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Viertes Kapitel.
Thibaut tritt auf.

Wiederum drehte sich die Tür in ihren Angeln, um einem großen, starken Mann in der Tracht eines gemeinen Soldaten Einlaß zu gewähren, dessen große Gestalt ganz in Leder und Stahl gehüllt war. Als er eintrat, sah er sich um, tauschte einen Blick mit René von Montigny und ging auf die Bank zu, auf die er sich mit einem schweren Plumps niederfallen ließ. Sofort rief er mit stiermäßigem Gebrüll dem Wirt zu, er solle ihm Wein bringen.

Katharine lehnte sich etwas vor, atmete tief auf und hauchte in Villons Ohr: »Das ist er!«

Unwillkürlich seufzte Villon tief auf. Teils weil er froh war, seinen Gegner vor sich zu sehen, der wirklich ein königliches Wild zu sein schien, teils aber auch, weil er dessen allzu frühes Kommen bedauerte. War es doch gar süß gewesen, hier in der Dunkelheit der Treppe neben dem schönsten Weib der Welt zu kauern, ihren Atem auf seiner Wange, ja beinahe ihr Herz an dem seinen pochen zu fühlen, zu wissen, daß sie wenigstens dies einzig eine Mal allein miteinander waren, miteinander verbunden durch einen gemeinsamen Gedanken, eine gemeinsame Absicht. Diese kurzen Augenblicke einer eigenartigen Vertraulichkeit schienen den Wert seines ganzen übrigen Lebens aufzuwiegen, und nun hatten sie schon ihr Ende erreicht. Nun mußte er gehen und beweisen, daß er dieses seltenen Glückes würdig sei.

»Gut,« sagte er leise und schlich mit katzenartiger Geschmeidigkeit die Treppe hinab und durchs Zimmer bis an den Tisch seiner Freunde, die bereits viel zu trunken und zu lustig waren, um sich über sein plötzliches Wiedererscheinen zu wundern oder zu fragen, woher er komme. Nur einer der Bande war nicht da, und zwar René von Montigny, der aufgestanden war, sobald sich der Soldat auf der Bank am Kamin niedergelassen und diesen mit der harmlosen Vertraulichkeit eines oberflächlichen Bekannten begrüßt hatte. Villon verstand es, von Freund zu Freund gehend, an der Rückseite der Bank einen Platz zu erobern, von dem aus er gelegentlich einige Worte des Gespräches zwischen René und dem Fremden auffangen konnte. Dieser Unterhaltung widmeten auch die zwei unscheinbaren Bürger, die unbeachtet für sich allein saßen, ihre Aufmerksamkeit.

»Ein schöner Abend, Freund,« sagte Montigny zutraulich.

»Sehr schön für diese Jahreszeit,« antwortete der Fremde. »Wie steht's in Eurem Garten, Freund?«

Montigny lächelte bedeutungsvoll.

»Sehr fruchtbar und gut – wenn nur nicht die fallenden Sterne wären!«

Als ihn aber der Soldat verwundert anstarrte, beeilte er sich zu erklären: »Ein Späßchen von mir! Der fallende Stern war ein meterlanger burgundischer Pfeil, der heute mittag über die Mauer geflogen kam und sich in meinem Garten häuslich niederließ. Hier habe ich, was der Pfeil mitgebracht hat.«

Damit zog er aus seiner Tasche ein schmales Stückchen Pergament, das sorgfältig zusammengefaltet und gesiegelt war, und übergab es dem Soldaten. Der verkleidete Konnetabel nahm es und untersuchte es genau.

»Das Siegel scheint unverletzt,« sagte er zu sich selbst. René machte eine Gebärde voll edler Entrüstung.

»Ich pflege niemals andrer Leute Briefe zu lesen,« versicherte er. Thibaut zuckte die Achsel.

»Würde Euch auch wenig genützt haben, falls Ihr es getan hättet,« sagte er, während er das Siegel erbrach und sich beiseite kehrte, um in der schwachen Beleuchtung zu lesen, was die Botschaft enthielt. Diese war in harmlos klingenden alltäglichen Worten abgefaßt, aber Thibaut verstand ihren geheimen Sinn und erfuhr, daß der Herzog von Burgund ihm alles gewähren wollte, was er wünschte: ein Herzogtum, das Mädchen, nach dem er begehrte, alles, wonach er irgend lüstern sein könnte, falls er König Ludwig in des Herzogs Hände auslieferte. Da Thibaut ohnehin entschlossen war, dies zu tun, flog ein befriedigtes Lächeln über seine Züge, während er das Pergament in die glimmenden Kohlen warf und zusah, wie es nach und nach bis auf den letzten Rest verkohlte. Dann wandte er sich Montigny zu, der ihn scharf beobachtet hatte.

