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XVIII.

Gestern habe ich zwei sonderbare Persönlichkeiten getroffen: einen bretonischen Maire, Herrn Jean Le Tregarec und einen Pariser Clubman, Herrn Arthur Lebeau.

Zunächst der Maire.

An der bretonischen Küste, zwischen Lorient und Concarneau liegt ein Dorf, Namens Le Kernac.

Platte, mit Flugsand bedeckte Dünen, wo nichts als wilder Mohn und Löwenzahn wächst, trennen Le Kernac vom Meere. Eine Bucht, wohlgeschützt vor den Südwestwinden durch hohe, rothe Felswände und mit einem Pfahlzaun und einem Quai versehen, dient den Fischerbarken und den kleineren Fahrzeugen als Unterschlupf vor den Seestürmen. Die Landschaft hinter dem Dorfe mit den engen, abschüssigen Gäßchen bietet einen trostlosen Anblick. Sumpfiges Wiesenland, wo selbst in den trockensten Sommern das ölige und schwarze Wasser stockt. Von diesen Wiesengründen steigen Dünste auf, welche die Pestilenz verbreiten. Die Menschen, die hier in unfläthigen Höhlenhäusern wohnen, durchtränkt von dem Geruch der Salzbrühe und der faulenden Fische, sind schwächlich und gebrechlich; bleiche, im Wachsthum zurückgebliebene Männer, gespensterhafte Weiber von der Farbe des Wachses. Man sieht da nur gekrümmte Rücken, wandelnde Leichen und in den weißen, welken Gesichtern unstät irrende, vom Fieber verglaste Augen. Während der Mann in seiner schlechten Barke auf dem Meere der Sardine nachjagt, bestellt die Frau das sumpfige Stück Feld. Ein unbeschwörbares Verhängniß scheint auf diesem Stück verfluchter Erde zu lasten und an düsteren, stillen Abenden ist es, als ob der Tod in der Luft vorüberzöge. Besonders im Herbste richtet das Fieber arge Verheerungen unter dieser unglückseligen Bevölkerung an. Die Geschöpfe schrumpfen ein, verlieren alle Farbe und sterben gleich den kranken Pflanzen hin, von einem bösen Wind getroffen.

In dieser Kirchhof-Atmosphäre, in dieser Natur, wo man kaum athmen konnte, gab es nur zwei gesunde Menschen: den Pfarrer und den Maire.

Der Pfarrer, oder wie man in der Bretagne sagt, der Rector, war ein dürres, sanguinisches Männchen von unaufhörlicher Thätigkeit, ein Priester, welcher die Religion und das Priesterthum sehr ernst nahm. Im Gegensatze zu der Mehrheit seiner bretonischen Kollegen, welche man, wenn man sie besucht, fast immer dabei trifft, wie sie Wein in Flaschen abziehen oder mit einer Dirne schäkern, war er nüchtern, keusch und führte das Leben eines Asketen. Und welch ein Verwalter seiner Gemeinde! Mit Hilfe des Maires, seines Freundes, und indem er Tag für Tag durch scharfsinnige Mittel die armseligen Bewohner von Le Kernac anzapfte, war es ihm gelungen, ohne Beistand des Departements oder des Staates eine schöne Kirche von weißem Stein zu bauen, mit einem behauenen Portale und einem durchbrochenen Glockenthurm, auf welchem ein riesiges goldenes Kreuz prangte. Diese reiche Kirche inmitten der unsagbar trostlosen Landschaft war ein überraschender Anblick ... Und dabei blieb der Pfarrer nicht stehen. Allsonntäglich forderte er von der Kanzel herab von dem Glaubenseifer seiner Schäfchen neue, immer drückendere Opfer. Eines Sonntags bestieg er die Kanzel mit dem Banner der heiligen Jungfrau in der Hand.

