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Von allen Gemälden, die der Louvre enthält, ist das großartigste der Louvre selbst. Dies war meine Empfindung, als ich in dem großen Pariser Kunstpalast gemächlich aus einem Saal in den anderen schlenderte. Im Gegensatz zu vielen anderen Besuchern war ich ohne Bädecker gekommen, da ich nicht die Absicht hegte, die endlosen Galerien in ihrer ganzen Ausdehnung zu durchwandern, oder von dem Geiste der übergewissenhaften Beschauer beseelt war, die sich vorgenommen haben, in einer begrenzten Anzahl von Stunden eine unbegrenzte Anzahl von Quadratmetern bemalter Leinwand mit dem Auge zu überfliegen. Ich war zufrieden, wenn ich eine einsame Ecke und ein einzelnes Meisterwerk finden konnte, um mich mit ihm in einer müßigen Stunde zu beschäftigen, mein Kunstverständnis zu erweitern und in den Geist des auf dem Gemälde dargestellten Vorwurfes einzudringen.
Obgleich ich mich aber aus den heißen, belebten Straßen hierher geflüchtet hatte, um Ruhe und Stille zu finden, fand ich mich, wie dies so meine Art ist, von dem lebenden sich in beständigem Wechsel vor meinen Augen abrollenden Panorama unwiderstehlich gefesselt. So bewegte ich mich denn durch die Menge, die Gesichter der Menschen aufmerksamer betrachtend als die an den Wänden hängenden Schöpfungen der Phantasie oder Darstellungen historischer Begebenheiten. Die Eigentümlichkeiten einzelner Individuen unter diesen Hunderten von Vertretern des Menschengeschlechtes, die beinahe von jedem Fleck der zivilisierten Welt hier zusammengeströmt waren, interessierten mich. Jede kleine, hinter kopierenden Künstlern stehende Gruppe von Gaffern bildete ein Gemälde für sich; etliche von ihnen, die mit unverhohlener Verwunderung auf die Geheimnisse der Malkunst blickten, die sich ihnen hier zum erstenmal enthüllten, gaben interessantere lebende Studien ab als die im Entstehen begriffenen Studien auf der Staffelei. Die Künstler und Künstlerinnen selbst, die den Pinsel unter dem Kreuzfeuer von beobachtenden Blicken eifrig handhabten und die Zuschauer entweder nicht beachteten oder sich wenigstens so stellten, lenkten meine Aufmerksamkeit auf sich und regten mich zu Betrachtungen an. Ich vermochte den geschickten Kopisten herauszuerkennen, dessen leichte, sichere Striche von guter Schulung und dem beruhigenden Bewußtsein Zeugnis ablegten, daß er den klingenden Lohn für seine Arbeit glücklich einstreichen werde; ebenso das jugendliche Genie, das sich an seiner selbstgewählten Aufgabe abmühte, angefeuert durch die reine Liebe zur Kunst und unbestimmte, vage Träume von künftigem Ruhm, der sogar dem des Meisters gleichkommen könne, aus dessen Werke er augenblicklich Begeisterung zu schöpfen suchte; die halbverrückten Farben- und Leinwandverquister, die sich augenscheinlich auf einem Wege abquälten, auf dem nur enttäuschte Hoffnungen und zerschellter Ehrgeiz anzutreffen waren; endlich die Dilettanten, die mit Pinsel und Malstock graziös herumhantierten, und deren Eitelkeit schon eine stille, wenn auch nicht offen zur Schau getragene Befriedigung fand, wenn sie die bewundernden Blicke der zufällig an ihnen Vorbeigehenden auf sich gerichtet sahen.
In dieser Stimmung schlenderte ich weiter, beobachtend, lächelnd, bemitleidend, mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, als ich plötzlich vor einem großen Fenster die Gestalt eines Mannes gewahrte, der auf einem Klappstuhl saß und eifrig an einem auf einer Staffelei stehenden Bilde malte. Der Künstler wendete mir den Rücken zu, aber es lag für mich etwas Vertrautes in dieser mächtigen Gestalt, in der Form dieser breiten Schultern, in der Wucht dieses massigen, vierkantigen Schädels; selbst der abgetragene Sammetrock war mir nach Sitz und Schnitt bekannt.
