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Estelle Berthault war in der Tat ein schönes Mädchen, und was noch wertvoller ist, sie zeigte ein offenes, edelherziges Wesen. Nach der erzwungenen Unterredung mit der verschleierten Dame in der vergangenen Nacht bot es eine wahrhafte Erquickung, in ihre furchtlosen, strahlend blauen Augen zu blicken, das Spiel der beweglichen Lippen zu beobachten und zu sehen, wie sich eine reine Seele in einem Antlitz spiegelte, das klar wie die Sonne am Himmel vor uns lag. Von dem Augenblick an, in dem ich sie zu Gesicht bekommen hatte, wunderte ich mich nicht mehr über den Gefühlswechsel unseres fahrenden Ritters. Niemandes Herz kann für eine Sache schlagen, die Glauben ohne Aufklärung oder Ueberzeugung beansprucht, und das Geheimnis, mag es auch nur vorübergehend Interesse erwecken, muß unverrichteter Sache weichen, wenn Seelenreinheit nach ritterlicher Hilfe verlangt.
Und ebenso war Maître Guichard »ein feiner alter Herr«, wie ihn Sterling treffend beschrieben hatte. Langes weißes Haar umrahmte ein Antlitz, auf dem sich Wohlwollen und Klugheit paarten. Er war schon hochbejahrt, aber in seinen raschen Bewegungen, seinem durchdringenden Blick und seiner lebhaften Unterhaltung sprachen sich noch Kraft und Entschlossenheit aus. Er empfing uns mit dem ganzen würdevollen Anstand eines altfranzösischen Edelmanns. Und neben ihm stand das Mädchen, über dessen blühende jugendliche Schönheit seine Gegenwart einen schützenden Mantel zu breiten schien.
Nach den einleitenden Bemerkungen, die gemacht wurden, um sozusagen das Eis zu brechen, kam der Rechtsanwalt sofort auf den Gegenstand zu sprechen, der unser aller Gedanken ausschließlich beschäftigte.
Ich schulde Ihnen eine Erklärung, meine Herren, zur Rechtfertigung meiner kleinen Estelle, begann er, indem er liebevoll seine Hand auf die Schulter des neben ihm sitzenden Mädchens legte. Das Quartier Maubert vor acht Uhr früh war nicht der geeignete Ort für ihr erstes Zusammentreffen mit Sir Richard Sterling.
O, wir brauchen darauf nicht zurückzukommen, erwiderte mein Freund mit seinem offenen, frohen Lächeln. Man braucht nur das Vergnügen zu haben, Mademoiselle zu sehen, wie sie jetzt ist, um zu wissen, daß sie keiner Rechtfertigung bedarf.
Sie warf ihm einen halb schüchternen Blick voller Dankbarkeit zu, und eine feine, zarte Röte stieg in ihre Wangen. Der Rechtsanwalt fuhr fort:
Wenn Sie etwas mehr von ihrer Geschichte erfahren, als ich Ihnen heut morgen erzählen konnte, so werden Sie in der Lage sein, jene liebenswürdige Bemerkung mit noch größerer Zuversichtlichkeit zu wiederholen. Ihr Vater, Hauptmann Berthault, ist, obgleich viel jünger als ich, doch mein lieber, vertrauter Freund. Die gegen ihn erhobene Anklage, ein militärisches Geheimnis einer fremden Regierung verkauft zu haben, ist einfach ungeheuerlich und widersinnig. Aber es gibt leider gegenwärtig soviel Ungeheuerliches und Widersinniges in dem sozialen Leben Frankreichs, daß sich ein Verdacht leicht auch an den völlig Unschuldigen heftet, und selbst der Fleck einer falschen Anklage ist außerordentlich schwer zu tilgen.
Seine Stimme bebte vor Erregung; er hielt kurze Zeit inne, und ich konnte bemerken, daß in diesem Augenblick der alte Herr mehr an sein unglückliches Vaterland als an seinen mit empörender Ungerechtigkeit behandelten Freund dachte.
