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Während Tristan noch sprach, wurde die Tür der Kneipe geräuschvoll aufgerissen, und des Königs Blick blieb auf der sonderbaren Erscheinung haften, die auf der Schwelle erschien. Der Mann war von mittlerer Größe, mager und schlank; sein schmales, scharfes Gesicht war von Wind und Wetter gebräunt und die scharf eingegrabenen Züge zeugten von bösen Erfahrungen. Sein dunkles, schlichtes Haar war lang und ungekämmt; die schönen Linien von Lippen und Wangen waren von den Stoppeln eines acht Tage alten Bartes bedeckt; der Blick seiner feurigen, lebhaften Augen war unstet, aber weit und alles umfassend. Wer es verstand, in den Zügen des menschlichen Antlitzes zu lesen, mußte sehen, daß hinter dieser schönen Stirn hohe Gedanken wohnten, daß die Züge um den ausdrucksvollen Mund unendlich viel Zärtlichkeit und Liebe verrieten und daß aus den feurigen, ungestümen Augen hohe Begeisterung glühte. Sein Anzug war aus so vielfarbigen, abgeschabten Teilen zusammengestoppelt, daß dessen Träger aussah wie eine prächtig ausstaffierte Vogelscheuche. Über dem abgetragenen Mantel hing ein langer Degen; seinen unordentlichen Schopf krönte ein mit Beulen bedeckter und phantastisch mit einer Hahnenfeder geschmückter Hut. In seinem ledernen Gürtel steckte neben dem Dolche friedlich ein kleines, in Pergament gebundenes Buch. Trotz dieses seltsamen Aufzuges entdeckte das scharfe Auge des Königs in der ganzen Haltung des Taugenichts etwas Ritterliches und Vornehmes. Der sonderbare Mensch blieb einen Augenblick in theatralischer Haltung auf der Schwelle stehen und grüßte die Anwesenden feierlich, ehe er auf seine Freunde zuging.
»Nun, ihr Goldherzen, wie geht es euch?« rief er fröhlich, als er mit zurückgeworfenem Haupt und ausgestreckten Händen an ihren Tisch trat. »Habt ihr mich vermißt, Jungens? Habt ihr mich vermißt, Mädels?«
Äbtissin Huguette befand sich im nächsten Augenblick an seiner Seite, schlang ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte sich zärtlich an ihn.
»Gewiß habe ich dich vermißt!« flüsterte sie. »Wo hast du denn gesteckt, kleiner Affe?«
Mit neugierigem Mitleid blickte er sie einen Augenblick an; dann machte er sich sanft aus ihrer Umarmung los und schrie: »Wein her! Meine Gurgel ist ausgetrocknet vom Pfeifen!«
Alle streckten ihm ihre Becher oder Humpen entgegen, aber Meister François schob sie herrisch beiseite und sagte: »Nein, ich will meinen eigenen Wein! Ist denn kein Wirt hier? Meister Robin, hierher!«
Robin Turgis, der sich bis jetzt abseits gehalten und den Ankömmling mit wenig huldvollen Blicken betrachtet hatte, kam langsam näher, die Daumen im Gürtel und ein saures Lächeln auf den dicken Backen. Meister François fuhr ihn scharf an, riß ihm dabei die fettige Mütze von seiner Glatze und schleuderte sie zur Erde: »Hast du keinen Gruß für vornehme Leute, wenn sie deine Spelunke beehren? Eine Kanne von deinem besten Beauner, Meister Beutelschneider, um darin dem Burgunder Tod und Verderben zu trinken!« Aber Robin machte keine Anstalten, zu gehorchen, und seine kleinen Augen schienen noch kleiner zu werden, als er François anstierte und mürrisch fragte: »Wie sieht denn heutzutage das Geld aus, Meister Villon?«
Im nächsten Augenblick fuhr die braune, schmutzige Hand des Dichters nach dem Dolche, und es klang wie das Knurren eines Wolfes, als er drohte: »Manchmal wie Blut!«
Aber der Wirt hielt ihm stand und sagte uneingeschüchtert: »Nur nicht bramarbasieren, Meister François! In Frankreich gibt es etwas wie einen König, und dessen Bild ist auf jeder Münze zu sehen. Zeigt mir einen Ludwig den Elften und ich zeige Euch meinen Beauner.«
Zornesröte übergoß Villons Gesicht, und wieder zuckte seine Hand aufgeregt nach dem Dolche. Er sah aus, als wisse er nicht, ob er über das Dilemma, vor das er gestellt war, lachen oder weinen solle. Huguette und Montigny griffen schon gleichzeitig in ihre Taschen, um des Dichters Zeche zu bezahlen, als zum Entsetzen Tristans der König ihrer Güte zuvorkam. Lebhaft sprang Ludwig auf, trat auf François zu und begrüßte ihn mit einer anmutigen Handbewegung, indem er höflich sagte: »Wollt Ihr mir die Ehre erweisen, den Beauner Wein, um den der Wirt hier so viel Wesens macht, auf meine Kosten zu trinken?«
Sein Erstaunen verhinderte Villon nicht, die günstige Gelegenheit beim Schopf zu fassen; er gab den Gruß mit der Miene höflicher Herablassung zurück, während seine Gesellschaft verblüfft den Spießbürger anstarrte, der sich ihnen in dieser Weise aufdrängte, und Tristan, des Königs Kühnheit innerlich verwünschend, nach seinem verborgen getragenen Dolche tastete.
Villons gönnerhafte Handbewegung war großartig in ihrer Unverschämtheit, und seine Worte standen ihr ebenbürtig zur Seite.
»Ihr seid höflich, Fremder, und deshalb werde ich Euch diese Ehre erweisen.« Ludwig verbeugte sich, und Villon fuhr fort: »Ich habe leider heute früh meine Börse unter meinem Kopfkissen vergessen,« – wieherndes Gelächter begleitete diese alte Schnake, – »und dieser unverschämte Kerl verweigert mir den Kredit. Merkwürdig, wie selten man unter den Weinhändlern einen anständigen Menschen trifft.«
Ohne eine Miene zu verziehen, hörte Ludwig diese Rede an.
»Und doch sollte man denken, der Handel mit solch edlem Stoff müßte auch veredelnd auf den Verkäufer wirken,« erwiderte er mit großem Ernst. Dann wandte er sich an Robin Turgis, der offenen Mundes diesem Zwiegespräch zuhörte, und befahl ihm, eine Kanne von seinem Besten zu bringen. Damit reichte er ihm ein Geldstück hin, nach dem Robin die Hand ausstreckte, nur leider nicht schnell genug.
Beim Anblick des Silbers hatten Villons Augen aufgeleuchtet; flink und behende war seine magere braune Hand zwischen den König und den Wirt geglitten, und nun schwenkte er das Geldstück mit gut gemimter Begeisterung in der Luft.