»Könnt Ihr mir einige handfeste, zuverlässige Kerls Eurer Art beschaffen, die mehr von burgundischem Golde halten als von dem Narren auf dem Thron?«

Montigny antwortete hinter seiner vorgehaltenen Hand: »O ja! Ich kenne ein halbes Dutzend kräftiger Bursche, die Euch den König aus seinem Bett im Louvre stehlen, wenn Ihr sie ordentlich bezahlt für den Jux.« Damit deutete er mit dem Daumen über seine Schulter nach seinen zechenden Kumpanen. Thibaut nickte beifällig. Er ließ einige Goldstücke in Montignys offene Hand gleiten und flüsterte ihm zu, er solle ihn morgen wieder hier treffen, und als dieser sich nun wieder zu seinen Freunden gesellte, schickte er sich an, das Lokal zu verlassen.

Zu seiner Verwunderung versperrte ihm aber plötzlich Villon, der sich betrunken stellte, mit anscheinend großer Heiterkeit den Weg.

»Ihr treibt Euch für einen ordentlichen Soldaten noch spät herum,« schluckste er.

»Das ist meine Sache,« entgegnete Thibaut und suchte an ihm vorbeizukommen, aber Villon hielt ihn zurück.

»Seid doch gemütlich. Kommt, wir wollen einer Flasche den Hals brechen!«

»Ich habe genug getrunken, und Ihr mehr als genug,« grollte Thibaut. »Macht, daß Ihr in Euer Bett kommt!«

Nun schlug Villons scheinbare gute Laune plötzlich um. »Ihr seid ein gewaltig ungehobelter Kerl, Soldat, und wißt nicht, wie man mit Herren von Stande verkehrt.«

Thibaut begann die Geduld zu verlieren.

»Geht mir aus dem Weg,« sagte er und versetzte Villon mit der flachen Hand einen Stoß auf die Brust, der ihn ins Wanken brachte.

Villons Stimme erhob sich zum Gebrüll.

»Ich will nicht aus dem Weg gehen! Wer sagt mir denn überhaupt, daß Ihr ein anständiger Soldat seid? Woher soll ich wissen, daß Ihr ein ehrlicher Mann seid?«

Sobald Villons Stimme sich erhoben hatte, erregte der Wortwechsel die Aufmerksamkeit der Zecher. Montigny glitt an Villons Seite und flüsterte ihm zu: »Laß ihn in Ruhe, François! Er ist nicht, was er scheint!«

»Scheint! Wer fragt danach, was er scheint,« brüllte Villon. »Was er ist, will ich wissen! Vielleicht ist er gar kein ehrlicher Soldat! Vielleicht ist er ein Spion des gottverfluchten Burgunders!«

Thibaut erhob die Faust, um Villon niederzuschlagen, aber vor dem entblößten Dolch des Dichters schreckte er zurück.

»Werft den besoffenen Hund auf die Straße,« befahl er zornig. Nun aber fuhren Villons Freunde wütend auf ihn los, und dieser selbst griff das Wort auf.

»Besoffener Hund! Wirklich! Du bist ein verlogener, niederträchtiger Schurke! Haltet die Tür, Freunde. Dieser Schuft hat mich beleidigt. Zieh vom Leder, Soldat!«

Im nächsten Augenblick befand sich die ganze Bande zwischen Thibaut und der Tür, jedes Weib eine Furie, jeder Mann ein Kämpfer, mit Ausnahme von Montigny, der sich verstohlen nach der Seitentür schlich und sich in dem Getümmel unbemerkt davonmachen konnte. Es war seine Absicht, die Wache zu alarmieren, um durch deren Dazwischentreten das Leben seines hohen Gönners zu schützen. Er verschwand in der Nacht und rannte davon, so schnell ihn seine Füße zu tragen vermochten.

