Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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VI. Ist die Einigkeit erreicht?

Wir haben eine Wahrheit, die man bisher nicht recht begriffen hatte, aufgehellt:

Der Fortgang der Zeit, die Reihenfolge der Lebensalter, die man der Liebe verderblich glaubte, sind nur ihre natürliche und notwendige Entwickelung. Jedes Alter führt ihr neue Kräfte zu; jedes festigt in seiner Weise das Band. Es war ein Sommerfaden im Anfang und ist zuletzt ein Tau, das den stärksten Stürmen Trotz bietet.

*

So siegt die Liebe denn vollständig; die Zeit ist ihre Dienerin, arbeitet für sie; und wir könnten dies Buch schließen.

Noch nicht. Eine letzte Schwierigkeit erhebt sich. Die allmächtige Siegerin hat ein Hindernis, das in ihr selbst liegt.

Und vielleicht gerade deshalb ein übersteigliches Hindernis.

Wie sich vereinigen, wenn man eines ist? – Um sich zu vereinigen, muß man zwei bleiben.

So lange das Leben dauert, wird in der vollständigsten Vereinigung noch immer ein ungelöster Rest bleiben. Die Frau bleibt immer Frau; und sie wird nur desto mehr geliebt werden. Trotz aller Verständigkeit behält sie kindliche Seiten, und man wird sie deshalb anbeten.

Sie möchte so gern jeden Unterschied aufheben. Welch rührendes Schauspiel, zu sehen, wie sie sich prüft, sich fragt, was sie noch sonst thun könnte, ihm zu gefallen, ihm sich noch inniger anzuschließen, sich noch mehr mit ihm zu vereinigen. Ein einziges Hindernis: sie ist Frau.

Und immer bleibt etwas, das sie trennt. Eine Trennung, die durch das Alter, durch den Willen, die wachsende Liebe verringert wird, aber doch noch nicht ganz verschwunden ist.

Die Frau ist die Schönheit. Viel Zärtlichkeit, ein wenig Schwäche, Scham, Schüchternheit, Schwanken, eine Scheu, die Sache fest ins Auge zu fassen, tausend liebliche Wellenlinien (in Haltung und Bewegung ebenso wie in den Formen) – das sind die Ingredienzien der Schönheit und der Anmut. Das alles ist aber das genaue Gegenteil von der geraden Linie der Billigkeit und Gerechtigkeit, welche die Bahn des Mannes bezeichnet.

Die Frau steht immer über oder unter der Gerechtigkeit. Liebe, Heiligkeit, Heroismus, Großmut, Ehre – sie fühlt das alles vortrefflich – aber das Recht bei weitem nicht so scharf.

Und doch ist das Recht, die Gerechtigkeit das oberste Prinzip des modernen Lebens. Ein höheres, umfassenderes Prinzip, als die Liebe; denn die unparteiische, wohlwollende Gerechtigkeit (wie sie es sein muß, um ihr Wesen zu erschöpfen) hat alle Wirkungen der Liebe und ist die höhere Liebe, denn sie hat das Individuum zum Objekt und umfaßt doch zugleich das Gemeinwesen.

Wenn die Frau hie und da in den alten Zeiten sich bis zu dieser Höhe erhob, so geschah das durch einen Aufschwung, den man dem Geschlecht als solchem nicht zumuten darf. Wie es ihre große Mission auf Erden ist, das Leben im Individuum zu Fleisch und Blut werden zu lassen, so ist ihr das Individuum alles, die Masse nichts. Die Nächstenliebe der Frau ist das Almosen, das sie dem reicht, der sie eben darum anspricht, das Brot, das sie dem Hungernden giebt, der eben ihr Mitleid erregt. Und die Nächstenliebe des Mannes ist das Gesetz, welches allen die freie Entfaltung ihrer Fähigkeiten sichert, sie frei und stark und fähig macht, selber für ihren Unterhalt zu sorgen und würdig zu leben.

*

Betrachten wir das etwas näher; beobachten wir, wie langsam sie in den modernen Geist eindringt.