»Also dies ist des guten Königs Konterfei?« fragte er, nahm dabei seine schäbige Kopfbedeckung ab und machte vor der hochgehaltenen Münze eine tiefe Verbeugung. »Gott segne Seine Majestät, sage ich, denn dem König verdanke ich meine augenblickliche Freiheit. Als er nach Paris kam, erließ er eine Amnestie, und da ich mich gerade im Gefängnis befand – infolge eines Rechtsirrtums natürlich –,« verständnisinnig winkte er seinen Beifall gröhlenden Kameraden zu – »so wurde auch ich an die frische Luft gebracht. Wollt Ihr Eurer Güte die Krone aufsetzen, alter Herr, so gestattet mir zur Erinnerung an jene denkwürdige Begebenheit diese Münze an mich zu nehmen und in Ehren zu halten.«
Trotz seiner großen Selbstbeherrschung schnitt Ludwig doch ein bißchen ein schiefes Gesicht, als er hastig erwiderte: »Natürlich! Selbstverständlich!« Nun winkte er Robin zu, der, einen Bogen um François schlagend, an des Königs Seite glitt, um ein andres Geldstück in Empfang zu nehmen. Dann eilte er, den bezahlten Trunk zu holen.
Mit inniger Schadenfreude beobachtete Tristan von seiner Ecke aus diesen Vorgang. »Meister Villon, Meister Villon,« brummte er in seinen Bart, »das werdet Ihr bereuen, recht sehr bereuen!« Und mit den Augen seines Geistes sah er die phantastische Gestalt, die sich hier vor Ludwig groß machte und aufspielte, am Ende eines langen hänfenen Strickes baumeln, der von einem hohen Galgen herabhing. Ohne Ahnung von der Ironie des Schicksals winkte indessen François seinem Gebieter einen Handkuß zu und sagte beifällig: »Ihr seid ein recht verbindlicher alter Herr.«
Ludwig warf ihm einen sauren Blick zu und sagte: »Ihr spielt auf mein Alter an, aber Ihr selbst seid doch wohl auch kein Küken mehr!«
Diese gelinde Zurechtweisung schien Villons Freunde mehr zu ärgern als ihn selbst. Die Männer legten die deutliche Absicht an den Tag, über den neugierigen Bürgersmann herzufallen, und die Weiber schleuderten ihm grimmige Blicke zu. Casin Cholet schlug ganz unverhohlen vor, dem »Spießer« die Eisbeine zu knicken, und Huguette schnaubte ihn mit dem denkbar größten Aufwand von Unhöflichkeit an: »Was geht denn Euch sein Alter an, Ihr Hergelaufener?«
Aber Villon beschwichtigte die aufgebrachte Bande.
»Geduld, Fräuleins,« sagte er gütig und mild, »Geduld, Ihr lieben Muschelbrüder. Wenn unser Freund fragen will, so hat er wenigstens dafür bezahlt.« Damit verschwand sein Antlitz für einen Augenblick hinter dem großen Humpen Beauner, den ihm Turgis eben reichte; wesentlich erfrischt durch einen kräftigen Schluck, fuhr er dann lebhaft fort: »Dreiunddreißig Jahre lang habe ich dem Leben mit dem Ergebnis, das Ihr vor Euch seht, meinen Zoll entrichtet. Eine leichte Tasche ist eine Plage, aber leichtes Herz und leichte Liebe gleichen manches wieder aus.« Und damit schlug er auf seine Tasche, aus der sich auch nicht das leiseste Klimpern vernehmen ließ; dann klopfte er leicht auf seine Brust und verbeugte sich galant gegen den bewundernden Damenflor.
»Ihr seid ein Philosoph,« sagte der König.
»Du bist ein kleiner Engel!« schrie die Äbtissin und preßte ihn begeistert in ihre Arme. Indessen schien diese Huldigung des Mädchens nicht sehr nach Villons Geschmack zu sein – wenigstens machte er sich sofort aus der Umarmung los, indem er sagte: »Sachte, Äbtissin, sachte. Meine Schultern schmerzen und meine Seiten tun mir viel zu weh, mich umarmen zu lassen.«
Des Dichters Art und Weise war so entschieden und seine Meinung so unzweideutig ausgedrückt, daß die Neugierde der Bande erregt wurde. René von Montigny lieh dieser Empfindung Worte, indem er voll Besorgnis fragte, was ihm fehle. Villon schüttelte den Kopf, wendete sich abermals der Kanne zu und tauchte mit melancholischer Miene wieder aus ihr empor.
»Ihr seht in mir, liebwerte Freunde,« seufzte er, »ein Opfer der Liebe.« Dabei nahm sein Gesicht einen so düsteren, leichenbitterhaften Ausdruck an, daß Ludwig sich mit Mühe das Lachen verkneifen, Huguette aber ihre Wut nicht unterdrücken konnte. Stürmisch verlangte sie eine Erklärung seiner Worte, aber Villon dämpfte ihre Ungeduld.
»Nur ruhig Blut, mein Mädel! Es gibt, wie du ja selbst am besten wissen mußt, vielerlei Arten von Liebe. Ich bin nichts mehr und nichts weniger als ein Spitzbube und Landstreicher, deshalb liebe ich manchmal dich und andre solche athanasianische Dirnen – wie zum Beispiel Isabeau und Jehanneton hier.«
Als die Äbtissin die Namen ihrer Novizen nennen hörte, fuhr sie auf die beiden Mädchen los: »Ihr Weibsbilder, ihr gemeinen, wagt ihr es, mit meinem Schatz anzubandeln?« Die beiden schreckten vor ihrer Wut zurück, aber Meister Villon schien plötzlich nachdenklicher Stimmung geworden zu sein – er versank in tiefes Sinnen und hatte für den »Tannenzapfen« und seine ganze Umgebung so wenig Auge und Ohr, als weide er, ein einsamer Schäfer, seine Schafe in einem einsamen Wiesentale.
»Aber ich bin auch, der Himmel verzeihe mir, ein Reimschmied, dem die Sterne als Kerzen und die Rosen als Spielzeug dienen, und Liedersänger lieben manchmal auch noch auf andre Weise. Und so hat es auch mich gepackt zur Strafe für meine Sünden.«
Villons Kinn war tief auf seine Brust gesunken, die Hahnenfeder nickte trübselig und traurig; der Mund des Sängers schien ganz eingefallen. Huguette war es müde geworden, die beiden Missetäterinnen mit ihren Blicken zu durchbohren, und wendete nun ihre verachtungsvolle Aufmerksamkeit wieder ihrem niedergeschlagenen Liebhaber zu.
»Heulochs!« höhnte sie und deutete mit dem Finger auf François, in dessen Augen allerdings Tränen standen. Von natürlicher Neugierde und dem Wunsche, die Äbtissin zu ärgern, getrieben, glitt Jehanneton an Villons Seite und bat ihn, seine Liebesgeschichte zu erzählen. Ihre Bitte fand ein lebhaftes Echo bei Ludwig, denn er war von seinem »arabischen« Abenteuer ganz benommen und hatte ohnehin eine kindische Vorliebe für Geschichtenerzählen.
