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13. Der echte Winnetou

Wir gingen zum Schloß. Intschu inta war unterwegs still, denn das Ergebnis unsrer Nachforschung schien ihn stark zu beschäftigen. Oben trennten wir uns. Er ging zu Tatellah-Satah, ich in meine Wohnung, wo ich Klara vermutete. Sie war auch wirklich da, und zwar in Gesellschaft von Kolma Puschi. Lebhaft plaudernd saßen sie beieinander. Als ich eintrat, standen sie auf und kamen mir entgegen. Der Name Kolma Puschi ist der Moquimundart entnommen. Er bedeutet soviel wie ›Schwarzauge‹ oder ›Dunkelauge‹. An diesem Auge, das seinen Glanz noch immer besaß, erkannte ich sie sogleich wieder, obwohl sie sich sehr verändert hatte ›Old Surehand‹ II. Sie war bedeutend älter als ich. Ihre früher so geschmeidige Gestalt hatte sich gebeugt. Ihr grauglänzendes Haar war in dünn gewordenen Zöpfen mehrfach um den Kopf gelegt. Ihr gealtertes Gesicht bestand aus lauter kleinen, winzigen Falten. Und doch war es schön, dieses Gesicht. Es besaß jene von innen heraus sprechende Schönheit, die man als Altersschönheit bezeichnet; sie pflegt die Folge vielen Leidens und Denkens zu sein. So trat mir Kolma Puschi in dieser Stunde entgegen. Sie blieb vor mir stehn, schaute mich lange prüfend an und sagte dann, indem ihr ernstes Gesicht zu lächeln begann:

»Ja, das ist er! Noch ganz wie früher! Trotz der vielen Jahre, die vergangen sind, seit wir uns nicht mehr sahen! Darf ich Old Shatterhand begrüßen?«

Sie fragte das, ohne mir die Hand entgegenzustrecken.

»Was gäbe es für einen Grund, das nicht zu dürfen?« entgegnete ich.

»Die Feindschaft!«

»Welche Feindschaft? Ich kenne keine.«

»Auch ich kannte sie nicht bis auf den heutigen Tag. Old Shatterhand ist wegen des Denkmals unser Gegner.«

»Vielleicht Gegner, keineswegs aber Feind. Ich habe Kolma Puschi geachtet, geliebt und bewundert, solange ich sie kenne, und werde ihr diese Freundschaft bewahren, solange ich lebe. Ich bitte sie, mir ihre Hand zu reichen, die so kühn und tapfer sein konnte, und doch so mild und so edel zugleich.«

Da wurde ihr Gesicht wie heller, warmer Sonnenschein, der aus jedem Fältchen zu mir aufstrahlte. Wir drückten einander die Hände. Dann nahmen wir beisammen Platz, um das durch mein Kommen unterbrochne Gespräch fortzusetzen. Da sah und hörte ich denn, daß Kolma Puschi im Verlauf der letzten Jahrzehnte sehr viel gelernt hatte. Sie war mit Young Surehand und Young Apanatschka, ihren Enkeln, geistig gewachsen, aber leider nicht über die Anschauungen und Ansichten dieser Enkel hinaus. Sie schwärmte für die geplante, rein äußerliche Winnetou-Vergötterung, und sie war überzeugt gewesen, daß meine Frau und ich ebenso schwärmen würden. Als Meinungsverschiedenheiten und Spaltungen entstanden, hatte sie geglaubt, daß es nur unsres Kommens bedürfe, diese Streitfragen zu ihren Gunsten zu lösen. Sie war erst heut mit Old Surehand und Apanatschka nach hier zurückgekehrt. Da hatte sie dann alles erfahren: daß wir angekommen waren, daß man uns abstoßend und geringschätzig behandelt hatte, daß uns aber von Tatellah-Satah die große Genugtuung bereitet worden war, von ihm selber aufs Schloß geholt zu werden, um dort als seine Gäste ganz in seiner Nähe zu wohnen. Das hatte die Spaltung zwischen Oberstadt und Unterstadt noch erweitert. Man befürchtete in gewissen Zirkeln der Unterstadt, daß nun Old Shatterhand, an dem Tatellah-Satah so unerwartetes Wohlgefallen fand, sich in der Denkmalsfrage das entscheidende Wort anmaßen würde. Old Surehand und Apanatschka standen gegen den Alten und hielten es deshalb für unmöglich, mich in meiner Wohnung bei ihm aufzusuchen. Kolma Puschi aber hatte es nicht übers Herz gebracht, in derselben Weise schroff zu sein. Sie hatte sich bei dem Bewahrer der großen Medizin anmelden lassen, um ihn um die Erlaubnis zu bitten, uns bei ihm besuchen zu dürfen. Er willigte gern ein. Nun hatten die beiden Frauen während meiner Abwesenheit schon stundenlang beisammengesessen und sichtlich Wohlgefallen aneinander gefunden. Klara schien es gelungen zu sein, ihrer Besucherin das zu geben, was diese von ihr erwartete. Der Brief, den Kolma Puschi uns nach Deutschland geschrieben hatte, schloß bekanntlich mit den Worten: »Komm also, und bring mir Deine Menschenliebe, Deine Herzensgüte und – Deinen Glauben an den großen, gerechten Manitou, den ich gern ebenso deutlich fühlen möchte, wie Du, meine Schwester, ihn fühlst!« Dieser Wunsch war unsrer roten Freundin jetzt offenbar erfüllt. Was ich als Mann vielleicht in scharfem Ton gesagt hätte, das hatte meine Frau in freundlicher Eindringlichkeit erläutert. Bei meinem Eintreffen war Kolma Puschi schon ein gut Teil zu unsrer Ansicht bekehrt, und es bedurfte nur noch weniger Worte, um ihr meine Erwägungen und Entschlüsse bündig zusammenzufassen. Als sie mich bat, doch in die Unterstadt zu kommen und Old Surehand und Apanatschka aufzusuchen, antwortete ich:

»Das darf ich nicht. Ich bin Gast Tatellah-Satahs und wer ihn meidet, den muß auch ich meiden.«

»Das verstehe ich«, nickte sie. »Aber –«

»Kein Aber!« widersprach ich. »Nach den Gesetzen der roten Männer ist das Haus meines Wirts auch mein Haus. Wer es verachtet, der verachtet auch mich!«

»Verzeihe! Wenn du von Verachtung sprichst, so irrst du dich. Niemand wird es wagen, dich zu verachten.«

»Das ist zunächst nur eine Behauptung, für die der Beweis noch fehlt. Wir werden die Probe machen. Ich wurde eingeladen, nach dem Mount Winnetou zu kommen. Ich kam. Zunächst blieb ich unerkannt. Nun aber weiß man, wer ich bin. Also muß man mich willkommen heißen. Wird das geschehn?«

Klara gab mir einen heimlichen Wink, doch nicht in solch schroffem Ton mit dieser Frau zu sprechen. Ich aber wußte wohl, was ich wollte, und fuhr in derselben Weise fort:

»Ich bitte Kolma Puschi, zu Old Surehand und Apanatschka zu gehn und ihnen zu sagen, daß ich sie für morgen zum Mittagessen einlade, und zwar hier in meine Wohnung! Es werden auch noch andre Gäste dazu gebeten. Ihre Namen brauche ich jetzt noch nicht zu nennen.«

Da wurde ihr Gesicht noch ernster als es schon war.

