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XIV.

Nach dem Dejeuner machte ich einen Rundgang durch den Club. Ich verblödete mich durch das Lesen von Zeitungen, als plötzlich ein Herr geräuschvoll ins Zimmer trat und als er mich bemerkt hatte, einen Freudenschrei ausstieß.

– Parsifal! rief ich, mein alter Parsifal!

– Nun denn, muß man hierher kommen, um Dir zu begegnen?

Dann küßte er mich zärtlich ab. Parsifal ist im Grunde genommen kein schlechter Kerl!

– Also, so wachst Du über mich? fragte er mich, als seine überschwänglichen Freundschaftsergüsse erledigt waren. Hör' mal, seit wie lange eigentlich? Seit wie lange haben wir uns nicht wiedergesehen?

Das entspricht der Wahrheit. Es mochten wohl fünf Jahre her sein, daß ich ihn nicht zu Gesicht bekommen hatte.

– Weißt Du, es ist gar nicht schön von Dir, altes Haus ... fügte er noch hinzu, indem er mich fröhlich in die Seiten stieß. Auf Ehre, das ist eine Schande!

Parsifal war nicht allzu sehr verändert, nicht allzu sehr gealtert.

– Was thust Du jetzt? fragte ich ihn.

– Allerlei, antwortete er. Alles, was ich nur unter die Hände bekommen kann. Ich beschäftige mich mit dem Reklamewesen in den Zeitungen. Ich bin Champagnerreisender. Ich bekleide die Stellung des Sekretärs einer Radfahrerschule, und Poidatz, der bekannte Impresario, hat mich an den Geschäften seiner Volkstheater betheiligt ... Das Alles ist nicht gerade märchenhaft. Das Beste und Sicherste von allen meinen Obliegenheiten ist ... ja wahrhaftig, Dingsda, unser alter Freund hat mir vergangenen Monat ... eine Stellung als Grabmalinspektor auf den Kirchhöfen des Seine-Departements verschafft ... Ja, mein Lieber ... ich bin es, der jetzt das »Abzutragen!« auf die Gräber schreibt! ... Kannst Du es mir verdenken? 6000 Francs jährlich ... das ist doch nicht zu verachten.

– So hast Du denn endgiltig auf die politische Carrière verzichtet?

– Es mußte wohl sein. Ich hatte mir eben die Finger verbrannt ... schauderhaft verbrannt ... siehst Du! Das ärgert mich am allermeisten ... und dennoch ...

Mit einer komischen Geste deutete er auf seine Taschen:

– Ja, da hatte ich etwas! ...

Dann seufzte er lang und schmerzlich auf:

– Ich habe eben kein Glück!

– Wie geht es Deiner Frau? erkundigte ich mich nach einer kurzen Pause.

Parsifal äußerte mit einer Begleitbewegung, durch die er einen unliebsamen Gegenstand in weite, weite Ferne zu schleudern schien:

– Meine Frau? ... die ist glücklich verschieden, altes Haus ... Es ist schon zwei Jahre her. Ein Lungenschlag hat sie weggerafft ... leider zu spät, denn ihr verdanke ich all' mein Unglück ... Sie hat nie etwas von der Politik verstanden.

Diese Erinnerungen hatten ihn zweifellos trübe gestimmt. Er nahm neben mir Platz, griff nach einer Zeitung und verstummte ...

Ich dachte an die Vergangenheit, an Parsifal's Vergangenheit und ich sah ihn wieder, diesen braven Parsifal, als er, wie ich mich noch deutlich erinnere, an einem nebeligen Morgen, bleich, entstellt, in meine Wohnung gestürzt war und mich beschwor, ihn zu retten ... Er war damals Abgeordneter des Nordnordwest-Departements. Ich empfing ihn wie gewöhnlich in freundschaftlichster Weise und fragte mit wohlwollendem, leichtem Lächeln, da ich ja schon lange an sein Thun und Lassen gewöhnt war:

– Also wieder eine Schwindelei? Habe ich Recht?

– Selbstverständlich, antwortete Parsifal. Welch anderer Grund würde mich denn so früh zu Dir führen?

– Nun denn, sprich, erleichtere Dein Herz.

Ja, so sagte ich, denn ich duze mich mit ihm. Ich duze mich mit ihm, obwohl er im Grunde genommen eigentlich gar nicht mein Freund ist. Oh nein, denn er ist etwas Ärgeres. Er ist mir von Gambetta unter Umständen vermacht worden, die ich Ihnen erzählen werde, dann werden Sie begreifen, daß ein Legat Gambetta's geheiligt für mich ist, Himmel-Donnerwetter!