»Ich möchte mich der Bitte der Dame anschließen,« sagte er, »vorausgesetzt, daß die Anwesenheit eines Fremden Euch keinen Zwang auferlegt.«
Mit spöttischem Lachen drehte sich Villon nach ihm um.
»Gott schütze Euch, nein,« lautete seine Antwort. »Was Zurückhaltung heißt, habe ich längst vergessen und ich spreche mit jedem frei von der Leber weg über meinen leeren Beutel, meinen leeren Bauch und mein leeres Herz. Sammelt euch um mich, ihr Lumpengesindel, und horcht auf das merkwürdige Abenteuer François Villons, des Dichters und Gelehrten von Paris!«
Fröhliches Beifallklatschen lohnte diese Ansprache. Jehan le Loup wälzte ein leeres Faß herbei, das in irgend einer Ecke stand, stellte es auf und bedeutete Villon, er solle darauf Platz nehmen. Leichtfüßig sprang der Dichter hinauf und ließ sich mit gekreuzten Beinen auf diesem aus dem Stegreif hergestellten Thronsitz nieder; seinen langen Degen hielt er mit beiden Händen zwischen den Knieen fest. Männer und Weiber drängten sich um ihn wie ein Bienenschwarm um einen Rosenstrauch. Huguette ließ sich auf einem Schemel zu seinen Füßen nieder. Jehanneton streckte sich der Länge nach auf der Erde aus und starrte zu ihm hinauf. Die übrigen brachten sich so gut oder so schlecht unter, als es eben ging. Ludwig benützte die Gelegenheit, Tristan verstohlen zuzuflüstern, daß er den Burschen unterhaltend finde, worauf Tristan erklärte, er halte ihn für einen langweiligen Affen. Ludwig wollte den Fall näher erörtern, wurde aber durch Villons Stimme davon abgehalten, der von seinem Weinfaß aus die versprochene Erzählung begann. Für einen Philosophen hätte in dem Anblick des abgerissenen, von einer Bande noch niedriger stehender Halunken umgebenen Vagabunden, dessen magerer Körper bebte, dessen scharfes Gesicht zuckte vor innerer Bewegung, auf dessen Lippen Hohn, in dessen Augen Herzleid lag, etwas Tragisches gelegen – dem spöttischen König dort war dieser Anblick nichts mehr und nichts weniger als eine Belustigung besonderer Art.
»Ihr sollt also wissen, ihr lieben Teufelskerle und ihr ewig schönen Metzen, daß ich vor drei Tagen in der Gosse lag, wie es meine Gewohnheit, und zum Himmel emporglotzte, was meine Erholung ist – ich rede nämlich in Parabeln und Allegorieen, was eine beliebte Eigentümlichkeit der Schulmeister ist. Als ich so dalag, erblickte ich zwischen mir und dem Himmel das Antlitz einer Dame, das lieblichste Antlitz, das ich je gesehen habe.«
Diesen Worten war die erborgte Männlichkeit der armen Äbtissin nicht gewachsen; die Entrüstung gewann die Oberhand, und sie begann zu heulen und zu greinen und versicherte, der Erzähler sei ein treuloses Schwein, aber Villon schenkte ihrem Gewinsel keine Beachtung, sondern setzte seine Erzählung fort: »Sie ging zur Kirche – der Herr schütze und schirme sie –, sie blickte in meiner Richtung, als sie vorüberging, und wenn sie mich auch nicht beachtete, so wenig wie den Pflasterstein, auf dem ich stand, so habe doch ich sie gesehen für immer und ewig. Wir Minnesänger plappern so viel von der Liebe, aber in Wahrheit wissen wir so gut wie nichts von ihr, und wenn sie dann über uns kommt, so macht sie uns albern und dumm. So ist's auch mir ergangen – nun, welche Dummheit glaubt ihr, daß ich begangen habe?«
Villon wendete sein lebhaft erregtes Gesicht seinen Zuhörern zu, und sein spöttischer Mund strafte seine traurigen Augen Lügen.
»Einen Humpen geleert, um zu vergessen,« meinte Montigny.
Blanche war nicht weniger praktisch. »Zum selben Zweck eine Dirne geküßt,« schrie sie. »I du meine Güte, wie oft bin ich schon an Stelle einer andern geliebt worden!«
»Dem Weib die Tasche geleert!« schlug Casin Cholet vor; während Jehan le Loup mit scheußlichem Grinsen riet: »Sich im Gedränge an sie gemacht und sie gekniffen!« Dabei ließ er dem Wort die Tat folgen und zwickte Blanche in die volle Schulter.
Mit verächtlicher Gebärde wies Meister François all diese rohen Vermutungen zurück.
»La, la, la,« girrte er, »dümmer, viel dümmer als dies alles. Ich bin ihr in die Kirche nachgegangen!«
Stummes Staunen befiel die Runde – nur Colin von Cayeulx hatte Geistesgegenwart genug, seiner Verwunderung in einem langgedehnten Pfiff Ausdruck zu verleihen. Ludwig bekreuzte sich wiederholt unter seinem Rock.
»Ihr seid wohl kein Kirchgänger, Herr?« fragte er sauer.
»Nein, alter Querkopf,« antwortete ihm François freundlich. »In die Kirche gehe ich nie, außer um eine Almosenbüchse zu erbrechen oder um ein goldenes Geräte zu mausen.«
Eilends unterbrach ihn Guy Tabarie mit einem »Aufgepaßt!« und warf einen bedeutungsvollen Blick auf die Fremden, aber Villon verspottete ihn wegen seiner Ängstlichkeit.
»Unsinn!« rief er, lehnte sich etwas vor und schlug Ludwig scherzend mit seinem Degen auf den Rücken.
»Dieser wackere Kerl hier hat ein gutes Gesicht und versteht einen Spaß! Oder nicht, altes Karnickel?«
Ludwig krümmte sich und grinste dann vergnügt, als er sah, daß Tristan wütend war.
»O ja, dem Himmel sei Dank, ich habe Sinn für Humor,« sagte er mit einem schlauen Blick auf seinen Gefährten.
Villon fuhr in seiner Geschichte fort.
»Nun also, ich kniete dort im Dunkeln auf den kalten Fliesen, und all die Zeit klang der Sang ihrer Schönheit süß in meinen Ohren, und der Geschmack ihrer Schönheit war Salz auf meinen Lippen, und die Pein ihrer Schönheit nagte an meinem Herzen, und ich betete, daß mir vergönnt sein möge, sie wiederzusehen.«
Bis dahin war Huguette der Erzählung mit der Sanftmut einer Wildkatze gefolgt: nun griff sie nach einer zinnernen Kanne, um sie dem Dichter an den Kopf zu werfen, aber sie wurde von Guy Tabarie entwaffnet, ehe das Geschoß ihren Fingern entflogen war. Mürrisch sank sie auf ihren Schemel zurück, und ohne Ahnung von der glücklich abgewendeten Gefahr erzählte François träumerisch weiter.