»Du meinst, daß meine Söhne kommen werden?«

»Ich hoffe es!«

»Und wenn sie nicht kommen?«

Bei dieser Frage waren ihre Augen in größter Spannung auf mich gerichtet.

»So fasse ich das als die größte Beleidigung auf, die mir widerfahren kann; und Old Shatterhand läßt sich noch immer nicht beleidigen.«

»Aber es handelt sich doch um Freunde!«

»Ein Freund, der mich beleidigt, ist schlimmer als ein Feind. Sag ihnen das! Teile ihnen mit, daß ich zwar grau geworden, aber noch immer der alte bin! Wenn sie nicht kommen, nehme ich keine Rücksicht. Dann wird euer ganzer Ausschuß zum Teufel gejagt und ein andrer, würdigerer gewählt. Winnetou war Häuptling der Apatschen. In welcher Weise er zu ehren ist, darüber haben nur seine allernächsten Erben zu bestimmen, und das sind die Apatschen.«

»Wenn Old Shatterhand droht, so ist es ernst; das weiß ich«, nickte sie.

»Ja, voller Ernst! Wofür hat Winnetou gelebt? Wofür ist er gestorben? Etwa um einen jungen Maler und einen jungen Bildhauer berühmt zu machen? Und wie haben diese beiden unerfahrnen Leute ihn dargestellt? Wo ist seine Seele? Jeder Cowboy, Runner, Loafer oder Tramp kann in derselben Rowdyhaltung stehn wie die tönerne Figur dort unten, von der man uns sagte, daß sie Winnetou bedeuten soll! Bitte, Klara, zeig ihr einmal einen andern Winnetou – den unsern!«

Meine Frau brachte die Abzüge, die sie daheim angefertigt hatte. Als ich zu ihr trat, um den richtigen herauszusuchen benutzte sie diese Gelegenheit, mir leise zuzuraunen:

»Sei doch, bitte, nicht so grob zu ihr! Sie weint ja beinahe! Sie ist nicht schuld daran!«

»Mehr als du denkst!« antwortete ich ebenso leise. »Sie versteht nichts von Kunst und vergöttert ihre Enkel. Laß mich nur!«

Ich habe schon früher gesagt daß wir Sascha Schneiders Bild des verklärten, zum Himmel aufschwebenden Winnetou mitgebracht hatten. Das befestigte ich jetzt mit vier Nadeln an die Wand; dann brannte ich die Lampen an, denn es war inzwischen dunkel geworden. Das Licht fiel von beiden Seiten auf das Bild. Die Gestalt des Apatschen schien zu leben, sein Mund zu sprechen, sein suchender, versonnener Blick zu fragen.

»Das ist unser Winnetou«, sagte ich. »Er ist anders als der eurige. Schau ihn dir an!«

Sie hob wortlos ihre dunklen Augen. Sie trat näher hinzu, sagte aber nichts. Sie trat wieder zurück, Schritt um Schritt, und schwieg. An der gegenüberliegenden Wand ließ sie sich schließlich in sitzende Stellung nieder, hielt ihre Augen unablässig auf das Bild gerichtet und sagte noch immer nichts. Da bewegte sich der Türvorhang neben ihr, und es trat jemand herein, dessen Kommen wir am allerwenigsten erwartet hatten – Tatellah-Satah. Er hatte mir vollständige Freiheit gewährt und sich vorgenommen, mich so wenig wie möglich zu stören. Nach dem Bericht aber, den Intschu inta ihm wahrscheinlich erstattet hatte, war es ihm Bedürfnis gewesen, mich aufzusuchen, um mehr zu erfahren, als ich ihm im Passiflorenhäuschen in Gegenwart der Apatschenhäuptlinge über die Höhle und die wiedergefundnen Ausgänge hatte mitteilen können. Er sah das Bild, blieb unter der Tür stehn und betrachtete es mit staunenden Augen. Dann trat er ganz ins Zimmer, schritt langsam näher, wich wieder zurück und tat wieder einige Schritte vorwärts, während sich in seinem Gesicht deutlich die Gedanken spiegelten. Seine Augen leuchteten auf. Es kam ein frohes Erkennen über ihn.

»Uff, uff!« rief er endlich aus. »Das ist unser Winnetou! Der wirkliche Winnetou!«

Ich nickte.

»Aber nicht nur sein Körper, sondern vor allem seine Seele!« fuhr er fort. »Ich habe diesen unvergleichlichen Menschen kennengelernt in unvergeßlichen Stunden. Oft stand er neben mir auf dem Söller des Schlosses, wenn in ernstem Zwiegespräch unsere Herzen einander aufgeschlossen waren. Dann schweifte sein Blick in die Ferne, die Tiefe der breiten Ebene fliehend und die Erhabenheit der höchsten Gipfel suchend. Wie schön! Wie schön!«

Er stand wie verzückt. Seine Lippen bewegten sich, doch hörte man die Worte nicht mehr, die ihnen entschlüpfen wollten. Erst nach einiger Zeit sprach er wieder laut.

»Das ist er; ja, das ist er! Könnten wir ihn unsern Völkern doch so zeigen, wie wir ihn hier sehn! Könnten wir ihm doch ein Denkmal setzen, das ihn genau so gibt, wie ich ihn in diesem Augenblick empfinde – als Seele!«

»Das können wir!« antwortete ich.

»Unmöglich!«

»Warum unmöglich?«

»Ihn als Seele zeigen? In Erz, in Marmor oder in Stein?«

»Nicht in Erz und nicht in Stein! Und doch höher und herrlicher ragend als die tote Gestalt, die sich auf dem Mount Winnetou erheben soll!«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Du wirst mich verstehn. Vielleicht schon morgen.–Komm! Setz dich zu mir! Ich habe dir noch mehr zu zeigen.«

Er folgte dieser Aufforderung. Da erhob sich Kolma Puschi aus ihrer kauernden Stellung. Sie hatte noch immer geschwiegen; nun aber brach es aus ihr hervor.

»Old Shatterhand hat gesiegt, wie immer, gesiegt mit seinem Freund und Bruder Winnetou!«

Bei diesen Worten deutete sie auf das Bild und fuhr dann fort:

»Freilich, einen solchen Winnetou hätte weder Young Surehand noch Young Apanatschka geschaffen. So innerlich vertieft lebt er nicht in ihrer Vorstellung. Ich gehe jetzt. Ich werde deine Einladung zum Mittagessen überbringen und ich hoffe, sie stellen sich ein, die du zu sehn wünschst. Würdest du ihnen deinen Winnetou zeigen?«

»Wenn sie ihn sehn wollen, ja.«

»So lebt wohl! Ich wußte bisher nicht, daß es Bilder gibt, die mächtiger und eindringlicher predigen können als Worte!«

Sie ging.