Es ist hart für einen Franzosen, nahm er wieder das Wort, so zu Engländern zu sprechen, wie ich es jetzt tue. Aber jeder denkende und vorurteilsfreie Mann in Frankreich muß zugeben, daß unter uns ein furchtbares Uebel um sich gegriffen hat – ein Uebel, dem nur durch die schärfsten Mittel, die härtesten Strafen gegen jeden Teilnehmer an dem verbrecherischen Tun Einhalt getan werden kann. Die Zeit ist nahe – meine Herren, achten Sie auf meine Worte – sie bricht an, trotz der schrecklichen Finsternis und des unentwirrbaren Chaos der unmittelbaren Gegenwart, da die Morgenröte der von keiner Menschenfurcht beirrten Gerechtigkeit zurückkehren wird.
Und mittlerweile befindet sich Ihr Freund, der Hauptmann Berthault, in Haft, bemerkte ich, um seinen Geist von allgemeinen Nebendingen abzulenken, die sein patriotisches Herz so offenkundig in einen Widerstreit der Gefühle verstrickten, in dem sich Schmerz, Demütigung und Entrüstung mischten.
Ja, der arme Berthault leidet schwer, erwiderte er traurig, indem er sich bemühte, seine Fassung wiederzugewinnen. Und dies ist der Punkt, der uns am meisten interessiert, fuhr er mit einer leichten Verbeugung gegen mich fort, die bewies, daß er den Beweggrund meiner Unterbrechung verstand und zu würdigen wußte. Das Schlimmste daran ist, daß er in Geheimhaft sitzt, wie es das Militärstrafgesetz anordnet, genau wie in früheren Tagen die Menschen auf Grund einer königlichen Lettre de cachet eingesperrt wurden. Wir können keinen Zutritt zu ihm erhalten und sind daher außer stande, auf dem ordentlichen Wege etwas für seine Verteidigung zu tun. Wir sind lediglich auf unverbindliche Versicherungen angewiesen, daß das Gerichtsverfahren zu geeigneter Zeit beginnen werde. Und der furchtbarste Gedanke bei alledem ist der, daß die höchsten Würdenträger entschlossen zu sein scheinen, im angeblichen Interesse der öffentlichen Sicherheit ihre Augen vor diesem grausamen, einem Einzelnen zugefügten Unrecht zu verschließen. Bah! Die Heeresverwaltung in Frankreich ist angefault – ich sage, wenn eine solche Schändlichkeit begangen werden kann, so ist sie angefault – und sein flammendes Auge verriet, daß ihm dieses Wort von Herzen kam.
So hat Mademoiselle, wie mir Sir Richard Sterling erzählte, im geheimen für ihren Vater gewirkt?
Wie Sie aus meinen Worten entnommen haben werden, entgegnete er, stand Mademoiselle Berthault kein anderer Weg offen. Ihr unglücklicher Vater hatte keinen anderen Verteidiger, denn sie ist sein einziges Kind – in der Tat seine einzige nähere Angehörige. So hat sich die Tochter, vom Geiste wahrer Pietät getrieben, selbst ihre Aufgabe gestellt. Und Sie werden zugeben, meine Herren, daß sie auf die edelmütigste Weise bestrebt gewesen ist, ihr gerecht zu werden.
Nein, nein, wehrte das Mädchen errötend ab, ich habe nur getan, was ein jedes Kind für einen zärtlich geliebten Vater tun würde.
