht los, daß sie von einschneidender Bedeutung in die hiesigen Ereignisse sein werde.
Zum bessern Verständnis dessen, was nun kommt, erinnere ich an die berühmte Mammuthöhle in Kentucky in den Vereinigten Staaten, die mit ihren Seitenhöhlen eine Länge von über dreihundert Kilometern besitzt. Ihr Hauptgang erstreckt sich unter der Erde sechzehn Kilometer weit. Es gibt da unzählige Schächte, Stollen, Gänge, Schluchten, Hallen, Stuben, Säle, Grotten, Dome, Teiche, Seen, Bäche, Flüsse und Wasserfälle. So ungefähr dachte ich mir die Höhle am Mount Winnetou, und die Folge zeigte, daß ich mich nicht geirrt hatte. Sie war zwar nicht von so riesigen Ausmaßen, aber der Wunder gab es auch hier genug. Besonders war es die überaus reichliche Stalaktitenbildung, die wir bestaunten.
Der Weg zur Höhle führte gleich am Südhang des Medizinberges hinab, ein Stück am Südarm des Weißen Flusses aufwärts und dann südwärts einen Bach entlang, der bestrebt schien, alle, die sich seiner Leitung anvertrauten, dahin zurückzuführen, woher sie gekommen waren. Es ging in Schlangenlinien immer tiefer hinab. Dabei bekamen wir den kleinen Mount Winnetou, auf dem Tatellah-Satah wohnte, von allen möglichen Punkten aus zu sehn. Einmal konnten wir das große Kriegsadlernest, das unser Freund, der Junge Adler, erklettert hatte, besonders deutlich erkennen. Das war der Anlaß, daß meine Frau den Diener fragte, ob er über dieses Abenteuer unterrichtet sei. Heut waren die beiden Jäger, nicht aber auch der Junge Adler bei uns, so konnten wir also unbefangen über sein Erlebnis sprechen.
»Ja, ich weiß alles«, antwortete Intschu inta. »Ich stand ja neben Tatellah-Satah, der vor seiner Tür saß, als der Junge Adler vom Horst des Kriegsadlers herabgeflogen kam und grad zu unsern Füßen landete. Ich habe jenes Weibchen, das übrigens ungewöhnlich groß war, dann erschlagen helfen. Wie alt es war, das wußte man schon längst nicht mehr. Jedermann kannte es. Es litt kein Männchen bei sich, sondern biß und jagte das männliche Tier fort. Man schrieb ihm ungeheure Kräfte zu. Damals zählte der Junge Adler zwölf Jahre. Er wohnte hier bei uns und war der Liebling aller. Trotz seiner großen Jugend ging er nach Norden, um sich den roten Stein zu seiner Pfeife aus den heiligen Steinbrüchen von Dakota zu holen. Als er mit dem Ton zurückkam und die Pfeife geschnitten hatte, erklärte er, daß er sich nun auch seine Medizin erbeuten wolle. Er ging lange Zeit in die Einsamkeit, um zu fasten, und da träumte ihm, daß er der Junge Adler heißen werde, sofern er die beiden jungen Kriegsadler aus dem Horst holen würde: ihre Krallen und Schnäbel seien seine Medizin. Er war vom Fasten schwach. Er wog kaum noch die Hälfte gegen früher. Dennoch wagte er es, das Gebot des Traums auszuführen, ohne sich vorher recht zu erholen. Er nahm einen Lasso, steckte ein Messer und viele Riemen zu sich und begann den beschwerlichen Aufstieg in die Höhe des Horsts. Droben fand er das Nest unzugänglich. Um es zu erreichen, mußte man ein Stück darüber hinausklettern und sich dann am Lasso hinablassen. Das tat er. Er befestigte den Lasso am überhängenden Felsen und griff sich dann daran hinunter. Aber der Lasso war zu kurz. Als er das Ende erreichte, schwebte er noch hoch über dem Nest, und die Kräfte verließen ihn. Er öffnete die Hände und sprang ins Nest hinab. Der Lasso schwang über ihm hin und her, unerreichbar für ihn.«
»Wie fürchterlich!« rief Klara aus. »Gab es keinen Weg aus dem Nest?«
»Nein«, lächelte der Erzähler. »Adler pflegen nicht an Wegen zu horsten. Die Adlermutter war abwesend; die beiden Jungen kreischten den Eindringling an. Er tötete sie, schnitt ihnen die Köpfe und die Krallen ab, steckte diese ein und warf die Körper in die Tiefe. Nun mußte er an seine Rettung denken. Aber es gab keine Möglichkeit. Hoch über ihm der Lasso, den er hatte fahren lassen müssen, unter ihm die grausige Tiefe, und er selbst im schwindelnden Felsenhorst, aus dem keine Ratte einen Weg gefunden hätte, viel weniger ein Mensch! Und indem er das erkannte, sah er die Alte kommen, mit einem kleinen Wild in den Fängen, das sie für ihre Jungen erbeutet hatte. Sobald sie ihn sah, ließ sie es fallen und schoß mit heiseren Schreien auf ihn zu. Er zog sein Messer, um sich zu verteidigen. Aber in demselben Augenblick war es, als riefe ihm eine warnende Stimme zu: ›Töte sie nicht, verletze sie nicht, sonst bist du verloren! Sie ist deine einzige Rettung!‹«
»Entsetzlich!« sagte meine Frau, tief Atem holend.
»Ja«, nickte Intschu inta, »es war ein Abenteuer, wie es nicht so leicht einer zu bestehn hat.«
»Der arme Knabe! – Und wie schaffte er es?«
»Nicht: der arme Knabe! Sondern: der kühne, der kluge und mutige Knabe! Hier kann es kein Bedauern geben, sondern nur ein Bewundern! Der Horst liegt, wie Ihr saht, auf einem kleinen Felsvorsprung, von dem aus ein schmaler Riß ein wenig ins Innere des Gesteins führt. Da lagen die Hölzer und Knüppel der frühern Bauten des Horstes, denn der Kriegsadler baut sein Nest jährlich immer neu und immer höher. Es gelang dem Knaben, sich in diesen Riß zu retten, noch bevor das rasende Raubvogelweibchen den Horst erreichte und den wütenden Angriff begann. Er kroch nach und nach fast ganz unter die Hölzer und verteidigte sich damit, während er sein Hirn nach einer Rettungsmöglichkeit zermarterte. Es wollte ihm nichts einfallen – nach menschlichem Ermessen war er verloren. Nichts als schroffer Fels war um ihn. Da kam der Knabe während einer Kampfpause, in der das Riesentier nach seinen Jungen suchte, auf den tollkühnen Gedanken, sich von dem grimmigen Feind selber hinabtragen zu lassen.«
»Dazu war er doch zu schwer!« fiel meine Frau ein.
»Allerdings war das anzunehmen«, stimmte Intschu inta bei. »Auf einen einfachen, ruhigen Flug konnte er nicht rechnen, abgesehn davon, daß der Adler sich mit allen Kräften sträuben würde, ihn zu tragen. Aber war es schon kein eigentlicher Flug, so war es doch auch kein Sturz in die Tiefe. Der Knabe hoffte, daß die Flügelschläge des gewaltigen Tiers die Wucht und Stärke dieses Sturzes mildern würden. Es galt also, den Adler so zu fesseln, daß er den Gegner weder mit dem Schnabel noch mit den Krallen verletzen konnte, ohne beim Fliegen behindert zu sein. Schlingen und Fesseln zu fertigen, womit man das erreicht, ist einem jeden Indianer, auch den Kindern, geläufig. Sofort traf der Knabe alle Vorbereitungen zur Ausführung seines Plans. Riemen trug er bei sich. Mit Hilfe eines passenden, aus dem Horst gezognen Holzes und dreier Riemen wurde schleunigst ein Knebel gefertigt, der den Adler zwingen mußte, Kopf und Hals gradauszustrecken. So war ihm der Gebrauch des gefährlichen Schnabels verwehrt. Eine Schleife hatte den Zweck, die Flügel zu schließen und eng an den Körper zu zwingen, natürlich nur bis zu dem Augenblick, wo der Flug beginnen sollte. Nun wurden mehrere Hölzer fest in die Mündung der Felsspalte geklemmt, so daß sie eine Art Gitter zum Schutz des Knaben bildeten. Wollte der Adler ihn fassen, so war er gezwungen, durch dieses Gitter den Kopf zu stecken, der dann leicht mit der Schlinge gepackt und festgehalten werden konnte.«
Meine Frau und ich waren überaus gespannt, Hammerdull und Holbers lasen dem Erzähler die Worte fast von den Lippen ab.