Nach kurzem Zögern trat ich an den Maler heran und berührte seinen Arm.
So ist Sir Richard Sterling also in Paris, sagte ich mit einem stillen Lächeln.
Hylton, alter Junge, rief er aus, indem er aufsprang; bei allem, was dir heilig ist, wo kommst du hergeschneit?
Wir schüttelten einander die Hände und sahen uns gegenseitig mit einem Blicke ins Gesicht, der eine Geschichte von langer, treuer Freundschaft zu erzählen wußte.
Ich bin nilaufwärts gewesen und befinde mich jetzt auf dem Heimwege.
Omdurman! rief er ungläubig aus. Du willst mir doch nicht weismachen, daß du die Expedition gegen Chartum mitgemacht hast.
Aber ja! Du weißt, Brown, unser alter Kriegsgaul, war in Kuba, und so ergriff ich die Gelegenheit beim Schopfe, mich Kitchener anzuschließen. Ich ging nach Aegypten und bin nun hier. Das ist alles.
Alles? Das ist alles, meinst du, Hylton? Bei Gott, und du wohntest jener Schlacht bei! Was gäbe ich darum, wenn ich dort gewesen wäre!
Nun, dadurch bist du einer Menge Strapazen, schlechtem Wasser, Staub, Hitze und alldergleichen entgangen, gar nicht zu sprechen von der möglichen Dysenterie und den fast sicheren Typhusbazillen.
Ach, schweige mir von den Typhusbazillen! Aber die Schlacht, Mann – die Schlacht, dieses wilde Anstürmen der Derwische! Ich habe dies alles in deiner Zeitung gelesen, hatte aber keine Ahnung, daß die Depeschen von dir herrührten.
Ach ja, die Schlacht! Ja wohl, ich gebe zu, die war herrlich. Diese wenigen Stunden wiegen ein Jahrzehnt alltäglichen philiströsen Daseins auf.
Herrlich! Ich sollte meinen! Und ich wünsche alles darüber zu erfahren, jetzt gleich und aus erster Hand.
Und deine Arbeit? warf ich ein, indem ich auf die Staffelei deutete, auf der man eine halbvollendete Kopfstudie sah, die er nach einem riesigen Rubensschen Gemälde kopierte. Ich sehe, Sterling, daß du trotz deines immensen Reichtums immer noch entschlossen bist, Maler zu werden. Und dies hier ist gar nicht so schlecht, fuhr ich fort, indem ich zurücktrat und die prüfende Miene des berufsmäßigen Kritikers annahm.
O, meine Arbeit kann warten, entgegnete er, ohne auf meine ziemlich verklausulierte Anerkennung zu achten. Laß mich nur das Zeug hier wegräumen, und ich stehe dir für den Rest des Tages zur Verfügung.
In wenigen Minuten war der Malkasten des Künstlers in Ordnung gebracht, die Staffelei zusammengelegt und das Gemälde in einer Ecke an die Wand gelehnt.
Alles in Ordnung, sagte Sterling, der nun auch seinen Rock gewechselt hatte und zum Fortgehen bereit war.
Und was geschieht mit deinem Zeug da? fragte ich, da ich nicht wußte, ob er erwartete, ich möchte ihm beim Fortschaffen des Malgerätes behilflich sein.
Keine Sorge! Ich habe ein Abkommen mit einem der Museumsdiener getroffen. Er bewahrt sie mir auf, bis ich wiederkomme. Laß uns gehen!
Während mein Freund seine Vorbereitungen beendete, war ein Beamter in Uniform näher getreten und öffnete einen kleinen Wandschrank. So verließen wir die Galerie, ohne uns mit den Sachen schleppen zu müssen.
Wir haben noch zwei gute Stunden bis zum Diner, begann Sterling, als wir unten auf dem Hofe waren. Was fangen wir in dieser Zeit an?
Ich beabsichtigte eigentlich heut abend noch über den Kanal zu fahren, entgegnete ich.