Ja, sie hatte bisher nicht geahnt, was eigentlich das Wertvollste an diesem edelsten Sohn seiner Rasse gewesen war. Ich aber wußte es. Und deshalb hatte ich ihr dieses Bild gezeigt, für dessen Stimme in ihrem Herzen der tiefste Widerhall zu hoffen war. Sie hatte Winnetou ja persönlich gekannt. Sie hatte ihn verehrt und geliebt. Und sie hatte es ihm mit zu verdanken, daß ihr einst so freudloses Leben eine so unerwartete Wendung zum Glück genommen hatte. Da konnte sein Bild unmöglich ohne Wirkung auf sie sein. Meine Strenge war berechnet gewesen, und ich konnte befriedigt feststellen, daß diese Rechnung voraussichtlich stimmte. Als sie sich entfernt hatte, begann Tatellah-Satah:

»Ich komme, dich über deine Höhlenforschung zu hören und dir sodann die Bücherei zu zeigen, aus der die Karte gestohlen worden ist. Doch sprechen wir vorher erst über dieses Bild. Hast du vielleicht nur dieses eine? Dann darf ich den Wunsch nicht aussprechen, den ich hege.«

»Sprich ihn aus!«

»Ich wollte dich bitten, mir das Bild zu schenken. Nicht eigentlich für mich! In mir lebt Winnetou unauslöschlich. Es sollte seinen Platz hier im Schloß finden, wo so vieles an den Toten erinnert. Es sollte allen, die ihn nicht kannten, vor allem kommenden Geschlechtern, wenn sie zu dem Berg pilgern, der seinen Namen trägt, vor Augen halten, wer und wie der war, in dem die Seele seines Volks nach tausendjährigem Schlaf endlich wieder erwachte, um sich einzureihen in den großen Heerbann der aufwärtsstrebenden Menschheit.«

Da reichte ich ihm tief bewegt das Bild.

»Nimm es hin! Ich schenke es dir; es ist ja nur eine Wiedergabe. Ich habe das Bild Winnetous noch mehrfach zu Haus. Er war zu groß, als daß ich ihn für mich allein beanspruchen könnte. Dabei weiß ich genau, daß sein Bild unauslöschlich in dir lebt. Es festzuhalten, braucht es also eigentlich nichts Greifbares.«

Ein helles Leuchten glitt über sein Gesicht.

»Ich danke dir! Ist es nicht sonderbar, daß Old Shatterhand immer der Gebende ist, sooft er zu seinen roten Brüdern kommt? Was er von ihnen erhält, ist wenig, denn sie sind arm. Was er aber schenkt, das sind innere Reichtümer, für die es keine Bezahlung in äußern Werten gibt. Glaubst du, mit diesem Bild die Gegner zu besiegen?«

»Nicht mit Winnetous Bild, sondern durch Winnetou selber. Das Bild soll nur der Schlüssel sein, der mir die Herzen und das Verständnis öffnet. Während die da unten am Schleierfall am Denkmal bauen, lasse auch ich bauen.«

»Bauen? – Was?«

»Auch eine Winnetougestalt. Aber größer und edler, als sie je ein Künstler herstellen könnte.«

»Und wer baut sie? Du?«

»O nein!« lächelte ich. »Der Baumeister, der Bildhauer ist Winnetou selber! Und sein Werk ist ein Meisterwerk. Es ist schon vollendet. Ich brauche es nur aufzustellen.«

»Wo hast du es?«

»Hier, im Nebenzimmer. Ich grub es aus. Am Nugget Tsil. Es ist sein Vermächtnis. Es sind die Hefte, die er schrieb. Laß also die Surehands und die Apanatschkas da unten am Wasserfall bauen! Wir tun das gleiche hier oben bei dir im Schloß. Wessen Bau eher fertig wird und welcher der wertvollere ist, das wird sich finden. Ich bitte dich um die Erlaubnis, morgen ein Mittagessen zu geben! Punkt zwölf. Ich habe Old Surehand und Apanatschka durch Kolma Puschi eingeladen.«

»Uff! Die kommen nicht!«

»Sie kommen! Denn die Botin soll sagen, ich ließe mich noch immer nicht beleidigen und würde eine Absage entsprechend zu beantworten wissen.«

»So kommen sie!«

»Ich lade alle deine Häuptlinge dazu. Auch Athabaska und Algongka, Wagare-Tey, Avaht-Niah, Matto Schahko und die andern. Nur dich nicht. Denn du stehst höher als alle, die ich nannte.«

»Tu, was dir beliebt; du weißt, daß du Herr hier bist. Gib Intschu inta deine Anweisungen, besonders wegen der Speisen, die du wählst. Er wird dir alles besorgen. Darf ich fragen: Wozu dieses Mittagessen?«

»Erstens, um Old Surehand und Apanatschka herbeizuzwingen. Hauptsächlich aber, um diesen Häuptlingen eine wichtige Mitteilung, besser einen bedeutsamen Vorschlag zu machen. Sie sollen täglich des Abends hier im Schloß erscheinen. Du übernimmst den Vorsitz, und ich lese vor, was Winnetou geschrieben und allen Menschen, den roten wie den weißen, hinterlassen hat.«

»Uff, uff! Vortrefflich!« rief der Bewahrer der großen Medizin.

»In diesen Papieren sind sein Geist und seine Seele enthalten. Während ich daraus vorlese, spricht zu euch seine klare, edle und wahrhaft große Persönlichkeit. Im Innern des Zuhörers bildet sich die seelische, also die wahrheitsgetreue Gestalt Winnetous. Und wer sie in sich fühlt, wer sie geistig gesehn und begriffen hat, der ist für den Ausschuß, für Menschen wie Mr. Okih-tschin-tscha, verloren. Stimmst du mir zu?«

Er reichte mir die Hand.

»Ich bin von ganzem Herzen einverstanden. Zwar kenne ich das, was Winnetou geschrieben hat, nicht wörtlich; aber er hat mich oft einen Blick in diese Gedanken tun lassen, und so vermute ich, daß der von dir vorgeschlagne Weg wahrscheinlich ohne häßlichen Kampf zum Frieden führt.«

»So nimm dies Bild und erlaube mir, dir noch ein zweites zu zeigen!«

Ich steckte jetzt einen großen Abzug des Bildes von Marah Durimeh an die Wand. Kaum sah er ihn, so erhob er sich von seinem Sitz.

