Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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IX. Heilung des Körpers.

Ein berühmter Chirurg, der die Frauen aus Erfahrung sehr genau kannte, macht die Bemerkung, daß sie in der ersten Jugend oft ein wenig kalt sind, dafür aber in der Mitte des Lebens, beim Eintritt in die Periode der Abnahme, ein wahres Bedürfnis haben, geliebt zu werden. Vom zweiunddreißigsten, fünfunddreißigsten Jahre an, zehn Jahre vor dem normalen Aufhören, fließt das Blut weniger regelmäßig, daher häufige Kongestionen, Krankheiten, stürmische Träume, leidenschaftliches Bedürfnis nach Liebe.

Er entfernt sich, der Blinde, läuft jungen, leichtsinnigen Dirnen nach, die sich über ihn lustig machen und ihm doch im Grunde so wenig bieten können! Sein wahres Reich, das tiefe Herz, die intelligente, poetische Seele seiner Frau – vergißt er, der Thor! Und welche köstliche Speise hätte sie ihm bieten können! Die Frucht der Früchte, die Pfirsich, wird nur noch süßer durch den Biß der Wespe, und ebenso die Frau durch den Schmerz.

Der Mann, der Augen hat, zu sehen, weiß den Augenblick sehr wohl zu schätzen, wo der Ausdruck seine höchste Schönheit erreicht, wo dieses Geschöpf der Liebe, schon demütiger geworden unter der Hand der Natur, die so schwer auf ihr liegt und ihr ein Alter voller Leiden bereitet, weniger den Glanz sucht und mehr das wahre Glück erstrebt. Und besonders die Frau, deren Leben ganz Tugend und Pflichterfüllung war, die an der Schale der Liebe nur nippte und sich nicht durch die berauschende Süßigkeit des Trankes zu Thorheiten verleiten ließ, ist unendlich rührend zu dieser Stunde, wo sie die Liebe fliehen sieht und seufzend spricht: »Wie, schon vorbei! ...«

*

Abgesehen von der Krankheit des Nordens, der Schwindsucht, welche eine Wirkung des Klimas ist, giebt es nur zwei Hauptkrankheiten in Europa, die sehr genau mit unseren Leidenschaften, unserer Art zu denken, unserem Willen zusammenhängen.

Der Mann will stark sein, und er wählt die Mittel schlecht und übertreibt sie. Er ißt und trinkt viel zu viel. Alle seine Krankheiten haben ihren Ursprung in den Verdauungsorganen.

Die Frau will geliebt sein. Sie leidet an dem Organe der Liebe und der Mutterschaft. Alle ihre Krankheiten sind direkt oder indirekt Krankheiten des Uterus.

Wenn man mit Ernst und Gründlichkeit in dem Leben der Kranken zurückgeht, so gelangt man meistens zu dem Resultat, daß jenes Brustübel, jene Unterleibskrankheit, die man in gar keinem Zusammenhange mit dieser Ursache wähnt, zehn, fünfzehn Jahre vorher durch einen Kummer des Herzens vorbereitet wurden.

In der Frau ist nichts niedrig, nichts gemein, alles poetisch. Die Frau ist fast immer krank durch die Leere ihres Herzens, der Mann durch Überfüllung des Magens.

Nichts hat einen tieferen Sinn, als jenes Wort, das man häufig von ihr hört und über das man lacht: »Woher kommt dein Kopfweh, Zahnweh, deine Kolik?« – »Weil man mich nicht liebt, wie ich es wünsche.«

*

Nachdem ich so das Wort des Rätsels ausgesprochen und durch den Sumpf meines achten Kapitels (Ehebruch und Scheidung) glücklich hindurch bin, kann ich, wie mein Herz es wünscht, zurückkehren zu unserem Ideal, der Frau, die tugendhaft blieb, zu ihr, die, sich auf ihren Gatten stützend und ihm nichts verheimlichend, glücklich an der Klippe vorüberfuhr. Wir sahen, wie sie selbst aus ihrem Traume sich losreißen konnte, wie ihr das trügerische Ideal zerflatterte. Soll das heißen, daß ihr keine Erinnerung daran blieb? Nein. Die Tugendhafteste leidet durch einen solchen Verlust, gesteht sich nur mit Schmerzen, daß sie geliebt hat, ohne wieder geliebt zu werden. Freilich weiß sie sich von ihrem Gatten geliebt. Sie hat die Kraft und Zärtlichkeit seines Herzens erfahren; aber selbst von dieser Seite erwächst ihr ein Leid. Sie fühlt, daß sie von ihrem Throne herabgestiegen ist, daß er sich nicht verbergen konnte, wie sie nicht das himmlische Wesen ist, der Engel des Herrn, an den er einstens glaubte; und schließlich muß sie sich doch selber sagen, daß sie ohne ihn gefallen wäre, daß sie seines Schutzes nicht entraten konnte. Sie plagt sich mit dem Zweifel: »Habe ich nicht wenigstens in Gedanken gesündigt? ... Oder (welche Schmach!) thut es mir nicht leid, nicht gesündigt zu haben?«