Mittlerweile entbrannte der Streit im »Tannenzapfen« lichterloh. Thibaut betrachtete seine Feinde wie etwa ein Stier eine Meute kläffender Hunde und fragte den Dichter, der seinen Degen gezogen hatte, zornig: »Wer zum Teufel seid Ihr?«

Villon warf den Kopf herausfordernd in den Nacken und schwang seinen Degen.

»Ich bin François Villon und mein Degen ist so gut wie der irgend eines andern Mannes!«

Als Thibaut diesen Namen vernahm, erhob der Riese ein riesenhaftes Gelächter: »Bist du François Villon?« donnerte er. »Leih mir doch einer einen Stecken!« Dabei sah er um sich, als suche er nach der verlangten Waffe. Villon aber griff nach einem Humpen und schleuderte ihn dem Soldaten ins Gesicht! Mit einem Schrei der Wut fuchtelte Thibaut mit seinem Degen in der Luft herum.

»Du Narr,« zischte er, »ich bring' dich um!«

»Das werden wir ja sehen,« antwortete Villon tapfer.

Einen Augenblick hielt das männliche und weibliche Gesindel den Atem an. Der große, in schimmernden Stahl gehüllte Mann war der zarten Gestalt ihres Lieblings weit überlegen, und ein Kampf zwischen den beiden ungleichen Gegnern erschien geradezu lächerlich. Wie konnte man hoffen, daß Villons Kunst den mächtigen Streichen des Soldaten gewachsen sei? Doch da hatte Huguettes schneller Verstand schon eine glückliche Lösung des Problems gefunden.

Mit der Behendigkeit eines Panthers sprang sie vor und stellte sich zwischen die beiden Gegner.

»Ehrlich Spiel!« rief sie. »Das ist ja David und Goliath!« Dabei deutete sie mit der einen Hand auf Villon, während sie mit der andern dröhnend auf den Panzer seines Gegners schlug. »Sie sollen es mit Degen und Laterne im Dunkeln ausfechten!«

Lautes Beifallsgeschrei begrüßte den Vorschlag des Mädchens. Diese phantastische Form des Duells war den Angehörigen des »Hofes der Wunder« nicht unbekannt, und Villon selbst, so sehr er auf den Kampf brannte, war klug genug, einzusehen, wie zweckmäßig und nützlich dieser Vorschlag für ihn war. Geschicklichkeit und Größe, alle Finten glichen sich aus, sobald im Dunkeln gefochten wurde, wenn die Männer gleich Schatten im Lande der Schatten einander gegenüberstanden.

»Nun, was sagst du dazu, Goliath?« fragte er, und Thibauts grimmiges Antlitz lächelte zustimmend.

»Wie es Euch gefällt,« sagte er, voll Vertrauen auf seine Kraft und die Länge seines Armes. »Mir ist alles einerlei!« Doch als er um sich blickte und die lauernden, finsteren Gesichter mit wölfischer Wildheit auf sich starren sah, verließ ihn seine Zuversicht für einen Augenblick, und er fügte hinzu: »Doch nur unter einer Bedingung: wenn es mit Euch zu Ende ist, ist auch der Streit zu Ende. Eure Freunde müssen sich damit einverstanden erklären.«

Villon stimmte sofort zu. Er war Feuer und Flamme dafür, die Welt von Thibaut zu befreien, aber er wollte dies selbst vollbringen, um des weißen Mädchens willen, das dort oben auf der Treppe kauerte.

»Ich verspreche es,« sagte er, »für mich selbst und meine Freunde.« Dann wendete er sich zu dem andern Mädchen und bat: »Versprich es, Huguette! Schwöre es!«

»Ich schwöre es!« antwortete Huguette.

»Das wäre also erledigt,« sagte Villon. »Und nun, Freunde, schließt einen Kreis und löscht die Lichter aus!«

Sofort waren die Vorbereitungen für den Zweikampf im Gange. Robin Turgis, der unter lautem Schimpfen gegen diese Entweihung seines Lokales protestierte und mit der Wache drohte, wurde rasch von Jehan le Loup überwältigt, der ihn auf eine Bank niederdrückte und ihm die Spitze seines Dolches an die Kehle setzte. Die Weiber drängten sich aufgeregt kreischend auf den untersten Stufen der Treppe zusammen, auf deren oberem Ende Katharine kauerte und durch das Geländer spähte. Die Männer standen hinter Tischen und Bänken, während Casin Cholet und Colin de la Cayeulx aus den Wirtschaftsräumen zwei brennende Laternen herbeiholten. Unterdessen beugte sich Tristan leidenschaftlich erregt zum König vor und zupfte ihn am Ärmel.