Welches Herz ist liebevoller, als das Herz einer Frau? Ihre Güte umfaßt die ganze Natur. Alles, was leidet, was schwach ist, liebt sie, beschützt sie. Wie sanft sie ist gegen ihre Dienstboten! Sie befiehlt sogar nur (und dies ist ein neuer Zug, der sich früher nicht finden dürfte), indem sie motiviert, erklärt, mit einer rührenden Rücksicht, die ich das Schamgefühl der Gleichheit nennen mochte. Aber die ihr wirklich gleich sind, die nicht beschützt sein wollen, die nichts fordern, als daß man eben gerecht gegen sie ist, sind ihr weniger angenehm. Ihre Zartheit (nicht die aristokratische, sondern die Zartheit der feinen Frau) leidet durch ihre rauhe Berührung. Das geheiligte Wort der Neuzeit, Brüderlichkeit, buchstabiert sie, aber sie liest es noch nicht.

Manchmal scheint sie erhaben über die Tugenden der Neuzeit. Sie ist mehr als gerecht, ist ritterlich und über Gebühr edelmütig. Aber der übertriebene Edelmut zerstört die Gerechtigkeit selbst.

*

Ihr Gatte, der ihr sonst alles sagt, ist heute Nacht sehr unruhig – schlaflos, ohne ihr seine Aufregung zu erklären. Es giebt in unserm Leben voll Kampf harte und peinliche Dinge, mit deren trauriger Bekanntschaft man so gern die Frauen verschont. Sie sind ganz Sanftmut, Liebe, Verzeihung; von der Liebe des Guten kann man zu ihnen sprechen, aber wie von dem Haß des Bösen? von den Fällen, wo Gerechtigkeit und Ehre uns bis an die Zähne bewaffnet zu sein gebieten? von dem heiligen Zorn des Gerechten? Ihnen davon sprechen, hieße ihnen das Herz schwer machen.

Aber sein Schweigen beunruhigt sie. Geduldig harrt und hofft und wartet sie die ganze Nacht. Endlich am Morgen nimmt sie bescheiden seine Hand und fragt ihn, ob er krank sei? Nun spricht er, verbirgt ihr nicht länger die Kämpfe, die er durchgemacht hat, den moralischen Zweikampf, der ihn heute ruft. Er ist heute in die Notwendigkeit versetzt, seinen Nebenbuhler zu stürzen, oder selber zu fallen. Er hat eine tödliche Waffe gegen den Feind in Bereitschaft; ein Geheimnis, dessen Enthüllung den Kampf zwischen ihnen entscheiden muß. Er kann ihn verderben und muß es. Denn jener ist der Mann einer Partei, der Feind des Gemeinwohls ...

»Ja, aber er ist dein Feind ...« – »Das hat auch mich zurückgehalten«, erwidert er. »Und doch, was thun? Wenn ich mich opfre, so verrate ich das Gesetz, die Gerechtigkeit ...«

»Ach, mein Freund! wie bedaure ich es, nicht mehr jung und schön, nicht mehr so zu sein, wie an jenem Morgen, als du mir unser Kind schenktest! ... Meine Liebe ist noch dieselbe; ach! warum ist meine Macht es nicht auch! .. Ich schwöre dir, ich würde dich so festhalten, daß es dir nimmer möglich wäre, mich heute zu verlassen ...«

»Was willst du, daß ich thun soll? In einer Stunde ist alles entschieden. Durch meine Abwesenheit verliere ich alles, verderbe ich mich selbst; verschaffe ich der Ungerechtigkeit den Sieg ...«

»Aber du rettest deinen Feind ... Sei groß ... und sei gut ... sei es für mich! Bringe mir dies schöne Opfer. Es würde mich wieder an meine Jugend glauben machen.«

Er ist gerührt. Sie ist so demütig, so reizend in ihrer Bescheidenheit, ihrem Edelmut! Sie, die nie etwas für sich erbitten konnte, sie, die ganz Entsagung, ganz Opferfreudigkeit ist, sie bittet zum erstenmal ... Wie hart ist er, ihr nicht zu willfahren, ihr nicht beweisen zu können, wie sehr man sie ehrt und liebt! Sie weint; scheint tief gekränkt ... Wie stark ist die Verführung! Und doch: die Gerechtigkeit ruft, das Vaterland, die Vernunft!

Liebe, Liebe! Du weißt noch nicht, was es heißt: gerecht sein! ...


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