So zwischen zwei Neigungen gestellt, von bangen Zweifeln geplagt, in der Ebbe und Flut eines schlecht geheilten Herzens, nehmen ihre Kräfte ab, wird sie siech und bleich. Nach dem Sturme des Blutes und der Seele folgt eine große Ermattung. Man sieht die Krankheit kommen.

*

Außer mit unseren individuellen Leiden haben wir alle heutzutage noch mit irgend einem alten, unbekannten abzurechnen, das wir von unseren Vätern geerbt haben. Ein Leiden, das in den Tagen unserer Kraft nicht zum Vorschein kommt, belauert uns, erwartet geduldig den Tag unserer Schwäche, um dann zu unserem Schrecken, zu unserer Beschämung oft in der überraschendsten Gestalt triumphierend hervorzubrechen.

Mein Buch ist kein Idyll. Der junge leichtsinnige Mann, die zarte junge Dame, denen es zufällig in die Hände fallen sollte, werden ihren Mut zusammennehmen müssen. Denn in seiner Aufrichtigkeit wird es nicht vor der Natur zurückbeben. Und übrigens ist das, was wir jetzt besprechen, keine Abschweifung; es ist der Kern der Sache und die eigentliche Probe der Liebe.

Die Liebe, von der die fünfzehnjährigen Kinder träumen, die zarte Iris, die lilienweiße, rosenrote Liebe, ist kaum Liebe. Es ist die Oberfläche der Begier, ein leichtes Schaudern der Sinne. Aber die Liebe, von der es heißt: »sie ist stark, wie der Tod«, ist eine ganz andere, kräftigere. Stellen wir sie kühn, nicht dem Tode, stellen wir sie, was vielleicht noch härter ist, der Krankheit gegenüber.

Welcher? Der oft erblichen, schicksal-gesendeten Krankheit, an der sie unschuldig ist, die arme, gedemütigte Frau. Die Reinste, Tugendhafteste hat nichtsdestoweniger davon einen Keim in ihrem Blute, der sie früher oder später verraten wird. Diese reine Lilie, diese blonde, blendende Schönheit (die Nereide des Rubens, wenn ihr wollt, im Louvre) kann sehr bald die Skrofeln sich wieder öffnen sehen, die sie als Kind hatte. Jene andere mit den feurigen, tiefen Blicken, mit dem dunkeln Teint, die euer Herz in Flammen setzt, ach! der Liebespfeil, der euch trifft in ihrem entzückenden Lächeln, es ist vielleicht der Krebs, der an ihrem Busen frißt, und ihren Blick so geisterhaft schön macht.

Man erzählt, daß der glänzende Spanier Raimundus Lullus mit seiner Liebe eine Dame verfolgte, die ihn wieder liebte, ihm aber nichts zugestand. In seiner trunkenen Begier folgt er ihr bis in eine Kirche. Dort, indigniert, kühn gemacht durch das Dämmerlicht (ihre Kirchen sind sehr dunkel), wendet sie sich um und entblößt ihm ihre zerfressene Brust. Was denkt ihr, daß er that? Er entfloh und wurde aus einem Ritter ein Doktor, Prediger und schlechter Scholast.