Als Gambetta den Tod herannahen fühlte, ließ er mich an sein Sterbebett rufen und erklärte mir mit einer Stimme, die bereits von jenseits der Coulissen zu kommen schien, mit der verhallenden Stimme des abtretenden Schauspielers:

– Ich vermache Dir Parsifal ... Parsifal ist kein Köter, wie Du annehmen könntest. Er ist ein eifriges Mitglied meiner Bande ... Er repräsentirt meine Politik im Nordnordwest-Departement ... Ich sage Dir das, weil Du nicht vollkommen auf dem Laufenden meiner kleinen Geschäfte bist ... he, he! ... Der berühmte Staatsmann machte keine Umschweife. Wozu auch? Man fühlte ja, daß sein Erlöschen nahe sei. Nach einer einige Sekunden währenden Pause begann er wieder mit etwas weniger südfranzösisch klingender Stimme, denn der Tod gleicht alle Accente aus:

– Ich vermache Dir Parsifal, obwohl er ein infamer Schuft ist, wie es leider mehrere meiner Freunde waren! Dennoch ist er im Grunde genommen kein schlechter Kerl! Wache über ihn; damit würdest Du mir einen Gefallen thun. Übrigens hat er eine Frau, die ... eine Frau, der ...

Und der arme große Mann starb, ohne seinen Satz zu vollenden.

Was hatte er nur damit sagen wollen? Meiner Treu, ich weiß es heute noch nicht, umso weniger, als ich, nachdem ich meine Erbschaft angetreten hatte, ohne Zeitverlust inne wurde, daß, wenn Parsifal in Wirklichkeit ein infamer Schuft war, seine häßliche, zanksüchtige, tyrannische Gattin durchaus nicht zu jenen Frauen gehörte, von denen ein sterbender Liebhaber noch flüstern kann, daß sie Frauen sind, die ... daß sie Frauen sind, denen ... Nein, wahrhaftig, sie besaß nichts, gar nichts, was solche unvollendete Sätze in den Phantasien eines Lebemannes an Tollheiten, pikanten Intimitäten auftauchen lassen könnte, eines Mannes, der ... eines Mannes, den ... nein, wahrhaftig nicht!

Gemäß den Absichten des berühmten Erblassers wachte ich über Parsifal und war fünfmal, dank meiner – ich bekenne es ohne Umschweife – fleischlichen Beziehungen, die ich mit der Wirthschafterin eines alten Richters unterhielt, welcher ein sehr ausschweifendes Leben führte, so glücklich, Parsifal den Klauen der Justiz im letzten Augenblick entreißen zu können, da der brave Gesetzgeber des Nordnordwest-Departements bereits zu ebenso unterschiedlichen wie schimpflichen Strafen, ja zu noch mehr schimpflichen als unterschiedlichen verurtheilt werden sollte. Es handelte sich nämlich stets um die Kleinigkeit von zehn Jahren Zuchthaus. Eines Tages gelang es mir sogar, ihn vor lebenslänglichem Gefängniß zu retten. Ach, das ging nicht ganz ohne Mühe vor sich ... Aber die Geschicklichkeit meiner Machinationen, die sichtlich von dem unsichtbaren Geiste des großen Todten eingegeben waren, brachten es zu Stande, daß die politische Lage Parsifal's durch diese Seitensprünge nicht nur nicht erschüttert wurde, sondern von Jahr zu Jahr wuchs, bis Parsifal meiner Wachsamkeit entschlüpfen zu können glaubte, in Freiheit und unter eigener Verantwortung gaunerte, wobei er natürlich der allgemeinen Verachtung zur Beute fiel ...

Nach dieser Einschaltung will ich mit Parsifal's eigenen Worten fortfahren, der Folgendes zu mir sagte:

– Na also, nun beginnt dieser Blödsinn von neuem. Diesmal will Arton wirklich sprechen, er spricht viel zu viel ... er spricht sogar von mir ... es ist überall nur noch von den 47.000 Francs die Rede, die dieser Teufelskerl mir in zwei aufeinanderfolgenden gleichmäßigen Zahlungen eingehändigt hat.

– Ja, davon ist in der That die Rede ...

– Mit welch ruhiger Kühle Du diese Infamie aufnimmst ... Diese Phantasien, diese längst begrabenen Klatschereien? Aber weißt Du denn nicht, was für eine heillose Verwirrung diese Geschichten in meiner Ehe angerichtet haben?