– Betrachtet mir dieses Banner! rief er mit wüthender Stimme. Ist es keine Schande? Betrachtet mir das! ... Ist das ein Banner? Die Seide ist vermodert, die Fransen abgenützt, die Troddeln verschossen ... Und der Schaft hält nicht mehr. Von Stickereien keine Spur. Und was das Bild der heiligen Jungfrau betrifft, so ist nichts mehr davon zu sehen. Du, Charles le Teur, möchtest dieses Banner nicht mehr haben, um Deine Stute damit zu verbinden, und Du, Josephine Briac, um Deine löcherigen Kessel damit zu verstopfen. Ha! es ist euch gleichgiltig, ihr elenden Fischer, daß während ihr im Überfluß schwimmt, die heilige Mutter Gottes an den Prozessionstagen und an den Kirchweihtagen in schmutzige Fetzen gehüllt und mit dem bloßen Hintern unter euch einhergehe! Das muß ein Ende nehmen. Die heilige Mutter Gottes hat eure sündige Gleichgiltigkeit satt! Sie will ein neues Banner haben, hört ihr? Ein schönes, neues Banner, das schönste, das es gibt, ein Banner, das mindestens 200 Francs kostet. Hört ihr mich wohl! Merket es euch, wenn ihr nicht wollt, daß die furchtbarsten Schläge auf euch, auf eure Felder, auf eure Barken niedergehen, wenn ihr nicht in Rochen, in Kröten, in Seehunde verwandelt werden wollt ... Du, Yves Legonnec, wirst 100 Sous geben. Was sagst Du? Nichts? Nun wohl, Du wirst Dir das von dem Suff absparen, Du Schwein. Und Du, Rose Kerlaniou gleichfalls 100 Sous und wenn ich Dich dabei erwische, wie Du von neuem Deine Schweinereien mit dem jungen Kerlaur hinter dem Heuschober treibst, so sollen es nicht 100 Sous, sondern 10 Francs sein! ... Du, Mutter Milliner, wirst das Kalb hergeben, welches Du gestern bekommen hast ... Und schau mich nicht so an, Du alte Diebin! Wenn Du Dich weigerst, wirst Du nicht blos das Kalb hergeben müssen, sondern auch die Kuh ... Jules, Pierre und Joseph Le Ker, ihr werdet mir den Ertrag eines Fischfanges bringen und es soll ein tüchtiger Fang sein ...

Und über eine Viertelstunde theilte er in solcher Weise die Beiträge aus, sei es in Geld, sei es in Naturalien: Butter, Kartoffeln, Getreide, wobei er formelle Befehle mit den abscheulichsten Beschimpfungen mengte ...

Ein alter Zollwächter, der für einen Freigeist galt und hinter einem Pfeiler verborgen sich von dem Pfarrer verschont sah, lächelte still in seinen dichten Schnurrbart und in seinen langen Zipfelbart ... Dieses Lächeln entging nicht dem Priester, welcher plötzlich mit dem ausgestreckten Arm nach dem Zollwächter zeigend, ausrief:

– Und Du, Zipfelbart, lachst zu früh. Da Du es wagst, im Hause des guten Gottes in so schamloser Weise zu lachen, wirst Du 20 Francs geben!

Und als der Zollwächter sich dagegen auflehnte, fuhr der Pfarrer schreiend fort:

– Ja, 20 Francs, Du Zipfelbart des Teufels! Und passe wohl auf das, was ich Dir sage. Wenn Du mir diese 20 Francs nicht heute Abend nach der Vesper bringst, so ist Dein Fall ganz klar. Ich werde Dich bei dem Staatsanwalte anzeigen, daß Du, es ist noch nicht eine Woche her, Strandgut gestohlen hast. Nun, jetzt lachst Du nicht mehr, alter Zipfelbart! Darauf warst Du nicht gefaßt, höllischer Zipfelbart!

Und sich bekreuzigend schloß er:

In nomine patris et filii et spiritus sancti, amen!

Dann stieg er von der Kanzel herab und ging wieder zum Altar, wobei er das Banner der heiligen Jungfrau über den Köpfen der bestürzten Gläubigen flattern ließ.