»Kurze Zeit nach diesen Vorkehrungen kam die Adlermutter zurück. Sie schien die Leichen ihrer Kinder gefunden zu haben, denn sie fuhr noch wütender als vorher auf ihren Feind los. Sie besann sich nicht im geringsten, den Kopf durch das Gitter zu stecken. Sofort legte sich ihr die Schlinge um den Hals, und mochte sie sich noch so sehr wehren; einige Augenblicke später war ihr der Knebel angelegt, der sie zwang, Kopf und Hals gradauszustrecken. Sie sträubte sich aus Leibeskräften. Vergebens. Ihre Krallen wurden in Schleifen gefangen und fest aneinandergebunden. Dann zog der Knabe den ungeheuren Raubvogel, der sich aber nun schon nicht mehr verteidigen konnte, halb zu sich in den Felsspalt, um ihm die Schwingen an den Leib zu zwingen und mit Riemen festzubinden. Nun vermochte sich der Adler nicht mehr zu bewegen. Er war vollständig überwältigt; Sieger und Besiegter hatten nicht die geringste Verletzung davongetragen. Das Schwierigste war vorüber; das Kühnste konnte beginnen: der fliegende Sturz oder der stürzende Flug in die grausige Tiefe.«
»Gott sei Dank, daß nicht ich es war!« meinte Dick Hammerdull. »Mir sind zehn Lagerfeuer mit feindlichen Rothäuten lieber als ein einziger Adlerhorst! Was meinst du, Pitt Holbers, altes Coon?«
»Wenn du denkst, daß du nicht der Mann dazu gewesen wärst, das Adlerweibchen zu bändigen, so stimme ich dir zu.«
»Ob der Mann dazu oder nicht, das bleibt sich gleich. Übrigens brauchst du den Mund nicht so voll zu nehmen. Ich hätte dich an der Stelle des Jungen Adlers sehn mögen!«
Intschu inta beachtete die kleine Plänkelei der beiden nicht und fuhr fort:
»Nun konnte der Knabe die Felsspalte verlassen. Ohne Zögern trat er vor an den Abgrund, denn jetzt war der Adler noch bei voller Kraft. Je schwächer er wurde, umso gefährlicher war der Sprung in die ungeheure Tiefe. Die großen, scharfen Augen des Adlers glühten vor Wut. Und doch konnte nur er allein die Rettung bringen. Der Knabe befestigte sich die besten seiner Riemen unter den Armen hindurch über Brust und Rücken, band sie an die Fänge des Adlers, doch so, daß ihm die schlagenden Flügel das Gesicht nicht verletzen konnten, und zog das Tier hart an den Rand des Abgrunds. ›Hilf mir, o Manitou!‹ rief er. Dann durchschnitt er die beiden Riemen, die die Flügel fest an den Leib gehalten hatten. Der Adler peitschte mit den Schwingen die Luft – und der Knabe glitt langsam mit ihm über den Rand des Felsens hinaus.«
»Weiter, weiter!« rief Hammerdull. »Schnell, Mann!« drängte selbst der wortkarge Pitt Holbers.
»O Gott!« stieß meine Frau hervor und faltete die Hände.
»Der Knabe hielt die Augen geschlossen«, fuhr Intschu inta fort. »Stürzte er? Nein! Er wäre sonst unfehlbar binnen kurzem unten in der Tiefe zerschmettert. Aber die Sekunden vergingen, und er lebte noch. Über ihm rauschten Flügel, und er schwankte hin und her. Der Adler kreischte gellend, und sein Schrei klang über Berg und Tal, so daß jedermann unwillkürlich zur Höhe schauen mußte. Da öffnete der Knabe die Augen. Er sah, daß er schnell sank, und zwar in einer engen Schraubenlinie. Aber es war kein Sturz. Denn der Adler wehrte sich verzweifelt; er arbeitete mit aller Kraft seiner Schwingen. Doch die Last war zu schwer; sie zog das Tier hinab – in die Nähe des Schlosses. Dort schlugen sie beide auf den festen Boden auf. Aber der Knabe war noch nicht gerettet. Er hatte sein Messer nicht mehr und konnte die Riemen nicht durchschneiden, sich nicht von dem Vogel befreien, der sich bemühte, wieder aufzusteigen. Es entspann sich ein Kampf, wobei der Adler stärker war als der Knabe. Er schlug ihn mit den Schwingen; er riß ihn hin und her. Doch das waren nur wenige Augenblicke; denn das Tier war ja mit dem Knaben grad vor Tatellah-Satah und mir gelandet – ich ergriff einen Stein und erschlug den Riesenvogel. Die Flügelschläge hatten den Knaben arg mitgenommen; aber er lächelte, denn er hatte erreicht, was er wollte: seine Medizin. Seitdem wird er der Junge Adler genannt, und das Fliegen ist es, wovon er am liebsten spricht. Er ist sogar in die Städte der Bleichgesichter gegangen, es dort zu lernen.«
»Und kann er es nun?« fragte meine Frau.
»Das weiß ich nicht. Er ist eifrig dabei, eigne Flügel zusammenzubasteln und zu bauen. Also scheint er es zu planen. Doch wissen nur wir davon.«
Wir waren während dieser Erzählung eine gute Strecke vorwärts gekommen. Unser Weg wand sich durch eine ganze Reihe von Tälern und Schluchten, die miteinander im Zusammenhang standen, aber nach so verschiednen Richtungen führten, daß es oft schwer war zu sagen, ob wir nach Nord oder Süd, nach Ost oder West ritten. Schon waren wir etwa drei Stunden unterwegs. Da stießen wir abermals auf einen kleinen Fluß, dessen klarem Wasser man es ansah, daß es nicht aus einer erdigen oder gar lehmigen, sondern aus einer felsigen Gegend kam.
»Das ist das Wasser der Höhle, an dem wir nun aufwärts reiten werden«, sagte Intschu inta. »Es führt uns also gradeswegs zu unserm Ziel.«
Wir schwenkten in diese Richtung ein. Nun ging es wieder aufwärts, dem Mount Winnetou zu, wenn auch von einer andern Seite. Wir hatten einen großen Umweg gemacht, der in keinem Verhältnis zu der kurzen Entfernung vom Mount Winnetou stand. Das Tal des Flüßchens war eng und dicht mit Nadelholz bewachsen. Oft fanden wir vor lauter Baumwuchs kaum Platz zum Vorwärtskommen. Das dauerte etwa eine halbe Stunde. Dabei wurden die Seiten des Flußtals höher und höher. Dann kam eine Stelle, wo sie plötzlich auseinandertraten und wohl eine halbe Reitstunde in schnurgrader Richtung verliefen. Dadurch entstand eine lange, pfannenähnliche Bodenvertiefung, deren Sohle der Fluß wie eine mit dem Lineal gezogene Schnur durchschnitt. Ein ganz erstaunlicher Wald von Riesenbäumen stieg zu beiden Seiten hoch empor. Zwischen den mächtigen Stämmen wucherte Unterholz in Menge. Dicht war auch das Gesträuch, das den Boden dieser Felsenpfanne bedeckte. Einzelne Laub- und Nadelkronen ragten daraus auf. Hier gab es Blätter und Gras in reicher Menge, zum Futter für die Pferde. Allerdings, wenn die Pferde nach Tausenden zählten und nicht nur einige Tage, sondern längere Zeit hier bleiben sollten, so reichte auch diese Menge nicht aus.
»Das ist das Tal der Höhle«, sagte Intschu inta.
»Und wo ist die Höhle?« fragte meine Frau.
»Ganz hinten, am Ende des Tals, wo es unmittelbar an den Mount Winnetou stößt. Kommt!«
Wir ritten weiter.
Also hier war es, wo die verbündeten Sioux, Utahs, Kiowas und Komantschen sich verstecken wollten. Der Platz war von ihnen nicht übel gewählt. Nur lag er von uns sehr weit entfernt, und wer uns von hier aus überfallen wollte, mußte vorher einen vier Stunden langen, mühsamen Weg zurücklegen. Oder gab es vielleicht einen kürzeren, bequemeren Weg? Und war er unsern Gegnern bekannt? Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf. Sie erschienen mir der Beachtung wert und wurden mir in der Folge auch bestätigt. Ich hielt mein Pferd an und winkte den andern, auch anzuhalten, denn ich sah eine Spur und stieg ab, sie zu untersuchen. Sie stammte von zwei Pferden, die nicht denselben Weg wie wir, sondern links von der Höhe herab gekommen waren, und zwar vor höchstens einer Stunde. Wir hatten also zwei Reiter vor uns. Zwei Reiter, Genaueres war nicht zu sagen, jedenfalls aber Indianer. Ich nahm einen Revolver aus der Tasche. Wir ritten weiter, aber langsam und vorsichtig, und so geräuschlos wie möglich; immer einer hinter dem andern, ich voran. Wir folgten den Spuren, die in dem weichen, von den Höhen herabgeschwemmten Boden deutlich zu sehn waren. Sie führten am Fluß hin, zwischen den Büschen hindurch, nach dem hintern Teil der Talpfanne.
»Sie reiten zur Höhle«, sagte Intschu inta. »Sie kennen sie also.«
»Und zwar so gut«, fügte ich hinzu, »daß sie quer über die wilden Vorberge gekommen sind und sie dennoch gefunden haben. Sie wissen also genau Bescheid.«
Wir näherten uns dem Ende des Tals. Es hörte auf, wo der Fluß aus dem Innern des Berges trat. Eine Öffnung führte hinein. Sie war dreimal breiter als der Fluß und so hoch, daß man bequem hineinreiten konnte. Das war also der Eingang zu der großen Höhle, die wir kennenlernen wollten. Vor diesem Eingang gab es einen kleinen, freien Platz, der weithin von herabstürzendem Steingeröll bedeckt und darum unbewachsen war. Am Rand dieses Platzes hielten wir an, denn nun sahen wir die beiden Reiter, die wir suchten. Sie waren abgestiegen und lagen auf dem Bauch an der Erde, mit den Köpfen über etwas Weißes gebeugt, das ein Papier zu sein schien. Ihre Pferde rauften die jungen Blätter von den Zweigen der Büsche. Die beiden Sättel lagen in der Nähe, dabei einige Taschen und Pakete, sowie die Gewehre.
Wir stiegen ab und führten unsre Pferde eine kleine Strecke zurück, um sie dort anzubinden, damit sie uns nicht verrieten. Dann kehrten wir wieder nach dem Buschrand zurück und beobachteten die beiden Männer.
»Kennst du sie?« fragte ich meine Frau.
»Nein«, schüttelte sie den Kopf.
»Du hast sie aber schon gesehn! Sogar mehrere Stunden lang.«
»Wo?«
»Im Haus des Todes, bei der Beratung der Häuptlinge. Es sind die beiden Medizinmänner der Kiowas und der Komantschen, die den Altar öffneten.«
»Dein Auge ist schärfer als das meine. Ich habe sie bei dem flackernden Licht der Feuer nur undeutlich gesehn.«
»Ich auch. Aber der Westmann gibt sich vor allen Dingen Mühe, sich die Gesichtszüge derer, die ihm wichtig sind, so gut wie möglich einzuprägen. Darin bist du nicht geübt. Das Papier, womit sie sich beschäftigen, muß doch für sie sehr wertvoll sein. Mir scheint, es ist eine Karte oder so etwas. Sie fahren mit den Fingern drauf umher, heftig, als ob sie sich stritten. Sie sprechen dabei so laut, daß man es sogar hier bei uns fast hören kann. Ich schleiche mich hin, sie zu belauschen.«
»Du allein?« fragte sie enttäuscht.