– In Deiner Ehe, entgegnete ich mit naivem Erstaunen ... Das hat doch keinerlei Bedeutung ... viel bemerkenswerther erscheint mir die Frage, was für eine Stellung Dir das im Lande bereiten wird. Ich sehe ärgerliche Verwicklungen voraus ...

– Ach, was, im Lande! ... Ich pfeife auf das Land ... erklärte Parsifal im Tone großer Verachtung ... anders verhält es sich mit meiner Frau. Meine Frau ist doch ein Etwas, welches berücksichtigt werden muß, kein Abstraktum, wie das Land ... Und die Vorwürfe und die Auftritte und die Geschichten? ... Ach, damit kann ich nicht zu Ende kommen! ...

– Deine Frau, warf ich ein ... das kann doch Dein Ernst nicht sein. Was kann sie denn eigentlich sagen? Wie kann sie Dir eine Erpressung zum Vorwurf machen, von der sie selber durch reichere Toiletten, durch eine bessere Wohnungseinrichtung, durch das angenehmere Leben profitirte, da in einem Hausstand, wie dem ihren, das unerwartete Vom-Himmel-Fallen von 47.000 Francs doch etwas vorstellt? ... Deine Frau ist also gewissermaßen Deine Mitschuldige ...

– Du befindest Dich gewaltig auf dem Holzweg, alter Junge, Du sprichst wie ein Nationalökonom. Meine Frau hat von gar nichts profitirt. Ja, sage mal, offen gestanden, glaubst Du, daß ich tölpelhaft genug gewesen wäre, meiner Frau ... na, höre, überlege doch nur, 47.000 Francs auszufolgen? ... Hast Du sie denn niemals angesehen? ... Ich habe selbstverständlich keinen rothen Heller meiner Frau gegeben ... ich habe dieses Geld mit Weiblein verzehrt, die ein wenig netter als das meine waren. Und gerade das macht sie mir zum Vorwurf ... und gerade deshalb wüthet sie.

– Hast Du ihr denn eingestanden, daß Du diese 47.000 Francs eingestrichen hast?

– Alle Wetter ja! Es sind nämlich erdrückende Beweismittel vorhanden ... Quittungen von meiner Hand. Es ist ebenso gut, jetzt Alles einzugestehen, als später.

– Unsinn! Woher nimmst Du denn die Gewißheit, daß man auf Arton's Geständnisse irgendwelchen Werth legen und Verfolgungen einleiten wird? Diese alte, ad acta gelegte Geschichte interessirt nicht mehr, sie regt keinen Menschen mehr auf ... Wer beweist Dir denn, daß Arton wirklich Geständnisse gemacht hat? Kurz, wie hast Du, der Du doch sonst ein geriebener Kerl bist, und dem es auf eine Lüge mehr oder weniger nicht ankommt ... wie, zum Teufel, hast Du denn dies eingestehen können? Man muß immer leugnen, selbst angesichts des Augenscheins, angesichts des klaren Beweises ... Das läßt, wie erdrückend auch die Beweismittel sein mögen, immer eine gewisse Unsicherheit im Geiste der Leute zurück. Ach, Parsifal! ... Parsifal! ... Ich erkenne Dich gar nicht wieder ...

– Du hast Recht ... aber was sollte ich thun? Vor einem wüthenden Weibe verliert man den Kopf ... Himmel Sakrament! ... Parlamenten, Gerichtshöfen gegenüber wäre ich bei kaltem Blute geblieben ... Vor dem Lande, vor der Justiz habe ich mich schon aus schwierigeren Klemmen zu ziehen gewußt ... aber vor einem Weibe, vor meinem Weibe? ... begreifst Du denn nicht?

– Nun und?