Er liebte nicht. Wie hätte ihn, liebte er wahrhaft, eine solche Entdeckung nur noch mehr gefesselt! welch starkes Band, welche Gelegenheit, seinen Opfermut zu zeigen und, möchte ich sagen, welcher neue Reiz für seine Liebe! ... Zur Ehre unsrer Zeit hat sich ein ausgezeichneter Denker in einem ähnlichen Falle nur noch mehr in seiner Liebe bestärken lassen. Je größer das Unglück des unschuldigen Opfers war, desto mehr hat er sie mit seiner Liebe umfangen. Rührende Vorsorge wurde getroffen, sie vor allen Menschen zu verhüllen, fast vor sich selbst. O, wie groß ihre Liebe dafür sein muß! ... Von allen Herzen, die hoch genug schlagen, so etwas zu verstehen, wird ihnen diese liebevolle Einsamkeit inmitten dieser liebeleeren Welt, in der sie sich gegen das Geschick und die Natur aneinander Preßten, beneidet werden. Und ist dies nicht der wahre Tempel, den sich die Liebe, die den Tod überwindet, hienieden bauen wollte?

Die Frau wurde zum Leiden geboren. Sie erträgt der Leiden mehr als wir und erträgt sie besseren Mutes. Aber das Unerträgliche ist, daß die Krankheit, diese grausame Offenbarung menschlicher Gebrechlichkeit, tausend niedrige, traurige, keineswegs anmutige Seiten aufdeckt. Jede Frau hat eine Zeit, einen Augenblick gehabt, wo man sie für göttlich hielt, wo sie beinahe selbst sich der Erde entrückt glaubte. Das Andenken dieser Zeit verläßt sie nicht, adelt sie in ihren eigenen Augen. Selbst das Drama der Niederkunft, das sie vorübergehend ans Bett fesselte, erhält sie noch sehr poetisch. Die Krankheit, ach! hat diese Wirkungen nicht. Sie schleppt sich hin, schwer und bleiern, und stellt geflissentlich zur Schau, was die Natur so sorgsam verbirgt.

Wenn sich die Sache verheimlichen läßt, so duldet die Kranke schweigend. Aber es scheint, daß die Krankheit ein hämisches Vergnügen daran findet, sich nach außen beliebig durch widerliche Erscheinungen, durch tückische Efflorescenzen, die sie erst recht hervorheben, zu manifestieren. Irgend welche unglückliche Blütchen, die kommen und wiederkommen, eine lebendige Flechte, die unter dem Haar entsteht – das reicht hin, um die Ärmsten zur Verzweiflung zu bringen. Ich habe eine junge, blendend schöne Dame von diesem letzteren Übel befallen sehen; sie wäre fast darüber gestorben.

Jeder Zeuge ist von dem Augenblicke an peinlich. Die Kammerfrau wird ferngehalten, fortgeschickt. Wenn der Gatte in sie dringt, so weint die Kranke: »Ich schäme mich... das Mädchen hätte es überall ausgeplaudert ...« – »Weine nicht, ich selbst will dich pflegen, niemand soll es erfahren ...« – »Aber wenn ich dir selbst unangenehm werden sollte – denn gerade deinethalben leide ich am meisten.«

Ein tiefer, schmerzlicher Grund der Krankheiten jener Frauen, welche die erste Jugend hinter sich haben, ist der Zweifel an ihrer Macht. Dieser Zweifel schwindet von dem Tage an, wo ihr Gatte, der jetzt in dem Alter des Ehrgeizes und der Erfolge steht, vielleicht ein bedeutender Mann ist, gegen ihr Erwarten alles liegen läßt, alles opfert, sie pflegt, und glücklich ist, daß er sie Pflegen kann und ihr so beweist, daß sie noch immer sein liebster, einziger Gedanke ist.

»Aber es ist wahrhaftig ein Jammer, zu sehen, daß du dich in diesem Maße aus deiner Laufbahn bringen lassest, deine großen Angelegenheiten hintanstellst, um dich mit diesen Erbärmlichkeiten abzugeben. Ich mache mir Gewissensbisse darüber. Bitte, laß mich.« Sie sagt es, aber sie lächelt und ist glücklich.

*

Die Krankheit ist die Disharmonie, die Gesundheit ist die Harmonie. Die erste Sorge muß darauf gerichtet sein, die äußere Harmonie um die Kranke her zu schaffen. Die werdet ihr nie erlangen, wenn Nachbarinnen, Freundinnen, Verwandtinnen den ganzen Tag ihre Ratschläge gegen die einigen geltend zu machen suchen, ihre Ärzte herbeibringen, euch in der Krisis selbst durchkreuzen und in dem erreglichen Geist der Kranken alle Augenblicke Zweifel wachrufen. Diese Zweifel sind an sich schon eine böse Krankheit, welche die andere verlängert und verschlimmert. So lange sie nicht beseitigt sind, ist an Genesung nicht zu denken. Es bedarf der Einsamkeit und großer Ruhe.