»Und der Weihrauch kitzelte meine Nasenlöcher, und die gemalten Heiligen grinsten höhnisch auf mich herab, und abgerissene Gebet- und Liederfetzen wirbelten in meinem Gehirn durcheinander, und es war mir, als hätte ich mich in einem mir unbekannten, widerlichen Gesöffe betrunken. Und dann schwebte sie hinaus und ich stapfte hinter ihr drein. Sie nahm das Weihwasser von meinen Fingern.«
Ehrfurchtsvoll ließ Villon die Stimme sinken, und Huguette machte sich diese Pause zu nutze.
»Hätte es dich doch bis auf die Knochen verbrannt!« schrie sie gehässig. Meister Villon schüttelte den Kopf.
»Glaube mir, es hat viel tiefer gebrannt. Draußen auf den Stufen des Gotteshauses stand ein gelbhaariger, rotbackiger Geck, der sie begrüßte und dann mit ihr weiterging. Ich immer hinterdrein. Schließlich gelangten sie an einen Torweg, in den sie trat. Als sie sich umwendete, um sich von ihrem Begleiter zu verabschieden, sah ich ihr Antlitz noch einmal, aber nur für einen Augenblick, denn die Tränen in meinem Auge verschleierten das Bild.« Schwer aufseufzend wendete er sich an Ludwig.
»Vermutlich seid Ihr erstaunt, mich so reden zu hören, aber wenn mir das Herz auf die Zunge kommt, muß ich es herausspeien, sonst erstickt es mich.«
»Ich habe längst gelernt, mich über nichts zu verwundern,« antwortete Ludwig weise. Villon aber nahm den abgebrochenen Faden seiner Erzählung wieder auf.
»Ich grüßte den Galan und bat ihn, mir den Namen der Dame zu nennen. Er hielt mich zwar für verrückt, aber er sagte ihn mir.«
Im nämlichen Augenblick war Huguette aufgesprungen, schmiegte ihr leidenschaftlich erregtes Gesicht an das Villons und flüsterte schmeichelnd: »Und wie hieß denn die Dame, liebster François?«
Mit überlegenem Lächeln blickte François in ihre begierigen Augen. »Sei verschwiegen, Süßeste,« flüsterte er; »es war Ihre Majestät die Königin.«
Stürmisches Gelächter seiner Freunde belohnte Villons Witz und vermehrte die Wut Huguettes. In königlichem Zorn wollte Ludwig aufspringen, aber die Hand Tristans legte sich schwer auf seine Schultern und hielt ihn auf seinem Platz zurück. Villon, der seinen Unmut bemerkte, winkte ihm beruhigend zu.
»Nein, nein, mein trefflicher Herzog!« rief er; »Eure Loyalität braucht nicht Feuer zu sangen. Es war zwar nicht die Königin, aber ihren Namen will ich für mich behalten, obgleich er in breiten blauen und schwarzen Striemen auf meinem Rücken geschrieben steht.«
Diese Mitteilung veranlaßte ein verwundertes Gemurmel ringsum.
»Hat dich der rotgoldene Papagei durchgeprügelt?« fragte Montigny als Vertreter der allgemeinen Neugierde.
»Nein, nein,« entgegnete Villon, »das ist so gekommen: Wir Reimschmiede bestimmen für unsre Waren einen Preis, den nur wenige ihrem Wert entsprechend zu finden pflegen. Mit dem Liebesfieber im Leib schrieb ich dieser Dame ein Gedicht auf ein Blatt Pergament, das mich ein Mittagessen gekostet hat.«
»Habt Ihr geglaubt, sie komme auf Euer Pfeifen wie der Vogel auf den Lockruf?« fragte Ludwig scherzend. François seufzte wieder.
»In diesem Zustand von Verrücktheit hält sich jeder Minnesänger für einen Orpheus, der mit seinen Tönen ein Weib der Hölle abgewinnen kann. Aber ich habe meine Antwort bekommen – o ja, ich habe sie bekommen!«
Wieder versank er in düsteres Schweigen; aber dies war nicht nach dem Geschmack seiner Genossen, die sich für das Abenteuer interessierten. Montigny beugte sich vor und versetzte Villon einen Schlag auf den Rücken, unter dem dieser zusammenzuckte und brüllte.
»Und wie lautete die Antwort?«
Villon ließ ein lautes, unfrohes Gelächter ertönen, das nichts von menschlicher Wärme in sich trug.
»Ein Bursche, so etwas wie ein Page, stöberte mich vor drei Tagen hier im Lokal auf und fragte, ob ich ein gewisses Gedicht an die und die Adresse geschickt hätte. Wenn ja, so sollte ich mit ihm kommen. Traumverlorenen Sinnes folgte ich ihm wie ein Schaf, bis wir an einen einsamen Platz kamen, wo vier Tölpel über mich herfielen und mich mit meterlangen Stöcken zerbleuten. Ich war unbewaffnet meuchlings überfallen worden und hielt es für keine Schande, Fersengeld zu geben, als die Schläge hageldicht auf mich herabprasselten. Die Buben verfolgten mich bis in eine Gegend von Paris, wo ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert gewesen wäre. Da mußten sie von mir ablassen. Aber ich bin furchtbar zerdroschen, und mein Rücken und meine Seiten sind von weiblicher Empfindlichkeit. Jetzt gehe ich nie mehr aus ohne Exalibur Exalibur, Name des Schwertes von König Artus. Anm. d. Übers..« Dabei klopfte er auf den Knauf seines Degens. Huguette starrte ihn grimmig an.
»Hast du wenigstens so viel daraus gelernt, daß du dich nicht mehr zum Narren machst?« fragte sie mit einem bösen Blecken ihrer weißen Zähne.
»Ich habe daraus gelernt, mich nicht mehr zum Narren zu machen,« antwortete Villon traurig. »Ich bin gezeichnet mit dem Zeichen des Viehs und träume keine Träume mehr.« Er schüttelte sich, als wolle er lästige, zudringliche Erinnerungen verjagen, und streckte seine leere Kanne Montigny hin: »Ich habe wieder Durst bekommen! Mehr Stoff!«
Als Montigny dem Anführer der Bande schon wieder einschenkte, bemerkte Ludwig: »Ihr trinkt mehr, als Eurer Gesundheit gut ist, Herr.« Wütend, mit funkelnden Augen, fuhr François nach ihm herum und brüllte: »Schert Euch um Eure Angelegenheiten!« wozu ihm die Bande Beifall klatschte. »Was kann denn ein Mann Besseres tun, als saufen, wenn Frankreich zum Teufel geht, wenn die Burgunder ihr Feldlager aufgeschlagen haben in den freien Gefilden, wo man in seiner Kindheit gespielt hat, während ein Einfaltspinsel auf dem Throne sitzt und duldet, daß sie seine Stadt belagern?«
Die Gauner lachten. Tristan sagte bei sich selbst: »Ihr werdet noch bereuen, diese Worte gesprochen zu haben, Meister Villon.«
Der König aber rückte dem Gegenstand zu Leibe.