»Wer ist das? Soll ich das sein, oder ist das meine Schwester? Ist es meine Mutter? Oder ein Ahne von mir?«

»Es ist Marah Durimeh, von der ich dir noch viel erzählen werde.«

»Du sagst: Marah Durimeh. Ist das gleichbedeutend mit unsrer Königstochter Marimeh?«

»Ja; doch davon später. Da wir einmal hier bei den Bildern sind, zeige ich dir noch ein drittes.«

Ich steckte neben Marah Turimeh einen Abzug von Abu Kital an die Wand. Es war ein eigenartiger Eindruck, den dieses Bild auf Tatellah-Satah hervorbrachte. Er sah es starr an, schloß hieraus die Augen, dachte nach und sagte dann, ohne die Augen zu öffnen:

»Den kenne ich! Den hat mir Winnetou beschrieben. Und dabei sagte er mir, er hätte diese Beschreibung von dir. Das kann nur der Gewaltmensch sein, dessen bloßer Anblick schon dem Herzen weh tut! Du hast ihn Abukal genannt.«

»Richtig! Nur gibst du den Namen falsch an. Er heißt Abu Kital, nicht Abukal. Ich habe mit Winnetou oft über ihn gesprochen.«

»Ich mag ihn jetzt nicht sehn, bitte dich aber doch, ihn später einmal genau betrachten zu dürfen.«

»Nimm ihn mit! Nimm auch Marah Durimeh mit! Du kannst sie beide behalten; davon habe ich ebenfalls mehrere Vervielfältigungen.«

»So gib sie mir!«

Ich tat es. Erst als er sie in der Hand hatte, öffnete er die Augen wieder.

»Ich gehe; ich nehme sie mit, alle drei. Sie halten mich und meine Gedanken fest. Nun fehlt mir für heut die Ruhe, dir die Bücherei zu zeigen. Ich werde es morgen tun oder später. – Also, sprich mit Intschu inta über alles, was du zum Mittagessen brauchst! Ich gehe.«

Es war ein eigentümliches Gefühl, das er uns zurückließ. Diese Bilder hatten wir eigentlich gar nicht mit nach dem Mount Winnetou nehmen wollen, und nun schienen sie uns hier von größter Wichtigkeit zu sein. Für meine Frau aber gab es freilich zunächst noch viel größre Wichtigkeiten, und es ist unschwer zu erraten, daß sie sich alle auf das morgige Mittagessen bezogen.

Die Einladung war von mir ausgegangen; darum fühlte sich Klara als Wirtin. Und da sie begreiflicherweise gewöhnt war, die Dinge im Licht europäischer Anschauungen zu sehn, war sie der Ansicht, daß sie mit Intschu inta den Speisezettel besprechen müsse. Sie ließ also den riesigen Diener kommen. Das machte mir Spaß. Er gab uns vor allen Dingen die Versicherung, daß von allem, was wir brauchten, Fleisch, Mehl und andres, mehr als genug vorhanden sei. Das klang so tröstlich, daß Klara Mut bekam. Sie stellte eine regelrechte Speisenfolge auf, und ich ließ sie lächelnd gewähren, in der sichern Voraussicht, daß alles schließlich doch ganz anders kommen würde. Intschu inta hörte andächtig zu und nickte zu allem. Er hatte alles; er wußte alles; er kannte alles; und er versprach alles. In Wahrheit aber wurde sein Gesicht immer länger und länger. Als meine Frau allerlei Gewürze erwähnte und dabei sogar nach einer Peppermill Pfeffermühle fragte, versicherte er, daß auch dieses Gerät vorhanden sei. Da strahlte sie vor Vergnügen.

»Hörst du, es ist alles da«, jubelte sie. »Das wird ein Essen, mit dem ich Ehre einlege!«

»Willst du dir diese schönen Sachen nicht vielleicht erst einmal zeigen lassen?« fragte ich.

»Ja, das werde ich«, antwortete sie. »Aber du darfst nicht dabei sein.«

»Warum nicht?«

»Ich brauche dich nicht. Topfgucker verderben den Brei.«

»So gehe hin und koche! Meine Wünsche begleiten dich bis in die Küche.«

»Ich danke dir. Leb wohl!«

Sie entfernte sich frohen Schritts. Intschu inta folgte ihr. Wer bevor er ganz hinaus war, drehte er sich noch einmal um und warf mir einen derart hilflosen Blick zu, daß ich mir Mühe geben mußte, nicht laut aufzulachen. Nach einer Stunde brachte man mir das Abendbrot. Klara ließ mir sagen, ich solle allein essen; sie käme noch nicht. Nach wieder einer Stunde schickte sie Intschu inta und gab mir durch ihn die Nachricht, daß sie noch zwei Stunden brauche, fertig zu werden. Ich wollte ihn fragen, um Näheres zu erfahren; aber er verschwand so schnell, daß ich nicht zu Wort kam. Ich las in Winnetous Schriften. Als die zwei Stunden vorüber waren, erklang hinter mir von der Tür her die Stimme meiner Frau:

»Geh immer schlafen, wenn du müde bist! Ich habe noch längere Zeit zu tun.«

Ich drehte mich schnell nach ihr um, sah aber nur noch den Vorhang sich bewegen; sie selber war schon wieder weg. Ich wartete noch eine Stunde; dann ging ich in Winnetous Schlafzimmer und legte mich nieder. Wie lange ich geschlafen hatte, das weiß ich nicht. Plötzlich erwachte ich. Meine Frau war gekommen und stand unter der Tür, die von meinem Zimmer in die Wohnung von Winnetous Schwester führte, die jetzt die ihrige war. Ich räusperte mich.

»Bist du wach?« fragte sie leise.

»Ja; soeben aufgewacht«, erwiderte ich. »Wieviel Uhr ist es?«

»Gleich drei Uhr.«

»Und so lange warst du in der Küche?«

»Ja; aber das ist gar keine Küche, sondern etwas ganz andres, was ich dir am Tag zeigen muß. Es ist hier alles riesenhaft und –«

Sie stockte. Da konnte ich es mir nicht versagen, den abgebrochenen Satz ein wenig boshaft zu vollenden.

»– und nicht so ganz nach deinen Erwartungen?«

»O doch!« behauptete sie trotzig.

»So? Dann kann ich also meine Bedenken fallen lassen?«

»Welche Bedenken?«

»Ich fürchtete schon, du könntest dir mehr vorgenommen haben, als im vorliegenden Fall durchführbar und auch nötig ist.«

»Du bist ein schrecklicher Mensch!« tadelte sie mich scheinbar ernst und gekränkt. »Aber ich werde dir beweisen, daß ich mich nicht so leicht werfen lasse. Überhaupt solltest du mir dankbar sein, statt mich zu verspotten. Es geschieht ja alles nur für dich.«

Als das Gespräch so weit gediehen war, hielt ich es für angebracht, meine Frau über einen grundlegenden Irrtum aufzuklären.