So war der Herr Rector von Le Kernac.

Die Schrulle des Herrn Maires Jean Le Tregarec war anderer Art.

Als ehemaliger Sardinenfischer in Concarneau hatte er ziemlich rasch ein schönes Vermögen erworben und sich dann nach Kernac zurückgezogen, wo er einige Felder und ein hübsches, bequemes Haus an der Küste besaß, in dem einzigen lachenden Winkel der Gegend, auf dem einzigem Fleck, wo es einige Bäume, etwas Grün, etwas Blumen, kurz einiges Leben gab. Die tödtlichen Miasmen der Malaria drangen nicht bis zu der Höhe, wo dieses glückliche Haus sich erhob, und der Seewind ließ, wenn er vorüberstrich, nichts als seine gesunde, salzige Würze und seine belebenden Gerüche hier zurück.

Der Maire war ein vortrefflicher Mann, wenigstens galt er in der Gegend für einen solchen. Er wünschte nichts sehnlicher, als sich den Mitgliedern der von ihm verwalteten Gemeinde zu widmen. Und in der That widmete er sich ihnen unendlich. Hatte der Rector eine schöne Kirche in weißem Stein erbaut, so errichtete der Maire seinerseits ein prächtiges Gemeindehaus im Style Ludwigs XIII. und ein prächtiges Schulhaus im Style Ludwigs XVI., wo niemals ein Schüler zu sehen war. Den Bau eines prächtigen Springbrunnens hatte er unterbrechen müssen, weil das Geld ausging und weil man entdeckte, daß kein Wasser kommen wolle.

Die Gemeinde seufzte unter der Last ihrer Schulden. Die Bewohner der Gemeinde wurden von den Steuern und den vielfachen Abgaben zu Boden gedrückt, aber sie blickten zu ihrem Maire wie zu einem Heiligen, wie zu einem Helden empor und das linderte einigermaßen ihre Leiden. Der Maire freute sich seiner guten Werke und lebte in Frieden mit seinem Gewissen, umgeben von der Liebe seiner Mitbürger.

Da es keine Gebäude mehr zum Glücke des Volkes zu errichten gab, dachte er als Philanthrop, der er war, an allerlei Katastrophen, bei welchen er die Güte seiner Seele offenbaren könnte.

– Wenn plötzlich eine furchtbare Epidemie im Dorfe ausbräche, ach, wie würde ich sie pflegen, wie würde ich sie reiben ... Sie sterben allerdings, aber immer Einer nach dem Anderen, mit einer monotonen Regelmäßigkeit. Wenn sie nur zu zehn, zu zwanzig, zu dreißig auf einmal sterben würden! ... Oh, wie könnte ich da meine Thätigkeit, mein organisatorisches Talent, meine Liebe für diese armen Teufel bekunden!

In solchen Augenblicken fühlte er in seiner Brust die Seele eines Jules Simon.

Eines Tages sollte sein Traum sich verwirklichen. Es war im Jahre 1885, als die Cholera in Marseille und in Toulon wüthete. Eines Morgens ging der Maire auf dem Quai von Kernac spazieren, und seine Gedanken, die über alle Meere und über alle Festländer schweiften, schwelgten unter den Cholorakranken dieser Städte. Er dachte an die überfüllten Spitäler, an die düsteren, verlassenen Straßen, an das Entsetzen der Bewohner, an die von der furchtbaren Krankheit verrenkten Körper, an den Mangel von Särgen und an die großen Feuer, die man auf den öffentlichen Plätzen anzündete. Dann sagte er sich:

– Das sind doch Glückspilze, die Maires in jenen Städten. Ich werde niemals einen solchen Glücksfall haben! Und was machen sie? Nichts. Sie verlieren die Köpfe. Das sind ja keine Organisationstalente. Hierher soll einmal eine tüchtige Epidemie kommen und man wird Wunder sehen! Man kennt mich noch nicht. Und was verlange ich? Nichts. Ich habe keinen anderen Ehrgeiz, als nützlich zu sein ... Das Kreuz der Ehrenlegion würde mir genügen.