»Ja, gewiß!« lächelte ich. »Oder willst du vielleicht mittun? Ich fürchte, dein Anschleichen könnte etwas zu laut ausfallen.«
»Und ich fürchte, daß dir da drüben etwas geschieht. Ich mag dich nicht allein lassen in einer Gefahr.«
»Das ist sehr lieb von dir, taugt aber als Grundsatz nicht für die gegebnen Verhältnisse. Hier bin ich allein sicherer als in Begleitung eines andern, der mir nur alles verderben könnte. Gedulde dich nur ein wenig! Du kannst mit den Freunden nachkommen.«
Das mußte ihr einstweilen genügen.
Ich gab den Westmännern und Intschu inta die nötigen Weisungen und trat dann zwischen die Büsche, um mich zu den Indianern hinzuschleichen. Das war nicht sonderlich schwer, denn sie waren sehr mit sich selber beschäftigt und schienen weder Augen noch Ohren für etwas andres zu haben. Ich kam so nahe an sie heran, daß ich von dem Strauch aus, der mich verbarg, mit meiner Hand den Fuß des auf dem Bauch liegenden Kiowa hätte ergreifen können. Was sie da besprachen, war nicht nur für sie, sondern auch für uns von größter Wichtigkeit.
Das, was ich für Papier gehalten hatte, war weißes Leder, seidendünn pergamentartig zubereitetes Leder, auf beiden Seiten beschrieben oder bemalt. Die eine Seite enthielt eine genaue Zeichnung des Mount Winnetou und den Plan des Schlosses, das der Bewahrer der großen Medizin bewohnte. Auf der andern Seite befand sich eine ebenso genaue Karte des Innern der großen Höhle, die wir hier vor uns hatten. Das wußte ich schon nach Verlauf der ersten Minuten, die ich lauschte. Die Unterhaltung war sehr erregt. Die Karte wurde um und um gedreht. Man nannte, suchte und fand die verschiedensten Namen, Stellen und Punkte. Das alles hörte ich und merkte es mir. Ich erfuhr, daß die Karte dem Medizinmann der Komantschen gehörte. Sie war ein uraltes Erbstück seiner Familie. Niemand außer ihm durfte von ihr wissen, und nur der große, wichtige Zweck, den es zu verfolgen galt, hatte ihn veranlaßt, dieses Geheimnis zu lüften. Der Medizinmann der Kiowas war sehr begierig, den Inhalt dieser ledernen Urkunde genau kennenzulernen und sich einzuprägen.
»Also es ist gewiß so, wie es hier steht?« fragte er. »Wir liegen jetzt hier, an dieser Stelle?«
Dabei deutete er auf den betreffenden Punkt der Karte.
»Ja«, antwortete der andre.
»Und von hier aus kann man unterirdisch bis auf den Mount Winnetou gehn? Nicht nur gehn, sondern sogar reiten?«
»Jawohl.«
»Und auf diesem Weg willst du uns und unsre viertausend Krieger nach oben führen, um Tatellah-Satah und seinen ganzen Anhang zu überfallen? Uff, Uff! Das ist ein großer Plan! Hat mein roter Bruder diesen Weg schon einmal gemacht? Ist er schon einmal oben gewesen?«
»Nein, aber einer meiner Ahnen hat es heimlich versucht, und es glückte. Der Weg endet an mehreren Stellen; doch es gelang ihm, den einen Ausgang zu gewinnen, zu dem auch ich vordringen will.«
»Das ist hinter dem Schleierfall?«
»Ja. Es ist der einzige Punkt, den man zu Pferd erreichen kann. Zu den andern Ausgängen kann man nur zu Fuß kommen.«
»Aber wenn es nicht gelingt? Wenn über viertausend Menschen in der Höhle stecken, ohne vor- oder rückwärts zu können? Mein Bruder bedenke, was so viele Menschen und Pferde brauchen!«
»Ich habe es bedacht. Ich bin deshalb vorausgeritten, um die Höhle vorher zu untersuchen. Und ich nahm dazu nur dich mit, weil du ebenso ein Bewahrer der Medizinen bist wie ich und Tatellah-Satah. Dir darf ich vertrauen.«
»So laß uns keine Zeit verlieren!«
Er stand auf.
Sie hatten sich also nicht gestritten, sondern es hatte infolge ihrer Lebhaftigkeit nur so geschienen. Auch der Komantsche erhob sich vom Boden. Er legte die Karte sorgfältig und langsam zusammen, um sie einzustecken. Da richtete auch ich mich auf und trat hinter dem Gezweig hervor.
»Meine roten Brüder werden wahrscheinlich doch ein wenig Zeit verlieren, bevor sie beginnen.«
»Uff!« rief der Kiowa erschrocken. »Ein Weißer!«
»Uff, uff! Ein Bleichgesicht!« stieß zu gleicher Zeit auch der Komantsche hervor.
Ich riß ihm das Pergament aus der Hand, steckte es in meine Tasche und stellte mich so, daß sie nicht zu ihren Gewehren konnten.
»Ich nehme diese Karte einstweilen zu mir, weil ich euch helfen werde, den darauf bezeichneten Weg durch die Höhle zu finden.«
Nun hatten sie sich von ihrer Überraschung erholt. Kampfbereit richteten sie sich auf.
»Wer bist du, daß du es wagst, mich zu bestehlen?« fragte der Komantsche.
Dabei näherte er sich mir, um zu seinem Gewehr zu gelangen. Ich zog einen Revolver.
»Ich stehle nicht! Wenn diese Karte dein rechtmäßiges Eigentum ist, wirst du sie wiederbekommen. – Weg von den Gewehren, sonst schieße ich! Ich bin nicht allein.«
Ich winkte. Da kamen die Westmänner, Intschu inta und die Winnetous heran, meine Frau folgte zögernd.
»Uff, uff!« rief der Kiowa erschrocken.
»Uff, uff, eine weiße Squaw!« fügte der Komantsche hinzu.
»Ihr habt von dieser weißen Squaw bereits gehört«, sagte ich.
»Was geht uns eine Squaw an!« versetzte geringschätzig der Komantsche.
»Und doch geben sich die Häuptlinge der Sioux und Utahs, der Kiowas und der Komantschen alle Mühe, sie und mich zu fangen.«
»Sie – und – dich – zu – zu fangen? Uff! Dann bist du – dann bist du –?«
»Old Shatterhand!« rief der Kiowa.
»Old Shatterhand!« rief auch der Komantsche. »Unser grimmigster Feind!«
»Das ist eine Lüge! Ich bin keines Menschen Feind. Fragt eure Häuptlinge, wie ich sie immer wieder geschont habe! Fragt eure alten Krieger, ob sie ein Wort des Hasses von mir hörten oder eine einzige Tat der Rache von mir berichten können! Ich liebe alle Menschen, und ich liebe auch euch und trete darum jedem eurer Pläne entgegen, der euch zum Unglück führt. Ein solcher Plan ist es, den ihr heut verfolgt. Ich werde alles daransetzen, daß er nicht zur Ausführung kommt. Setzt euch nieder und gebt eure Messer ab! Ihr seid gefangen!«
»Wir sind nicht gefangen, sondern –«
Mit diesen Worten sprang der Komantsche auf mich ein, doch wich ich einen Schritt nach rechts, faßte ihn von der Seite und warf ihn zur Erde. Intschu inta, der Riese, kniete ihm auf die Brust und überwältigte ihn ohne Mühe. Ebenso verfuhren die zwei Westmänner mit dem Kiowa. In kürzester Zeit waren die beiden Gefangnen derart gefesselt, daß sie sich nicht rühren konnten. Wir setzten uns zu ihnen nieder. Die Winnetous holten unsre Pferde. Ich aber nahm vor allen Dingen die Karte wieder aus der Tasche und schlug sie auf, um sie genau zu betrachten. Schon ein flüchtiger Blick darauf bestätigte, was ich vor Minuten gehört hatte. Ich wandte mich an den Komantschen.
»Avat tovavh, der Medizinmann der Komantschen, mag mir sagen, ob er eine große Sammlung von Büchern, also eine Bücherei, besitzt.«
»Ich habe keine«, antwortete er. »Es gibt bei allen Männern der Komantschen keine.«
»Weiß Avat tovavh vielleicht, wo es hier eine gibt?«
»Am Mount Winnetou, bei Tatellah-Satah.«
»Sonst nirgends?«
»Ich weiß keine andre.«
»So wirst du diese Karte nicht wiederbekommen. Ich werde sie ihrem rechtmäßigen Eigentümer ausliefern. Sie gehört Tatellah-Satah, denn sie wurde ihm gestohlen.«
»Das ist nicht wahr!« brauste der Medizinmann auf.
»Es ist so«, erwiderte ich gelassen.