– Nun und, nach meinem Geständnisse beging ich eine Dummheit, wie Du wohl einsehen wirst? Ich begann mit der Erklärung, daß ich diese Summe für die Armen, für verschiedene Streiks und für Floquet hergegeben hätte ... Das zog nicht, umso weniger, als Floquet in jenem Augenblicke noch nicht gestorben war, und er selber ... ach, der arme Floquet! ... Schließlich erklärte ich, die Schamröthe wäre mir ins Gesicht gestiegen, wenn ich in mein ernstes, hochgeachtetes Hauswesen das unreine Geld der Schande, meines verkauften Gewissens, meiner Entehrung gebracht hätte ... Alles eher als das! ... Ach, Du hättest nur das Gesicht sehen sollen, das meine Gattin bei diesen Worten machte ... Nein, wahrhaftig, die Weiber pfeifen auf diese erhabenen Gefühle ... Es war in der That entsetzlich, altes Haus ... Das meinige war vor Wuth vollkommen außer Athem ... Sie heulte: »Schurke, Bandit! ... Du streichst 47.000 Francs ein ... Du verkaufter Lump ... Du Vaterlandsverräther ... Du Spion ... und ich, ich habe keinen Centime davon bekommen ... nein, keinen Centime! 47.000 Francs ... und ich muß Alles entbehren! ... Und ich muß an meinen Hüten, Kleidern, an der Beleuchtung im Hause und am Fleisch sparen! ... Und ich schlug alle Einladungen aus! ... Ich bin nicht ein einziges Mal im Elysée gewesen, auch nicht bei der Galavorstellung in der Oper, kurz nirgends ... Ja, ich blieb hier inmitten meiner verblichenen Möbel, wie ein krankes Hausthier in seinem Winkel. Nein, dieser Schurke! ... dieser Schurke! ... dieser niederträchtige Schurke! ... Wenn ich bedenke, daß ich mir seit fünf Jahren einen Salon im englischen Style wünschte ... und daß der elende Dieb dies wußte! ... Und daß er nicht das Herz hatte, mir einen solchen von den 47.000 Francs, welche er eingestrichen, zu kaufen! ... So steht also die Sache? ... Nun gut! Dann also ins Gefängniß, Du Gauner! ... Ins Zuchthaus, Du Sträfling! ... Ja, ja, ins Zuchthaus, ins Zuchthaus, hörst Du? Ich werde Dich schon noch ins Zuchthaus bringen, ich selber!« – Kurz, Du kannst Dir das ja vorstellen ... Die Nippsachen, das Tafelgeschirr, das Bild von Felix Faure, die Büste der Republik, die Photographie des Zaren, sowie diejenigen Méline's und Madame Adam's, Alles wurde mir an den Kopf geschleudert ... im Hause sieht es aus, als ob geplündert worden wäre. Glücklicherweise waren keine Werthsachen darunter ...

Dann machte er einen Ballettsprung und fügte mit komisch-vergnügter Stimme hinzu:

– Jedenfalls kostet der ganze Plunder nicht 47.000 Francs, he, he!

Parsifal's Verschrobenheit ging so weit, daß er freundlich und herzlich lächelte, als er mir dieses Drama erzählte, denn er ist im Grunde genommen kein schlechter Kerl. Gambetta hatte ihn deutlich durchschaut.

– Das ist ja noch nicht Alles, fuhr er fort, indem er sich in die Brust warf und in meinen Augen einen bewundernden Ausdruck zu finden hoffte ... Diese 47.000 Francs werden die Justiz und gleichzeitig natürlich auch meine Frau auf die Spur anderer Bestechungen führen, mit denen ich mein Gewissen nicht zu belasten scheute ... Und wenn meine Frau erfahren wird, daß ich während fünfzehn Jahre politischer Thätigkeit 294.000 Francs eingestrichen habe ... daß Italien, die Türkei, Rußland, England, Belgien, Rumänien, das Fürstenthum Monaco u. s. w., u. s. w. mir großartige Monatsgehälter zahlten ... und von all diesem Gelde kein Centime, nein, auf Ehrenwort, nicht einmal ein Veilchenbouquet für zwei Sous, meiner Frau zugute gekommen ist ... glaubst Du nicht, daß das spassig werden kann? Und weshalb hätte ich auch nur einen Centime in die Haushaltung gebracht? In eins Haushaltung, in der ich so wenig lebe, wo ich kaum wöchentlich zweimal speise, wo ich nicht einmal meine Freunde empfange? Das wäre doch nicht richtig und am Platze gewesen?

– Und was willst Du jetzt anfangen? Willst Du Dich scheiden lassen?

– Ich kann ja leider nicht, denn sie will nichts davon wissen ... und dadurch wird meine Lage noch verwickelter; meine Frau ist wüthend, sie verabscheut mich ... ja ... doch im Grunde genommen bewundert sie mich ... sie hat mich nie so sehr bewundert, wie eben jetzt. Dabei sagt sie sich: »Da er soviel Geld eingestrichen hat, wird er auch noch weitere Einkünfte haben. Jetzt muß ich den Faßspund zuhalten und verhindern, daß er anderweitig auslaufe, als im eigenen Hause.« Ihr großer Zorn, ihre Drohungen, das ist doch nur alles Staffage, ganz einfach ... sobald sie ihre kleine Pose zu Ende gespielt hat, wird sie die Dekorationen einpacken, um mit dem Teller absammeln zu gehen.

