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Ich habe mich Herrn Trégarec, dem bretonischen Maire angeschlossen, welchen ich Ihnen schon erwähnt habe. Er besucht mich täglich. Er ist ein wackerer Mann, dessen andauernde Heiterkeit ich sehr liebe ... Er erzählt mir Geschichten aus seiner Heimath ... Er hat eine so treuherzige und komische Art zu sagen: »Es war im Jahr der Cholera in Kernac« – welche ich nie genug hören kann. Wie sollte er auch nicht? ... Hat ihm doch diese Epidemie eine Auszeichnung eingetragen! ...
Unter den zahlreichen Geschichten, mit welchen er meine Langeweile zu vertreiben suchte, will ich drei wiedererzählen, die so recht eigenthümlich sind.
*
Erste Geschichte:
Als man dem Kapitän der Zollwache Jean Kerkonaïc seine Pension flüssig gemacht hatte, wünschte er seine Tage in der Bretagne zu beschließen, die er sehr jung verlassen hatte, deren Erinnerung aber sehr lebhaft in seinem Herzen geblieben war, überall, wohin ihn auch sein Dienst geführt hatte. Er wählte einen malerischen Fleck am Ufer des Goayen-Flusses, zwischen Audierne und Pontcroix, und baute dort ein Häuschen. Sein Häuschen war ganz weiß, stand zwischen Fichten, unfern vom Ufer des Flusses, welcher ganz grün war vermöge der Seegräser, welche zur Zeit der Ebbe ihn wie eine Wiese bedeckten. Zur Zeit der Fluth war er ein ungeheurer Strom, der zwischen hohen Berghängen dahinfloß, welche da mit stämmigen Eichen, dort mit dunklen Fichten bestanden waren.
Als der Kapitän von seinem Anwesen Besitz ergriff, sagte er:
– Endlich werde ich nach meiner Lust die Strandschnecke bearbeiten können.
Die Strandschnecke ist ein kleiner Mollusk, welchen der große Cuvier » turbo littoral« benennt; eine Schneckenart, welche in allen Hotels der Bretagne als Vorspeise auf den Tisch kommt. Sie wird in der Weise genossen, daß man sie mittels einer sehr schnell im Kreise gedrehten Nadel von der Schale losreißt.
Die Strandschnecke bearbeiten: das war eine Idee, welche seit langer Zeit den wackeren Kapitän Kerkonaïc gefangen hielt; wenn man seine Bekannten hörte, so war es überhaupt die einzige Idee, welche in seinem Schädel aufgetaucht war, denn er war ein fürtrefflicher Mann im Sinne der Evangelien.
Dieser Molluske schien ihm – wie er sagte – stets ein sehr schmackhaftes Nahrungsmittel, aber zugleich sehr dürftig, weshalb seine Verwendung als Nahrung sehr schwierig und ermüdend war. Der Kapitän hatte nun den Ehrgeiz, daß die Strandschnecke nicht eine lokale Phantasie der Table d'hôte bleibe, sondern ein Genußmittel für die Allgemeinheit werde, wie die Auster, die nach seiner Überzeugung einen geringeren Werth hatte. Ach, wenn die Strandschnecke wenigstens das Gewicht der Erdschnecke erreichen könnte! Welche Umwälzung! Das wäre für ihn der Ruhm und – wer weiß? – vielleicht das Vermögen ... Ja, aber wie wäre das zu machen?
Und der ausgezeichnete Kapitän von der Zollwache trieb sich zur Zeit der Ebbe auf den Dünen und in den Tümpeln zwischen den Strandfelsen herum und studirte mit nimmermüdem Eifer das Leben und die Gewohnheiten dieses wandernden und zugleich seßhaften Mollusken. Und er sagte sich:
– Man mästet schließlich die Ochsen, die Schweine, das Geflügel, die Austern und die Chrysanthemen. Man gibt ihnen außerordentliche Proportionen, ungeheure Entwickelungen, welche die Natur in Erstaunen versetzen ... Und die Strandschnecke allein soll unter den organischen Wesen einer solchen intensiven Kultur unfähig, dem Fortschritt abhold sein? Das ist nicht möglich.
Völlig dieser seiner Idee ergeben, vernachlässigte der Kapitän seinen Dienst und ließ die Küste unbewacht. Der Schmuggel blühte, die Schiffer eigneten sich Strandgut an.
Eines Nachts, als er Fischer auf das offene Meer hinausbegleitete, brachten diese in ihrer Schaluppe den halb zerfressenen Leichnam eines Mannes zurück, dessen Brust- und Magenhöhle von Strandschnecken wimmelte. Und es waren nicht etwa kleine, magere Strandschnecken, wie jene, die man auf den Klippen, zwischen den Algen findet. Nein, es waren enorme, nußgroße Schnecken, dick und fett, aus der Schale hervorquellend.
Das war für den Zollbeamten eine plötzliche Entdeckung und er rief mit Begeisterung aus:
– Ich sehe schon, was da nöthig ist: Fleisch ist nöthig!
Am folgenden Tage brachte er eine Anzahl dieser Mollusken heim, ließ sie kochen und aß sie. Er fand sie zart, im Munde zerfließend, von köstlichem Geschmack. Man konnte sie mit der Zunge von der Schale losmachen, so daß das langwierige Hantiren mit der Nadel überflüssig wurde.
– Fleisch müssen sie haben! wiederholte er. Das ist klar.
Der Kapitän Kerkonaïc hütete sich wohl, vor irgend Jemandem von seiner Entdeckung zu sprechen. Die ganze Nacht träumte er von riesengroßen Strandschnecken, die auf dem Meere schäkerten und sich jagten, in dem Gischt bald auftauchend, bald verschwindend, wie die Walfische.
Erst einige Jahre später, nachdem er seinen Dienst beendigt und sein Haus gebaut hatte, begann er seine Versuche. Er wählte im Flusse eine Stelle zwischen Felsenlöchern und richtete daselbst Pferche ein, nach der Art, wie sie in Holland für die Austern eingerichtet werden, eine Reihe von rechteckigen Plätzen, von niedrigen Cementmauern umgeben. Jeder dieser Plätze war mit einem Korbe versehen, um bei der Ebbe das Wasser aufzufangen oder abzulassen, je nachdem die Züchtung es erheischte. Dann bevölkerte er diese Pferche mit jungen, »flinken« Strandschnecken, die er sorgfältig ausgewählt hatte unter jenen, welche ihm am meisten »Zukunft« zu haben schienen. Schließlich vertheilte er täglich Fleisch unter sie.