In dem Organismus tritt eine Abspannung ein, welche bei den meisten Übeln der Anfang der Genesung ist. Beinahe immer war es eine überspannte Idee, eine Leidenschaft, die die Nerven übermäßig anstrengte, die allgemeine Harmonie zerstörte. Von den Ursachen, die das Übel bewirkten, entfernt, schwächer und ein wenig abgemagert, tritt man gern mit Leib und Seele in einen Zustand ruhiger Sammlung. Man beurteilt die Dinge richtiger, man kommt von der Überspannung zurück. Man tadelt sich, man strebt nach höherem Werte, nach einem Leben in vollkommener Übereinstimmung mit der allgemeinen Harmonie und dem Willen Gottes. Man begreift, daß man selbst nicht ganz unschuldig an seiner Krankheit ist. Man nimmt sie als ein Unabweisliches hin, man unterwirft sich und hört auf, die Natur anzuklagen. Und eher läßt sie uns nicht los. Der, welcher sich nicht mehr gegen die Krankheit ereifert, nicht mehr mit Ungeduld der Genesung entgegenharrt, ist in Wahrheit der Genesung viel näher.

Aber nichts stärkt die Geduld der Kranken so sehr, als das Gefühl, daß ihr Leben jetzt ganz auf dem ruht, von dem getragen wird, der ihre ganze Welt ist. In diesem langen Beisammensein, welches ihr die süße Einsamkeit der ersten Zeiten ihrer Ehe zurückruft, wird ihr die Krankheit selbst lieb, und die Seele thut sich auf, wie eine schöne, lange verschlossene Blüte.

Am Abend, ehe die Lichter angezündet sind, legt sie in deine Hand ihre kleinen, ein wenig abgemagerten Hände und schüttet dir ihr ganzes Herz aus. Sie spricht mit dir wie mit sich selbst. Du küssest ihr die Hände. Sie merkt nicht darauf, fährt fort zu reden, und sagt dir alles, was man sonst nicht eben sagt, und was eine schwache Frau dennoch wohl sagen möchte: ihre Träume, ihre Furcht vor dem Tode. »Wenn ich sterben sollte? ... Ich möchte doch noch so gern bei dir bleiben. Gott wird sich unser erbarmen.« Das führt sie weiter und weiter; sie gesteht dies und das, irgend ein großes Unrecht, das sie bis jetzt verschwiegen hatte ... Wahrhaftig, sie hat alles gesagt und eine förmliche Beichte abgelegt.

»Nun, und das ist alles?« – »Ich meine, es ist mehr als zuviel ... Wenn ich etwas anderes begangen habe, so erinnere ich mich desselben wenigstens nicht mehr ... Aber was ist dir, Lieber, daß du meine Hände mit deinen Thränen benetzest?«

Indessen ist es völlig Nacht geworden. Vom Himmel leuchtet kein Mond, aber die funkelnden Sterne geben Licht genug. Sie ist müde. Sie entschläft, ohne deine Hand loszulassen, und sie schläft viel besser seit diesem Tage; denn die Harmonie der Seele ist ihr wiedergekommen.

*

Die Ehe ist Beichte. Die Einigkeit, der Frieden der beiden Herzen hat damit begonnen, daß eines dem anderen alles sagte. Und auch nur dadurch kann man den verlorenen Frieden wiedererlangen, die Harmonie der Seele, welche die des Körpers zur Folge hat.

Sich einem dritten, einem Fremden anvertrauen, der denn doch immer ein Mann ist und bleibt, heißt ihn versuchen, sich selbst versuchen, heißt von einem Seelensturme in den anderen kommen. Damit die erregte Seele, der kranke Körper, das ganze arme leidende Wesen die volle Ruhe wiedergewinne, muß seine Hälfte, die ja alle Leiden teilt, ihm die Unendlichkeit der Liebe und des Mitleids erschließen, und, ohne darauf zu dringen, ein volles Bekenntnis herbeiführen.