– Na also, dann ist doch noch nichts verloren ...

– Im Gegentheil, Alles ist verloren ... mein Leben ist verpfuscht, denn um 47.000 Francs einzustreichen, die ich künftig mit meinem Weibe theilen müßte ... Ach, wahrhaftig nein! ... Lieber lasse ich mich überhaupt nicht mehr bestechen ...

Ich wußte beim besten Willen nicht, was ich ihm rathen sollte, sein Fall erschien mir unlösbar.

– Nimm doch das Dejeuner mit mir zusammen ein, schlug ich vor, vielleicht kommt uns beim Dessert ein guter Gedanke.

Und mit inspirirten Fingern deutete ich auf Gambetta's Bild an der Wand, das uns zuzulächeln schien und dessen schönes Gesicht, das ... das schöne Gesicht, dem ...

Parsifal hatte neben mir seine Zeitung auf die Kniee sinken lassen und erklärte in einer Art von langgezogenem Seufzer, ganz so, als ob er zu gleicher Zeit, wie ich, sich alle Erinnerungen ins Gedächtniß zurückgerufen hätte:

– Ach ja! ... trotz alledem ... waren das doch schöne Zeiten.

Nein wahrhaftig, Parsifal ist im Grunde genommen kein schlechter Kerl!

Wir gingen zusammen aus und promenirten eine Viertelstunde lang in den Gärten des Kasinos. Plötzlich bemerkte ich in einer Allee einen Greis, der in animirter Weise mit einem Piccolo des Restaurants sprach. Ich erkannte Joseph Lagoffin und begann zu zittern, als ob ich plötzlich von einem Fieberschauer geschüttelt würde.

– Gehen wir fort ... sagte ich zu Parsifal ... gehen wir sogleich fort.

– Was hast Du denn nur? fragte dieser, der natürlich von meinem Entsetzen nichts begriff ... Ist es vielleicht wieder Arton?

– Gehen wir unserer Wege ...

Ich zog ihn lebhaft in eine andere Allee, denn ich wußte, daß an deren anderem Ende eine Thür auf den Feldweg hinausführte. Sehr beunruhigt drang Parsifal in mich, um die Ursache meiner Verwirrung zu erfahren ... Ich weigerte mich zunächst, ihm Auskunft zu geben ... Sie werden das begreifen, theure Leserinnen, wenn Sie erfahren, was es mit Lagoffin für eine Bewandtniß hatte ... Hören Sie:

– Da ich bedeutende Verluste in unglücklicherweise minder sicheren, doch ebenso ehrenwerthen Unternehmungen wie die Panama-Syndikate und die Südbahnen erfahren hatte, sah ich mich eines Tages gezwungen, wie man so zu sagen pflegt: »Alles zu Gelde zu machen«. Ich schränkte meinen Haushalt ein und behielt von demselben nur das dringendst Nothwendige, womit ich nämlich einen Kammerdiener und eine Köchin bezeichnen will – ohne daß mir, nebenbei bemerkt, eine Ersparniß deutlich erkennbar wurde, da diese beiden braven Dienstboten mich zu zweien ebenso heftig zu bestehlen begannen, wie die fünf, welche ich verabschiedet hatte. Ich verkaufte zur selben Zeit Pferde und Wagen, meine Bildersammlung und die persischen Fayencen, leider auch einen Theil meines Weinkellers und meine drei Treibhäuser, die mit seltenen, prachtvollen Pflanzen gefüllt waren. Endlich entschloß ich mich, einen kleinen Pavillon, einen entzückenden kleinen Pavillon, der unabhängig von meinem Besitz war, zu vermiethen. Einen kleinen, reizenden Pavillon, den ich eigens für diskrete Besuche eingerichtet hatte, die mir sehr theuer zu stehen kamen und die ich jetzt ebenfalls entbehren mußte. Dieser Pavillon konnte durch seine gesonderte Lage im Park und seine elegante Möblirung wohl einem Sommerfrischler männlichen oder weiblichen Geschlechts behagen, der drei Monate lang hier sein Cölibat zu bevölkern oder seinen Ehebruch zu verbergen gedachte.