In diesem Augenblicke lief eine Schalupe aus Quiberon im Hafen ein und ging just an der Stelle vor Anker, wo der Maire stand und solchen menschenfreundlichen Träumen nachhing. Plötzlich fuhr der Maire empor.

– Ach, mein Gott! rief er.

Am Boden der Schalupe lag ein Matrose auf einem Haufen Netze, augenscheinlich die Beute eines unsagbaren Übels. Die Beine waren gekrümmt, die Arme krampfhaft eingezogen, der ganze Körper von Konvulsionen geschüttelt; er stieß seltsame Klagen und Flüche aus. Der Maire war sehr ergriffen und befragte den Patron der Schalupe:

– Dieser Mann ist krank? Dieser Mann hat die Cholera?

– Die Cholera! erwiderte der Patron die Achseln zuckend. Ach freilich, eine seltsame Cholera. Er ist einfach besoffen, der Saukerl!

Der Matrose fuhr fort zu stöhnen. Es war, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Plötzlich erhob er sich auf den Fäusten, riß das Maul auf und erbrach reichlich.

– Schnell, schnell, Hilfe! rief der Maire. Es ist die Cholera. Ich sage Ihnen, das ist die Cholera. In Kernac ist die Cholera ausgebrochen!

Einige Männer liefen herbei, andere rannten davon, der Maire befahl:

– Phenacetin! Schwitzbäder! ... Auf dem Quai sollen große Feuer angezündet werden! ...

Und trotz der Proteste des Patrons, welcher immer wiederholte: »Ich sage Ihnen, er ist besoffen!« – sprang der Maire in die Schaluppe.

– Helfen Sie mir, helfen Sie mir! Fürchten Sie nichts! rief er.

Man hob den Matrosen auf und schaffte ihn ans Land. Unter Führung des Maires von drei Männern getragen, wurde er durch alle Straßen des Dorfes nach dem Krankenhause gebracht.

– Was gibts denn? Was gibts denn? fragten die Weiber, als sie diesen seltsamen Zug sahen.

Und der Maire erwiderte:

– Es ist nichts, geht nur heim, es ist nichts. Habt keine Furcht, es ist die Cholera.

Die Weiber erbleichten bei dieser Nachricht und liefen durch alle Gassen mit lautem Geschrei und entsetzten Mienen:

– Die Cholera! Die Cholera! Wir haben in Kernac die Cholera!

Und während alle Welt davonlief, befahl der Maire mit dröhnender Stimme:

– Man verständige den Rector, er soll die Glocken läuten lassen. In allen Gassen soll Chlorkalk aufgeschüttet werden. Habt keine Furcht; es sollen Feuer angezündet werden, wie in Marseille!

Im Krankenhause bestand der Maire darauf, den Kranken zu pflegen. Er entledigte ihn seiner Kleider und reinigte ihn vom Unflath ... Und da die barmherzigen Schwestern ein wenig bleich waren, ermuthigte er sie:

– Sie sehen ja, ich habe keine Furcht. Man soll sich nicht fürchten, es ist nichts. Ich bin ja da!

Dann streckte er den Körper auf dem Bette aus und rieb ihn lange mit einer Bürste. Auch ließ er ihm heiße Ziegel unter die Füße und auf den Bauch legen.

Der Matrose brummte, wehrte sich, warf die Ziegel weg, welche ihm die Haut verbrannten und stieß darauf gräßliche Flüche aus.

– Das sind die Krämpfe, die Krämpfe kommen wieder! schrie der Maire. Gebt ihm Rhum. Bringt eine Flasche Rhum. Es ist die höchste Zeit. Habt keine Furcht!

Und er steckte dem Patienten die Rhumflasche in den Mund. Anfänglich schien der Trunkenbold entzückt, ein Ausdruck der Freude erhellte sein Gesicht.