Um seine Strandschnecken zu füttern, ward er Wildschütz. Jede Nacht auf dem Anstande, schoß er Kaninchen, Hasen, Rebhühner, Eichhörnchen, die er in blutigen Stücken in seine Pferche warf. Er tödtete die herumstreifenden Katzen und Hunde, alle Thiere, welche der Fäulnißgeruch herbeilockte, oder welche er mit seiner Büchse erreichte. Wenn in der Gegend ein Pferd oder eine Kuh krepirte, kaufte er das Aas, zerstückelte es und häufte das Ganze, Knochen, Fleisch und Haut in seinen Pferchen auf, welche er so zu einem Schindanger von unerträglichem Gestank verwandelte. Dieser Ort der Verwesung verpestete weithin die Luft rings um Pontcroix und Audierne. Man führte Klage, aber vergebens ...
Was den Kapitän betrifft, so ward er wild wie ein Thier. Er verließ seine Pferche nicht mehr, wo er bis zum Bauche in der Fäulniß watete. Es vergingen mehrere Wochen, ohne daß man ihn in Audierne oder Pontcroix erscheinen sah, wo er sonst jeden Samstag seine Einkäufe machte. Aber man war nicht besorgt. »Er frißt seine Äser, um Geld zu ersparen,« sagte man.
Eines Tages entschloß sich dennoch ein Mann hinzugehen. Das weiße Häuschen zwischen den Fichten stand ganz offen.
– He, Kapitän!
Keine Antwort.
Der Besucher stieg zu den Pferchen hinab, immer rufend:
– He, Kapitän!
Keine Antwort.
Und als er ganz nahe bei dem Schindanger war, fuhr er entsetzt zurück.
Auf einer Pyramide von grünlichen, faulenden Äsern, von welchen die Jauche in schmutzigen Fäden abfloß, lag ein Mann mit ausgebreiteten Armen, ein Mann, den man nicht mehr erkennen konnte, weil sein Gesicht völlig von Schnecken zerfressen war.
Es war der Kapitän Kerkonaïc. Er hatte Recht ... Fleisch mußten sie haben ...
*
Zweite Erzählung.
Madame Lechanteur, die Witwe eines im Hallenviertel als sehr ehrenhaft bekannten Geschäftsmannes, hatte zu Beginn des Sommers Paris verlassen, begleitet von ihrer Tochter, einem schwächlichen, zarten Kinde von sechzehn Jahren, das ein wenig traurig, sogar ein wenig leidend war und welchem der Arzt eine Erholung von mehreren Monaten in frischer Landluft verordnet hatte.
– Vorzugsweise in der Bretagne ... hatte er hinzugefügt ... und nicht zu nahe an der Küste ... und auch nicht zu sehr landeinwärts ... so in der Mitte zwischen beiden.
Nachdem sie lange einen Ort gesucht, der ihr gefallen und ihrer Tochter passen würde, hatte sie sich schließlich drei Kilometer von der Stadt Auray entfernt, an den Ufern des Lochflusses, ein reizendes, altes Häuschen gefunden, das ganz in Grün gebettet war und einen schönen Ausblick auf die Flußmündung hatte. Der Hausbesorger, der sie bei Besichtigung des Häuschens begleitete, versicherte ihr, daß man zur Zeit der Fluth, vom Salon aus die Fischerboote, die aus dem kleinen Hafen von Bonno kamen, vorüberziehen sehe.
– Und gibt es Gemüse in dem Garten? fragte Madame Lechanteur.
– Viel Bohnen und ein wenig Salat, erwiderte der Hüter.
Einige Tage später hatte sie sich in Toulmanach – so hieß der kleine Besitz – eingerichtet. Als sie Paris verließ, gab sie ihren Dienstleuten den Abschied, indem sie sagte, daß sie deren in der Bretagne genug finden werde, und wohlfeiler als in Paris. »Das sind treue, tugendhafte, genügsame Leute,« hatte man ihr gesagt.
Welche Enttäuschung nach einem Monat! ... Sie hatte in dieser Zeit zwölf Mägde, Köchinnen und Stubenmädchen, die sie, kaum daß sie eingetreten waren, wieder entlassen mußte. Die Einen stahlen den Zucker und den Kaffee, die Anderen entwendeten den Wein und betranken sich ... Die Eine war frech wie ein Fischerweib; eine Andere wurde mit einem Knechte aus einer benachbarten Farm ertappt ... Und Alle verlangten Fleisch, wenigstens zu einer Mahlzeit. Fleisch in der Bretagne! ... Die Letzte war freiwillig gegangen, weil sie einer Schwesterschaft angehörte und bei sonstiger Todsünde mit keinem Manne sprechen durfte, selbst in Dienstsachen nicht, – und wäre der Mann der Postbote, der Bäcker, der Fleischer.
Madame Lechanteur war trostlos. Da sie zumeist genöthigt war selbst zu kochen, das Zimmer auszukehren, sagte sie immer wieder:
– Welche Plage! ... Mein Gott, welche Plage! ... Und das sind Bretoninnen? Niemals!
Sie klagte ihr Leid der Gewürzkrämerin in Auray, bei der sie jeden dritten Tag ihre Einkäufe machte. Und als sie alle die Geschichten von ihren Mädchen erschöpft hatte, fragte sie:
– Kennen Sie nicht, Madame, irgend eine Person, ein gutes Mädchen, eine wirkliche Bretonin?
Die Gewürzkrämerin schüttelte den Kopf.
– Das ist sehr schwer, Madame, sehr schwer. An Dienstboten ist unsere Gegend sehr arm.
Und die Augen niederschlagend, fügte sie mit bescheidener Miene hinzu:
– Besonders, seitdem wir das Militär hier haben ... Das Militär ist ja nicht schlecht für Handel und Wandel ... aber für die Tugend der Mädchen ... Ach, Madame, was soll ich Ihnen sagen? ...
– Aber ich kann doch nicht ohne Dienstboten sein! rief Madame Lechanteur verzweifelt aus.