Durch in diesem Sinne abgefaßte Annoncen herbeigezogen, stellten sich zahlreiche Personen ein, die meiner Treu seltsam genug und meist auffallend häßlich waren, denen ich die Vorzüge und die Sicherheit dieses Asyls anpries, das äußerlich mit wildem Wein tapezirt war, – im Inneren sah es ganz anders aus – ja gewiß – denn da wurde Weinlaub nicht gerade im Überfluß verwendet. Aber diese Personen zeigten sich so anspruchsvoll in Bezug auf Adaptirungen, sie wollten so sehr Alles zu unterst und zu oberst kehren, daß ich mich mit ihnen nicht einigen konnte.

Und schon verzweifelte ich daran, jemals diesen Pavillon zu vermiethen, denn die Saison war schon stark vorgeschritten, als eines Nachmittags ein kleines Männchen, welches glatt rasirt, kerzengerade, sehr höflich und sehr bejahrt aussah, sich mit dem Hute in der Hand einstellte, um den Pavillon zu besichtigen. Dieser Mann trug Kleidungsstücke von altmodischem Schnitt, die keine Falten machten, außerdem eine lange Uhrkette, die mit seltsamen Breloques beladen war und eine grünlich-blonde Perrücke, deren altmodischer Bau mir die ärgsten Tage unserer orleanistischen Geschichte ins Gedächtniß zurückrief.

Dieses Männchen fand Alles bewunderungswürdig ... ja bewunderungswürdig! ... Es hörte gar nicht auf, sich in schmeichelhaften Ausdrücken zu begeistern, so daß ich wirklich nicht wußte, wie ich ihm antworten sollte. Im Toilettezimmer äußerte er angesichts der pikanten Bilder, die mit den Spiegeln abwechselnd, die Wände schmückten, während seine Perrücke zitterte:

– Aha! ... Aha! ...

– Diese Bilder rühren von Fragonard her, erklärte ich ihm, da ich nicht wußte, ob dieses »Aha! Aha« einen Tadel oder einen Ausdruck der Befriedigung enthielt. Aber ich wurde rasch beruhigt.

– Aha! Aha! wiederholte er ... von Fragonard? Wahrhaftig? ... Bewunderungswürdig!

Und ich sah, wie seine kleinen Augen unter dem Einfluß eines unverkennbaren Gefühls seltsam zwinkerten.

Nach einer kurzen Pause, die er mit einer noch genaueren Prüfung der Pannele ausfüllte, bemerkte er:

– Na also, einverstanden ... ich nehme diesen bewunderungswürdigen Pavillon.

– Der dabei auch so diskret ist ... fügte ich in vertraulich-pikantem Tone hinzu, während ich durch das offene Fenster mit beredter Geste auf den hohen, dichten, und undurchdringlichen Vorhang von Grün, welcher den Pavillon von allen Seiten umgab, wies.

– Und so diskret ... ausgezeichnet!

Angesichts des achtungsvollen und höchstwahrscheinlich auch etwas verrückten Enthusiasmus dieses so leicht zu befriedigenden Miethers glaubte ich, ohne irgend einem Einwand seinerseits zu begegnen, unter verschiedenen, genialen Vorwänden den bereits außergewöhnlichen Preis, den ich in den Annoncen angegeben hatte, noch um einige hundert Francs erhöhen zu können. Aber das ist nur ein unbedeutender Nebenumstand und wenn ich davon überhaupt spreche, so geschieht das einzig und allein, um der vollendeten Liebenswürdigkeit dieses Männchens Genüge zu thun, der außerdem auch noch über die Art und Weise, wie ich mit ihm verkehrte, entzückt war.

Wir kehrten in das Haus zurück, wo ich einen kurzen Miethskontrakt abfaßte, bei welcher Gelegenheit ich genöthigt war, ihn nach seinem Namen, Vornamen und Stand zu befragen. So erfuhr ich denn, daß er Joseph Lagoffin hieß und früher Notar in Montrouge gewesen war.

Darauf bat ich ihn, zur deutlichen Erklärung seiner Verhältnisse noch hinzuzufügen, ob er verheirathet, Witwer oder Junggeselle sei. Ohne mir zu antworten, legte er vor mich ein Päckchen Banknoten auf den Tisch, was mich nöthigte, ohne weitere Frage eine Quittung über sein Geld auszustellen. Das Eine ist klar, dachte ich, er ist verheirathet, nur will er es nicht eingestehen, natürlich nur ... Fragonard's halber.