– Na, seht ihr, rief der Maire, er kommt schon zu sich, es geht ihm schon besser, es geht nichts über den Rhum, wir werden ihn retten. Helft mir!

Und mit einer raschen Bewegung drückte er ihm die Mündung der Flasche tief ins Maul.

Der Matrose drohte zu ersticken. Ein Krampf ging ihm durch die Gurgel. Die wieder ausgeworfene Flüssigkeit kam ihm durch Mund und Nase, mit einem seltsamen Röcheln und Pfeifen.

– So trinke doch, verdammter Kerl! rief der Maire, indem er ihm die Flasche noch mehr in den Rachen stieß.

Da verdrehte der Kranke die Augen und sank zurück. Seine Glieder streckten sich, die Bewegungen hörten auf, der Matrose war todt, durch den Rhum erstickt.

– Es war zu spät, sagte der Maire mit bekümmerter Stimme. Der arme Kerl! ...

Am Abend desselben Tages durcheilte der Trommler das Dorf, von Zeit zu Zeit blieb er stehen, schlug einen Wirbel und las folgende Proklamation:

An die Bewohner von Kernac!

Meine theueren Mitbürger!

In unseren Mauern haust die Cholera. Schon hat sie zahlreiche Opfer gefordert. Doch man möge sich beruhigen. Euer Maire wird Euch nicht verlassen. Er bleibt in Permanenz auf der Mairie, gegen alle Ereignisse gerüstet und fest entschlossen, Euch dieser Geißel zu entreißen. Zählet auf mich!

Es lebe Kernac!

Doch die Straßen waren menschenleer, die Einwohner hatten sich in ihre Höhlen eingeschlossen und waren in gräßlicher Angst vor der Cholera ...

Und nun stelle ich Ihnen Herrn Arthur Lebeau vor, den Pariser Clubman.

In einer Nacht des verflossenen Winters lag ich in tiefem Schlafe, als ich plötzlich durch ein großes Geräusch geweckt wurde; es war, als wäre im benachbarten Zimmer ein Möbelstück umgefallen. Gleichzeitig schlug die Wanduhr vier Uhr Morgens und meine Katze begann kläglich zu heulen. Ich sprang vom Bette und rasch, ohne jede Vorsicht, öffnete ich die Thüre und trat in das Nebenzimmer. Das Gemach war ganz beleuchtet und was ich zuerst sah, war ein sehr eleganter Herr in Soirée-Toilette, mit einer Rosette im Knopfloch. Und was that dieser Herr? Er hielt einen großen Reisesack von gelbem Leder in der Hand, welchen er mit allerlei schönen und werthvollen Sachen vollstopfte. Der Reisesack gehörte nicht mir, die werthvollen Gegenstände aber waren mein Eigenthum und ich schickte mich an, gegen diese Operation sehr lebhaft zu protestiren. Obwohl ich den Herrn nicht kannte, schien mir sein Gesicht doch nicht unbekannt, eines jener Gesichter, wie man deren auf den Boulevards, im Theater, in den Nachtrestaurants trifft; eines jener korrekten und wohlgepflegten Gesichter, von welchen man sich unwillkürlich sagt, daß der Mann ein Clubman sei. Es ist begreiflich, daß ich einigermaßen erstaunt war, um vier Uhr Morgens in meiner Wohnung einen befrackten Herrn zu sehen, den ich nicht eingeladen hatte. Aber diesem meinem Erstaunen war jedes andere Gefühl fremd. Ich empfand weder Schrecken, noch Zorn, wie dieser nächtliche Besuch es doch erklärt haben würde. Das elegante und wohlgelaunte Aussehen dieses Clubman hatte mich sogleich beruhigt; denn ich muß gestehen, daß ich auf Ähnliches nicht gefaßt war. Ich fürchtete vielmehr, mich einem Einbrecher gegenüber zu sehen und zu Handlungen heftiger Nothwehr gezwungen zu sein, zu Handlungen, von welchen man nicht immer weiß, wie sie endigen.