»Du irrst«, versicherte ich. »Deine Bemühungen entspringen zunächst deinem hausfraulichen Ehrgeiz. Das ist an sich eine löbliche Tugend, hier aber eine Überflüssigkeit. Die Häuptlinge, die meine Gäste sein werden, kommen nicht zum Schmaus zu mir, sondern zu einer hochbedeutsamen Besprechung.«

»Willst du mir die Freude nehmen«, klagte sie, »deine Gäste gebührend zu bewirten?«

»Das nicht. Aber du sollst die Bedeutung der Gasterei nicht überschätzen. Setze ihnen vor, was sich beschaffen läßt, und sie werden zufrieden sein!«

»Ich kann diese Männer doch nicht mit einem Bohnengericht, einem gebackenen Maisfladen und allenfalls einem Stück Fleisch, das am Spieß gebraten ist, abspeisen. Das sind sie gewöhnt, aber das wäre unfestlich.«

»Für europäische Begriffs, nicht aber für indianische. Außerdem bleibt das Was und Wie durchaus dir überlassen. Ich will dich nur warnen, dich unnütz in Mühen und Sorgen zu stürzen.«

»Das klingt schon anders«, lächelte sie versöhnt. »Ich verstehe dich und werde nach deinem Rat handeln. – Und nun Gute Nacht! Schlaf wohl!«

Damit endete diese nächtliche Aussprache.

Sie zog sich in ihre Wohnung zurück, und ich schlief wieder ein. Als ich erwachte, war es schon spät am Morgen, und auf meiner Ecke lag ein von Klara geschriebner Zettel, dessen Zeilen folgendermaßen lauteten: »Ich bin seit fünf Uhr munter. Es geht alles prächtig. Das Essen wird großartig. Du kannst schlafen bis halb zwölf. Dann komme ich, dich zu wecken. Mit dem Speisesaal bin ich fertig; er steht bereit. Solltest du eher aufwachen, so besichtige ihn, ob vielleicht etwas fehlt. Über die Gäste haben wir nichts Bestimmtes besprochen; darum habe ich an deiner Stelle alles eingeladen, was Häuptling heißt. War das recht so? Zu essen haben wir genug. Es gibt sogar Tee aus gerösteten Erdbeerblättern und einen vorzüglichen Salat aus wildgewachsnen Rapunzeln. Dein Herzle.«

Ich stand sogleich auf und rief nach Intschu inta. Als er kam, teilte er mir mit, daß zwei Weiße seit einer Stunde auf mich warteten.

»Zwei Weiße?« fragte ich. »Ich denke, es ist Weißen verboten, hierher zu kommen!«

»Sie sind Freunde von Okih-tschin-tscha. Er hat es ihnen erlaubt.«

»Ah so! Haben sie ihre Namen genannt?«

»Ja; sie sind Brüder und heißen Enters.«

»Aha! Wo sind sie?«

»Noch im Hof. Soll ich sie heraufbringen?«

»Nein. Ich gehe hinunter. Was tut meine Frau? Wo steckt sie jetzt?«

»Noch immer in der Küche; da gebietet sie wie eine Königin.«

»Ich denke, sie arbeitet?«

»Auch das. Sie hat heut früh eine Gehilfin bekommen, über die sie sehr glücklich ist.«

»Wen?«

»Aschta, die unvergleichliche Squaw Wakons, des berühmten Medizinmanns der Sioux. Sie hatte unten im Lager gehört, daß Old Shatterhands Squaw es übernommen hat, die Wirtin unsrer heutigen Gäste zu sein; da kam sie sofort herauf zu ihr und bat sie, ihr helfen zu dürfen. Nun werden es zwei Wirtinnen sein, eine europäische und eine indianische, die sich vorgenommen haben, die Bedienung der Häuptlinge selber zu überwachen. Doch schau, wer kommt dort unten?«

Wir standen am Fenster. Er zeigte nach der Unterstadt. Dort war ein Zug von vielleicht hundert Indianern angekommen, in Leder gekleidet und, wie es schien, sehr gut beritten. Welchem Stamm sie angehörten, konnten wir nicht erkennen. Sie hielten sich dort nicht auf, sondern wandten sich zur oberen Stadt. Eine hochgewachsne, stolz zu Pferd sitzende Gestalt ritt ihnen voran. Ich hatte aber keine Zeit, sie weiter zu beobachten, denn ich mußte zunächst wissen, weshalb die Brüder Enters zu mir kamen. Sie hatten sich, um möglichst wenig beachtet zu werden, in einen abgelegnen Winkel des Hofs zurückgezogen. Hariman freute sich, als er mich sah; das war ihm anzumerken. Sebulon war zurückhaltend wie immer.

»Ihr seid gewiß überrascht, uns hier zu begegnen, Mr. Burton«, sagte Hariman. »Wir können keine langen Reden halten, denn niemand dort unten soll wissen, daß wir mit Euch verkehren. Warum habt Ihr Euch am Dunklen Wasser nicht von uns sehn lassen?«

»Weil wir schneller fort mußten, als wir gedacht hatten. Sind die vier Stämme noch dort?«

»Heut nicht mehr; sie sind unterwegs und kommen in drei Tagen hier an.«

»Wieviel sind es?«

»Über viertausend Reiter.«

»Wo werden sie lagern?«

»In einem fern von hier liegenden Tal, das das Tal der Höhle heißt.«

»Kennt ihr es?«

»Nein. Wir werden es aber schon heut aufsuchen, um später zu wissen, woran wir sind. Die Hauptsache für uns war, uns bei Euch anzumelden.«

»Wie kommt es, daß man euch vorgelassen hat? Man wollte doch keine Weißen hier dulden.«

»Wir waren an Mr. Antonius Paper empfohlen.«

»Von wem?«

»Von Kiktahan Schonka. Da ließ man uns vorüber.«

»Wo haltet ihr euch jetzt auf?«

»Eben bei Antonius Paper, dem Schurken.«

»Was? Wie? Schurke? Wie kommt Ihr dazu, ihn so zu nennen?«

»Weil er einer ist! Wir kamen hierher und wollten ehrlich gegen ihn sein. Wir richteten alles an ihn aus, was uns von Kiktahan Schonka anvertraut worden war. Er tat, als sei er unser bester Freund und veranlaßte uns sogar, bei ihm zu bleiben. Dann aber belauschten wir ihn zufällig im Gespräch mit dem Agenten Evening, und da mußten wir wahrnehmen, daß er der größte Schuft ist, den es geben kann. Denkt Euch, Mr. Burton, wir beide sollen von Kiktahan Schonka, Paper und Evening ausgenutzt werden, ohne etwas dafür zu bekommen. Ja, noch schlimmer: Wenn man uns nicht mehr braucht, sollen wir auf die Seite geschafft werden und verschwinden. Ist das nicht unerhört?«

»Ich weiß es schon längst. Ich weiß sogar noch mehr. Diese Paper und Evening werden von dem alten Kiktahan Schonka ebenso betrogen wie ihr. Auch sie sollen verschwinden, wenn der große Streich gelungen ist. Die Verbündeten Häuptlinge wollen alles für sich behalten.«

» The devil! Da seid Ihr ja hier der einzige ehrliche Mensch! Wir stecken mitten zwischen Lügnern und Verrätern! Gebt uns guten Rat, Mr. Burton; wir brauchen ihn!«

Was ich ihnen riet, war einfach genug. Sie sollten bei Paper bleiben, die Augen offen halten und mir alles mitteilen, was sie beobachteten. Das Weitere würde sich finden. Als sie fortgingen, war ich ihrer bedeutend sichrer als vorher. Doch bevor sie sich entfernten, wandte sich Sebulon noch einmal an mich:

»Darf ich erfahren, wie es Mrs. Burton geht?«

»Ich danke, sie befindet sich sehr wohl. Sie spricht oft von Euch.«

»Ist das mehr als eine Höflichkeit?«

»Ich will gar nicht höflich sein. Es ist die Wahrheit.«

Da nahm sein Gesicht einen eigentümlichen, glücklichen Ausdruck an, der alles Schlimme, was sonst in ihm schlummern mochte, vergessen ließ. Seine Lippen bewegten sich, als ob er noch etwas sagen wollte, doch wurde es nicht laut.