»Ohne Zweifel würdet Ihr es besser machen, wenn Ihr in des Königs Schuhen stündet?«
»Wüßte ich nichts Besseres zu tun als Ludwig Tunichts, als Ludwig Wagenichts, wenn ich an seiner Stelle wäre, so soll mich Huguette nie mehr wieder küssen.«
»Wer weiß, vielleicht tut sie's auch nicht mehr,« murmelte Huguette, während die Bande lachte.
Isabeau drängelte und schlängelte sich an den König heran, schmiegte sich wie ein Kätzchen an ihn und sagte: »Unser François hat ein Lied darüber gedichtet, wie er es machen würde, wenn er des Königs Schuhe trüge.«
Ludwig war jederzeit zu jeder Galanterie bereit; so schlang er denn den Arm um Isabeau und zog sie auf seinen Schoß.
»Hat er das wirklich, du kleines Schätzchen du?« fragte er. »Wollt Ihr es uns nicht hören lassen, Herr Dichter?«
Mit gemachter Bescheidenheit hatte Villon versucht, Isabeau von der Erwähnung seines Gedichtes abzuhalten, aber nun schlug er einen andern Ton an: »Das könnt und sollt Ihr, denn es ist ein wahres Lied, obgleich es mir den Hals kosten würde, wenn es dem König zu Ohren käme. Aber Ihr seid nicht groß genug, um ihm in die Ohren zu blasen – drum los!«
Damit sprang er auf, warf seinen abgetragenen, befleckten Mantel in malerischen Falten um die Schultern, nahm eine gebieterische Haltung an und deklamierte:
»Französisches Volk in jeglichem Stand,
Wer liebt eures Landes Boden und Sand
Von Paris bis zur Bretagne allhie,
Und wieder zurück bis zur Normandie?
Ihr seid in der Tat recht dumme Leute,
Herden ohne Hirten, des Zufalls Beute!
Ganz anders ging's im Vaterland her,
Wenn Villon König von Frankreich wär'!«
Ludwig sah grimmig zu Tristan hinüber, während sich die Spitzbubenbande, vor Vergnügen kichernd, die Hände rieb.
Ein stolzes, befriedigtes Lächeln spielte um Villons Mund, und er fuhr fort:
»Ihr habt eine Puppe zurechtgemacht
Und sie auf dem Königsthron angebracht,
Zu tragen des Königs seidenen Rock,
Zu halten des Königs goldenen Stock!
Wir aber denken die Königsgestalt
Uns von des Löwen Mähne umwallt,
Mit Löwenstolz prächtig schreitend einher,
Wie wenn Villon König von Frankreich wär'!«
Des Königs Gesicht war die reine Musterkarte von Empfindungen aller Art. Tristan glühte vor verhaltener Wut. Die Bande klatschte und jubelte, und François strahlte vor Freude über ihren Beifall.
»Umgeben von Schurken der Herrscher im Land,
Die Männer von redlichem Mute verbannt,
Wenn sie nicht tief im Verliese leben
Oder hoch oben am Galgen schweben;
Wir brauchen ein Haupt, das stolz sich trägt,
Eine Faust auch, die den Burgunder schlägt.
Die Oriflamme flög' vor uns her,
Wenn Villon König von Frankreich wär'!«
Humpen und Kannen klapperten Zustimmung. Des Dichters Augen erweiterten sich, während er Atem schöpfte für den Schluß seiner Ballade.
»Der kleine Ludwig und seine Schranzen,
Soll'n die uns retten mit Schwertern und Lanzen?
Bald wär' geschlagen des Feindes Heer,
Wenn Villon König von Frankreich wär'!«
Lautes Beifallsgebrüll erklang aus den heiseren Kehlen der Saufbrüder. Montigny schlug Villon auf den Rücken mit einem »Gut gekräht, Meistersänger!« und Huguette schlang ihre Arme um seinen Nacken und rief: »Ich verzeihe dir viel für dieses Feuer in deinem Auge.«
Doch der Dichter schien müde geworden zu sein, er schob das Mädchen beiseite und sank wieder auf sein großes Faß. Die Kerls kehrten an ihren Tisch zurück und Villon blieb mit dem König allein, der ihn trocken fragte: »Vermutlich nennt Ihr Euch einen Patrioten?«
Villon, der wieder hinlänglich Kraft gewonnen hatte, einen Humpen Wein zu leeren, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und entgegnete: »Ich maße mir keine so hochtrabende Bezeichnung an. Ich bin nur ein ganz armer Teufel, dessen Herz zu groß ist für seinen Körper, dessen Hoffnungen zu hoch fliegen für seine Verhältnisse. Wäre ich in einem Bett von Brokat gezeugt worden, so könnte ich vielleicht Armeen befehligen und Frankreich wichtige Dienste leisten; ich könnte vornehme Damen lieben, ohne dafür geprügelt zu werden, und einem König die Wahrheit sagen, ohne dafür den Hals zu riskieren. So aber, wie die Sache jetzt liegt, treibe ich mich mit Gaunern und Dirnen herum und jammere einem dummen kleinen Schwätzer vor, wie Ihr einer seid, Ihr alter Einfaltspinsel Ihr! Ja, ja, das Leben ist ein Narrenspiel, und am besten wär's, man hätte es vom Hals!«
»So weit wirst du's bald gebracht haben,« sagte Tristan zu sich selbst, und dieser Gedanke gewährte ihm großen Trost. Ludwig sagte nur: »Ihr seid sehr gedankenreich!«
»Nichts als Neid,« gab Villon rasch zurück. »Ich habe große Gedanken, große Wünsche, großen Ehrgeiz, große Gelüste. Alles, was Ihr wollt. Wer weiß, ich hätte vielleicht die Weltordnung auf den Kopf gestellt und mir Unsterblichkeit errungen. Jetzt dagegen schlafe ich in einer Dachkammer im Schatten des Galgens und bin morgen vergessen, selbst von den Wölfen, mit denen ich heute heule. Aber Denken macht Durst! Trinken wir eines!« Damit stand er auf, um sich zu seinen Kumpanen zu gesellen. Zufällig bemerkte er, daß Robin Turgis auf seiner Bank eingeschlafen war. Sachte huschte Villon an ihn heran, hakte ihm den Schlüsselbund vom Gürtel und verschwand mit einer triumphierenden Gebärde im Kellerhals. Mit herbem Lächeln sah ihm Ludwig nach. Tristan beugte sich vor und zupfte den König am Ärmel.