Dann sah ich ihn genauer an. Ich betrachtete seine Augen, die vielleicht einen sanften Ausdruck getragen hätten, wenn sie überhaupt einen Ausdruck besessen hätten. Aber sie trugen keinerlei Ausdruck, sie waren in diesem Augenblick dermaßen erstorben, daß die Stirn- und Wangenhaut, die weich, faltig und grau aussah, bei langsamem Feuer in kochendem Wasser zubereitet zu sein schien. Nachdem Lagoffin aus Höflichkeit ein Glas Limonade angenommen hatte, nahm er unter starken Danksagungen, Grüßen und Verbeugungen Abschied, indem er mich noch in Kenntniß setzte, daß er – wenn mir dies nichts ausmachte – am nächsten Tage wiederkommen und sich in dem Pavillon einrichten würde, von dem er sogleich einen Schlüssel mitnahm.

Doch am nächsten Tage kam er nicht; am dritten ebenfalls nicht; acht Tage, vierzehn Tage vergingen, ohne daß ich wieder etwas von ihm gehört hätte. Dies erschien mir sonderbar und schließlich gut erklärlich. Vielleicht war er krank geworden. Aber dann hätte er mir doch ein Wort geschrieben oder schreiben lassen, wofür mir seine außerordentliche Höflichkeit zu bürgen schien. Vielleicht hatte sich seine Gefährtin, die er in den kleinen Pavillon mitbringen wollte, im letzten Augenblick geweigert, diesen Schritt zu thun? Das schien mir unanfechtbar, denn ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß Joseph Lagoffin diesen wundervollen diskreten Pavillon nur wegen einer Dame gemiethet hatte. Seine bei dem wundervollen Anblick der Fragonard's wollüstig zwinkernden Augen und die unruhigen Bewegungen seiner Perrücke waren für mich ein deutlicher Beweis seiner wollüstigen Absichten. Und ich war der Ansicht, daß ich mich nicht übermäßig darum zu kümmern brauchte, ob er kam oder nicht kam, da ich ja doch bezahlt worden war, freigebigst bezahlt, besser, als ich in meinen kühnsten Träumen erhoffte.

Eines Morgens wollte ich die Zimmer des kleinen Pavillons, der seit dem Besuche geschlossen geblieben war, lüften. Ich ging durch das Vorzimmer, das Speisezimmer, den Salon, und auf der Schwelle des Schlafzimmers angelangt, stieß ich einen Schrei aus und fuhr entsetzt zurück.

Auf den Polstern lag ein nackter Leib, die Leiche eines kleinen Mädchens ausgestreckt. Entsetzlich starr, mit verkrümmten Gliedmaßen, welche denen eines durch Folterqualen getödteten Kindes glichen.

Meine erste Regung war, um Hilfe zu schreien, meine Diener herbeizurufen, alle Welt an Ort und Stelle zu bringen, als ich plötzlich, nachdem der erste Eindruck des Entsetzens vorbei war, überlegte, daß es besser sei, zunächst selber, allein, ohne Zeugen, die Dinge zu prüfen. Ich gebrauchte sogar die Vorsicht, die Eingangsthür des Pavillons zu verschließen.

Es war in der That ein kleines Mädchen von zwölf Jahren, ein kleines Mädchen mit den schmächtigen Gliedern eines Knaben. Sie trug am Halse Spuren würgender Finger; auf der Brust, am Bauche befanden sich feine, lange, tiefe Risse, die mit den Fingernägeln, oder vielmehr mit spitzen, schneidenden Krallen hervorgebracht worden waren. Ihr aufgedunsenes Gesicht war bereits ganz schwarz geworden. Auf einem Stuhl daneben lagen armselige Kleider: ein kurzer, schmutziger, zerschlissener Rock, zerfetzte Unterröcke, und auf der Marmorplatte des Waschtisches bemerkte ich in einer Schüssel einen Rest von Pastete, zwei grüne Äpfel, von denen der eine wie von den Zähnchen einer Maus beknuspert war und eine leere Flasche Champagner. An den übrigen Gegenständen, die ich nacheinander untersuchte, schien nichts verändert zu sein. Jedes Möbelstück, jeder Gegenstand befand sich an seinem gewohnten Platze.