Als die Brüder zum Tor hinaus wollten, mußten sie zur Seite treten. Ein Reiter kam herein. Es war jene hohe Gestalt, die den vorhin angekommenen Indianern vorangeritten war. Der Mann beachtete die beiden Enters nicht, kam bis zu mir herangeritten, schaute mich an und sagte in kurzer, bestimmter Weise:

»Noch sah ich dich nie! Aber du bist Old Shatterhand?«

»Der bin ich«, antwortete ich.

»Ich komme zu dir. Als ich soeben hier eintraf, hörte ich, daß du hier oben wohnst und daß meine Squaw bei der deinen ist. Mein Name ist Wakon, und ich bringe euch die auserlesene Jugend meines Stammes.«

In seinem Gesicht strahlte die Freude des Erkennens. Er schwang sich vom Pferd und begrüßte mich wie einen alten, lieben Bekannten.

»Ich bin dein Freund«, fügte er hinzu. »Laß mich dein Bruder werden! Führ mich zu deiner Squaw und auch zu der meinen, damit ich beide begrüße!«

Ich hatte keine Ahnung, wo die sogenannte Küche zu suchen war. Zum Glück erschien in diesem Augenblick Intschu inta, der uns führte. Die ›Küche‹ lag im Erdgeschoß, hinter einer großen, offnen Halle. Man sah uns kommen. Da traten sie heraus, die beiden, die wir suchten: Klara, die Ärmel aufgeschlagen und die Wangen hochgerötet vom Anglanz des Herdfeuers, und Aschta, auch beide Ärmel aufgeschlagen, die Arme glänzend von Backfett, Salatöl und ähnlichen guten Dingen. Wir lachten alle vier. Ein gegenseitiger Händedruck war unmöglich. Darum nahm die Begrüßung einen verhältnismäßig raschen Verlauf, worauf wir Männer unsre Frauen ihrem schmackhaften Beruf wieder überließen.

Intschu inta sorgte zunächst für das Pferd des Medizinmanns. Ich aber hielt mich für verpflichtet, Wakon zuerst zu Tatellah-Satah zu führen. In seinem Haus hörten wir, daß er sich in der Bücherei befinde, die im anschließenden Gebäude lag. Ich übergehe die Begrüßung dieser hochbedeutenden Männer, auch die sehr wichtige Aussprache, die hierauf folgte. Dann geleitete uns Tatellah-Satah durch die einzelnen Abteilungen der Bücherei zum dritten und vierten Haus, wo wir den Tempel und die weit ausgedehnten Räume fanden, in denen die geheimnisvollen Zeugen vergangner Jahrhunderte und Jahrtausende untergebracht waren. In Muße betrachten konnten wir nichts; dazu war die Zeit zu kurz. Es handelte sich nur um einen schnellen, allgemeinen und flüchtigen Blick auf all die Reichtümer und Herrlichkeiten, von deren Vorhandensein die Angehörigen der außeramerikanischen Rassen gar nichts ahnen. Wenn ich Winnetous Testament veröffentliche, werde ich auf diese Räume zurückkommen. Eins nur will ich hier erwähnen. Wir sahen im Tempel die Riesenhaut des längst ausgestorbnen großen Silberlöwen, von der der Medizinmann der Komantschen im Haus des Todes gesprochen hatte. Dieser Löwe war allerdings bedeutend größer gewesen, als die jetzigen Pumas sind. Die Schrift darauf war noch vorhanden. Daneben hing die Haut des großen Kriegsadlers, die vom Medizinmann der Kiowas erwähnt worden war.

Wir waren mit unserm Rundgang noch lange nicht zu Ends, da mußte ich Tatellah-Satah bitten, uns für heut zu entlassen. Es waren nur noch wenige Minuten bis zum Erscheinen unsrer Gäste. Ich bat Wakon, mir bei ihrem Empfang ein wenig beizustehn, da ich ja die meisten nicht kannte.

Für die Begrüßung der Gäste war jener Raum vorgesehn, wo die Platte mit den Friedenspfeifen stand. Kaum hatten wir uns dort eingestellt, so kamen auch schon die ersten Häuptlinge; die andern folgten sehr bald nach. Die beiden letzten waren – – Old Surehand und Apanatschka. Etwas unsicher standen sie an der Tür und ließen ihre Augen suchend über die Versammelten schweifen. Als sie mich sahen, lebten in ihnen die alten Zeiten wieder auf, und all der gegenwärtige Zwist war verschwunden. Sie eilten auf mich zu, drückten mich an sich und wichen nicht mehr von meiner Seite. Ich wußte nun, daß ich gewonnen hatte.

Die Pfeifen wurden gestopft. Ich hatte die Gäste zu begrüßen und tat es in aufrichtiger Freude. Es folgte die bekannte Feierlichkeit des Rauchens, wobei jeder in seiner Weise einige Worte sprach. Als das vorüber war, galt es, den Hauptgegenstand des Tages ins Auge zu fassen. Eben wollte ich aufstehn und eine hierauf bezügliche Ansprache halten, da öffnete sich die Tür, und Tatellah-Satah, der Bewahrer der großen Medizin, trat ein. Sogleich erhoben sich alle Anwesenden ehrerbietig von ihren Plätzen. Ich brannte schnell eine Pfeife an und gab sie ihm. Er tat die vorgeschriebnen sechs Züge der Begrüßung, gab sie mir wieder und sprach so kurz und bündig, wie nur jemand spricht, der zu gebieten versteht.

»Ich bin Tatellah-Satah. Ihr seid die Stimmen meines über alles geliebten Volks. Ihr sollt sprechen, und ich will hören. Der edelste aller Männer dieses Volks war Winnetou, der Häuptling der Apatschen. Ihm soll ein Denkmal werden. Was heißt das? Die Erinnerung an ihn soll äußerlich Gestalt gewinnen. Einige von euch denken sich diese Gestalt von Erz oder Stein. Wir andern denken sie uns von Fleisch und Blut, also lebendig. Ein jeder, der zur roten Rasse gehört, soll ein Tropfen dieses warmen, edlen Blutes sein. Der Winnetou der Engstirnigen und Oberflächlichen wird gehämmert, gemeißelt oder gegossen. Unser Winnetou aber soll sich von innen heraus entwickeln. Die ganze rote Rasse soll sich zu den Erben Winnetous gestalten, die hoch über allem, was niedrig ist, auf den lichten Höhen des Lebens stehn. Ein Stolz für uns und eine Freude für Manitou, den Allergrößten und Allerreinsten.«

Sich nun an Old Surehand und Apanatschka wendend, fuhr er fort:

»Ihr und eure Söhne seid für den steinernen Winnetou. Ob das richtig ist oder falsch, sollt ihr selber mit entscheiden. Ihr laßt euern Winnetou am Schleierfall aufstellen, damit wir ihn sehn und bewundern mögen. Wohlan, so bitten wir euch, dasselbe tun zu dürfen! Ihr sollt ebenso unsern Winnetou kennenlernen. Er soll nicht nur vor euern Augen, sondern in euch selber erstehn. Ihr sollt ihn nicht nur sehn, sondern auch fühlen und empfinden. Dann sollt ihr sie beide vergleichen, den eurigen und den unsrigen und nach sorgfältiger Prüfung werden wir wissen, für welchen wir uns zu entscheiden haben. Wer stimmt mir bei?«

»Howgh!« antwortete ich.