Hat sie sich einmal nach dieser Seite hin erleichtert, so muß man die furchtsame Seele aufzurichten suchen. Bedenkt, daß ihr vor dem Tode bangt. Sprechen wir es klar aus und hüllen wir uns nicht in einen falschen Heroismus. Euch, die ihr in dem Dienste des gnädigen Gottes der Natur erzogen seid, ist es leicht, dem allgemeinen Schicksal mutig ins Antlitz zu sehen. Aber sie, die in dem Dogma von den ewigen Höllenstrafen groß geworden ist, fühlt, obgleich sie von euch andere Ideen angenommen hat, dennoch in ihrem jetzigen leidenden Zustande böse Nachwirkungen jener Lehre. Sie verschweigt das nicht und flüchtet sich, wie ein schwaches Kind, an eure Brust. Seid jetzt für sie ebenso stark wie zärtlich. Werdet nicht schwach mit ihr; haltet eure Thränen zurück, sie muß in euch eine feste Stütze finden. Erweitert ihre durch den Schmerz gepreßte, durch die Furcht beklemmte Frauenseele zu der großen Harmonie, wo wir, unterthan dem gerechten, ewigen Gesetze des Alls, das Leben wollen müssen, wie den Tod. Ich weiß sehr wohl, welche Überwindung es euch kosten wird, diesen Tod, dessen Name euch in diesem Augenblicke so furchtbar ist, als Gottessache gläubig hinzunehmen! Aber, glaubt es, er verschont oft die, welche ihm mit Sanftmut entgegensehen. Wenn die liebe Seele, die sich ganz auf euch stützt und an eurem Herzen lebt, den Gedanken, dort zu sterben, wenn Gott es fordern sollte, annimmt, so darf sie um so mehr darauf rechnen, leben zu bleiben. Die Hoffnung auf Unsterblichkeit trägt nicht wenig zu unserer irdischen Erhaltung bei.

Möchten wir uns doch die Kraft und das Ansehen, welche uns für diese ernsten Stunden nötig sind, bewahren! Möchten wir uns jene Reinheit des Herzens, jenen Adel der Gesinnung erhalten, die es uns möglich machen, für das geliebte Weib der rechte Beichtiger und Priester zu sein! daß die, welche der Altar des Mannes war und ihm so oft unendliche Seligkeit gewährte, ihn an diesem Tage als ihren Mittler wiederfindet, der ihr die Verzeihung des Himmels bringt.

Aber wäret ihr auch weniger würdig, währet ihr nicht rein geblieben von dem Schmutze der Welt auf eurem Wege durch den Markt des Lebens, die Liebe wird euch wieder rein machen, ihre Flamme das alles verzehren. Und in einem Winkel eures Herzens werdet ihr das Hohe und Göttliche wiederfinden, also, daß ihr die Schwache, die sich heute an euch klammert, halten könnt mit starker Hand. Euer ist sie, euch nur hat sie zum Leben und zum Sterben. An euch ist es, zu bewirken, daß sie lebe, oder in euren Armen sich zu Gott aufschwinge.

*

Was unterscheidet den Priester vom Arzte? Ich habe es nie ausfindig machen können. Jede Heilkunst ist blind und blöde und nichtig, wenn sie nicht mit der vollständigen Beichte, mit der Resignation und der Wiedervereinigung mit der allgemeinen Harmonie beginnt.

Wer vermag das bei einer Frau? Nur der, welcher sie schon vorher kennt und ihr zweites Ich ist. Er ist ihr geborener Arzt für Leib und Seele und niemand sonst.

Das beides ist bei ihr nicht zu trennen. Daran möge der junge Mann denken, darauf möge er sich vorbereiten. Ein wie mächtiger Sporn für das Studium der moralischen und Naturwissenschaften muß für ihn in dem Gedanken liegen, Welch unendliches Glück es ihm einst gewährt, alles für die Geliebte sein zu können!

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In Zukunft wird die von so viel toten und unfruchtbaren Elementen befreite Erziehung Jahre medizinischer Studien in sich begreifen. Der jetzige Zustand ist lächerlich. Wer lebt, muß vor allem einmal wissen, was das Leben ist, wie man es erhält, wie man es heilt. Überdies sind diese Studien eine so herrliche Übung für den Geist, daß man den, welcher sich ganz und gar nicht um sie bekümmert hat, kaum einen Menschen nennen kann.

Selbst um dem Arzte auseinandersetzen zu können, was unser Leiden ist, muß man selbst (zu drei Teilen) Arzt sein.