– Gewiß, gewiß, Madame, es ist sehr unangenehm ... Mein Gott, ich kenne Eine ... Mathurine Le Gorrec ... Ein gutes Mädchen, eine vortreffliche Köchin, vierundvierzig Jahre alt ... Aber sie hat den Kopf ein wenig verkehrt ... ja, sie ist ein wenig närrisch ... wie viele alte Mädchen hier ... In ihrem Alter ist das begreiflich. Dabei ist sie von sanfter Gemüthsart, keineswegs bösartig. Sie ist zehn Jahre bei Madame Gréachadic, Ihrer Nachbarin am Flusse gewesen ...
– Aber, wenn sie verrückt ist? fragte Madame Lechanteur entsetzt. Wie soll ich ihr mein Haus anvertrauen?
– Verrückt ist nicht das richtige Wort, erwiderte die Gewürzkrämerin. Sie hat einen etwas schwachen Kopf ... das ist Alles. Sie hat zuweilen ... Sie begreifen ... Ideen, wie sie nicht Jedermann hat ... Aber, sie ist ein wackeres Mädchen, sehr geschickt und sanft wie ein Lämmchen. Was die Vernunft betrifft, ist ihr keine über.
– Schön ... Aber es wäre mir doch lieber, wenn sie nicht verrückt wäre. Mit den Verrückten weiß man nie, wohin man kommt. Schließlich, schicken Sie sie mir ... Ich werde sehen ... Und der Lohn?
– Ich glaube: fünfzehn Francs ...
– Ach, das ist auch nicht gerade geschenkt.
Madame Lechanteur ging nach Toulmanach zurück und sagte sich unterwegs:
– Einen schwachen Kopf hat sie ... Das ist doch keine so ernste Sache ... Und da sie sanftmüthig ist ... Ich werde sie sicherlich um zehn Francs haben können.
Am folgenden Tage stellte sich Mathurine Le Gorrec in Toulmanach gerade in dem Augenblicke vor, da Madame Lechanteur und ihre Tochter das Frühstück beendigten.
– Guten Tag, Madame ... Das schöne Fräulein ist ohne Zweifel Ihre Tochter? ... Guten Tag, Fräulein!
Madame Lechanteur betrachtete Mathurine. Diese hatte ein gefälliges, sauberes Aussehen, eine sanfte Miene, ein lächelndes Gesicht, etwas seltsame, unstäte Augen. Sie trug die Haube der Frauen von Auray, ein kleiner violetter Shawl bedeckte ihre Schultern. Ein zierlicher weißer Brautschleier schmückte ihr Leibchen. Die Prüfung fiel ohne Zweifel günstig aus, denn Madame Lechanteur fragte mit Sympathie:
– Also, Sie wollen hier als Köchin eintreten?
– Aber ja, Madame ... Eine so schöne Frau wie Sie und ein so schönes Fräulein wie Ihre Tochter: das muß schon eine gute Herrschaft sein ... Ich liebe die guten Herrschaften.
– Man sagt mir, daß Sie zehn Jahre bei Madame Gréachadic waren?
– Zehn Jahre, Madame. Eine gütige Dame ... und sehr reich ... und sehr hübsch ... Sie hatte ein goldenes Gebiß ... Das Abends that sie es in ein Glas Wasser. Madame haben sicherlich auch ein goldenes Gebiß? ...
– Nein, meine Liebe, antwortete Madame Lechanteur lächelnd. Was können Sie kochen?
Doch Mathurine schaute beharrlich auf den Boden. Plötzlich bückte sie sich und hob ein Bruchstück von einem Zündhölzchen auf, welches sie der Frau Lechanteur zeigte.
– Das ist ein Zündhölzchen, Madame; das ist sehr gefährlich, sagte sie. Auf der Farm Guéméné ... das ist die reine Wahrheit und keine Fabel ... auf der Farm Guéméné hatte einmal ein Mann ein Zündhölzchen neben ein Päckchen Tabak gelegt ... Das Zündhölzchen fing Feuer, das Päckchen Tabak fing Feuer ... der Mann fing Feuer ... das Haus fing Feuer ... Man fand den Mann unter der Asche und es fehlten ihm zwei Finger ... Ja, das ist wahr ...
– Gut. Aber was können Sie kochen?
– Madame: ich nehme zwei Schweinsohren, zwei Schweinsfüße, gehackte Petersilie ... Das lasse ich lange kochen ... Von einem Schiffskommandanten, der im Senegal gewesen, habe ich das gelernt. Das kocht sich wie Butter, wie Stroh, und ist sehr gut ...
Sie betrachtete Alles im Zimmer mit zwinkernden Augen und sagte:
– Die Wohnung ist sehr hübsch. Und es ist Gehölz da ... Aber ich mache Sie aufmerksam, Madame, das Gehölz ist gefährlich, darin gibt es Thiere. Und was ich Ihnen erzähle, ist wahr, keine Fabel. Eines Abends sah mein Vater in einem Walde ein Thier. Es war ein ganz außerordentliches Thier mit einer langen Schnauze, mit einem langen Schweife und mit Beinen wie die Feuerschaufeln. Mein Vater hat sich nicht gerührt und das Thier ist weiter gegangen. Hätte mein Vater sich gerührt, so hätte das Thier ihn gefressen. Das ist wahr. Das ist immer so in den Wäldern.
Und sie machte ein Kreuz, wie um den bösen Zauber aus dem Gehölze zu verscheuchen, dessen Grün man durch die Fenster sah.
– Sind Sie niemals krank gewesen? fragte Madame Lechanteur, beunruhigt durch diese unzusammenhängenden Reden.
– Niemals, Madame: Die Thürklingel der Madame Gréachadic ist mir einmal auf den Kopf gefallen. Aber das hat meinem Kopfe nicht geschadet ... Hingegen ist die Klingel fortan stumm geworden.
Sie sprach mit sanfter, singender Stimme. Und diese Sanftmuth und dieser Singsang tröstete die Witwe ein wenig für das unzusammenhängende Geschwätz. Überdies war Madame Lechanteur es müde geworden, keinen Augenblick Erholung zu haben; sie verlangte ungeduldig nach den Vergnügungen des Landlebens; sie wollte eine Person haben, welche in ihrer Abwesenheit das Haus hüten würde.
Eben an jenem Tage hatte sie die Absicht, einen Ausflug auf dem Flusse zu machen, in Port-Navalo Halt zu machen, den so heitern Golf von Morbihan, die Mönchsinsel, die Küste von Carradon zu besichtigen. Sie hatte ein Boot gemiethet, welches sie erwartete. Die Zeit der Fluth war nahe. Sie nahm denn Mathurine in ihren Dienst. Und nachdem sie ihr die nöthigen Weisungen für das Diner ertheilt hatte, fuhr sie ab. Man wird schon später sehen.