»Soll ich ihn morgen henken lassen?« fragte er mit heiserer Stimme.
Sinnend betrachtete der König seinen Leibdiener.
»Wir wollen sehen! Er ist ein schnabelschneller Bursche, aber es hätte ein tüchtiger Mann aus ihm werden können. Über ihm ist mir mein Traum wieder eingefallen. Als Schwein torkelte ich durch die Straßen von Paris, und da fand ich eine Perle – nun, nun. Wir wollen uns die Zeit mit den Karten vertreiben, bis Thibaut von Aussigny kommt!«
Tristan zog ein Spiel Karten aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.
»Glaubt Ihr, daß er kommt?« fragte er dabei.
»Er erwartet nicht, mich hier zu finden, mein Wort darauf,« erwiderte Ludwig; »sonst käme er allerdings schwerlich. Barbier Olivier meldet mir sein Kommen.«
Während er noch sprach, wurde die Tür ein wenig geöffnet. Der König vernahm das Geräusch und fragte: »Ist er's?«
Tristan warf über seine Schulter einen Blick nach der Tür, durch die ein altes, gebücktes Weib neugierig ins Zimmer spähte. Tristan zuckte die Schulter.
»Nein, Majestät,« knurrte er, »ein andres altes Weib.«
Mittlerweile hatte der König die Karten zu seiner Befriedigung geordnet; er winkte seinem Gefährten herrisch zu, sich zu setzen, und nach wenigen Minuten hatte er über der Erregung des Spieles alles um sich her vergessen.
Inzwischen hatte die alte Frau die Tür vollends aufgemacht und war leise eingetreten. Sie hatte ein stilles, sanftes Gesicht – ein menschlicher Schatten, der in seiner Schlichtheit an verblühte Jugend und verwelkte Schönheit gemahnte. Das Mütterchen war ärmlich, aber sauber in grauen und schwarzen Stoff gekleidet, und die Leinenfalten, die ihr Gesicht umrahmten, waren blendend weiß. Angstvoll blickte sie um sich und beschattete mit der Hand ihre Augen, die in der düstern Spelunke nichts zu erkennen vermochten, obgleich sie offenbar sehnsüchtig nach jemand suchten.
René von Montigny, der es müde geworden war, Isabeau zu foppen, erblickte plötzlich die alte Frau, wie sie hilflos und traurig dastand und um sich sah. Ein boshafter Einfall kam ihm. Er stand auf, tänzelte in theatralischer Weise auf sie zu und machte ihr eine tiefe Verbeugung.
»Holde Prinzessin, was ist Euer Begehr?« fragte er mit höhnischer Ehrerbietung.
Verwundert wandte ihm die Greisin ihr runzliges Antlitz zu.
»Befindet sich Meister François Villon in dieser Gesellschaft, mein Herr?« murmelte sie.
Montigny leistete sich eine zweite Verbeugung.
»Süße Frau,« lächelte er geziert, »ich küsse Eure schöne Hand und werde nachfragen.«
An den Tisch ferner Gefährten zurückgekehrt, blieben seine Augen spöttisch auf der gebeugten Gestalt Huguettes haften. Nachdem der Dichter seine Erzählung beendet hatte, war Huguette sehr schlechter Laune gewesen, so schlechter, daß ihre Gefährten es für geraten hielten, sie sich selbst zu überlassen. Als sie sich unbeobachtet sah, holte sie ein Spiel Karten hervor und begann ihr Schicksal aus ihnen zu erforschen, aber mit merkwürdiger, grimmiger Beharrlichkeit stand ihr jedesmal die Karte des Todes in nächster Nähe. Mit einem Gefühl von Verzweiflung, das ihrer leichtfertigen Art sonst ganz fremd war, vergrub sie ihr Gesicht in den Armen und schluchzte leise vor sich hin. Doch Montigny war nicht der Mann, den eines Weibes Tränen rühren konnten. Hinter ihrem gebeugten Rücken machte er spöttische Faxen, während er seinen Freunden in vertraulichem Flüstern zuraunte: »Drüben an der Tür steht eine wunderschöne Dame, die dringend nach unserm François verlangt.«
Als diese Worte in Huguettes Ohren fielen, stand sie sofort auf den Füßen und war ganz Leben und Bewegung.
»Was sagst du?« schrie sie wütend; und als sie, wenige Fuß weit von ihr entfernt, die Gestalt einer Frau entdeckte, fuhr sie hastig auf die Fremde los, während ihre Freunde in Erwartung eines neuen Ereignisses ebenfalls aufstanden.
»Was habt Ihr hier zu suchen?« schrie sie die alte Frau an; als aber diese ihr welkes, altes Gesicht zu ihr erhob, schreckte sie überrascht zurück.
Die alte Frau ließ sich durch Huguettes Kleidung über ihr Geschlecht täuschen und stammelte entschuldigend: »Ich bitte Euch um Vergebung, junger Herr, aber ich suche Meister François Villon.«
Ungeduldig und schnippisch fuhr Huguette das Mütterchen an: »So sucht und findet ihn!« Dann aber ging sie mit der Hand am Dolch hitzig auf René zu und rief: »Montigny, du Vieh!«
Montigny sprang ihr grinsend wie ein vergnügter Affe davon und sie jagte ihm um den Tisch herum nach. Währenddessen hatten die andern in der verstörten alten Frau ein willkommenes Opfer für ihren Übermut entdeckt; sie faßten sich bei den Händen, schlossen einen Kreis um sie und tanzten zu den Tönen eines unzüchtigen Liedes um sie herum. Das arme alte Mütterchen zitterte an Leib und Seele, als es sich plötzlich zum Mittelpunkt dieses zügellosen Kreises gemacht sah.
In diesem Augenblick ging die Kellertür auf und François erschien mit einem mächtigen Weinkrug in den Armen. Als er den Wirt noch immer schlafend sah, lächelte er befriedigt vor sich hin, schloß die Kellertür vorsichtig zu und stellte seine Beute in handliche Nähe der Bank. Der gewaltige Lärm lenkte seine Aufmerksamkeit von seinem glücklichen Raubzug ab, er blickte sich um und sah, was vorging. Im nächsten Augenblick stürzte er sich zwischen die tanzende Bande und schlug Jehan le Loup mit dem schweren Schlüsselbund des Wirtes zu Boden. Der Kreis der Gauner stob auseinander und Villon rief ihnen nach: »Zum Henker mit euch, Gesindel! Das ist meine Mutter!« Dann zog er das zitternde alte Weibchen in seine Arme und führte es nach dem Kaminplatz. Dabei flüsterte er ihm ins Ohr: »Fürchte dich nicht, Mutti, sie haben es nicht böse gemeint!«
Eine gewisse Niedergeschlagenheit und Zerknirschung lag doch auf den Galgenvogelgesichtern, als sie so von ferne standen und Mutter und Sohn verlegen beobachteten. Guy Tabarie, der eine heilsame Abneigung hatte gegen alles, was nach Streit aussah, schlüpfte leise auf die kühle Straße hinaus, um zu sehen, ob man sich nicht auch wo anders, in weniger stürmischer Atmosphäre, angenehm unterhalten könne.