»Beweise es!«
»Sofort! Nur besitzt du wahrscheinlich nicht die Kenntnisse, die dazu gehören, mich zu verstehn. Diese Karte trägt eine Nummer, und zwar im alten Pokontschidialekt der Mayasprache. Hier unten, in dieser Ecke, stehn die Hunderter: Jo-tuc: das heißt fünfmal zwanzig; das bedeutet also einhundert. Und hier in der andern Ecke stehn die Zehner und Einer: wuk-laj; das heißt sieben und zehn, also siebzehn. Diese Karte ist also Nummer einhundertsiebzehn der betreffenden Bücherei oder einer ihrer Abteilungen. Ich werde sie Tatellah-Satah zeigen, und es wird sich herausstellen, ob sie ihm gehört.«
»Nichts wirst du ihm zeigen! Diese Karte ist allerdings gestohlen, aber erst jetzt von dir! Du bist der Dieb!«
»Schweig, sonst gebe ich dir eins aufs Maul, alter Spitzbube!« unterbrach ihn Dick Hammerdull. »Wo sind die Brüder Enters?«
Das war kein übler Trick, daß er diesen Namen brachte. Die beiden Roten erfuhren dadurch, daß wir nicht so unwissend waren, wie sie wahrscheinlich annahmen. Sie konnten ihre Überraschung auch wirklich nicht ganz verbergen, doch beherrschten sie sich schnell, und der Komantsche fragte in gleichgültigem Ton:
»Enters? Wer ist das?«
»Das sind die zwei Brüder, die versprochen haben, uns an euch auszuliefern. Nun wißt ihr genug, um überzeugt sein zu können, daß wir keinen Grund haben, euch zart anzufassen. Sagt noch ein einziges Wort, das uns nicht gefällt, so werdet ihr sehn, was euch geschieht!«
Dieser Wortschwall Hammerdulls war ja nicht unbedingt nötig gewesen: aber heut war es zum erstenmal seit langer Zeit, daß er wieder einmal Gefangne vor sich hatte, und so gönnte ich dem alten Burschen die billige Genugtuung, ein wenig den Helden zu spielen. Die beiden Medizinmänner waren von jetzt an still. Der Name Enters und die weitern Erklärungen Dicks hatten sie bedenklich gestimmt.
Wir benutzten diese ganze Begebenheit, eine Frühstücksrast einzuschalten. Meine Frau packte die mitgebrachten Speisen aus. Die Pferde wurden abgesattelt und getränkt und durften sich dann ihr grünes Futter suchen. Mir war aber die Karte wichtiger als das Essen. Ich studierte sie genau und zog dabei Intschu inta zu Rat, der ja versichert hatte, die Höhle genau zu kennen. Da stellte sich ein Widerspruch zwischen seinen Angaben und der Karte heraus. Nach der Zeichnung gab es hier unten im Tal wohl nur den einen Eingang zur Höhle, vor dem wir uns befanden, droben auf der Höhe aber auch drei verschiedne Ausgänge. Der breitere davon war der Reitweg, der hinter dem Schleierfall mündete und von dem die beiden Roten gesprochen hatten. Die beiden andern waren Fußwege, die von dem Reitweg abzweigten, noch eine Strecke beisammen blieben und sich dann teilten. Der eine mündete droben im Schloß; an welcher Stelle, war an Hand der kleinen Zeichnung nicht zu erkennen. Der andre stieg nicht ganz so hoch. Er ging im Binnental aus; wie es schien, in der Nähe des angefangnen Riesenstandbildes Winnetous oder einer der beiden Teufelskanzeln. Intschu inta aber kannte keinen dieser drei Ausgänge. Er wußte zwar, daß früher, in alten Zeiten, mehrere Ausmündungen der Höhle vorhanden gewesen seien, doch habe man sie zugeschüttet. Warum, das war ihm unbekannt, und er hatte sich nicht weiter darum gekümmert. Er behauptete, daß der Höhlenweg, immer breit und sehr gut gangbar, im Innern des Bergs aufwärts führe, plötzlich schmal werde und dann vor einer Tropfsteingruppe ende. Diese Gruppe liege etwas seitwärts vor dem Schleierfall, den man grad noch in der Höhle brausen höre, wenn man scharfe Ohren habe.
Wer hatte nun recht? Intschu inta oder die Karte? Jedenfalls die Karte. Ich beschloß also, mich auf sie zu verlassen, wenigstens in Beziehung auf den obern Teil der Höhle und die dort eingezeichneten Ausgänge. Bis dorthin aber konnten wir uns der Ortskenntnis des Dieners vollständig anvertrauen. Darum plante ich, die Pferde nunmehr nicht hier zu lassen, sondern mitzunehmen. Wir hatten angenommen, nach dem Eingang zurückkehren zu müssen; aber wenn es oben einen so breiten und bequemen Ausgang gab, wie er auf der Zeichnung vermerkt war, so befanden wir uns dort ja schon daheim und hatten nicht nötig, den Rückweg durch die Höhle zu machen und dann noch vier Stunden weit nach Hause zu reiten. Intschu inta blieb zwar dabei, daß wir, zumal mit den Pferden, unbedingt gezwungen wären, wieder umzukehren; ich aber war der Ansicht, daß kein vernünftiger Mensch auf den Gedanken gekommen sein könne, die drei Ausgänge völlig zuzuschütten. Ich nahm vielmehr an, daß sie nur verkleidet, versteckt worden waren, und verließ mich auf meine Findigkeit und auf meine guten Augen.
Sofort nach dem Essen bereiteten wir uns zur Durchforschung der Höhle vor. Wir selber hatten Fackeln und Lichte mitgebracht, und als wir die Pakete der beiden Gefangnen öffneten, sahen wir, daß auch sie sehr reichlich damit versehn waren. Der Feuchtigkeit und Kühle wegen hatte Intschu inta große, dünne, aber wasserdichte indianische Decken mitgenommen, die wir wie Mäntel um uns legen konnten. Die Pferde wurden wieder gesattelt, die Medizinmänner auf ihre Tiere gebunden, einige Fackeln angebrannt, und dann begannen wir den unterirdischen Ritt, von dem ich mir gute Erfolge versprach, obgleich ich bei diesem Unternehmen durchaus keinen bestimmten Plan verfolgte.
Gern würde ich dem Leser an dieser Stelle ein genaues Bild dieser wunderbaren Höhle vermitteln, nur weiß ich nicht recht, wie ich das anfangen soll. Mit beschreibenden Worten ist in solchem Fall erfahrungsgemäß nichts getan. Es bleibt mir also nichts übrig, als den Eindruck zu schildern, den sie auf mich hervorbrachte. Wir ritten durch eine herrliche Unterwelt. Voran Intschu inta mit einem Winnetou als Fackelträger, hinter ihnen meine Frau und ich, hierauf die Gefangnen, dann die zwei Jäger mit den übrigen Winnetous, von denen mehrere gleichfalls eine Fackel trugen. Wo es nötig war, zündeten wir uns zu den Fackeln auch noch Lichte an.
Der Weg stieg ständig an, aber er bereitete uns keine Schwierigkeiten. Die Höhle war auch an ihren niedrigsten Stellen so hoch, daß wir nirgends von den Pferden zu steigen brauchten. Kein einziger der unterirdischen Räume, durch die wir kamen, glich einem andern. Es folgte Abwechslung auf Abwechslung, Überraschung auf Überraschung. Oft war unser Staunen so groß, daß wir uns lauter Ausrufe der Bewunderung nicht enthalten konnten. Es war ein Reich der herrlichsten Tropfsteinmärchen, das wir kennenlernten. Die stolzesten Gedanken, zu Spat, Aragonit und Sinter erstarrt, wuchsen als Stalaktiten von oben herab. Ebenso stolze Stalagmiten stiegen ihnen von unten entgegen, um sich mit ihnen zu Säulen, Pfeifen, einer Orgel und andern Gebilden zu vereinigen, von denen man kaum glauben konnte, daß die Natur sie geschaffen. Wir hatten aber leider nicht Zeit zu eingehender Betrachtung, sondern mußten sie uns für später aufheben. Es drängte uns vorwärts, hinauf nach der Stelle, wo es sich entscheiden sollte, ob wir weitergelangten oder nicht. So ritten wir durch Gänge und Stollen, durch kleine Kammern und riesige Säle, durch Refektorien und Kirchen, durch Vorhöfe und weite Säulenhallen. Wir kamen an Abgründen vorüber, in deren Tiefe der Fluß rauschte. Wir schlüpften zwischen dünnen Wasserfäden hindurch, die wie aus unsichtbaren Gartenschläuchen spritzten. Wir kamen über Stellen, wo es zu regnen schien. Wir sahen Fälle springen und Wasserstrahlen aus verborgnen Dachtraufen stürzen. Aber wir verweilten uns nicht: weiter ging es, immer weiter, bis endlich der breite Weg zu Ende war. Er wurde mit einemmal so schmal und so unbequem, daß man nur noch zu Fuß vorwärtskommen konnte.
»Du siehst, daß ich recht hatte«, sagte Intschu inta. »Der Weg für Pferde hört hier auf, obwohl man – horch! – von fern das Rauschen des Wassers hört. Es gibt keine Mündung, die hinter dem Schleierfall einen Ausgang bildet.«
Er schien recht zu haben. Wir befanden uns in einem engen Gang, der vor einer Doppelgruppe von Stalaktiten und Stalagmiten Halt machte und sich dann als winziger Pfad nach rechts wandte. Nach der Karte aber machte er diese Wendung nicht, sondern ging gradaus, nachdem er den kleinen Pfad von sich abgezweigt hatte. Das war der entscheidende Punkt! Jetzt mußte es sich zeigen, ob ich mich auf meine Augen und auf meine Findigkeit verlassen konnte. Ich begann, die Tropfsteingruppe zu untersuchen, und sah bald, daß es keiner großen Klugheit bedurfte, hier das Richtige zu entdecken.
Stalaktiten sind, wie schon angedeutet, Tropfsteine, die sich von oben, also von der Decke herab, bilden. Unter Stalagmiten aber versteht man die Tropfsteine, die vom Boden aus in die Höhe wachsen. Treffen beide in der Mitte zusammen, so bilden sich Säulen und Säulengruppen. Die Stalagmiten sind von den Stalaktiten leicht zu unterscheiden, weil sie grundverschieden im Aufbau find, was durch die Entstehungsvorgänge bedingt wird. Hier nun sah ich sogleich, daß die von oben herabhängenden Tropfsteine echt waren; die von unten emporragenden aber waren gar keine Stalagmiten, sondern Stalaktiten. Sie waren nicht hier an dieser Stelle entstanden, sondern man hatte sie hergeschafft und hier zusammengestellt. Warum? Sehr einfach: Um den breiten Pfad abzusperren und seine Fortsetzung zu verbergen.