Es war acht Uhr Abends, als Madame Lechanteur und ihre Tochter, entzückt von dem Gesehenen und in köstlicher Ermüdung, unfern von ihrem Häuschen landeten, welches an dieser Stelle durch eine in schönem Grün prangende Erhöhung des Ufers verdeckt wurde.
– Ich bin begierig zu erfahren, sagte Madame Lechanteur heiter, wie Mathurine mit dem Diner fertig geworden ist. Wir werden vielleicht außerordentliche Dinge zu essen bekommen.
Dann rümpfte sie leicht die Nase und sagte:
– Es brenzelt hier! ...
Gleichzeitig bemerkte sie über den Bäumen eine dichte, schwarze Rauchsäule aufsteigen, und glaubte sie Geschrei und Hilferufe zu vernehmen.
– Was geht denn vor? fragte sie sich. Man möchte glauben, daß dies in Toulmanach ist.
Rasch stieg sie das Ufer empor, schritt durch das Gehölz und eilte heim. Immer deutlicher vernahm sie das Geschrei. Und plötzlich, geblendet durch den Rauch, betäubt, gestoßen, befand sie sich im Hofe und stieß einen Schrei des Entsetzens aus ... Von Toulmanach war nichts mehr da, nichts als eingestürzte Mauern, glühende Balken, rauchende Aschenhaufen.
Ruhig und lächelnd, mit ihrer weißen Haube, ihrem kleinen Shawl und ihrem saubern Brustschleier stand Mathurine neben ihrer Herrin.
– Es ist sehr seltsam, Madame, sagte sie. Es ist ein Bienennest; denken Sie sich, ein Bienennest ... Ja ...
Und als Madame Lechanteur stumm, mit starren Augen, nichts von all' dem begreifend, sie anglotzte, fuhr sie mit ihrer singenden Stimme fort:
– Es ist ein Bienennest ... Darf ich Ihnen die Sache erzählen? Es ist sehr seltsam. Als Madame fort waren, habe ich das Haus besichtigt. Ich bin zum Dachboden emporgestiegen ... Es war ein schöner Dachboden. In einem Loch der Mauer gab es ein Bienennest. Diese kleinen Thiere sind sehr bösartig und stechen ... Wenn man in der Farm Guéméné ein Bienennest findet, so wird es ausgeräuchert. Und alle Bienen sterben und stechen nicht mehr. So brachte ich denn ein Holzscheit und zündete es an. Das Holzscheit zündete die Wand an, die von Brettern war, und die Wand zündete das Haus an, das schon alt war. Und jetzt ist nichts mehr da von dem Bienennest und nichts von dem Hause ... Nichts ... Das ist sehr seltsam ...
Madame Lechanteur hörte nichts mehr ... Plötzlich stieß sie einen Seufzer aus, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und sank sehr bleich, ohnmächtig in die Arme der Mathurine.
*
Dritte Erzählung.
Da das Kind sehr schwach war, wollte die Mutter mit der Taufe nicht warten, bis sie das Kindbett verlassen haben würde. Und doch hatte sie sich fest vorgenommen, bei dieser heiligen Handlung anwesend zu sein, ihr Töchterchen, mit weißen Bändchen aufgeputzt, selbst nach der Kirche zu geleiten. Aber diese kleinen Wesen sind so gebrechlich, sie athmen kaum; man weiß nicht, was von einem Augenblick zum andern geschehen kann. Wenn sie sterben, sollen sie als Christen sterben und geradewegs ins Paradies kommen, wo die Engel sind. Und ihre Tochter konnte sterben ... Sie hatte schon bei der Geburt den bleifarbenen Teint der Greise, eine verwelkte Haut, Runzeln an der Stirne. Das Kind wollte nicht trinken und schrie unaufhörlich ... Man mußte sich entschließen. Man suchte in der Nachbarschaft einen Taufpathen und eine Taufpathin, Leute von gutem Willen, und man ging eines Nachmittags zur Pfarrkirche zur heil. Anna in Auray, wo einer der Vicare am Morgen desselben Tages durch den Postboten benachrichtigt worden war.
Es war eine arme Taufe, so düster wie die Beerdigung eines Landstreichers. Eine alte dienstwillige Nachbarin trug das in seine Windeln eingewickelte Kind, das keinen Augenblick aufhörte zu schreien. Der Taufpathe, in einer blauen, mit Sammt besetzten Jacke und die Taufpathin, mit ihrer schönsten Haube angethan, kamen hinterdrein. Der Vater folgte verlegen, in einem alten Überzieher, der ihm zu eng war und einen Glanz hatte. Keine Anverwandten, keine Freunde, kein fröhliches Gefolge. Es regnete nicht, aber der Himmel war grau. Unsägliche Trauer lag auf der Landschaft.
Als die Gesellschaft in der Kirche ankam, war der Vicar noch nicht da. Man mußte warten. Der Taufpathe und die Taufpathin knieten vor dem Altar der heil. Anna nieder und murmelten Gebete. Die Alte wiegte das winselnde Kind auf ihren Armen. Der Vater betrachtete die Säulen, die Gewölbe, all' das Gold, all' den Marmor, diese Pracht, die inmitten der trostlosen, armen Landschaft wie durch den Zauberstab einer Fee hervorgebracht worden. Unter den brennenden Kerzen lagen Weiber auf den Knieen, das Gesicht schier an die buntfarbigen Fliesen gedrückt. Und in der feierlichen Stille der reichen, prächtigen Basilika war nichts als ihr andächtiges Flüstern und ihr Seufzen zu vernehmen.
Endlich, mit einer Stunde Verspätung, kam der Vicar, ganz roth, ungeduldig die Bänder seines Überwurfes zu einem Knoten schlingend. Er war schlechter Laune, wie ein Mensch, den man bei seiner Mahlzeit stört. Nachdem er einen verächtlichen Blick auf die bescheidene Gevatterschaft geworfen, die ihm keine reichen Geschenke verhieß, wandte er sich in feindseligem Tone an den Vater:
– Wie heißest Du?
– Louis Morin.
– Louis Morin? ... Morin ... das ist kein Name aus dieser Gegend. Du bist nicht von hier?
– Nein, Herr Vicar.
– Bist Du wenigstens Christ?
– Ja, Herr Vicar.