»Howgh!« fielen alle diejenigen ein, die bisher gleicher Meinung mit mir gewesen waren.

»Howgh!« riefen sogar Old Surehand und Apanatschka, teils hingerissen von dem Auftreten und der Beredsamkeit des Alten, teils aber auch, weil sie ihn nicht ganz verstanden und darum für ihren Plan noch immer Hoffnungen hegten. Hierauf sprach Tatellah-Satah weiter:

»Ich lade euch alle ein, zu mir zu kommen, heut abend, sobald es dunkel geworden ist. Bringt auch Young Surehand und Young Apanatschka mit, die beiden Künstler, die nur ihren steinernen Winnetou vor Augen haben. Sie sollen die wahre Kunst kennenlernen, die nicht darin besteht, das Irdische abzubilden, sondern das Himmlische im Irdischen nachzuweisen. Sie sollen heut abend bei mir den sprechen hören, den sie da oben auf dem Berg versteinern wollen. Dann werden sie gewiß begreifen, was er von ihnen verlangt, und wir wollen sie fragen, ob sie noch darauf bestehn, uns ein totes Standbild zu geben, anstatt Leben und Seele, Fleisch und Blut. Also, ich erwarte euch alle. Ich habe gesprochen!«

Er winkte mit der Hand, drehte sich um und verschwand aus dem Zimmer. Niemand sprach ein Wort, so tief war der Eindruck, den er hervorgebracht halte. Da erschien Intschu inta und meldete, daß das Mahl bereitet sei. Das brachte wieder Bewegung in die Versammlung, die sofort aufbrach, dem Ruf zu folgen.

Meine Frau überraschte mich durch zweierlei. Erstens hatte sie ihr indianisches Frauengewand angelegt, aus seidenweichem Leder gefertigt und mit uralten Perlen und Fransen verziert. Und zweitens war die von ihr und Aschta getroffne Anordnung so wohl gelungen, wie ich es nicht hatte erwarten können. Es waren, ohne daß ich es gemerkt hatte, viele Hände tätig gewesen, den Raum zu einem indianisch festlichen zu gestalten, und das Mahl war gradezu einzig bereitet und zusammengestellt, wenn es dabei auch Genüsse gab, worüber ein englischer oder französischer Koch die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte.

Während des Essens war die Unterhaltung außerordentlich lebhaft. Kein Wunder auch, wenn man bedenkt, aus welchen besonderen Persönlichkeiten sich die Gesellschaft zusammensetzte. Ich saß, wie nicht anders zu erwarten war, zwischen Old Surehand und Apanatschka. Was uns während der Zeit, in der wir einander nicht gesehn hatten, begegnet war, das hatten wir uns bald in großen, allgemeinen Zügen mitgeteilt. Auch über die Frage, ob ich in Old Surehands Landhaus vorgesprochen habe und wie ich zu seinen Pferden und Maultieren gekommen sei, wurde verhältnismäßig schnell hinweggegangen. Jetzt lag ihnen vor allen Dingen daran, mich überzeugend für ihren Denkmalsplan zu gewinnen. Ich ließ mich jedoch auf nichts ein. Ich stritt mich nicht. Aber indem ich ihnen erzählte, was wir am Nugget Tsil ausgegraben hatten, bereitete ich die Wirkung des heutigen Abends vor, ohne daß sie etwas davon merkten. Old Surehand und Apanatschka waren kürzlich an der Westküste gewesen, von der aus die Umgebung des Mount Winnetou mit allen erforderlichen Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen versehn werden sollte. Auch das war ein Geschäft, bei dem man viel Geld zu verdienen hoffte. Die Verbindung mit der Bahn mußte durch einen regen Wagen- und Packtierverkehr unterhalten werden, und zwar war es höchste Zeit, ihn einzurichten, weil die Menschenflut, die man erwartete, bald eintreffen mußte.

Nach dem Festmahl kehrten alle in ihre Zelte heim. Nur Wakon blieb mit seiner Squaw bei uns. Wir vier hatten schnell aneinander Gefallen gefunden. Ihre Enkelin war oben im Wachtturm bei den Arbeiterinnen, die von dem Jungen Adler beschäftigt wurden. Ich schlug vor, zu ihm hinaufzusteigen. Aschta war schnell einverstanden und bat, auch den alten, guten Holbers mitzunehmen. Wakon hatte den Wunsch, in Winnetous Zimmer bleiben und dessen Testament durchsehn zu dürfen. Das gestattete ich selbstverständlich gern. Vorher aber wollte er erst noch seinen Lebensretter aus längst vergangenen Tagen begrüßen. Pitt Holbers wurde gerufen, es gab ein Wiedersehn voller Herzlichkeit, dann stiegen wir durch den Wald zum Jungen Adler empor.

Er freute sich aufrichtig, als er uns sah, und führte uns auf das platte Dach seiner Wohnung. Dort gab es allerlei Heimlichkeiten. Es handelte sich, soviel bemerkte ich sogleich, um ein Flugzeug, aber um keine der bis jetzt bekannten Arten. Ich sah nur zwei eigenartige dünne Flügel im Entstehn und zwei hohle Körper, die kunstreich aus stahlharten, aber federleichten Binsen geflochten waren. Es gab hierzu ein kleines, nicht sehr schweres, aber wirkungsvolles Triebwerk, das er sich aus dem Osten mitgebracht hatte. Das war das Paket gewesen, das er trug, als er in Trinidad zu uns kam. Die Körper waren noch nicht fertig. Es wurde noch daran gearbeitet, und zwar von Aschta, der Jüngeren, die es sich vorgenommen zu haben schien, sie zu vollenden.

Der Turm bot eine wunderbare Aussicht, und wir blieben lange oben, sie zu genießen. Dann stiegen wir wieder hinab in unsre Wohnung, wo wir Wakon so vertieft ins Lesen fanden, daß er unser Kommen fast überhörte. Er legte gedankenverloren das Heft beiseite und stand auf.