Ich stieg vom Pferd und rüttelte an dem äußersten dieser Steine; er ließ sich bewegen, und ich rollte ihn zur Seite. Die andern folgten meinem Beispiel und halfen, auch die nächsten Säulen zu entfernen. Dadurch wurde schon nach kurzer Zeit der Weg frei, und wir konnten uns davon überzeugen, daß er sich hinter dem Hindernis fortsetzte. Wir vergrößerten die Bresche noch, dann forderte ich Dick Hammerdull und einen der fackeltragenden Winnetous auf, mir in die Lücke zu folgen. Ich wollte sehn, was dahinter lag. Die andern sollten warten und inzwischen noch so viele Steine zur Seite schaffen, daß auch für die Pferde Platz wurde.
Wir drei nahmen zu der einen, brennenden Fackel noch eine zweite als Ersatz mit und drangen zu Fuß langsam weiter vor. Es ging jetzt noch steiler empor als vorher. Bald hörten wir es vor uns rauschen, dann brausen, dann donnern, ganz wie in der unmittelbaren Nähe des Niagarafalls. Dieses Brausen und Tosen wurde so stark, daß wir unsre eignen Worte nicht mehr hörten. Die Wand zu unsrer Linken sank in die Tiefe; die zu unsrer Rechten blieb. Von oben dämmerte es, als ob der Tag durch eine starke Milchglasscheibe zu uns herabschaute. Und plötzlich, nach einer Biegung des Wegs, sahen wir den Schleierfall stürzend herniederbrausen in die Unterwelt, wo er sich zu dem Flüßchen bildete, an dem wir vorhin zur Höhle entlanggeritten waren. Es wehte ein so scharfer Wind, daß wir die Hüte festhalten mußten. Wir schritten wie auf einer Felsenstraße der Schweiz. Auf der einen Seite die Felswand, auf der andern den gähnenden Abgrund, worin der Wasserfall verschwand. Keine Brüstung schützte uns. Aber der Weg war fest und so breit, daß vier Pferde nebeneinander gehn konnten. So schritten wir weiter, bis wir an dem Wasserfall vorüber waren. Das Brausen verstummte, es wurde wieder dunkel, und wir mußten uns abermals auf den Schein unsrer Fackel verlassen. Hierauf ging es durch einen steil aufwärtsstrebenden Stollen, der sich nach links wendete. Erneut ließ sich das Geräusch des Wasserfalls vernehmen. Es wurde immer stärker, und als es zum betäubenden Brausen geworden war, sahen wir wieder den Schein des Tags, doch nicht von oben, sondern von vorn. Wir gingen darauf zu und befanden uns wenige Augenblicke später im Freien. Oder vielmehr nicht eigentlich im Freien, sondern zwischen der tosenden Masse des Schleierfalls und dem hochaufstrebenden Felsen, von dem sie sich herunterstürzte. Wir standen hart an dem Abgrund, worin sie verschwand. Da unten waren wir soeben vorübergekommen. Wir sahen uns genau in derselben Lage wie die Besucher des Niagarafalls, die sich hinter die herniederbrausende Wogenwand bringen lassen. Man brauchte nur zwischen Wasser und Felsen nach dem äußersten Ende des Falls zu gehn, um dort durch ein Pflanzengestrüpp hinaus auf die feste, trockne Erde zu gelangen.
Ich wußte genug. Wir kehrten zu der Stelle zurück, wo unsre Begleiter mit den Pferden geblieben waren. Als wir dort ankamen, waren sie mit ihrer Arbeit noch nicht fertig. Die fortzuschaffenden Steinsäulen besaßen zum Teil ein beträchtliches Gewicht, und es kostete Mühe, sie zu entfernen. Das benutzte ich zu einer weiteren Untersuchung. Ich wollte nun auch wissen, wohin der schmale Weg uns führte. Hierzu ließ ich mich aber nicht von Hammerdull, sondern von Intschu inta und einem Fackelträger begleiten. Meine Frau bat, mitgehn zu dürfen, und ich willigte ein, obgleich ihre Gegenwart uns unter Umständen hinderlich sein konnte.
Ich schätzte, daß wir uns hier etwa unter der Stelle befinden mußten, wo sich oben das gewichtige Winnetou-Standbild im Bau zu erheben begann. Von hier bis dahin, wo sich der schmale Weg nach der Karte in zwei noch schmälere Pfade teilte, war nicht weit. Als wir die Stelle erreichten, sah ich, daß hier wieder Stalaktiten anstatt Stalagmiten standen. Man hatte also auch da verbaut. Intschu inta merkte nichts. Er blieb nicht stehn. Er ahnte nicht, daß sich hier einer der schmalen Wege abzweigte, und ging mit dem Fackelträger weiter. Ich folgte ihnen, ohne etwas zu sagen. Der Weg, den sie übersahen, war jedenfalls derjenige, der bei den Teufelskanzeln mündete. Den hob ich mir für mich allein auf. Der weitere Weg führte nach der Karte hinauf zum Schloß, und den wollte ich gern heut noch kennenlernen. Wir folgten deshalb dem schmalen Pfad so weit, bis er zu enden schien.
»Da hört er auf«, sagte Intschu inta, indem er stehnblieb.
»Und geht nicht weiter?« fragte ich.
»Es ist genau wie vorhin!«
»Ja, genau wie vorhin! Nimmt man die Steine weg, die ihn verbauen, so sieht man, daß er nicht zu Ende ist. Fort mit der Wegsperre!«
Diese Stalaktiten waren nicht schwer. Ich hob einige zur Seite. Intschu inta half. Was ich gedacht hatte, bestätigte sich: der Weg ging weiter. Hier war es nicht nötig, alle Steine zu entfernen. Man konnte bequem über einige hinwegsteigen. Dann hinderte uns nichts mehr, vorwärts zu kommen, denn von hier aus hörten die Tropfsteine auf. Es gab nur noch Höhlen ohne Sinterbildung, eine immer höher gelegen als die andre. Man mußte beträchtlich steigen. Schließlich verschwand auch diese Bildung natürlicher Hohlräume, und es ging zwischen Felsspalten empor, auf künstlichen Stufen und Gängen, die übermauert waren. Dabei war die Luft sehr trocken und rein. Ich hatte nicht nach der Uhr gesehn und auch weder die Stufen noch unsre Schritte gezählt; aber ich schätzte, daß wir schon weit über eine Viertelstunde emporgestiegen waren; da nahmen die Stufen plötzlich ein Ende. Wir konnten nicht weiter. Wir befanden uns auf einer schmalen steinernen Treppe. Unter uns die Stufen, rechts Mauer, links Mauer, über uns Mauer. Nirgends eine Tür, ein Fenster, eine Öffnung oder sonst etwas Ähnliches! Wie da hinauskommen?
Grad über der obersten Stufe war eine Steinplatte angebracht. Sie konnte nicht schwer sein, denn sie maß höchstens drei Spannen im Geviert. Ich versuchte, sie zu heben. Es ging nicht. Sie hatte zwei Vertiefungen, die jedenfalls nicht ohne Absicht angebracht worden waren. Ich konnte das Heft meines Messers hineinstecken. Dadurch gewann ich einen Griff, die Matte zu verschieben. Ich versuchte es nach vorn, nach hinten, nach rechts – – vergeblich. Aber nach links bewegte sie sich endlich. Ich hatte das Gefühl, als liefe sie auf einer Rolle. Es entstand über mir eine viereckige Öffnung, durch die ich steigen konnte. Bevor ich es aber tat, steckte ich zunächst nur meinen Kopf vorsichtig bis zu den Augen hinaus.
Erstaunt blickte ich in einen sehr hohen, achteckigen, gemauerten Raum mit zwei Türen. Die Wände waren vollständig mit Passifloren Passionsblumen überwachsen, deren Ranken bis hinauf an die Decke reichten, wo es rundum zahlreiche Öffnungen gab, das nötige Licht hereinzulassen. Die Ranken waren so dicht, daß man von der darunterliegenden Mauer nicht viel sehn konnte. Sie grünten und blühten überreich. Daß dies noch jetzt, in der ziemlich vorgeschrittnen Jahreszeit geschah, war wohl eine Folge der Höhenlage und der Tatsache, daß die Pflanzen nicht unmittelbar im Freien wuchsen, sondern im Innern eines geschützten Raums. Die Passionsblume hat bekanntlich über zweihundert Arten; hier aber waren nur zwei vertreten. Die eigentliche Flächenbekleidung wurde von Passiflora quadrangularis gebildet, deren Prachtblumen, innen rosenrot angehaucht, einen Durchmesser von zehn Zentimetern besaßen. Das ergab rundum eine Blütenpracht sondergleichen. Von diesem Untergrund stach an der einen Wand eine vollständig weißblühende Passiflora incarnata ab, die so gezogen und verschnitten war, daß sie ein etwa vier Meter hohes, aufrechtstehendes Kreuz bildete, ein auffälliges Zeichen des Christentums hier an diesem geheimnisvollen Ort. Mir gegenüber gab es eine Tür, die geschlossen war. Und da, wo ich mich befand, schien auch eine zu sein, nur konnte ich sie nicht eher sehn, als bis ich höher stieg und aus der Öffnung heraustrat. Da stellte es sich denn heraus, daß hier auf unsrer Seite des Passiflorenraums mehrere Stufen zu einem Ausgang emporführten, der verriegelt war. Ich stieg hinauf, schob den Riegel zurück und öffnete. Nun stand ich im Freien, nahm mir aber nicht Zeit, mich genauer umzusehn, sondern schloß die Tür wieder, stieg die Stufen hinab und forderte Intschu inta auf, heraufzukommen und mir zu sagen, ob er wohl wisse, wo wir hier wären.