– Du bist Christ ... Du bist Christ ... und heißest Morin ... Und Du bist nicht von hier? Hm, hm! Das ist nicht klar. Und woher bist Du?
– Ich bin aus der Gegend von Anjou.
– Schließlich ist das Deine Sache. Und was machst Du hier?
– Seit zwei Monaten bin ich als Hirte auf der Besitzung des Herrn Le Lubec bedienstet.
Der Vicar zuckte mit den Achseln und brummte:
– Herr Le Lubec thäte besser, seinen Besitz von hiesigen Leuten bewachen zu lassen, anstatt die Gegend mit Fremden zu verpesten, mit Leuten, die man weiß nicht woher kommen. Denn schließlich kenne ich Dich nicht ... Und Dein Weib? ... Bist Du wenigstens verheirathet?
– Aber ja, ich bin verheirathet, Herr Vicar. Ich habe Ihnen durch den Postboten meine Papiere gesendet.
– Du bist verheirathet ... Du bist verheirathet ... Das ist ja leicht zu sagen ... Deine Papiere? Das ist leicht zu machen. Nun, wir werden ja sehen. Und warum sieht man Dich niemals in der Kirche? Du kommst niemals zur Kirche, weder Du, noch Dein Weib, noch sonst Jemand von Deinem Hause.
– Mein Weib ist immer krank gewesen, seitdem wir hier sind. Sie hat das Bett nicht verlassen, Herr Vicar ... Und es gibt viel zu schaffen im Hause ...
– Du bist ein Gottloser! ... ein Ketzer! ... ein Bergbewohner! Und auch Dein Weib! ... Hättest Du unserer gütigen Mutter, der heil. Anna, ein Dutzend Kerzen geweiht, so wäre Dein Weib gewiß nicht erkrankt. Du hütest die Kühe des Herrn Le Lubec?
– Ja, Herr Vicar, mit Respekt zu melden.
– Und den Garten?
– Ebenfalls ich.
– Gut. Und Du heißest Morin? Schließlich ist das Deine Sache.
Dann empfahl er dem alten Weibe, dem Kind das Häubchen abzunehmen.
– Ist's ein Mädchen oder ein Knabe?
– Ein Mädchen, das arme Würmchen, stammelte die Alte, deren ungeschickte Finger die Bänder des Häubchens nur schwer zu lösen vermochten.
– Und warum schreit sie so? Sie scheint krank zu sein ... Schließlich, das geht sie an ... Spute Dich! ...
Als das Häubchen abgenommen war, zeigte sich der fahle, faltige Schädel des Kindes, mit zwei bläulichen Flecken an den beiden Seiten der Stirne.
– Die Kleine scheint nicht leicht zur Welt gekommen zu sein, rief der Vicar.
Darauf erklärte der Vater:
– Nein, Herr Vicar. Die Mutter hatte schier den Tod davon. Man hat die Zange anlegen müssen. Der Arzt sprach davon, das Kind stückweise herauszuholen. Zwei Tage dauerte unsere Angst.
– Und hat man dem Kinde wenigstens die Nothtaufe gegeben?
– Gewiß, Herr Vicar.
– Wer? Die Hebamme?
– Nein, Herr Vicar ... der Doktor Durand.
Der Vicar ward wüthend, als er diesen Namen hörte.
– Der Doktor Durand! Du scheinst nicht zu wissen, daß der Doktor Durand ein Ketzer, ein Bergbewohner ist, daß er sich betrinkt und mit seiner Magd in wilder Ehe lebt ... Und Du glaubst, daß der Doktor Durand Deine Tochter getauft hat? ... Dreifacher Tölpel! Weißt Du, was dieser Bandit gethan hat? Nun denn: er hat Deiner Tochter den Teufel in den Leib gehetzt ... Deine Tochter hat den Teufel im Leibe. Deswegen schreit sie so ... Ich kann sie nicht taufen.
Er bekreuzigte sich und brummte einige lateinische Worte mit einer so wüthenden Stimme, als wären es Flüche. Und da der Vater betroffen, stumm, mit offenem Munde dastand, rief er:
– Was schaust Du mich so dumm an? Ich sage Dir, daß ich Deine Tochter nicht taufen kann ... Hast Du verstanden? Trage sie zurück, dorthin, woher sie kommt. Ein Kind, in welchem der Teufel haust! ... Das wird Dich lehren, den Doktor Durand zu rufen! ... Du kannst gehen die Kühe hüten ... Morin, Durand, Hölle und Co.
Louis Morin drehte seinen Hut in seinen Händen hin und her und brummte nur:
– Unglaublich ... unglaublich! Was thun? ... Mein Gott, was thun?
Der Vicar sann einen Augenblick nach und sagte dann mit ruhiger gewordener Stimme:
– Höre! ... Es gibt vielleicht ein Mittel ... Ich kann Deine Tochter nicht taufen, so lange sie den Teufel im Leibe hat. Aber ich kann ihr den Teufel austreiben. Das kostet zehn Francs.
– Zehn Francs?! rief Louis Morin verstört aus. Zehn Francs! ... Das ist sehr theuer ... Das ist zu theuer.
– Nun denn: sagen wir fünf Francs, weil Du ein armer Mann bist. Du wirst mir fünf Francs geben. Dann, zur Erntezeit, wirst Du mir ein Scheffel Kartoffeln und im September zwölf Pfund Butter bringen. Ist's so abgemacht?
Morin kratzte sich einige Minuten verlegen den Kopf.
– Und Sie werden sie obendrein noch taufen?
– Und ich werde sie obendrein noch taufen. Ist's abgemacht?
– Das sind viele Kosten, brummte Morin. Viele Kosten.
Der Vicar fuhr nun rasch mit den Händen über den Kopf und über den Bauch des Kindes, brummte einige lateinische Worte und machte seltsame Bewegungen in der Luft.
– Der Teufel ist fort! sagte er dann. Man kann sie taufen.
Dann begann er wieder lateinisch, besprengte die Stirne des kleinen Mädchens mit Wasser, that ihm ein Körnchen Salz in den Mund und sagte heiter:
– Jetzt ist sie Christin, jetzt kann sie sterben ...
Still und traurig, die Beute eines unbestimmten Entsetzens, kehrte die Gesellschaft heim.