Die meisten werden euch sagen, daß man sich selbst oder seine Familie nicht behandeln kann, was auf dasselbe hinauskommt, als ob man sagte, daß man die am wenigsten behandeln kann, die man am besten kennt. Ich verlasse mich in dieser Sache viel lieber auf den Ausspruch eines Arztes aus dem Süden: »Niemals werde ich zugeben, daß mein Sohn oder meine Frau von jemand anders als von mir behandelt werde. Nicht, als ob nicht viele meiner Kollegen geschickter wären, als ich. Aber hier habe ich vor ihnen den gewaltigen Vorteil, die zu behandelnde Person ganz genau zu kennen: das von mir erzeugte Kind bin ich, und die Frau, die auf die Dauer sich in mich verwandelt hat, bin wieder ich.«

*

Die Individualität gewinnt immer mehr Bedeutung. Die so sehr unwissende Heilkunst früherer Zeiten heilte dennoch oft, und weshalb? weil alles in Klassen eingeteilt war: die Kranken und die Krankheiten. Man konnte damals, wenn ich mich so ausdrücken darf, nach der Schablone kurieren. Die Klasse und der Beruf bestimmten das Temperament und deuteten schon von vornherein das Übel und das Mittel dagegen an. Die Klassen haben aufgehört und mit ihnen die Heilkunst nach Klassen.

Alles hat sich verwandelt; kein Mensch gleicht mehr dem anderen; jeder ist speziell, originell, individuell, sehr kompliziert, keineswegs zum voraus zu bestimmen. Es bedarf eines großen Studiums, einer langen Folge von Beobachtungen, eines außerordentlichen Eifers, um dies Individuum zu fassen. In den großen Städten aber fehlt das den Ärzten, und vor allem fehlt ihnen die Zeit.

Dieses Rätsel, das Individuum ist für den unheilbar, der es nicht vollkommen, von der Sohle bis zum Scheitel und durchweg in seiner Gegenwart, in seiner Vergangenheit kennt, für den, der nicht gleichsam in ihm lebt und sein zweites Ich ist.

Je mehr ihr aber eins mit ihm seid, desto besser könnt ihr es heilen.

Wenn ihr nun lange mit dieser Frau gelebt habt, wenn eure durch die Gewohnheit und die Liebe identisch gewordene Existenz in jedem Augenblick Phänomene in euch hervorbringt, die denen, welche in ihr vorkommen, analog sind, so daß eure Funktionen die ihrigen enthüllen, so seid ihr sehr weit in dieses Wesen eingedrungen, könnt mit ziemlicher Gewißheit bestimmen, welches ihr harmonischer, welches ihr gestörter Zustand ist, welches das gegenwärtige Übel, welches die mögliche Rückkehr zur Gesundheit.

Ihr seid ihre Gesundheit; sie ist eure Krankheit. Die Heilung besteht für sie in der Rückkehr zur Harmonie mit euch.

*

»Was ist die Frau? Die Krankheit.« (Hippokrates.) – Was ist der Mann? Der Arzt.

Der größte Doktor, den ihr von draußen hereinruft, ist nach einigen Fragen vollkommen befriedigt. Von der Kranken kennt er nur die Krisis; aber das ist nichts: man muß ihr Leben kennen. Wieviel Zeit, wie großer Geduld und auch welches Genies von seiner Seite bedürfte es, damit sie ein vollständiges Bekenntnis ablegte! Aber würde sie auch zu antworten wissen? zu antworten wagen? ... Oft muß er sich mit sehr wenigem begnügen.

Der Gatte im Gegenteil weiß alles.

Ihr lacht; ich behaupte, daß die Allerverstellteste, die ihm gewisse Dinge soviel wie möglich verbirgt, im ganzen doch nicht verhindern kann, daß er sie, allein durch das Beisammenleben, gründlich kennt. Mit allen fünf Sinnen hat er sie in jeder äußerlichen Manifestation erfaßt: er kennt sie in jedem inneren Vorkommnis, ihre Monate, ihre Tage, ihre Stunden, ihre Gewohnheiten, ihre Launen. Er weiß ihre Gedanken voraus; er weiß, daß sie diese oder jene kleine Begierde haben wird. Wer vermag ein so entsetzliches Detail zu beherrschen? Nur der, welcher liebt oder geliebt hat, der in seiner Unersättlichkeit alles und jedes empfunden, bemerkt hat, selbst was sie selbst vergaß. Dazu kommt noch, daß seine Einwirkung auf sie sehr groß ist. Durch das gemeinsame Leben, durch die Befruchtung und die tiefe Umgestaltung, welche diese mit sich bringt, hat er diese Frau geschaffen. Der Gatte ist in diesem Sinne ebenso sehr Vater der Gattin, als des Kindes.