»Ja, das ist Winnetou, Winnetou selber! Wenn wir heut abend den vorlesen, wird er sich groß und wunderbar lebendig in uns erheben und alle Gegner aus dem Feld schlagen. Ich fühle ihn schon in mir, stolz, ernst und edel aufwärts strebend zu möglichster Vollkommenheit. Das wird ein herrliches, ein schöpferisches Erstehn in uns selber. Davon soll meine Squaw nicht ausgeschlossen sein. Ich nehme Aschta mit!«

»Und mich auch!« bat Klara. »Auch ich gehöre zu Winnetous Erben.«

»Gewiß«, antwortete ich, »und niemand wird wagen, euch zurückzuweisen. Es handelt sich nicht um eine Häuptlingsversammlung, denn Young Surehand und Young Apanatschka sind auch geladen. Wo diese sein dürfen, dürft auch ihr erscheinen.«

In diesem Augenblick trat Kolma Puschi ein. Sie berichtete uns, daß Old Surehand, Apanatschka und ihre Söhne schon bei Tatellah-Satah seien. Sie habe sich mit ihnen eingestellt, um bei uns anzufragen, ob Aschta und meine Frau gesonnen seien, sich an der Vorlesung zu beteiligen. Da möchte sie sich ihnen anschließen. Das wurde ihr ohne weiteres gewährt. Ich nahm, als wir nun gingen, nur die ersten beiden der Hefte mit, die Winnetou für mich geschrieben hatte.

Von Tatellah-Satah erfuhr ich, daß schon alle andern Eingeladnen anwesend waren. Er hatte sie nach dem herrlichen Passiflorenraum bringen lassen, wohin er jetzt auch uns geleitete. Dort waren aus Fellen zahlreiche Sitze bereitet. Hohe, aus dem Wachs wilder Bienen bereitete Kerzen brannten. Damit der köstliche Blütenduft nicht durch die vielen Lichterflammen verdorben würde, stand die ins Freie führende Treppentür offen. Für den Vorleser – der war ich – gab es einen erhöhten Sitz, zu dessen Seiten die Kerzen zahlreicher brannten. Als wir eintraten, standen die Anwesenden alle auf, und niemand fand es verwunderlich, daß wir unsre Frauen mitbrachten. Tatellah-Satah forderte die Anwesenden durch einen Wink auf, ihre Sitze wieder einzunehmen. Er selber blieb stehn, um einige Worte des Grußes und der Einleitung zu sprechen. Er erklärte den Zweck unsrer heutigen Zusammenkunft und forderte die Versammelten auf, sich als die Erben dessen zu betrachten, dem dieser Abend gewidmet war. Dann begann die Vorlesung.

Die ersten Zeilen lauteten:

›Ich bin Winnetou. Man nennt mich den Häuptling der Apatschen. Ich schreibe für mein Volk. Und ich schreibe für alle, die da Menschen sind auf Erden. Manitou, der Große, der Allgütige, breite seine Hände aus über mein Volk und über alle, die es ehrlich mit ihm meinen!‹

Bei diesen Worten ging eine tiefe Bewegung durch die Versammlung.

»Winnetou!« – »Winnetou!« – »Winnetou!« hauchte es rundum.

Ich las weiter. Ein voller, klingender, wuchtiger Stil war meinem unvergleichlichen roten Bruder eigen gewesen, wie stets im Sprechen, so auch hier im Schreiben. Das hob empor! Und das riß hin! Den Inhalt dessen, was ich vorlas, kann ich hier nur annähernd mit kurzen Worten andeuten. Es entstand die Seele des Knaben Winnetou, die Seele der einstmals jungen roten Rasse. Sie entwickelte sich; sie wuchs. Die Schicksale Winnetous waren die Schicksale seines Volks. In dem ersten Heft, aus dem ich vorlas, beschrieb er seine Kindheit, in dem zweiten sein Knabenalter. Ich saß der offnen Tür gegenüber. Als ich zwischen den Zeilen einmal aufblickte, sah ich eine Gestalt, die draußen vor der Tür, im Freien, erschien. Sie kam nicht herein, sondern setzte sich draußen nieder, um zuzuhören. Die Gestalt war jugendlich, doch konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen. Das Haar hing ihr lang und voll über den Rücken herab. War es Winnetou? Hatte er sich aus jener andern Welt herniedergelassen, um dabei zu sein, wenn sein Vermächtnis laut zu sprechen begann?

Die Zuhörer waren bis in ihr Innerstes bewegt. Ihre Augen hingen an meinem Mund. Sehr häufig erklang ein leises oder auch ein lautes »Uff!«. Die Spannung war groß, ja, sie wuchs noch beständig. Die Gestalt draußen vor der Tür regte sich nicht, so gefangen war sie von dem, was sie hörte. Ich las bis Mitternacht; da wollte ich aufhören; aber kein einziger der Anwesenden war damit einverstanden.

»Weiter, weiter!« bat man von allen Seiten.

Wakon erbot sich, an meiner Stelle fortzufahren. Ich willigte ein. Er las und las, noch stundenlang, bis draußen der Morgen tagte und man sehn konnte, daß der vor der Tür Sitzende der Junge Adler war. Da stand ich auf und bat, nunmehr abzubrechen; am Abend sei bessere Zeit als jetzt, in der Vorlesung fortzufahren. Nur in der Hoffnung auf diese Fortsetzung war man einverstanden. Man erhob sich wortlos von den Sitzen. Es erschien ihnen wie eine Entweihung, jetzt andres zu sagen. Da deutete Tatellah-Satah hinaus nach dem östlichen Himmel.

»Meine Brüder mögen sehn, daß der Tag im Erscheinen ist, der junge Tag, den die Sprache der Menschen den Morgen nennt. Zur selben Zeit ist in mir, und, wenn Manitou es will, in andern auch ein Tag erschienen, ein neuer Tag, schöner als alle, die vergangen sind. Ich meine den neuen, großen, herrlichen Tag der roten Rasse. Er wurde in diesen unserm Winnetou geweihten Stunden in euch geboren. Fühlt ihr ihn? Und fühlt ihr tief in euch die Seele dessen, um dessen Testament wir uns versammelten? Fühlt ihr sein Bild, das in euch wachsen will?«

»Es ist da!« antwortete Athabaska.

»Ja, es ist in mir!« rief Aschta, die Begeisterte.

»Auch wir fühlen es!« stimmten die andern zu.

Sogar Old Surehand und Apanatschka bestätigten es. Nur ihre Söhne sagten noch nichts. Auch sie spürten wohl die tiefe Wirkung des Geschriebenen. Aber sie wußten, daß ihr Plan um so unausführbarer wurde, je mehr diese Wirkung sich vertiefte. Darum drängten sie das, was über ihre Lippen wollte, zurück.

»Und kommen meine Brüder heut abend wieder?« erkundigte sich Tatellah-Satah. »Ich erwarte sie zu derselben Zeit.«

»Wir kommen«, versicherte Algongka.

»Ja, wir kommen«, sagte Kolma Puschi, die ganz gewonnen war.

Die andern stimmten begeistert zu, und diesmal waren auch die zwei jungen Künstler dabei.


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