Bei meinem Anblick unterbrach sich der elegante Unbekannte in seiner Arbeit und sagte mir mit einer lächelnden, wohlwollenden Ironie:

– Entschuldigen Sie, mein Herr, daß ich Sie in so unhöflicher Weise geweckt habe. Aber es ist nicht ganz meine Schuld. Sie haben wirklich sehr empfindliche Möbel, die bei der geringsten Berührung hinfallen ...

Jetzt bemerkte ich, daß das Zimmer in größter Unordnung war: die Schubfächer waren geöffnet und leer, die Glasschränke zerbrochen. Ein kleiner Empire-Schreibtisch, in dem ich meine Werthsachen und Familienjuwelen verwahre, lag umgestürzt auf dem Teppich. Eine wahre Plünderung! Und während ich all' dies sah, fuhr der frühe Besucher mit wohlklingender Stimme fort:

– Diese modernen Möbel sind so gebrechlich! Nicht wahr? Ich glaube auch. Sie sind von der Krankheit des Jahrhunderts, von der Neurasthenie ergriffen, wie alle Welt.

Er ließ ein diskretes Kichern vernehmen, welches mich durchaus nicht verletzte und in welchem sich Alles in Allem ein Mann von bester Erziehung verrieth. Doch ich entschloß mich endlich, ihn zu unterbrechen.

– Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen? fragte ich, indem ich mit weniger unruhigen Blicken den Machenschaften dieses nächtlichen Besuchers folgte, während ein durch die offen gelassenen Thüren hervorgebrachter Luftzug in lächerlicher Weise mit den Zipfeln meines Hemdes spielte.

– Mein Gott, erwiderte der vollkommene Gentleman in offenem Tone. Mein Name würde Ihnen vielleicht in diesem Augenblicke eine allzu große Überraschung bereiten. Glauben Sie übrigens nicht, daß es besser wäre, diese Vorstellung für eine weniger eigenthümliche Gelegenheit zu verschieben? Eine Vorstellung, nach welcher ich in diesem Augenblicke, offen gesprochen, gar kein Verlangen trage. Wenn Sie gestatten, will ich bis auf weiteren Befehl das strengste Inkognito bewahren.

– Es sei, mein Herr. Aber all' dies erklärt mir noch nicht ...

– Meine Gegenwart bei Ihnen zu so ungewohnter Stunde und inmitten dieser Unordnung.

– Ja, das ist's, und ich wäre Ihnen dankbar ...

– Aber ja, gewiß, beruhigte mich der elegante Unbekannte. Ihre Neugierde ist sehr berechtigt, und ich will mich derselben nicht entziehen ... Aber Pardon! da Sie wünschen, daß wir ein wenig plaudern, wäre es vielleicht vorsichtig, wenn Sie einen Schlafrock nähmen. Ich bin bekümmert, Sie so entkleidet zu sehen, es ist hier zu kalt und man erwischt sehr rasch die verdammte Influenza.

– Sie haben Recht, entschuldigen Sie einen Augenblick.

– Nur zu, mein Herr.

Ich ging in mein Toilette-Zimmer hinüber, wo ich rasch einen Schlafrock anzog, und kam zu dem Unbekannten zurück, welcher während meiner kurzen Abwesenheit den Versuch gemacht hatte, wieder ein wenig Ordnung in dem Zimmer zu machen, in welches er eingedrungen war.

– Lassen Sie gut sein, mein Herr, mein Kammerdiener wird morgen all' das wieder in Ordnung bringen.

Ich bot ihm einen Sessel an, nahm selbst einen anderen und nachdem ich eine Zigarre angezündet, sagte ich ihm in ermuthigendem Tone:

– Mein Herr, ich höre Sie.

Der Clubman hätte sich zuerst ein wenig fassen können, wie alle Romanhelden es thun, bevor sie ihre Geschichte anheben. Doch er verschmähte eine solche Banalität und begann sogleich:

– Mein Herr, ich bin ein Dieb, ein Professionsdieb, ein Einbrecher, wenn Sie wollen ... Sie haben dies ohne Zweifel schon errathen?