»Der Sache muß ein Ende gemacht werden, Majestät,« flüsterte er; aber mit einem Lächeln grimmiger Befriedigung entgegnete Ludwig: »Im Gegenteil, Gevatter! Welcher von diesen Schurken den andern umbringt, leistet dem Staat einen Dienst und erspart dem Henker Arbeit.«

Villon schritt durchs Zimmer und trat dem finster wartenden Thibaut gegenüber.

»Ich gedenke, unsre Rechnung jetzt ins Reine zu bringen, Meister Thibaut,« flüsterte er.

Verwundert starrte ihn der Riese an und stammelte: »Was, Ihr kennt mich?«

»Gestern haben mich Eure Knechte geprügelt – heute werde ich Euch ein wenig kitzeln! Reihe um, Reihe um, Freund Thibaut!«

In diesem Augenblick pustete Guy Tabarie die letzte Kerze aus, die noch gebrannt hatte, und nun war der Raum in völliges Dunkel gehüllt. Selbst das matte Mondlicht, das durchs Fenster drang, wurde von Huguette ausgeschlossen, indem sie die Vorhänge dicht zusammenzog. Der schwache Schein des Kaminfeuers schien das Dunkel, in dem nur die zwei Laternenlichter glühten, eher zu vertiefen, als zu erhellen. Villon ergriff die eine, Thibaut die andre der Laternen, die bisher von Casin und Colin gehalten worden waren.

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen, dann ertönte Huguettes Stimme: »Alles fertig?«

Beide Fechter riefen wie in einem Atem: »Ja!« und im selben Augenblick begann der Kampf.

Sicherlich war weder früher noch später in den vier Wänden des »Tannenzapfen«, ja überhaupt nicht innerhalb der Mauern von Paris ein merkwürdigerer Zweikampf gefochten worden. In der dicken Dunkelheit tappten und stießen die beiden Gegner nach einander, bald geleitet, bald irregeführt durch den Schein der Laternen, je nachdem deren Träger sie plötzlich in die Höhe hielten oder jählings unter den Falten ihrer Mäntel verbargen.

Ab und zu trafen die Degen klirrend aufeinander, Schlag fiel und Gegenschlag, und dann zogen sich die Fechter wieder zurück, um einander aufs neue aufzulauern, wobei die Laternen wie Glühwürmchen hier und dort aufleuchteten und die blanken Klingen, plötzlich wie bläuliche Blitze durch die Finsternis zuckten.

Vergebens hatte Tristan den König veranlassen wollen, fortzugehen, ehe die Vorbereitungen für dieses phantastische Duell beendet waren.

»Nicht um die Welt möchte ich dies Schauspiel missen, Gevatter,« hatte Ludwig beharrt. Sein kindisches Entzücken für alles Abenteuerliche fand an diesem Abend volles Genügen, und in diesem Augenblick gab es keinen glücklicheren Mann im ganzen Reich, als den, der zufällig sein König war.

Schon hat der Kampf mehrere Minuten gewährt, die aber einigen der angstvollen Zuschauer Jahrhunderte zu sein dünken.

Jetzt ist das Gemach in tiefste Stille versenkt, jetzt – wie die bloßen Klingen im flackernden Schein der Laternen aufeinanderschlagen, kreischt ein Weib laut auf oder stößt ein Mann einen Fluch aus, die dunkle, verstummte Kneipe mit scharf beobachtendem, leidenschaftlichem menschlichem Leben erfüllend.

Plötzlich, als sich die Spannung auf das höchste gesteigert hatte, ertönte ein dröhnender Schlag gegen die Haustür, und eine weithinschallende Stimme rief: »Macht auf, im Namen des Königs!«

Tristan weiß wohl, was dieser Ruf zu bedeuten hat, und flüstert dem König zu: »Es ist die Wache, Majestät!«

Auch Thibaut, der im Dunkeln nach seinem winzigen Gegner tastet und daran verzweifelt, ihn vernichten zu können, hört und versteht die Bedeutung des Rufes. Er ist des Blindekuhspiels überdrüssig.