Die Alte ging voraus mit dem schreienden Kinde, der Pathe und die Pathin schritten hinter ihr, Morin kam als Letzter. Der Abend senkte sich herab, ein nebeliger, gespenstiger Abend, und hüllte das Bild der heiligen Anna, der Beschützerin der Bretagne, in Dunkel ein.
*
Und nachdem mein neuer Freund, der Maire von Kernac sich entfernt hat, klammere ich mich – um den Bann der Berge ein wenig von mir fernzuhalten – durch die Kraft der Erinnerung an die Bretagne, deren Landschaften und Gestalten er mir geschildert hat und die ich kenne, weil ich lange dort gelebt habe. Und andere Landschaften, andere Gestalten tauchen in meinem Geiste auf ... und ich verweile lange dabei ...
Eines Tages begegnete ich in Vannes, in der Nähe des Jesuitenkollegiums einem kleinen Herrn von etwa fünfzig Jahren, der einen Knaben von beiläufig zwölf Jahren zärtlich an der Hand führte. Wenigstens gab ich den Beiden dieses Alter. Ich habe die Manie, den Leuten, die ich einen Augenblick treffe und vielleicht nie wiedersehen werde, ein Lebensalter zu geben. Diese Manie treibe ich so weit, daß ich mich mit meinen eigenen Voraussetzungen nicht begnüge und die Freunde, die mich begleiten, frage:
– Betrachtet einmal die Person, die da vorübergeht. Welches Lebensalter gebt Ihr ihr? Ich gebe ihr so viel ...
Dann diskutiren wir.
Ist einmal das Alter der Person festgestellt, dann gefalle ich mir darin, über ihre Existenz ganz außerordentlich furchtbare und dramatische Dinge mir vorzustellen. Und so scheint es mir dann, als wären die Unbekannten mir weniger unbekannt.
Man vergnügt sich wie man kann.
Der kleine Herr von fünfzig Jahren war gekrümmt, gebrochen, sehr mager, ein wenig linkisch. Er schien sanft und traurig.
Der Knabe von zwölf Jahren hatte ein hartes, hübsches Gesicht, sehr schöne und boshafte Augen, die geschmeidige und verdächtige Anmuth einer Buhlerin. Er ging mit einer eleganten Leichtigkeit, welche die Manieren des Vaters noch schüchterner, ungeschickter und – wie soll ich sagen? – zärtlicher erscheinen ließ. Denn ich war überzeugt, Vater und Sohn vor mir zu haben, obgleich es zwischen ihnen keinerlei physische Ähnlichkeit, keinerlei moralische Verwandtschaft gab.
Sie waren in Trauer: der Vater ganz schwarz gekleidet wie ein Priester, der Sohn blos eine schwarze Binde an dem Ärmel seiner Schülerjacke tragend ... Ich hatte nicht die Zeit, um sie genauer zu betrachten. Sie gingen die Straße hinauf, welche nach dem Mittelpunkte der Stadt führt; ich ging nach dem Hafen, wo ich mich nach Belle-Isle einschiffen sollte. Mich beschäftigte der Gedanke, daß die Schaluppe mich erwartete und daß die Zeit der Fluth dränge. Sie gingen vorüber, gleichgiltig gegen meinen Blick; sie gingen vorüber wie alle Anderen. Und doch, als ich sie vorübergehen sah, wurde ich von einem Gefühl der Melancholie, fast des Schmerzes ergriffen. Ich hätte die Ursache dieses Gefühls nicht bestimmen können, ich suchte sie auch nicht.
In den Bahnhöfen, auf den Dampfern, in den Gasthöfen empfinde ich oft eine unbestimmte, beklemmende Traurigkeit beim Anblick der Tausende von Unbekannten, die man weiß nicht wohin gehen und die das Leben einen Augenblick in meine Nähe geführt hat. Ist's auch wirklich Trauer? Ist's nicht vielmehr eine herbe Form der Neugierde, eine Art krankhafter Gereiztheit darüber, daß ich nicht das Dunkel dieser nomadenhaften Geschicke durchdringen konnte? Und was ich auf den geheimnißvollen Physiognomien an unbestimmten Leiden und inneren Dramen entdeckte: ist das nicht ganz einfach die Langeweile, die unbewußte Langeweile, welche diese aus ihrem Heim herausgerissenen, wandernden Leute fühlen, welche die Natur nicht anspricht und welche mehr erschrocken, mehr ungewohnt, mehr verloren sind, als die armen Thiere, die aus ihrer Heimath entführt worden.
Es lag etwas Durchdringenderes und zugleich etwas Herberes in dem Gefühl, welches bei dem Anblick des alten Herrn und seines Sohnes mir die Seele bewegte. Es war wirklich ein Schmerz; das ist die rapide, elektrische Übertragung eines Schmerzes, welcher in ihm war, auf ein Mitleid, welches in mir war. Aber welcher Schmerz und welches Mitleid? Ich wußte es nicht.
Als sie vorüber waren und etwa dreißig Schritte zurückgelegt hatten, wandte ich mich um, um sie noch einmal zu betrachten. Einige Spaziergänger, die zwischen ihnen und mir waren, verbargen mir sie theilweise und ich sah nichts als den Rücken des kleinen Herrn, einen gebeugtem, flehenden Rücken, den Rücken eines Mannes, der stets geweint hat.
Es preßte mir das Herz zusammen.
Anfänglich dachte ich daran, ihnen zu folgen, bewegt durch ein unbestimmtes Mitleid, vielleicht auch durch einen Instinkt von Grausamkeit. Dann, ohne mir zu sagen, ob es gut oder schlecht sein würde, ging ich mechanisch weiter, die Straße hinab. Bald bemerkte ich die Masten der Briggs und ihr schwärzliches Tauwerk; ein Kutter rüstete zur Fahrt und schaukelte sein rothes Segel in der Luft. Ein gesunder Theergeruch, mit den jodhältigen Ausdünstungen der Fluth sich mengend, kitzelte meine Nase. Und ich dachte nicht mehr an den kleinen Herrn, der mit den vielen Anderen in dem großen Strudel des Vergessens verschwunden war ...