Da überlegte ich denn rasch, fieberhaft, ohne Ordnung in meine Gedanken zu bringen:

Soll ich die Polizei, das Gericht in Kenntniß setzen? ... Nein, auf keinen Fall. Die Richter würden sich zum Thatorte begeben und ich wüßte nicht, was ich ihnen sagen sollte ... Joseph Lagoffin denunziren? ... Es war doch ganz klar, daß dieser Mensch mir nicht seinen wirklichen Namen genannt hatte, ich brauchte mir gar nicht die Mühe zu nehmen und nach Montrouge zu pilgern, um zu erfahren, daß er dort thatsächlich nicht wohnte ... Was sonst also? ... Sie würden mir keinen Glauben schenken ... sie würden sich einbilden, daß das eine heuchlerische Ausflucht wäre ... sie würden nicht zugeben, daß dieser Mensch dies fürchterliche Verbrechen wenige Schritte von mir entfernt in einem seltsamen Hause, das mir gehörte, verüben konnte, ohne daß ich ihn gesehen oder gehört hätte ... das könnte man Anderen weismachen! ... So sehr dürfte man sich doch nicht über die Justiz lustig machen ... Dann würden sie mich mißtrauisch mit Hyänenblicken verhören und selbstverständlich würde ich in den Hinterhalt ihrer verwickelten, verdächtigen Fragen fallen ... sie würden mein Leben, mein ganzes Leben durchstöbern. Fragonard würde mich anklagen, Fragonard würde die Schamlosigkeit meiner Vergnügen, die gewohnte Schändlichkeit meiner Wollust verrathen ... sie würden den Namen aller jener Frauen erfahren wollen, die hierhergekommen sind; aller jener, die hierhergekommen sein konnten, aller jener, die nicht hierhergekommen sind ... und dann alle die Denunziationen entlassener Dienstboten, des Samenhändlers, bei dem ich nichts mehr kaufe, des Bäckers, den ich der Anwendung falscher Gewichte überführt habe, des Fleischers, dem ich seine vergifteten Waaren zurückschickte, und aller Jener, die sich bereit finden würden, unter dem Schutze des Richters mit dem Schmutze ihrer Rache und ihres Grolls mich zu beflecken! ... Und schließlich würden sie mich eines schönen Tages angesichts meiner Unsicherheit, unter der Verwirrung meiner Antworten, meiner Furcht vor Skandal, in denen sie ein Geständniß sehen würden, am Kragen fassen, am Kragen! ... Ach nein! ... Kein Richter, kein Gendarm, keine Polizei ... hier! ... nichts! ... nichts, nur ein wenig Erde auf diesen armseligen kleinen Leichnam, ein wenig Moos auf die Erde und Schweigen, Schweigen und wieder Schweigen über all' das ...

Ich nahm das schmutzige, zerfranzte Röckchen, die in Fetzen zerschlissenen Unterröcke und umhüllte mit denselben wie mit einem Leichentuche den Leib der kleinen Unbekannten. Dann, nachdem ich mich noch einmal überzeugt hatte, daß Alles in dem Pavillon hermetisch verschlossen sei, besonders verschlossen vor der indiskreten, gehässigen Neugierde meiner Dienstboten, ging ich fort.

Den ganzen Tag lang irrte ich um den Pavillon herum und wartete, bis die Nacht heranbrach.

An jenem Abend war Jahrmarkt im Dorfe. Ich gab meinen Dienstboten Urlaub und als ich allein, vollkommen allein war, schickte ich mich an, die Kleine im Parke zu begraben, in einem tiefen Loche am Fuße einer Buche.

Ja, ja, Schweigen, Schweigen und wieder Schweigen, und Erde, Erde und wieder Erde über all' das! ...

Zwei Monate darauf begegnete ich im Park-Monceau Lagoffin. Er besaß noch immer dieselbe schlaffe Haut, denselben erstorbenen Blick, dieselbe grünblonde Perrücke. Er stieg hinter einem kleinen Blumenmädchen her, das den Vorübergehenden Maiblumen anbot. In nächster Nähe von mir wiegte sich ein Polizist in den Hüften, wobei er eine Amme liebevoll betrachtete ... Aber der blöde Ausdruck seines Gesichts scheuchte mich zurück ... Ich sah unentwirrbare Verwicklungen voraus, Fragen: was? ... wie ist das? ...

– Meiner Treu, was gehts mich schließlich an? sagte ich mir; im Grunde ist das nicht meine Angelegenheit ...

Und rasch floh ich in einer Richtung, die den Wegen des Polizisten, Lagoffin's und des kleinen Blumenmädchens entgegengesetzt war ... des kleinen Blumenmädchens, das vielleicht ein Anderer in nächtlicher Stunde in seinem Parke, unter einer Buche begraben wird! ...

Parsifal und ich waren vor der Hotelthür angelangt, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Parsifal hatte mein Entsetzen vergessen und dachte nach ... Er dachte zweifellos an seine Vergangenheit. Dann, als er Abschied von mir nahm und mir die Hand drückte, rief er mir noch zu:

– Ja, ja, altes Haus! Das waren damals wirklich schöne Zeiten.

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