Heut abend über den Kanal fahren? Mach doch so etwas nicht. Deine Freunde in London müssen sich eben in Geduld fassen. Wir kommen nicht so häufig zusammen, daß wir uns nach so kurzem Beisammensein schon wieder trennen könnten. Meinst du nicht?
Sterling und ich waren Schulfreunde und später Stubengenossen auf der Universität gewesen, und obgleich seit diesen längst vergangenen Tagen, in denen wir uns auf unseren Beruf vorbereiteten, das Leben uns ganz verschiedene Wege geführt hatte, so interessierten wir uns doch noch für einander, standen in mehr oder weniger regelmäßigem Briefwechsel und verfehlten selten, uns wenigstens einmal alljährlich zu treffen. Infolge meiner unerwarteten Abreise nach dem Süden war unser Briefwechsel etwas länger als gewöhnlich unterbrochen worden. Ich sehnte mich daher ebenso nach der Gesellschaft meines Freundes wie er sich nach der meinigen. So bedurfte es keines Drängens, um mich zu bewegen, auf seinen Vorschlag einzugehen und meine Heimreise vierundzwanzig Stunden zu verschieben.
Ein Tag früher oder später macht nichts aus, erwiderte ich. Man weiß auf der Redaktion, daß ich meine Heimreise ganz nach meiner Bequemlichkeit einrichte. Ich glaube, ich habe volles Anrecht auf eine kleine Erholung, meinst du nicht?
Ganz deiner Meinung! Heut abend speisen wir zusammen, dann gehen wir in die Oper und beschließen den Tag in meinem Atelier mit einer gemütlichen langen Plauderei über vergangene Zeiten.
Bis der Tag anbricht und uns daran erinnert, daß es Zeit ist, zu Bett zu gehen, entgegnete ich, bei der Erinnerung an ähnliche Sitzungen lächelnd. Aber du hast mir noch nicht erzählt, wann und wie du nach Paris gekommen bist.
O, beide Fragen sind leicht beantwortet. Wann? – ungefähr vor sechs Monaten. Warum? – weil ich Londons herzlich überdrüssig war und einen Luftwechsel nötig hatte. Nun, was sollen wir bis sieben Uhr anfangen?
Wir wollen einen Spaziergang machen.
Die Boulevards sind aber so belebt, und der Tuileriengarten ist voller Kinder und Kindermädchen.
Dann wollen wir die Quais entlang gehen bis zur Notre Dame.
Das ist ein guter Gedanke, Hylton. Jedenfalls wollen wir uns die alte Kathedrale einmal ansehen. Sie gewährt den herrlichsten Anblick, wenn die Sonne tief im Westen steht. Und während des Gehens kannst du mir von deinen Abenteuern im Lande der Pharaonen erzählen.
Abenteuer! mein lieber Junge, wandte ich ein; ich habe tatsächlich keine erlebt.
Nun, die anderen haben sie erlebt, was auf das nämliche herauskommt, versetzte Sterling, als wir uns der Seine zuwandten, und ich wünsche die ganze Geschichte von A bis Z zu hören.
Unter der Bedingung, antwortete ich, daß wir für den Rest des Abends französisch sprechen.
Immer noch derselbe alte Hamster, erwiderte mein Freund lachend. Schon auf der Schule warst du stets ein fleißiger Junge, und ich glaube, du würdest dich nicht wohl fühlen, wenn du eine Gelegenheit vorübergehen ließest, deine Sprachkenntnisse zu erweitern.
Es ist nicht nur dies. Ich glaube, ein Fremder lebt gar nicht das wirkliche Leben von Paris mit, atmet nicht die wahre Luft der Stadt, wird sozusagen nicht von dem Geiste des Ortes durchdrungen, wenn er nicht die Sprache der Menschenmenge um ihn her beherrscht und versteht. Bist du nie auf diesen Gedanken gekommen, Sterling?
Es liegt etwas Richtiges in dem, was du sagst, entgegnete er nachdenklich. Dann fuhr er heiter lachend auf Französisch fort: So mag es denn sein. Aus England verbannt, sind wir zur Stunde Pariser. Ich wette, es erinnert dich an alte Zeiten, wenn du hier weilst.