»Öffnet die Tür!« brüllt er, und sein Geschrei veranlaßt Villon zu einem leidenschaftlichen Ausfall. Wie eine Wildkatze springt er auf den Riesen ein, schleudert ihm die blendende Laterne ins Gesicht und stößt, als Thibaut wütend gegen ihn ausfällt, diesem seinen Degen in die Seite.

»Nicht gar zu schnell, du Rattenfänger!« ruft er frohlockend, und in dem Augenblick, wo Thibaut dröhnend zur Erde stürzt, wird die Tür eingestoßen, und die Wache dringt mit brennenden, qualmenden Fackeln herein, den ganzen Raum mit Licht und Bewaffneten erfüllend. Nachdem er noch einen triumphierenden Blick auf den gefällten Riesen geworfen hat, springt François vor und blickt nach der Galerie empor.

Katharine steht ans Geländer gelehnt und wirft ihrem Kämpen eine Bandschleife zu, die er in der Luft auffängt, an die Lippen drückt und in seinem Wams auf dem Herzen birgt. Im nächsten Augenblick ist Katharine verschwunden und François sieht sich von zwei Soldaten gepackt, deren Hauptmann die Szene verwundert betrachtet. Die anwesenden »Muschelbrüder« sind alle überwältigt und ergriffen.

»Was bedeutet dieser Tumult?« fragte der Hauptmann, und Villon antwortete ihm leichthin, über die ihn bedrohenden beiden Piken lächelnd: »Ein ehrlicher Zweikampf, Hauptmann, nach allen Regeln der Kunst mit ›Degen und Laterne‹ ausgefochten.«

Der Hauptmann der Wache wendete seine Aufmerksamkeit Thibaut zu, der sich mit Hilfe eines Soldaten aufgerichtet und auf seinen Ellbogen gestützt hatte und nun rachsüchtig auf Villon blickte.

»Wer ist dieser Mann?« fragte der Hauptmann.

Der Wunsch nach Rache gewann den Sieg über das Anstandsgefühl des Verwundeten.

»Ich bin Thibaut von Aussigny, der Großkonnetabel von Frankreich,« sagte er.

Ein Schauer des Schreckens und der Verwunderung überlief die Anwesenden, als sie diesen gefürchteten Namen hörten. Der Hauptmann der Wache begrüßte ihn knieend.

»Monseigneur,« fragte er, »wie ist dies gekommen?«

Thibauts Sinne entschwanden ihm mit dem rinnenden Blute, aber seine Bosheit überwand die Schwäche für den Augenblick. Er deutete auf Villon.

»Nehmt diesen Kerl und knüpft ihn an der nächsten Laterne auf!« Mit diesen Worten verlor er das Bewußtsein. Rasch wendete sich der Hauptmann gegen den Gefangenen und befahl kurz: »Nehmt den Kerl hinaus und hängt ihn auf!«

Mit wilden Blicken spähte Villon nach einem Ausweg um sich, aber er sah keinen. Seine Freunde stöhnten und ächzten voll Mitgefühl, aber mehr konnten sie nicht tun, denn sie alle waren ja von den Soldaten unschädlich gemacht worden. Huguette schlang schluchzend ihre Arme um seinen Hals. Seine Wächter griffen fester zu, und Villon zuckte unter ihrer Berührung zusammen. Da – plötzlich erhebt sich der unscheinbare kleine Bürgersmann vom Tisch und tritt gegen die Soldaten vor.

»Haltet ein, Hauptmann!« sagt er in herrischem Ton. »Dieser junge Mann gehört mir!«

Zornig wendet sich der Krieger gegen den so unberufenerweise sich einmischenden Bürgersmann.

»Wer seid denn Ihr, daß Ihr es wagt, der im Namen des Königs geübten Gerechtigkeit in den Arm zu fallen?«

Der Bürger wirft seine schwere Kopfbedeckung zurück und enthüllt das allen so wohlbekannte und von allen so sehr gefürchtete runzelige, leidenschaftliche Antlitz des Königs.

»Ich bin die Gerechtigkeit des Königs selbst,« sagte er einfach, während Tristan hinter ihm in den Ruf ausbrach: »Es lebe der König!« und der verblüffte Hauptmann sein Knie beugte.

Starr vor Staunen, aufs höchste verblüfft, erfaßte Villon doch den Humor der Sachlage und konnte den Mund nicht halten.

»Der König! Großer Gott!« sagte er und unterstrich die Bedeutung dieses Wortes durch einen langen, ausdrucksvollen Pfiff.


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