Als Robin Turgis von seinem schweren Schlaf erwachte, fuhr seine Hand sofort instinktiv nach seinem Gürtel und entdeckte, daß sein Schlüsselbund fehlte.
»Meine Schlüssel, meine Schlüssel!« jammerte er. »Wo sind meine Schlüssel?« Und als er sie dann neben der noch immer leblosen Gestalt Jehan le Loups an der Erde liegen sah, stürzte er auf sie zu und brachte sie schleunigst in Sicherheit.
Mittlerweile war Jehan le Loup das Bewußtsein zurückgekehrt, und er brachte sich langsam in eine sitzende Stellung. Wilde Blicke schleuderte er Villon zu und seine übelberüchtigte rechte Hand tastete verstohlen nach dem Griff seines Dolches.
»Du hast mir den Schädel eingeschlagen, der Teufel soll dich holen!« brüllte er und sprang, die entblößte Waffe in der Rechten, leichtfüßig auf seinen Gegner zu. Aber Villon war zu gewandt, um sich unversehens überfallen zu lassen. Wohl hatte er nicht mehr Zeit, den Degen zu ziehen, aber in einer Sekunde hatte er einen Feuerbrand aus dem Kamin gerissen und hielt sich mit diesem Jehan le Loup auf Armeslänge vom Leib.
Nun aber ergriff Huguette den Arm mit dem Dolch.
»Sie ist seine Mutter!« sagte sie ärgerlich. »Ihr habt alle Mütter gehabt, glaube ich wohl? Laßt ihn in Ruhe!«
Unwillig steckte Jehan le Loup seine Waffe wieder in die Scheide und ließ sich von Huguette an den Tisch zurückziehen. Villon legte das brennende Holzscheit, das seine Finger etwas versengt hatte, in die Glut zurück und ließ sich friedlich an der Seite seiner Mutter nieder.
»Haben sie dich erschreckt, Mutti?« flüsterte er. »Aber sie haben es nicht böse gemeint. Buben und Mädels, Mädels und Buben!«
Das alte Mütterchen umschlang Villon mit ihren Armen, wobei er ein Gesicht schnitt. Ihre liebevolle Berührung war für seinen zerschlagenen Körper so schmerzlich wie eine feindselige, aber er machte keinen Versuch, sich aus ihrer Umarmung zu befreien.
»Komm heim, François,« sagte sie. »Komm heim! Wo bist du denn diese drei Tage über gewesen?«
Villon liebkoste das alte Weibchen zärtlich, während er antwortete: »Sehr beschäftigt, Mutti, Staatsgeheimnisse! Da heißt's mäuschenstill sein! Wie hast du mich denn hier ausfindig gemacht?«
»Im ›Einhorn‹ hat man mir gesagt,« erklärte die alte Frau, »ich würde dich wohl hier finden.«
Villon machte eine verächtliche Bewegung.
»O, das ›Einhorn‹ ist nicht mehr standesgemäß! Die wollen bare Bezahlung dort – der Kuckuck soll sie holen. Außerdem sind wir hier näher bei der Stadtmauer und können die Burgunder besser schießen hören. Das ist so erfrischend wie ein Schluck Wein.«
Traurig schüttelte Mutter Villon ihren grauen Kopf.
»Komm mit mir fort,« bat sie, »du hast Wein genug gehabt.«
Villon widersprach lebhaft.
»Das gibt's nicht, Mutti – zu viel kann man wohl trinken, doch trinkt man nie genug.«
Als er aber den enttäuschten Ausdruck sah, der auf das alte, graue Gesicht trat und es noch grauer erscheinen ließ, fügte er beschwichtigend hinzu: »Weißt du, Mutti, jetzt gleich, so im Augenblick, kann ich nicht nach Hause gehen, aber etwas andres kann ich für dich tun. Weißt du noch, als ich ein kleines Kind war, da …«
Es lag etwas in diesen Worten, das es ihm unmöglich machte, sie zu vollenden. Der greuliche Gegensatz zwischen dem Gedanken und dem Ort, wo er ihn in Worte kleiden wollte, der greuliche Unterschied zwischen der treuen Mutter, die ihn so zärtlich aufgepäppelt hatte, und zwischen den Wilden beiderlei Geschlechts, die nun seine Freunde und Genossen waren und hinter ihm knöchelten und kneipten – dieser Unterschied und alles, was drum und dran hing, legte sich ihm zentnerschwer aufs Herz und erstickte alle Fröhlichkeit in ihm. Er wendete sich von seiner Mutter ab und wiederholte vor sich hin: »Ach Gott! Als ich noch ein kleines Kind war!« Doch das Mitleid der Mutter, die Mutterliebe, die stets bereite, betätigte sich sofort: »Du warst das hübscheste Kind, das je ein Weib geboren hat,« sagte sie sanft.
Wieder wendete sich Villon ihr zu und versuchte die Tränen in seinem Auge durch Blinzeln zu zerdrücken.
»Du hast mich so oft in Schlaf gesungen,« sagte er und wiegte sie bei diesen Worten sanft hin und her in seinen starken Armen, während er ein altes Kinderlied dazu summte, das schon unzählige Generationen französischer Kinder in den Schlaf geschmeichelt hat: » Do, do, l'enfant do, l'enfant dormira tantôt!«
»Nun, Mutti, jetzt hat dein allergehorsamster Sohn ein Lied für dich gedichtet, womit du dich selbst in den Schlaf singen kannst! Ich ging vor einigen Tagen in die Kirche – auf meine Ehre, 's ist wahr,« beteuerte er, einen höchlich erstaunten Blick der alten Frau beantwortend – »und da kam mir ein Gebet in den Sinn, ein Gebet, das du zur heiligen Jungfrau sprechen sollst.«
Sanft drückte die alte Frau ihre Lippen auf seine Stirn.
»Mein Herzenskind, mein Goldvögelchen,« sagte sie sanft, und einen Augenblick lang trat ein kindlich weicher Ausdruck in Villons Züge.
»Da ist das Lied! Hör zu!« Und leise sprach er ihr die Verse vor, die er für sie gedichtet hatte, während sich das alte Weibchen mehrmals fromm bekreuzte.
»Herrin des Himmels und der Erde,
Der tiefen Hölle Kaiserin,
Ich sink' mit flehender Gebärde,
Dein Mitleid heischend, vor dich hin.