Ja, ich habe zwei arbeitsreiche, glückliche Jahre in Paris verlebt. Aber ich kann nicht sagen, daß ich sie zurückwünschte. Laß uns lieber von England sprechen.
Oder von Chartum, mahnte er mich.
So mußte ich denn die Geschichte des Zuges gegen den Kalifen von neuem erzählen. Während ich berichtete, ruhten wir uns auf einer der Bänke unter den Bäumen aus, und auch als wir unseren Spaziergang wieder aufgenommen hatten, blieben wir mehr als einmal stehen, um uns über die Quaimauer zu lehnen. Als wir Notre Dame auf diese Weise eine Stunde später erreicht hatten, war das lebhafte Interesse meines Gefährten wenigstens teilweise befriedigt, und die Unterhaltung kehrte zu näherliegenden Gegenständen zurück.
Es wird heut abend eine schöne Aussicht von den Türmen sein, bemerkte Sterling. Wollen wir hinaufsteigen?
Danke, alter Junge! Ich kenne diese Treppen nur allzugut. Einem Künstler wie dir mag es ja nichts ausmachen, aber für einen gewöhnlichen Sterblichen, wie ich einer bin, ist einmal im Leben gerade genug. Außerdem ist es auch auf jeden Fall zu spät für die Türme, wenn ich nicht irre. Es muß beinahe sechs Uhr sein.
Du hast recht. Gut, wir wollen einmal rund um den Platz gehen und uns dann auf den Rückweg machen.
Während wir so entlangschlenderten, erläuterte Sterling einige architektonische Einzelheiten der alten Kirche und machte mich auf verschiedene Punkte aufmerksam, die ein besonderes Interesse darboten. Ich teilte meine Zeit zwischen dem Anhören seiner kleinen Kunstvorlesungen und der Beobachtung der in den Anlagen spielenden Kinder. Am anderen Ende des Gitters machten wir halt.
Ah, da ist die Morgue, rief ich, während meine Augen auf einem niedrigen Gebäude jenseits der Straße ruhten, über dessen Eingang die Trikolore flatterte.
Ja, aber du wirst doch nicht hineingehen wollen?
Ganz gewiß, erwiderte ich. Dies ist eine der Sehenswürdigkeiten von Paris, der ich es nie unterlasse, einen Besuch abzustatten, wenn ich hier in der Gegend bin.
Ich dächte, du hättest Grausiges zur Genüge im Sudan sehen können.
Paris ist aber nicht der Sudan, lieber Freund. Uns erzählt ein armer Bursche hier in der Morgue eine ergreifendere, fesselndere, rührendere Geschichte, als eine Schar von hundert niedergemetzelten Derwischen, deren Leben keinerlei Berührungspunkte mit dem unsrigen besitzt, und deren Gesichter einander ebenso ähnlich sehen wie ihre Dschibbahs.
Du bist doch stets auf der Suche nach Geschichten!
Das ist mein Beruf. Dein Auge ist für die Farbe. Aber selbst für einen Maler ist das Studium der Farben von Leichen mitunter nötig.
Durch diesen Appell an sein künstlerisches Gewissen schien Sterlings vorübergehendes Zaudern besiegt zu sein, denn er folgte mir ohne weitere Einwendungen über die Straße. Am Eingang des unheimlichen Gebäudes blieben wir stehen, um die Porträts der unrekognosziert Gebliebenen zu mustern – der Unglücklichen, die nicht einmal einen Bekannten gefunden hatten, der sie erkannt hatte, und die in die Unendlichkeit hinübergegangen waren, ohne mehr zu hinterlassen als eine Nummer im Polizeiregister und ein wenige Quadratzoll großes, auf chemischem Wege hergestelltes Bild. Und diese Bilder! – Bilder von Männern und Frauen, die ein gewaltsames Ende gefunden hatten, einige unter ihnen mit ruhigen, friedlichen Zügen in ihrem letzten Schlummer, die meisten aber mit dem furchtbaren Ausdruck des Todeskampfes auf dem schreckverzerrten Antlitz.