Kaum sah er den Raum, so rief er verwundert aus:
»Uff! Das ist die Blumenkapelle, wo Tatellah-Satah zu beten pflegt!«
»Zu wem betet er da?« fragte ich.
»Zum großen, guten Manitou. Zu wem sonst?«
»Aber da ist doch das Kreuz, das Sinnbild des Christentums!«
»Das stammt von Winnetou. Er hat es gepflanzt. Er sagte, das sei das Zeichen seines Bruders Old Shatterhand. Er verstehe es noch nicht, aber er werde es verstehen lernen, je höher dieses Gerank hier wachse!«
Man kann sich wohl denken, wie tief mich das ergriff. Aber jetzt war nicht Zeit, Gefühlen nachzuhängen. Ich fragte weiter:
»Wohin führt die Tür, die uns gegenüberliegt?«
»Nach Tatellah-Satahs Schlafgemach.«
»Und die hier über den Stufen?«
»Hinaus auf den Berg. Niemand hat geahnt, daß es hier außerdem eine Falltür gibt; nämlich die, durch die wir jetzt gekommen sind!«
Der Verschluß dieser Falltür bestand also in der Platte, die ich von ihrem Platz entfernt hatte. Sie war unter den Fußbodensteinen derjenige, der von der Seite her unmittelbar an die unterste Stufe stieß, in die er, weil sie hohl war, hineingeschoben werden konnte. Indem ich das getan hatte, war die Falltür geöffnet worden. Ich brauchte ihn nur in seine vorige Lage zurückzuziehn, so war sie wieder geschlossen.
Nun stieg auch meine Frau mit dem Fackelträger herauf. Sie brach beim Anblick der unzähligen Leidensblumen in einen Ausruf der Bewunderung aus. Sie hatte da unten im Gang nicht gehört, was mir von Intschu inta gesagt worden war. Dennoch erriet sie sofort den Zweck dieses Raums.
»Das ist ein Zimmer zum Beten!«
Mit diesen Worten schritt sie nach der Mitte des Raums. Dort stand eine Bank, die mit einem Fell überkleidet war. Sie setzte sich darauf, dem Kreuz grad gegenüber, und sprach weiter:
»Hier sitzt sicherlich Tatellah-Satah, um mit Manitou zu sprechen. Merkwürdig – er hat dabei das Kreuz vor sich, das Erdenleid, das den einzelnen Menschen und ganze Völker erlöst. Da betet er wohl für die Erlösung seiner Rasse. Hier möchte auch ich einmal mit mir und meinem Herrgott allein sein!«
»Dazu ist Gelegenheit!« antwortete ich. »Wir gehn jetzt zurück, kommen aber bald wieder.«
»Wann?«
»Vielleicht schon in einer halben Stunde. Wir wollen die beiden Gefangnen holen und auf diesem verborgenen Weg ins Schloß bringen. Sicherlich ist es für uns von Vorteil, wenn sie zunächst spurlos verschwinden. Es hat keinen Zweck, daß du uns in die Höhle zurückbegleitest. Du müßtest doch mit uns wieder hier herauf.«
»Gut, so bleibe ich. Aber was tue ich, wenn mich jemand hier findet?«
»Sei ohne Sorge! Niemand wird dir hier feindlich entgegentreten. Übrigens ist es nicht nötig, daß du dich erwischen läßt. Du brauchst nur hier die Stufen hinauf und ins Freie zu gehn, so bleibst du ungesehn. Es würde wohl keinem einfallen nachzusehn, ob die Tür angelehnt ist oder nicht.«
»Ja, richtig! Ich bin beruhigt. Geht ihr nur! Ich warte hier.«
Sie setzte sich wieder auf die Bank. Wir andern aber stiegen in den Gang hinab, den ich mit der Steinplatte verschloß. Dann kehrten wir an die Stelle zurück, wo unsre Gefährten auf uns warteten. Sie waren jetzt mit ihrer Arbeit, die Stalaktiten wegzuräumen, fast zu Ende. Ich setzte mich nieder, um die wenigen Minuten zu warten. Bei diesem Stillsitzen fühlte ich, daß es von der Decke auf mich niedertropfte. Aber es war nicht Wasser, sondern zerriebnes Gestein. Es streute wie Mehl oder Sand auf mich herab. Zuweilen war auch ein erbsen-, ja mitunter ein nußgroßes Stück dabei. Ich schaute empor. Das Licht unsrer Fackeln reichte nicht bis ganz hinauf, trotzdem sah ich grad über mir einen schmalen Riß, aus dem es bröckelte. Das war in einer solchen Höhle nichts Auffälliges. Deshalb kam ich nicht auf den Gedanken, nach den Ursachen dieses Risses zu forschen.
Als der Weg endlich frei war, erklärte ich meinen Begleitern, daß wir uns trennen müßten. Die beiden Medizinmänner sollten mit mir, Intschu inta und einem Fackelträger zu Fuß nach oben steigen. Die andern aber ritten, indem sie unsre ledigen Pferde mitnahmen, unter Dick Hammerdulls Führung den vorhin von uns entdeckten Weg empor, der hinter dem Schleierfall mündete. Von dort aus sollten sie sich sogleich nach dem Schloß wenden. Wir warteten, bis sie fort waren. Dann verband ich den Medizinmännern die Augen, ohne daß sie sich widersetzten. Hierauf nahm ich den Komantschen und Intschu inta den Kiowa beim Arm. Der Fackelträger schritt voran. So stiegen wir den schon einmal zurückgelegten Weg nach dem Passiflorenraum empor. Das ging nun allerdings mit den unsicher tastenden Gefangnen so langsam, daß wir nicht, wie ich gesagt hatte, nach einer halben, sondern erst nach einer ganzen Stunde oben bei den letzten Stufen ankamen. Grad schickte ich mich an, die Platte auf die Seite zu schieben, da hörte ich Stimmen. Es schien jemand bei meiner Frau zu sein. Ich öffnete die Falltür so geräuschlos wie möglich, hielt mich jedoch vorläufig, so gut es ging, in Deckung und spähte behutsam hinaus, um zu sehn, wer da sprach. Meine Frau war verschwunden, jedenfalls durch die Treppentür hinaus ins Freie. Jetzt saß Tatellah-Satah auf der Bank, dem Kreuz gegenüber. Bei ihm standen zwölf Apatschenhäuptlinge jüngern Alters, von denen ich keinen kannte. Der älteste von ihnen war nicht über dreißig Jahre. Der alte Bewahrer der großen Medizin sprach mit bewegter Stimme zu ihnen. Ich hörte die Fortsetzung der angefangenen Rede:
»Unser guter Manitou ist größer, als die roten Männer bisher glaubten. Sie nahmen an, er sei nur ihr Gott, nicht aber auch der Gott aller andern, die da leben. Falls dies auf Wahrheit beruhte, wie klein wäre er da! Der Gott einiger armen Indianerscharen, die von den Bleichgesichtern zermalmt und zertreten werden! Wie groß und wie mächtig müßte dagegen der Gott der Weißen sein! Und wie sehr müßten wir da wünschen, daß dieser Gott der Weißen an Stelle des Manitou der Indianer trete! Doch dieser Wunsch wurde uns erfüllt, noch ehe wir ihn empfanden. Schaut hin auf das Kreuz! Es blüht, um uns zu erlösen. Es nimmt uns Manitou, um Manitou uns zu geben. Es sagt uns, daß es nur einen einzigen Gott gibt: den Allmächtigen, den Allweisen, den Allstarken, den Allgütigen, und daß wir ihn seiner Allstärke und seiner Alliebe berauben, indem wir ihn nur für uns haben wollen, für uns allein, die wir das unglücklichste aller Völker sind und die schwächste aller Rassen. Das Kreuz wurzelt in der Erde und ragt zu Gott empor. Das ist das eine, was es uns sagen will. Aber es breitet auch weit seine Arme aus, um jedermann und alle Welt zu umfangen. Das ist das andre, was es verkündet. Niemand von uns hat das gewußt. Old Shatterhand war es, der uns dieses Wissen brachte. Wir aber nahmen es nicht an. Ein einziger nur bewegte diese Kunde in seinem Herzen. Und das war Winnetou. Er beobachtete; er prüfte. Er begann zu glauben. Und je fester sein Glaube wurde, desto öfter kam er zu mir, um mich zu bitten, diese Leidensblumen und dieses Kreuz an die Lieblingsstätte meiner Gebete pflanzen zu dürfen. Ferner war es sein inniger Wunsch, Old Shatterhand zu mir zu bringen. Sein weißer Bruder sollte hier sehn, wie der Kreuzesgedanke und die Überzeugung von einem einzigen, großen Manitou im Herzen seines roten Bruders Wurzel gefaßt und sich zu voller Blüte entwickelt habe. Ich aber war dagegen. Ich haßte Old Shatterhand. Da ging Winnetou hin und kam nicht wieder. Doch was in seinem Herzen lebte, das kehrte zurück. Das trieb mich tagtäglich hierher, in diesen Raum. Es lehrte mich beten, nicht zu dem schwachen, kleinen Manitou der roten Männer, sondern zu dem gewaltigen, unendlichen Manitou Old Shatterhands, der allein imstand ist, uns, seine roten Kinder, neu zu beseelen, damit wir endlich werden, was wir werden sollten. Heut ist er da, Old Shatterhand, dem ich mein Haus und mein Herz versagte. Heut liebe ich ihn. Heut weiß ich es, daß ich nichts vermag ohne ihn, ganz ebenso, wie die rote Rasse ohne die weiße nichts vermag. Er wird das Bleichgesicht sein, das die uns verlorengegangnen Medizinen zurückbringt. Wißt ihr, was das bedeutet? Er wird es sein, der uns in Liebe vereint, obgleich wir uns im Haß zerstören wollen. Und während wir –«
Er hielt mitten im Satz inne. Unsre Fackel, die wir noch nicht hatten auslöschen können, begann laut zu knistern. Sie sprühte Funken und gab Rauch, der neben mir aus der Öffnung stieg und von den Indianern sofort gerochen und gesehn wurde. Sie schauten alle zu mir her. Tatellah-Satah stand überrascht von seinem Sitz auf. So blieb mir nichts andres übrig, als aus der Bodenöffnung zu steigen.