Am Abend jedoch, als ich auf dem Netze der Schaluppe ausgestreckt lag, die mich nach Belle-Isle führte, den Kopf auf einen Haufen Schiffsseile gestützt, tauchte vor mir die Vision des kleinen Herrn in Trauer wieder auf, aber fern und undeutlich; und ich sagte mir blos, ohne diesen inneren Worten den geringsten Gedanken an Mitleid beizufügen:
– Das ist ohne Zweifel ein Witwer ... Und das Kind gleicht der Todten ... Sie mag zwanzig Jahre alt gewesen sein. Ich fragte mich nicht, wo er jetzt war, was er machte, ob er in einem Gasthofzimmer weinte, oder in die Ecke eines Eisenbahnwaggons gedrückt. Und ich schlief ein, köstlich gewiegt durch das Schaukeln des Meeres, über welches der Mond ein unermeßliches Netz von Licht mit funkelnden, engen Maschen ausgebreitet hatte.
Drei Monate später sah ich sie wieder. Es war in einem Eisenbahnwaggon. Ich reiste nach Carnac. Und wohin reisten Jene? Der kleine Herr saß in einer Ecke des Waggons zu meiner Rechten; sein Sohn in einer anderen Ecke ihm gegenüber. Ich fand den Vater noch mehr gekrümmt, noch mehr gebrochen, noch mehr mager und linkisch und ich glaubte zu bemerken, daß der Sohn noch schöner geworden und daß seine Augen noch boshafter seien. Ich wollte noch aufmerksamer, als das vorige Mal, das Antlitz des Vaters prüfen; aber er verbarg sich vor meinen Blicken und that, als interessirte er sich für die Landschaft: Fichten, nichts als Fichten, eine kahle todte Sandlandschaft. Das Kind bewegte sich nervös und schaute mich mit schiefem Blick an. Plötzlich stieg er auf den Sitz, öffnete das Fenster und neigte sich hinaus. Der Vater stieß einen Schrei des Entsetzens aus.
– Albert! ... Albert! ... Thue das nicht, mein Kind! Du könntest hinausfallen.
Das Kind antwortete in trockenem Tone, indem es boshaft die Lippen verzog:
– Ich werde das thun ... ich werde das thun ... Du langweilst mich ...
Der Vater erhob sich und holte aus einem Reisesacke ein schwarzes seidenes Tuch.
– Nun, mein Kind, nimm wenigstens dieses Tuch um den Hals, sagte er in sanftem Tone. Die Luft ist heute sehr frisch. Ich bitte Dich, nimm das Tuch ...
– Schau, Hühner! rief der Knabe, auf einen Schwarm von Raben zeigend.
– Das sind keine Hühner, mein Kind, erklärte der kleine Herr. Das sind Raben.
Das Kind erwiderte rauh:
– Und wenn ich will, daß es Hühner seien! ... Laß mich in Frieden ...
Und er begann zu husten ...
Erschrocken begann der kleine Herr in seinem Reisesacke zu suchen.
– Albert, Dein Saft ... Mein Kind, nimm Deinen Saft! ... Ich zittere.
Das Kind nahm das Fläschchen und schleuderte es zum Fenster hinaus.
– Da hast Du Deinen Saft; suche ihn, wenn Du willst, sagte der Knabe mit einem boshaften Kichern ...
Da wandte der Vater sich mit flehenden Augen zu mir. Ach, welch' ein Märtyrergesicht! Hohle Wangen, tiefe Runzeln und zwei große, feuchte, roth geränderte Augen; ein kurzer, grauer, schmutziger Bart, wie er auf der starren Haut der Todten wächst.
Ich erhob mich nun ebenfalls und schloß mit einer gebieterischen Bewegung des Fenster. Das Kind drückte sich mürrisch in seine Ecke. Der Vater dankte mir mit einem schmerzlichen und gütigen Blicke.
Da ich ihn fast streifte, neigte ich mich zu ihm und fragte leise:
– Sie haben nur ihn?
– Ja.
– Und er ... er ist ... der Verstorbenen ähnlich?
Der kleine Herr erröthete.
– Ja ... ja ... leider!
– Sie mag zwanzig Jahre alt gewesen sein?
Ich sah Entsetzen in seinen Augen; ein Zittern schüttelte seine dünnen, knochigen Beine. Und er antwortete nichts.
Bis zur Station Carnac wechselten wir kein Wort. Der Zug lief durch eine weite, kahle Landschaft von beklemmender Traurigkeit. Und doch hätte ich gern mit dem kleinen Herrn gesprochen, ihm tröstende, liebevolle Worte gesagt. Das Bewußtsein, daß Jemand auf Erden Mitleid mit ihm habe, würde ihm vielleicht wohlgethan haben, daß er die schwere Bürde des Lebens leichter getragen hätte.
Vergebens suchte ich nach solchen Worten ...
Ich stieg aus, ohne mich umzuwenden. Und der Zug setzte seinen Weg fort und entführte den kleinen Herrn, den ich wohl nie wiedersehen werde ... Ach, wenn ich das Wort hätte finden können, das nöthig war, um seinen Schmerz zu lindern! ... Doch wer hat jemals dieses unfaßbare Wort gefunden?
Nachdem ich vier Stunden durch die Sandfelder und an der Küste herumgestreift war, trat ich in eine kleine Herberge, wo ich frisch gefangene Austern aß und einen Krug Cider trank. Frauen bedienten mich, wie man deren noch auf den Gemälden Van Eyck's sieht. Es war der nämliche milde Ernst, die nämliche edle Haltung, die nämliche Schönheit und Ruhe der Bewegungen ... Und eine Stille ...
Das Haus war sauber, die Wände mit Kalk getüncht. Über dem Kamin altes Getäfel, auf dem Kaminsims zwei große Seeigel-Schalen. Ich vergaß das Jahrhundert, ich vergaß das Leben, das menschliche Leid, ich vergaß Alles und verbrachte da eine köstliche Stunde.
In demselben Jahre brachte ich drei Tage auf der Insel Sein zu. Die Insel Sein liegt nur wenige Meilen von Festlande. Von der Raz-Spitze und von der Küste bei Beuzec bemerkt man bei klarem Wetter ihre platten Dünen, einen schmalen, gelben Streif im Meere, und die graue Säule ihres Leuchtthurmes. In diesem etwas düsteren Zwischenraume ist der Ozean mit tückischen Felsenriffen unter dem Wasser besäet, deren Spitzen selbst bei stillem Wetter von Gischtkämmen gekrönt sind; und die zahlreichen Strömungen, die auf der grünen Wasserfläche milchweiße Krümmungen bilden, machen diese Gestade für die Fahrzeuge sehr gefährlich. Zur Zeit der Ebbe verbinden die mehr bloßliegenden Riffe, gleich einer Felsenkette, diese von der Brandung gepeitschte Küste mit der trübseligen Sandfläche der Insel. Es ist fast wie ein Damm, den stellenweise die Wogen unterwaschen haben.