Ich kann nicht schreiben und nicht lesen,
Sieh gütig auf mein weißes Haar,
Bin stets ein armes Weib gewesen,
Doch stets ich reich an Glauben war.
Des Paradieses Glanz zu erben,
Laß mich in deinem Glauben sterben.
»Gelt, Mutti, das ist ein nettes Gebet für dich?«
Mutter Villon war in Tränen aufgelöst und schluchzte herzbrechend an seiner Schulter.
»Ach, daß du ein guter Mensch geworden wärest!« seufzte sie. Sanft und zärtlich streichelte ihr Villon das Haar.
»Wir alle sind, wie es dem Himmel gefallen hat, uns zu machen!« Darauf schwiegen sie einen Augenblick, bis er sich plötzlich der Silbermünze erinnerte, die er dem König abgeluchst hatte, und sie hervorzog.
»Da habe ich noch etwas für dich, Mutti,« sagte er, und als eine leichte Röte die Wangen seines Mütterchens überflog und es widersprechen wollte, drang er in sie. »O ja, du mußt es nehmen! Nimm es, nimm es! Ich bin ehrlich dazu gekommen, und du wirst es besser anwenden, als ich es täte!« Damit drückte er das Silberstück in ihre magere braune Hand und fügte hinzu: »Aber nun mach, daß du fortkommst, Mutti, und bete dich in Schlaf. Du wirst mich bald wiedersehen – ich versprech' dir's.«
Sorgsam geleitete er sie nach der Tür, die er ihr aufmachte. Im Begriff zu gehen, sah sie noch einmal zu ihm auf und wiederholte zwei Zeilen seines Gebetes:
»Des Paradieses Glanz zu erben,
Laß mich in deinem Glauben sterben.«
Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte und François zu seinem Sitz zurückkehrte, sprang Jehan le Loup, der sich noch immer für seinen zerschlagenen Gehirnschädel an ihm rächen wollte, auf, zerrte Isabeau neben sich und vertrat ihm den Weg.
»Nun küß zur Abwechslung einmal eine Junge,« sagte er und schubste das junge Mädchen auf den Dichter hin. Heftig schob Villon alle beide beiseite. »Geht zum Teufel!« schrie er ärgerlich und ging an ihnen vorbei. Wieder griff Jehan nach der Waffe und wieder wurde er zurückgehalten.
»Heut hat er nun eben mal seinen bösen Tag,« meinte Isabeau. »Laß ihn zufrieden.« Damit zog sie ihren widerstrebenden Gefährten an den Tisch, während Villon sich am Kaminplatz in die Ecke der Bank drückte und ins Feuer stierte.
In diesem Augenblick wurde die Tür der Spelunke stürmisch aufgerissen, und Guy Tabarie fuhr wie ein Wirbelwind ins Zimmer und kreischte außer sich vor Aufregung: »Freunde, bei der Dicken Grete gibt's eine Keilerei zwischen zwei Dirnen! Bis an den Gürtel sind sie nackt und mit einem Spektakel gehen sie aufeinander los! Um Gottes willen! Kommt und seht!«
In der nächsten Minute war die ganze Bande auf den Füßen; Guy Tabarie drehte sich auf dem Absatz herum, als er das letzte Wort gesprochen hatte, und verschwand durch die offen gebliebene Tür in der mondscheinerhellten Straße. Die übrigen zogen hinter ihm drein – der Schweif eines schmutzigen Kometen – und lachten, brüllten und johlten und waren begierig auf das in Aussicht gestellte Schauspiel.
»Ich werde die Siegerin krönen!« rief Montigny im Hinausgehen. »Und ich die Besiegte!« brüllte Jehan le Loup, als er die Nachhut auf die Straße geleitete, die schwatzend und lärmend in der Nacht verschwand. Von der ganzen Bruderschaft war nur Huguette zurückgeblieben. Wie von einem inneren Drang getrieben wendete sie sich zu François, der über das erlöschende Feuer gekauert saß.
»Kommst du mit, François?« flüsterte sie sanft. Für einen Augenblick hob der Dichter sein Haupt empor und winkte abwehrend.
»Nein, ich lese!«
»Du lügst!« schrie ihn Huguette leidenschaftlich an. Aber auch dieser Ausbruch vermochte nicht, Villon von seiner trübsinnigen Zurückhaltung abzubringen.
»Man kann auch ohne Bücher lesen,« sagte er. »Geh deiner Wege, Mädel, und versohl die Dirnen alle beide!« Wieder sank er in sich zusammen wie ein Haufen Lumpen und beachtete das Mädchen nicht weiter, das ihn noch einen Augenblick halb zornig, halb traurig betrachtete und dann auch verschwand.
Mit befriedigter Miene warf Robin Turgis hinter ihr die Tür ins Schloß; dann zog er sich, in seine eigene Ecke zurück, um vor sich hinzuduseln, bis die Kundschaft wiederkehrte. Ludwig und Tristan waren ganz in ihr Spiel versunken und zollten ihrer Umgebung wenig oder keine Aufmerksamkeit.
»Euer Barbier läßt lange auf sich warten,« bemerkte Tristan während einer Pause.
»Das Spiel tröstet uns darüber,« erwiderte Ludwig.
»Hm, ja, weil Ihr gewinnt,« brummte Tristan.
Aber während er noch sprach, hellte sich sein Gesicht auf und er sagte: »Ich habe gewonnen, Majestät!« und sackte den Gewinst ein.
In schweigendem Mißmut sah der König zu, wie Tristan gab, und betrachtete dann sein neues Spiel mit solch düsterer Sorgfalt, als hänge das Geschick des Reiches davon ab.
Kaum ein Laut störte die Ruhe der Kneipe.
Meister François Villon saß, vor sich hinbrütend, in seiner Ecke, und tat ab und zu einen tiefen Zug aus dem gestohlenen Krug.
Unter dem Einfluß von Müdigkeit und Wein verschwamm ihm nach und nach alles vor den Augen. Der Kopf wurde ihm schwer wie Blei und das Gehirn leicht wie eine Feder. Die Gesichter zweier Frauen tanzten ihm vor den Augen: das eine stolz und schön und jung, das andre demütig, traurig und alt, und er versuchte sein Möglichstes, alle beide zu vertreiben. Er bemühte sich, eine Ballade in allgemeinen Umrissen zusammenzureimen – eine Ballade zu Ehren alles dessen, was gut zu essen war. Schon hatte er eine famose Überschrift gefunden: »Eine Schüssel Kutteln geht über alles!« Er versuchte, den Entwurf vor sich hin zu sagen und das Gericht im Geiste zu schmecken, aber sein Auge sah nur Stroh vor sich, und sein borstiges Kinn sank schwer auf seine Brust. Die Türklinke wurde bewegt, aber auch eine Kanonade der Burgunder würde ihn schwerlich mehr aufgeschreckt haben. Und dennoch hing seine Zukunft an dieser Bewegung der Türklinke.