»Old Shatterhand!« rief er aus. »Old Shatterhand, von dem ich spreche!«
»Old Shatterhand? Das ist er?« wurde er von den Häuptlingen gefragt.
»Ja; er ists!« antwortete er. »Ein Loch im Boden! Wohin führt es? Woher kommst du?«
Diese Worte waren an mich gerichtet. Ich ging auf ihn zu, zog die Karte, die ich dem Medizinmann der Komantschen abgenommen hatte, aus der Tasche, faltete sie auseinander und gab sie ihm.
»Schau hier nach; so wirst du sehn, woher ich komme!«
Er sah die Überschrift auf dem Plan und sah die Zahl, da rief er auch schon aus:
»Aus der geheimen Bücherei! Die hochwichtige Karte, die einem meiner Ahnen gestohlen worden ist, nach deren Dieb wir aber vergeblich forschten! Im Verdacht stand der damalige Medizinmann der Komantschen, der mehrere Wochen lang hier Gast gewesen war und die Bücherei sehr oft betreten hatte. Und jetzt bringt Old Shatterhand sie mir! Welch ein Wunder! Von wem hast du sie?«
»Von dem Urenkel des Diebes. Ich zeige ihn dir.«
Auf meinen Ruf kamen Intschu inta und der Fackelträger zu uns heraufgestiegen und brachten die beiden Gefangnen mit, die von den Apatschenhäuptlingen sofort erkannt wurden. Unsre Freunde wollten in laute Ausrufe der Verwunderung ausbrechen, ich aber wehrte ihnen durch eine Handbewegung.
»Still!« flüsterte ich. »Sie dürfen nicht sehn und hören, wo sie sind. Ich erzähle nachher. Gibt es hier im Schloß ein sichres Gewahrsam, wo die beiden Gefangnen untergebracht werden können, ohne von anderen gesehn zu werden?«
»Wir haben sehr gute und sichre Gefängnisse hier«, antwortete Tatellah-Satah.
»So mag Intschu inta sie dort unterbringen und dann wiederkommen. Ich brauche ihn noch.«
Tatellah-Satah gab seinem riesigen Diener mit unterdrückter Stimme die nötigen Befehle, worauf sich dieser mit den beiden Medizinmännern und dem Fackelträger entfernte. Wir schauten ihnen schweigend nach, da wurde über den Treppenstufen die Tür geöffnet, die ins Freie führte, und meine Frau erschien. Es war ihr gelungen, sich rechtzeitig zurückzuziehn. Nun, da sie durch die angelehnte Tür bemerkt hatte, daß ich wieder zurückgekehrt war, glaubte sie, sich auch sehn lassen zu dürfen. Man kann sich denken, daß ihr die Häuptlinge erstaunt, wenn auch nicht unfreundlich, entgegenblickten.
Ich erzählte ihnen, soviel ich für nötig hielt, denn zum vollständigen Mitwisser wollte ich vorläufig niemand machen. Das nahm Zeit in Anspruch. Grad als ich fertig war, kehrte Intschu inta zurück. Er meldete, daß die Gefangnen fest eingeschlossen und daß die weißen Jäger und ihre Begleiter vom Wasserfall her auf dem Schloß eingetroffen seien. Ich forderte ihn auf, mich jetzt noch einmal hinunter in die Höhle zu begleiten und zu diesem Zweck zwei neue Fackeln zu besorgen. Meine Frau wollte gern dabei sein, doch ich lehnte ab. Da fragte mich Tatellah-Satah, ob ihm meine Squaw nicht Gesellschaft leisten könne. Er erwarte den Besuch von Kolma Puschi; die beiden Frauen würden sich schon miteinander die Zeit vertreiben. Damit war ich gern einverstanden, und beruhigt stieg ich mit Intschu inta, der inzwischen die Fackeln herbeigeschafft hatte, wieder in die Höhle hinunter. Es sei bemerkt, daß die zwölf Apatschenhäuptlinge erst heut während unsrer Abwesenheit hier angekommen waren und ihre Zelte in der Oberstadt aufgeschlagen hatten. Sie bildeten den Stab sämtlicher Apatschenstämme, auf die Tatellah-Satah sich verlassen konnte.
Ich hatte meinen besondern Grund, noch einmal hinunter in die Höhle zu gehn. Da ich einmal dabei war, sie kennenzulernen, wollte ich sie auch gleich richtig auskundschaften. Ich erinnere daran, daß der breite, reitbare Weg, der vom Tal der Höhle aus durch die herrliche Unterwelt führte, droben hinter dem Schleierfall ins Freie mündete. An der Stelle, wo er mit den Stalaktiten verbaut worden war, die wir entfernt hatten, zweigte davon jener schmale Weg nach rechts ab, der mich mit meiner Frau, Intschu inta und dem Fackelträger zu Fuß nach dem Passiflorenraum geführt hatte. Diese beiden Gänge kannten wir also. Aber schon unten in der Höhle zweigte von diesem schmalen Weg ein zweiter Pfad ab, an dem wir vorübergekommen waren, ohne daß meine Begleiter etwas von ihm bemerkten. Nur mir allein war die Stelle aufgefallen, wo die als Stalagmiten verwendeten Stalaktiten andeuteten, daß auch hier ein früher gangbarer Weg verbaut und verdeckt worden war. Nach dieser Stelle kehrten wir jetzt zurück. Ich hatte nur Intschu inta mitgenommen, weil er der Vertraute Tatellah-Satahs war, und es sich vermutlich um eine sehr vertrauliche Sache handelte, der ich auf die Spur kommen wollte. Denn wenn ich die oberirdischen und die unterirdischen Örtlichkeiten miteinander in Verbindung brachte, so ergab sich für mich folgendes:
Der breite Weg mündete im Tal, hinterm Wasserfall. Der schmale Weg endete an seinem letzten, höchsten Punkt droben im Schloß. Die zwischen beiden liegende Abzweigung, die ich jetzt suchte, mußte also zwischen dem Wasserfall und dem Schloß münden. Und wenn ich mich fragte, welcher Ort hier wohl in Frage käme, so stieß meine Vermutung immer nur auf die Teufelskanzel, oder, wie sie hier genannt wurde, auf das ›Ohr des Teufels‹, an dem wir vorübergekommen waren, als Tatellah-Satah uns den Schleierfall zeigte. Es stimmte in jeder Beziehung, daß dieser Ort mit der geheimnisvollen, großen Höhle in Verbindung stehn könnte. Wer weiß, was für wichtige Zusammenhänge vor Jahrtausenden hier zwischen oben und unten bestanden hatten. Darum war es jetzt für mich, der ich diesen Zusammenhängen nachspürte, sehr wohl geraten, das so geheim wie möglich zu tun und keinen Menschen zu meinem Mitwisser zu machen, der dieses Vertrauen nicht unbedingt verdiente. Das war der Grund, weshalb ich nur den altbewährten, treuen Intschu inta mitnahm.
Als wir die Stelle erreichten, wo ich eine Abzweigung des schmalen Pfads vermutete, machten wir halt, um die am Boden stehenden Säulen zu untersuchen. Auch sie waren nicht Stalagmiten, sondern Stalaktiten, also nicht hier an Ort und Stelle entstanden, sondern eigens hergestellt, den Weg zu versperren. Wir beseitigten so viele davon, wie nötig war, vorbeizukommen, und entdeckten auch bald den offnen Pfad, der dahinter aufwärts führte. Meine Vermutung hatte mich also nicht getäuscht. Es fragte sich nur noch, wo der Weg oben mündete.
Zunächst ruhten wir einige Augenblicke von der Anstrengung aus, die uns das Beiseiteschaffen der schweren Steine verursacht hatte. Es war jetzt vollständig still um uns, und so hörten wir ein eigenartiges, prasselndes Geräusch, das aus der Ferne zu uns drang, und zwar aus der Gegend, wo unser schmaler Weg von dem breiten abzweigte. Was war das, oder wer war das? Befand sich jemand dort? Unsre Sicherheit erforderte, das schleunigst zu erkunden. Wir nahmen also die Fackeln auf und eilten den Weg zurück, woher der Schall zu uns gedrungen war. Dort sahen wir, daß das Geräusch vom Herabbröckeln des Deckengesteins herrührte, und zwar an der gleichen Stelle, wo ich nach meinen ersten Erkundungen gesessen und den Spalt über mir bemerkt hatte. Dieser Spalt war jetzt breiter und größer als vorher. Es waren schon beträchtliche Sinterstücke herabgefallen. Jedenfalls lockerte sich oben etwas. Wer hier vorüberging, der mußte von jetzt an vorsichtig sein. Aber ich machte mir darüber auch jetzt noch keine Gedanken, denn ich hatte nicht die geringste Ahnung von der Ursache dieser Erscheinung.
Wir kehrten zu der Stelle zurück, wo wir vorher beschäftigt gewesen waren, und folgten von dort aus dem neu entdeckten, schmalen Seitengang. Intschu inta schüttelte erstaunt den Kopf.
»Es ist, als wärst du Winnetou«, sagte er. »Alles hörst du; alles siehst du; alles findest du! Wir aber, die wir schon so lange hier wohnen, nahmen von all dem bisher nichts wahr. Du bist wie er, und er war wie du!«
Auch dieser Pfad führte von Höhle zu Höhle empor, aber viel steiler noch als der andre. Dann gab es wieder künstliche Stufen, die in den Stein gehauen waren. Schließlich standen wir vor dem Ende. Aber dieses Ende war weder eine Tür, noch eine Mauer, oder ein Stein, sondern bestand aus unzähligen Wurzeln und Wurzelfasern, die in undurchdringlichem Gewirr aus dem Boden traten, der hier nicht aus Stein, sondern aus Erde gebildet war. Da mußten wir unsre Messer zu Hilfe nehmen. Und sie halfen. Indem wir alles, was uns im Weg war, wegschnitten und hinter uns schafften, drangen wir Schritt für Schritt vor und standen schließlich nicht mehr vor Wurzeln und lichtscheuen Ranken, sondern hinter einem dichten Gebüsch, durch dessen Gezweig hindurch das Tageslicht uns grüßte. Wir löschten die Fackel aus.