– Vollkommen.

– Das macht Ihrem Scharfsinn Ehre. Also, ich bin ein Dieb. Ich hatte mich zu dieser gesellschaftlichen Stellung erst entschlossen, nachdem ich mich überzeugt hatte, daß in den trüben Zeiten, in welchen wir jetzt leben, diese noch die loyalste und rechtschaffenste von allen ist. Der Diebstahl, mein Herr, war bisher eine verrufene Laufbahn, weil alle Diejenigen, die sich ihr bisher widmeten, nur abscheuliche Vagabunden, rohe Kerle ohne Eleganz und ohne Erziehung waren. Nun denn, ich habe den Ehrgeiz, diesem Berufe jenen Glanz zu verleihen, auf welchen er Anspruch hat, und aus dem Diebstahl eine ehrenhafte und beneidete Carrière zu machen. Wir wollen uns nicht mit Worten abspeisen, mein Herr, sondern das Leben nehmen, so wie es ist. Der Diebstahl ist die einzige Sorge des Menschen. Man wählt eine Beschäftigung nur – welcher Art immer sie sei – weil sie uns gestattet, mehr oder weniger zu stehlen, aber schließlich Jemandem etwas zu stehlen. Sie haben zu viel Geist, als daß ich es nöthig hätte, diese meine Behauptung vor Ihnen durch Beispiele beweisen zu müssen.

Diese Worte schmeichelten zu sehr meinen Prätensionen auf Psychologie und auf die Kenntniß der Sozialwissenschaften, als daß ich nicht mit einem lauten und überzeugten »Gewiß!« geantwortet hätte. Der elegante Einbrecher fuhr mit noch intimeren und vertraulicheren Geberden fort:

– Ich will Ihnen nur davon sprechen, was mich selbst betrifft ... Ich werde übrigens sehr kurz sein. Ich habe in dem Großhandel angefangen ... Allein die abscheulichen Dinge, welche ich nothwendigerweise vollführen mußte, die schmählichen Listen, die unwürdigen Betrügereien, die falschen Gewichte, die Börsenkniffe widerstrebten rasch meinem angeborenen Zartsinn, meiner offenen, gemüthlichen und skrupulösen Natur ... Ich verließ den Handel, um mich auf die Finanzen zu werfen. Die Finanzen flößten mir vollends Ekel ein. Ach, ich konnte mich nicht dareinfinden, Geschäfte anzupreisen, die nicht existiren, falsche Papiere und falsche Metalle zu emittiren, falsche Bergwerke, falsche Kanäle einzurichten ... Im Wege von blendenden Prospekten das Geld der Anderen in meine Kasse zu locken, mich an dem langsamen, aber fortschreitenden Ruin meiner Klienten zu bereichern: das war eine Operation, gegen welche mein skrupulöser, jeder Lüge abgeneigter Geist sich auflehnte ... Da dachte ich an die Journalistik. Ein Monat genügte mir, um mich zu überzeugen, daß der Journalismus seinen Mann nicht nährt, es wäre denn, daß man sich künstlich ersonnenen Betrügereien überliefert ... Auch war ich wahrhaftig Tag für Tag sehr schmutzigen Berührungen ausgesetzt. Wenn ich bedenke, daß die Zeitungen heutzutage nur von falliten Kaufleuten oder auf dem Trockenen sitzenden Financiers gegründet werden, welche in solcher Weise der Gefahr zu entgehen glauben, ihre Tage in den Kerkern zu beschließen: so kann ich mich nicht mit dem Gedanken befreunden, mich dieser Beschäftigung zu widmen ... Dann versuchte ich es mit der Politik ...

Hier konnte ich mich eines hellen Lachens nicht erwehren, welches sich sehr verlängerte.