Wegen der unsagbaren Armuth ihres Bodens und der primitiven Sitten ihrer Bewohner scheint die Insel Sein dem Reisenden, der daselbst landet, mehr weltverloren als der Archipel des Stillen Ozeans und kahler als die Felsen des südlichen Polarmeeres. Und doch lebt auf diesem Sande, auf diesen Klippen und Kieseln eine Bevölkerung von nahezu sechshundert Seelen, verstreut in schmutzigen Weilern. Einige Stück Feld, mit Kartoffeln, magerem Kohl bebaut, dann einige kleine Buchweizen-Felder, geschoren und kahl wie der Schädel eines Räudigen, bilden die einzige Kultur der Insel und diese wird ganz und gar von den Weibern versehen. Der Baum ist da unbekannt; der Stechginster ist die einzige Staude, die in dieser jodhältigen Luft, unter den unablässigen Stößen des Seewindes gedeiht.
Zur Zeit seiner Blüthe verbreitet er einen Veilchenduft, welcher sich in die Gerüche von menschlichem Schmutz, faulem Seetang und trockenen Fischen mengt, die das ganze Jahr hindurch die Luft verpesten.
Die Untiefen rings um die Insel sind reich an Fischen, Aalen und Hummern. Die Männer, klein und schwächlich, mit Meerschweinfratzen, treiben Fischerei. Zuweilen verkaufen sie ihre Fische in Audierne und Douarnenez; zuweilen tauschen sie von den englischen Dampfern Tabak und Branntwein dafür ein. Wenn die stürmische See sie zwingt, zuhause zu bleiben, dann betrinken sie sich. In ihrem Rausche sind sie schrecklich und schnell bereit, die Messer hervorzuholen. Die Weiber besorgen den Anbau und die Ernte, je nach der Gunst der Witterung; den Rest ihrer Zeit benützen sie dazu, die Netze auszubessern. Sie sind lang und bleich, bedächtig in ihrem Gehaben. Durch Zusammenheirathen sind sie verfeinert, fast verschönt geworden, aber von jener krankhaften Schönheit, welche die Chlorose verleiht. Gesichter mit Perlmutterglanz, mit der Farbe verkümmernder Blumen, Gesichter, die schlechtes, in Zersetzung befindliches Blut verrathen, sind dort nicht selten. In ihrer Tracht von dunklem Tuch mit viereckigem Zuschnitt, ihren altmodischen Hauben auf dem glattgescheitelten Haar, mit ihren langen, nackten Hälsen, diesen dünnen, biegsamen Stengeln, die aus den in Herzform getragenen Busentüchern hervorragen, gleichen sie auf Glas gemalten heiligen Jungfrauen.
Die meisten unter ihnen haben das Festland nicht gesehen. Viele sind nicht weiter gekommen, als bis zu dem kleinen Hafen, von welchem die Fischer täglich ausfahren. Von den Formen des Lebens kennen sie nichts als was ihre armselige Insel davon aufweist, als was die Schiffbrüche, auf dieser felsigen See so häufig, am Strande ablagern, als was der Kutter bringt, der dreimal wöchentlich den Postdienst zwischen Audierne und der Insel Sein versieht: kleine Artikel des Lebensbedarfes, Toilette-Flitter. Als vor dreißig Jahren einmal ein Mann die Insel allein verließ und nach längerer Zeit mit einem Hunde wiederkehrte, war dies ein Schrecken unter den Weibern. Sie glaubten, er wäre der Teufel, und flüchteten schreiend in die Kirche. Doch solche Ereignisse sind selten in der stets gleichen Existenz auf der Insel, wo der Wagemuth von Ansiedlern es noch nicht versucht hat, eine Kuh, ein Pferd oder ein Fahrrad einzuführen.
Die Alten, die beim Fischfang nicht mehr taugen und vor den Thüren ihrer Häuser, angesichts des Meeres sitzen, plaudern zuweilen. Während sie im Dienste des Staates waren, haben sie außerordentliche Dinge gesehen: Pferde, Esel, Kühe, Elephanten, Papageie und Löwen.
Ein Weib der Insel, dessen Brust vom Krebs zerstört wurde, entschloß sich auf den Rath des Pfarrers zur heiligen Anna in Auray zu wallfahrten. Die Kranke schiffte sich auf dem kleinen Kutter ein, in solcher Angst vor dem, was sie zu sehen bekommen sollte, daß sie darüber unterwegs ihre furchtbaren Schmerzen vergaß. Doch kaum war sie auf dem Quai von Audierne gelandet, als sie Entsetzensschreie auszustoßen begann und sich zur Erde warf.
– Unser Herr Jesus! rief sie. Wie viele Teufel! wie viele Teufel! ... Sie haben Hörner ... Heilige Jungfrau, erbarme Dich meiner! ...
Sie hatte Ochsen einschiffen gesehen und man hatte viele Mühe ihr begreiflich zu machen, daß das keine Teufel wären, sondern harmlose Thiere, wie es deren überall auf dem Festlande gebe und welche, weit entfernt die Menschen zu essen, vielmehr von den Menschen gegessen werden, mit Kohl oder mit Kartoffeln. Sie erhob sich, nicht völlig beruhigt und machte vorsichtig einige Schritte, erstaunt über die Neuheit des Schauspiels, das sie vor Augen hatte.
Und siehe! da gewahrte sie auf der anderen Seite des Hafens, auf den Höhen von Poulgouazec, eine Windmühle, deren große Flügel, durch eine kräftige Brise bewegt, unter dem Himmel sich drehten ... Sie erblaßte, fiel abermals zu Boden, breitete die Arme aus und begann zu heulen:
– Das Kreuz unseres Heilands dreht sich! Das Kreuz unseres Heilands ist toll geworden! Ich bin in der Hölle! ... Gnade! Gnade! Zu Hilfe!
Und seither, wenn sie jenseits des blauen, grünen oder grauen Stahlsees die gewundene Linie des fernen bretonischen Bodens betrachtet, bekreuzigt sie sich, kniet im Sande nieder und dankt dem Himmel in inbrünstigem Gebete, daß er sie von den Dämonen und aus der Hölle befreit habe, wo der Satan das heilige Kreuz des Heilands zwingt, sich zu drehen und immerfort zu drehen.