Das Gebüsch wuchs mit noch anderm Gesträuch aus einem Steinhaufen heraus, der jedenfalls nicht natürlich entstanden, sondern von Menschen hier aufgeschichtet worden war, um den Gang, aus dem wir kamen, zu verbergen. Indem wir hindurchkrochen, gaben wir uns Mühe, die Äste und Zweige so wenig wie möglich zu verletzen. Dann standen wir – – – am linken ›Ohr des Teufels‹, also ganz so, wie ich vermutet hatte; das rechte Ohr lag jenseits des Fahrwegs.
»Uff, uff!« sagte Intschu inta. »Es geschehn Wunder!«
»Die Neuentdeckung von etwas so Altem ist kein Wunder«, antwortete ich. »Wir befinden uns an eurer Teufelskanzel.«
»Deren Geheimnis kein Mensch entdecken kann.«
»Nicht? Wirklich nicht?«
»Nein. Nicht einmal Winnetou hat es gekonnt!«
»So warte! Vielleicht bist du es, der es kann!«
»Ich?« fragte er erstaunt. »Unmöglich!«
»Durchaus nicht. Du hast mir versprochen, über diese Entdeckung zu schweigen, sogar gegen Tatellah-Satah, wenigstens einstweilen. Willst du dein Wort halten?«
»Ich will!« versicherte er und sah mich erwartungsvoll an.
»Gut! Sehn wir uns erst um! Steigen wir hinauf, auf das ›Ohr des Teufels‹, um es kennenzulernen!«
Wir kletterten hinauf. Erstaunt schaute ich mich um, denn ich befand mich fast genau in derselben Lage wie auf der Devis Pulpit in Colorado, wo der Junge Adler den Bär erlegte und ich mich dann mit meiner Frau von Kanzel zu Kanzel unterhielt. Es gab auch hier zwei Kanzeln, genau wie dort. Und drüben über der Straße gab es wieder zwei, die in derselben Ausmessung zueinander standen. Man konnte meinen, es seien hier also zwei Ellipsen vorhanden gewesen, in deren Brennpunkten man jeweils das leise Gesprochne laut zu hören vermochte, und zwar die eine diesseits und die andre jenseits des Fahrwegs. Den schärfer Denkenden aber mußte auffallen, daß es weder hüben noch drüben eine wirkliche Ellipse gab, sondern daß diese Figur erst dann zustande kam, wenn man sich beide Abteilungen durch Verbindungslinien über den Fahrweg hinüber vereinigt dachte. Dann entstand allerdings eine große Doppelellipse mit vier Brennpunkten, je zwei auf beiden Seiten, bei deren richtiger Benutzung sich verschiedene Schallversuche ermöglichten, die dem nicht Eingeweihten als Wunder erscheinen mußten.
Ich sann diesen Dingen nach, wurde aber zunächst wieder davon abgelenkt, und zwar durch eine höchst augenfällige Veränderung, die sich seit unserm letzten Hiersein in dem Landschaftsbild vollzogen hatte. Das begonnene Winnetou-Standbild war inzwischen gewachsen, und zwar in einer Weise, die mir nur dann begreiflich wurde, wenn ich in Rechnung stellte, wie groß heut die Zahl der Lastgeschirre war, auf denen die fertig zubereiteten Quader von den Steinbrüchen herbeigeschleppt wurden, und wie bedeutend die Anzahl der Arbeiter, die damit beschäftigt waren, diese Quader zur Figur zusammenzusetzen und mit eisernen Spindeln, Klammern und Bolzen untereinander zu befestigen. Die Gestalt war bereits bis zum Unterleib gediehen; der künstliche Felsen, woran sie sich anlehnen sollte, war im Entstehn, und die Gerüste, auf denen die Werkführer arbeiten sollten, waren zwar erst heut entstanden, ließen aber Größenverhältnisse vermuten, die ins Riesenhafte gingen. Als Intschu inta sah, daß ich meine Aufmerksamkeit jetzt darauf richtete, sagte er:
»Sie arbeiten fieberhaft, denn sie sind sich ihrer Sache nicht mehr sicher. Sie sehn jetzt täglich mehr und mehr, daß nicht alle Welt ihrer Meinung ist. Deshalb soll dieses Bild schleunigst fertiggestellt werden, um auf die Tausende von Festgenossen, die man erwartet, den Eindruck zu machen, den man sich davon verspricht. Als ich vorhin die Fackeln holte, erfuhr ich, daß man entschlossen ist, jetzt Tag und Nacht an der Figur zu arbeiten, weil man gehört hat, daß auch du dagegen bist. Man hatte geglaubt, dich leicht auf die Seite schieben zu können.«
»Ah! Besonders wohl Mr. Antonius Paper, genannt Okih-tschin-tscha? Laß ihn schieben! Wir wollen uns lieber nicht mit dieser Sache hier befassen und versuchen, das Geheimnis eurer Teufelskanzel zu entdecken. Wir haben also hier zwei Kanzeln, und drüben sind auch zwei. Wir befinden uns diesseits des Fahrwegs auf der vorderen; da bleibe ich jetzt; du aber gehst hinüber, auch auf die vordere. Dort stellst du dich hin und nennst in einfachem Gesprächston zehn Zahlen. Ich kann das nach der landläufigen Ansicht hier hüben nicht hören, werde dir aber vielleicht doch sofort dieselben Zahlen sagen.«
»Mir sagen?« fragte er. »Das soll ich hören?«
»Ja.«
»Nicht denkbar!«
»Warte es ab! Jetzt geh! Aber sag niemand, wohin du gehst und was du dort willst!«
Er machte ein sehr ungläubiges Gesicht und entfernte sich. Ich schaute ihm nach, ohne mich aber von den Arbeitern und Fuhrleuten, die auf dem Fahrweg verkehrten, sehn zulassen. Sie beachteten ihn nicht. Er ging über den Weg hinüber und stieg auf die erste Kanzel. Man kann sich wohl denken, wie gespannt ich darauf war, ob der Versuch gelingen würde. Ich lauschte. Ja, richtig, da kamen sie, die zehn Zahlen – alle geraden der Reihe nach von zwei bis zwanzig. Nun wartete ich einen Augenblick, dann wiederholte ich sie ebenso langsam und deutlich, wie er sie ausgesprochen hatte.
»Uff, uff!« hörte ich ihn verwundert rufen. »Bist du das wirklich?«
»Ich bin es.«
»Und du hast mich gehört?«
»So deutlich, wie du mich hörst. Nun gehst du auf die andre Kanzel und sagst dort etwas andres.«
»Was?«
»Irgend etwas! Du sprichst eine Frage aus, und ich antworte dir.«
»Gut, ich gehe!«
Auch ich stieg von meiner Kanzel hinab und ging auf die dahinterliegende. Dort gab es kein Gebüsch; ich war also schnell oben. Schon hörte ich ihn drüben kommen, weil er beim Klettern laut schnaufte. Dann war er oben und fragte:
»Bist du noch dort? Hörst du mich?«
»Ja, ich höre dich«, antwortete ich, ohne ihm aber zu sagen, daß ich inzwischen auch meinen Platz gewechselt hatte.
»Soll ich vielleicht wieder zählen?«
»Ja. Zehn andre Zahlen.«
Er sagte die ungeraden Zahlen von einunddreißig bis neunundvierzig auf, und ich wiederholte sie ihm. Dann ließ ich ihn wieder nach der ersten Kanzel zurückkehren, wo er noch weitere zehn Zahlen aufsagen sollte. Ich sah ihn drüben kommen. Er stieg hinauf. Jedenfalls zählte er jetzt; ich hörte aber nichts. Jetzt kannte ich mich aus. Es handelte sich hier wirklich um eine Doppelellipse. Man konnte hören oder nicht hören, gehört werden oder nicht gehört werden, wie es einem beliebte. Es kam nur auf die Orte an, die man wählte. Ich stieg von meiner Kanzel hinab und ging auf den Fahrweg zu. Da tauchte er drüben auf.
»Du hast beim letztenmal nicht geantwortet«, sagte er. »Oder habe ich dich überhört? Welch ein Wunder! Uff, uff! Auf so weit kann kein Mensch das gewöhnliche Wort verstehn, und doch habe ich dich verstanden! Wie ist das zu erklären?«
»Denke darüber nach! Du bist es doch, der das Geheimnis erraten soll!«
»Da könnte ich lange grübeln. Und warum soll ich mühsam erraten, was du schon weißt? Denn wüßtest du es nicht, so hättest du mir nicht die richtigen Plätze anweisen können. Werde ich es erfahren?«
»Später, wenn Tatellah-Satah zugegen ist. Jetzt aber komm mit hinauf ins Schloß; die Sonne geht schon unter!«
Der Himmel war, so weit man ihn hier im Tal sehn konnte, von durchsichtigen, goldig schimmernden Wölkchen überhaucht. Ein diamantnes Flammenzucken ging von Westen aus. Das blitzte und flimmerte im herrlichen Spiegel des Schleierfalls wider. Wie schade, daß die grad vor dem Fall sich erhebende ausdruckslose, steinerne Gestalt den Genuß dieser Schönheit beeinträchtigte! Die Holzgerüste, die sich dort erhoben, taten dem Auge weh, zumal man sie ohne Lot errichtet zu haben schien. Einer der Hauptträger stand sogar merklich schief, wie ich mit einem flüchtigen Blick so nebenbei feststellte.