– In der That, es ist zum Lachen, bekräftigte der verführerische Gentleman. Sagen wir nichts weiter davon ... Dann dachte ich wieder daran, ein Mann von Welt zu werden, ein wirklicher Mann von Welt ... Ich bin ein hübscher Junge, ich habe viel natürliche und erworbene Verführungsgabe, ich habe Geist, eine eiserne Gesundheit, unendlich viel Eleganz ... Nichts war mir leichter, als mich in den Cercle » Épatant«, den bekannten eleganten Club der Rue Royale aufnehmen und zu den litterarischen Soiréen des Herrn Montesquiou einladen zu lassen ... Allein, ich hatte zu viel Skrupel ... Beim Spiel zu betrügen, bei den Wettrennen dem Publikum durch allerlei Künste das Geld aus den Taschen zu plündern, meinen Namen, meine gesellschaftlichen Beziehungen zu Gunsten irgend eines anrüchigen Bankiers oder Automobil-Fabrikanten, eines Wucherers oder einer hübschen Frau zu verkaufen: meiner Treu, das gefiel mir nicht ... Kurz: in solcher Weise erschöpfte ich Alles, was das öffentliche oder private Leben einem thätigen, intelligenten und zartsinnigen jungen Mann, wie ich es bin, an Beschäftigungen zu bieten hat. Ich sah ganz deutlich, daß der Diebstahl das einzige Ziel und die einzige Triebfeder aller Thätigkeiten sei, aber sehr unförmig, sehr verhüllt und folglich viel gefährlicher als alle anderen. Ich sagte mir denn: »Da der Mensch dem verhängnißvollen Gesetze des Diebstahles nicht entgehen kann, wäre es viel ehrlicher, daß er ihn in loyaler Weise ausübe und seine natürliche Begierde, sich das Eigenthum der Anderen anzueignen, nicht mit hochklingenden Entschuldigungen, mit illusorischen Vorzügen und gleißnerischen Titeln umgebe, die Niemanden mehr täuschen.« Und so stahl ich denn jeden Tag. Des Nachts drang ich in die Wohnungen der reichen Leute ein. Ich entnahm den Kassen Anderer dasjenige, was ich für die Ausbreitung meiner Bedürfnisse, für die Entwickelung meiner Persönlichkeit für nothwendig erachtete. Es erfordert nur einige Stunden jede Nacht, zwischen einer Plauderei im Club und einem Flirt auf einem Balle. Außerhalb dieser Zeit lebe ich wie alle Welt lebt ... Ich gehöre einem eleganten Club an, ich habe schöne Beziehungen, der Minister hat mir erst vor Kurzem eine Auszeichnung bewilligt ... Und wenn ich einen tüchtigen Griff gemacht habe, bin ich zu allen edelmüthigen Handlungen geneigt. Mit einem Worte, ich mache direkt und loyal, was alle Welt auf Umwegen und durch unedle Schliche macht ... Mein entlastetes Gewissen hat mir nichts mehr vorzuwerfen, denn von all' den Wesen, welche ich gekannt habe, bin ich das einzige, welches den Muth hatte, seine Handlungen mit seinen Ideen in Einklang zu bringen ...

Die Kerzen waren herabgebrannt, das Tageslicht drang durch die Spalten der Vorhänge in das Gemach ein. Ich lud den eleganten Unbekannten zum Frühstück, aber er wandte ein, daß er im Frack sei und daß er mich nicht durch eine solche Inkorrektheit beleidigen wollte.

Arthur Lebeau ist ein reizender Plauderer ... Seine Anmuth und sein Geist bereiten mir viel Genuß. Leider hält er sich nicht länger als acht Tage in X. auf. Aber er wird vielleicht später wiederkehren.

– Ich bin jetzt sehr beschäftigt, ich habe jetzt keine Zeit, sagte er mir.

Und als ich ihn fragte, ob er hier sein Metier ausübe, erwiderte er mir:

– Nein, hier ruhe ich aus, hier lebe ich von den Renten ... der anderen Leute.

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