Während Sterling sich noch die Photographien besah, begab ich mich in die Totenkammer. Wie gewöhnlich war da eine Anzahl von Menschen, die vor den großen Glasscheiben herumstanden, hauptsächlich Leute, wie man sie dort alle Tage antrifft, die von einer stumpfen, teilnahmslosen Neugier oder von dem krankhaften Verlangen, sich an dem Anblick des Gräßlichen zu weiden, herbeigelockt worden waren. Innerhalb der Glaswände lag nur eine einzige Leiche auf einem der schmalen eisernen Betten, und als mein Blick auf sie fiel, konnte selbst ich, der ich doch gewiß in jüngster Zeit Gelegenheit gehabt hatte, mich an grausige Szenen zu gewöhnen, einen leisen Ausruf des Mitleids und der Verwunderung nicht unterdrücken.
Die Leiche war die eines Mannes in der Blüte seines Lebens. Das Gesicht war marmorweiß, von vornehmem Aussehen und statuengleich in seiner starren Ruhe. Es trug keinen Ausdruck von Schmerz, Schreck oder Furcht. Die Augen waren halbgeöffnet, und dies verlieh dem Gesichte in Verbindung mit einem zynischen Lächeln um die leicht geöffneten Lippen einen merkwürdig täuschenden Anschein des Lebens im Tode. Ein langer, kohlschwarzer Bart floß ihm vom Kinne herab; die Kleider waren ihm zum Zwecke der Rekognition ausgezogen und dann wieder lose über ihn gebreitet worden. Die großen weißen Hände lagen friedlich gefaltet auf der Brust, und neben den noch mit Strümpfen bekleideten Füßen standen Stiefel, die einem Manne von ungewöhnlicher Körpergröße angehört haben mußten. An dem Fußende des eisernen Bettes stand mit Kreide geschrieben die amtliche Nummer der namenlosen menschlichen Ueberreste.
Nach der ersten unwillkürlichen Regung des Mitgefühls nahm mein Geist blitzschnell und fast automatisch objektiv das Wahrgenommene in sich auf. Alle wesentlichen Einzelheiten des traurigen Bildes vor mir hatte ich mit einem Schlage übersehen. Ich ging nunmehr dazu über, durch sorgfältige Beobachtung im einzelnen festzustellen, daß keine sichtbaren Zeichen eines gewaltsamen Todes vorhanden waren. Die Stiefel waren noch blank, daher konnte der Mann sicher nicht ertränkt worden sein. Die Hände zeigten keine Spur eines Kampfes.
Wie ich demnächst bemerkte, war es seltsam zu sehen, wie die halbgeöffneten Augenlider des Toten in regelmäßigen Zwischenräumen zu blinken schienen. Wir sind so daran gewöhnt, das offene Auge in Bewegung zu erblicken, daß, obgleich wir uns dieser Bewegung gar nicht bewußt sind, ihr Fehlen sofort den Eindruck davon in dem Geiste des Beobachters wiedererweckt. Ich ließ meine Gedanken schweifen; es kamen mir Halluzinationen von Bildern, die hingerissene Beschauer anzulächeln, oder von Statuen, die verzückten Betern zuzunicken schienen, in den Sinn, als eine Hand mich fest an der Schulter packte. Ich wandte mich um und blickte in Sterlings Gesicht. Es war totenbleich. Was ist dir? fragte ich.
Großer Gott, Hylton, ich kenne den Mann, flüsterte er.
Du kennst ihn? O, mein alter Junge, es tut mir leid, daß ich dich hierhergebracht habe, entgegnete ich, und dann drängten wir uns durch die umstehende Menge dem Ausgange zu.
Wer ist es? fragte ich voller Eifer, als wir die Tür erreicht hatten, denn meine Neugier war im höchsten Grade rege gemacht worden. Sterling sah immer noch ganz verstört aus.
Frage mich jetzt nicht zuviel, erwiderte er mit einem Blicke, der meine Aufmerksamkeit auf die Zurückbleibenden lenkte, die uns verwundert nachsahen. Ich werde dir später alles erklären. Jener Mann hat mir Modell gestanden.
Modell?
Ja, und der arme Teufel darf hier nicht länger liegen bleiben. Ich muß ihn identifizieren.