Er hat sie geschaffen; er kann sie von neuem schaffen.

Wenigstens vermag er es, wenn es überhaupt jemand vermag.

Der allmächtige Schöpfer, die Liebe, ist auch der allmächtige Erneuerer. Wäre sie auch erschlafft und lau geworden, mit welcher Kraft, welcher Wärme erhebt sie sich unter solchen Verhältnissen! Wer sollte die kranke Frau nicht lieben, wer ihr nicht das ganze Herz wiedergeben! Und gesetzt, sie wäre etwas leichtsinnig gewesen, dies arme, leidende Wesen, wer vermöchte sich jetzt daran zu erinnern? Gedemütigt durch die unerbittliche Natur, so voller Furcht, zu mißfallen, ist sie in Wahrheit reizender als je. Für alles, selbst die unschuldigsten Dinge, bittet sie euch um Verzeihung. Ihre lebhafte Dankbarkeit läßt sie die holdesten Worte finden, die euch Thränen ins Auge locken. Ihr Herz ist ein ganz anderes geworden. Es ist bekannt, daß die Krankheit, diese strenge Schule der Natur, die Sitte verfeinert, wie keine menschliche Kultur es vermocht hätte. Zärtlichkeit, zitternde Scham, kindliche Furcht – so ist die Frau in diesen Augenblicken. Wie sollte man sie nicht lieben!

Wie rührend ist dieser Kampf zwischen Liebe und Scham! Freilich muß die letztere nachgeben, wenn man Mittel anzuwenden gezwungen ist, die der Schrecken der Frauen sind, wenn zum Beispiel ein Zugpflaster appliziert werden soll. Wenn man ihr ihren Willen ließe, würde sie lieber sterben; aber mehr als den Tod fürchtet sie, durch ihren Ungehorsam zu beleidigen. »Und doch, in diesem Zustande sich vor ihm sehen zu lassen! ... ihm alle Tage diese Prüfung aufzuerlegen! ... ach, das ist das Ende der Liebe!«

Die Ärmste ist durch dieses tägliche sich Beugen unter die geliebte Hand so gedemütigt, daß es ihr gar nicht mehr einfällt, anzunehmen, er könne in ihr noch immer eine Frau sehen. Alles, was sie noch verlangt, ist Mitleid. Mit der Liebe, glaubt sie, ist es vorbei. Groß ist deshalb ihre Überraschung, tief ihre Rührung, wenn sie sieht, daß die Flamme noch immer brennt; wenn sie erkennt, daß die Liebe in ihrer erhabenen Unwissenheit alles wissen und alles sehen kann und dennoch ist, als wüßte sie nichts, als sähe sie nichts.

Dann beginnt sie jene Macht des Herzens zu begreifen, die alles modelt und verwandelt, wie sie will, jene Unabhängigkeit der Liebe, die man für die Sklavin der Natur hält, und die doch ebenso gut ihre Königin ist.

*

»Wie, ich kann noch gefallen! Wie, meine Liebkosungen beglücken, meine Küsse lohnen ihn noch!«

Jetzt fühlt sie sich wieder stark. Sie ist wieder in ihre Herrschaft eingesetzt; die Gesundheit wird nicht auf sich warten lassen.

Von der Geliebten ist alles unschätzbar, alles entzückt und alles ist liebenswürdig. Die Liebe saugt sie durch alle Sinne ein. Ihr physisches Leben in seiner Ganzheit, ohne irgend etwas auszunehmen, bezaubert uns immerdar. Daraus geht für sie ein Zustand unendlicher Heiterkeit, tiefen Glückes hervor, derselbe Stand der Gnade, den man in der Schwangerschaft beobachtet; aber wieviel weniger günstig sind die Umstände hier! Zu sehen, das alles, was sie selbst mit Scham und Furcht erfüllte, was sie ihm geflissentlich zu verbergen suchte, für ihn ein Glück und ein Genuß ist, daß er ihr dient, nicht mit Ungeduld, sondern mit Begierde und Entzücken – dies Wunder rettet sie. Sie wird leben bleiben, trotz dem Schicksal und der Natur.


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