Dann kennst du seinen Namen und seine Wohnung?
Jawohl, beides, oder wenigstens den Namen, unter dem er bekannt war, und die Wohnung, in der ein Brief ihn immer erreichte. Aber Hylton, ehe wir in das Bureau hinübergehen, möchte ich dir noch etwas mitteilen. Dieses Modell, Jean Baptiste –
Jean Baptiste – so lautet sein Name?
Jawohl. Er trug in seinen Manschetten gewöhnlich Knöpfe mit einem ganz auffallenden Muster. Sieh, ich will dir genau zeigen, was ich meine – er zog ein Skizzenbuch aus der Tasche – ein Dreieck in einem Kreise und beide Figuren von einem Quadrat umschlossen. Eine regelmäßige geometrische Zeichnung; du kannst sie gar nicht verkennen.
Wenn daher die Manschettenknöpfe dieses Mannes mit dieser Zeichnung übereinstimmen, so ist er sicher dein Modell Jean Baptiste.
Gewiß. Aber obgleich jeder Zweifel bei mir ausgeschlossen ist, daß er der Mann ist, so möchte ich auch dich völlig überzeugen. Ich habe einen Grund dafür, den ich dir später mitteilen werde. Komm jetzt. Wir wollen das unangenehme Geschäft so bald wie möglich erledigen.
Ein Polizist stand vor dem Bureau, das die eine Seite des Gebäudes einnahm. Sterling setzte ihm kurz sein Anliegen auseinander, und wir erhielten sofort Zutritt. Drinnen wurden die üblichen Formalitäten erledigt. Die verschiedenen Gegenstände, die man bei dem Toten gefunden hatte, wurden uns natürlich vorgelegt. Es waren ein paar Kleinigkeiten von geringem oder gar keinem Werte; aber unter diesen befanden sich genau solche Knöpfe, wie sie mein Freund vor ein paar Minuten gezeichnet hatte, einfache, billige Knöpfe aus Bronze mit der erwähnten geometrischen Zeichnung in kräftigem Relief. Ich betrachtete sie mit lebhaftem Interesse, beteiligte mich aber nicht an den Feststellungen.
Die Formalitäten der Rekognition waren nunmehr den gesetzlichen Vorschriften entsprechend erledigt und Name und Wohnung des Toten als
Jean Baptiste, Rue St.-Jacques 171
und die des Rekognoszierenden als
Sir Richard Sterling, Bart.,
Rue Chardon-Lagache 81
angegeben.
Auf welche Weise hatte dieser Jean Baptiste seinen Tod gefunden? Die Frage wurde durch den das Protokoll aufnehmenden Beamten beantwortet. Die Leiche war am Morgen jenes Tages am Fuße einer Baumgruppe im Bois de Boulogne entdeckt worden. Eine Schußwunde ging gerade durch das Herz, und die versengte Kleidung lieferte den Beweis, daß der Schuß aus unmittelbarer Nähe abgefeuert worden sein mußte. Es lag zweifellos ein Mord vor, denn man hatte keine Waffe gefunden, und die Spuren im Grase zeigten, daß die Leiche von der Landstraße aus in das Dickicht, in dem man sie versteckt gefunden hatte, geschleppt worden war. Es war kein offenkundiger Beweis für einen Raubmord vorhanden, und für den Augenblick fehlte den Behörden betreffs des Täters jeder Anhaltspunkt. Dies war die ganze Auskunft, die uns der Beamte geben konnte.
Sterling stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als wir wieder im Freien waren.
Wir können nach dem, was sich heut zugetragen hat, unmöglich die Oper besuchen, aber wir müssen etwas essen. Wir wollen eine Droschke nehmen und nach dem Café de la Paix fahren. Nachher kommst du mit mir nach Hause.
Was hat es mit diesen Knöpfen für eine Bewandtnis? fragte ich, als wir wegfuhren.
Mein Freund wehrte mit der Hand energisch ab. Wir wollen diese Geschichte für eine spätere Stunde aufsparen und jetzt den schrecklichen Fall auf ein paar Stunden zu vergessen suchen.