Nun, nahm der Rechtsanwalt wieder das Wort und sprach jetzt rascher, als wollte er einen peinlichen Punkt in seiner Erzählung so bald wie möglich erledigen, ich habe es nicht nötig, unerquickliche Tatsachen zu verschleiern. Es war für uns beide ein Schritt, zu dem wir uns nur widerstrebend entschlossen, aber wir hatten keine Wahl. In unserer verzweifelten Lage, rings von Schwierigkeiten umgeben, nahmen wir die Hilfe von Spionen in Anspruch. Ja, meine Herren, es klingt abscheulich; aber zu einer solchen Arbeit können wir nur die Werkzeuge verwenden, die wir zur Hand haben, wenn wir auch in unserem Inneren Ekel davor empfinden, uns mit ihnen zu befassen. So haben wir denn für Spionendienste bezahlt. Und wir haben zweifellos auch für unser Geld etwas erreicht. Wie ich Sir Richard Sterling zum Teil schon heut morgen auseinandersetzte, haben wir drei wichtige Tatsachen in Erfahrung gebracht.
Welches sind diese? fragte ich.
Erstens, daß ein Geheimnis, das sich zum Teil, fast ausschließlich, in Berthaults Gewahrsam befand, ungefähr vor zwei Jahren verkauft worden ist.
Sodann?
Daß der Brief, in dem dieser schnöde Verrat begangen worden war, in voller Sicherheit in dem Bureau eines bestimmten fremden Militärattachés in Paris liegen sollte.
Und drittens?
Daß es sich im Laufe der letzten paar Monate – gerade seit Berthaults Verhaftung – herausgestellt hat, daß das inkriminierte Dokument, niemand weiß, wann, aus jenem Bureau entwendet und dafür ein leeres Blatt hingelegt worden ist.
Ein Schimmer des Verständnisses begann in mir zu dämmern, und ich blickte auf Sterling. Seine Aufmerksamkeit war jedoch völlig durch Beobachtung von Estelles Gesicht in Anspruch genommen, die, die Augen fest auf den alten Herrn geheftet, jedem Worte mit gespanntem, beinahe atemlosem Interesse lauschte.
Aber wir haben noch mehr erfahren, fiel sie rasch und flüsternd ein.
Ja, wir haben noch mehr erfahren, und nun beginnt Mademoiselles Rolle in der Geschichte. Zu diesem Ergebnis unserer Nachforschungen waren wir durch eine Bemerkung hingeleitet worden, die Hauptmann Berthault einmal lange vor seiner Verhaftung hatte fallen lassen. Berthault hatte die Möglichkeit des Durchsickerns eines militärischen Geheimnisses in seiner besonderen Abteilung erwähnt und dabei den Namen ebendesselben Militärattachés genannt, von dem ich soeben gesprochen habe. Es war in der Tat die Erinnerung an diese Unterredung, die meine Nachforschungen in diese besondere Richtung lenkte. Im Besitz der nun gewonnenen weiteren Kenntnis mußten wir zunächst zu ermitteln suchen, wo der gestohlene verräterische Brief hingekommen sei. Zwei Personen waren in gleicher Weise an der Wiederauffindung desselben interessiert – Mademoiselle hier und der Attaché, dem er entwendet worden war.
Es würde noch eine dritte Person in Betracht kommen, bemerkte Sterling, der Verräter, der das Geheimnis verkauft hatte.
Ohne Zweifel, erwiderte der Rechtsanwalt nachdenklich, wenn diese Person zufällig erfahren hat, daß das kompromittierende Papier in andere Hände übergegangen ist als die, für welche es bestimmt war. Bis jetzt jedoch haben wir noch keinerlei Nachricht über irgend einen Schritt, der von jener Seite aus getan worden wäre. In der Tat haben wir noch keine Ahnung, von wem ein solcher Schritt unternommen werden könnte.
Wer käme denn dann noch außer Hauptmann Berthault hinsichtlich des Verdachtes, diese Verräterei verübt zu haben, in Betracht?
Soviel wir wissen, nur noch eine einzige Persönlichkeit: Berthaults unmittelbarer Vorgesetzter und sein Mitarbeiter bei einer wichtigen Aufgabe spezieller Art.
Und der Name dieses Offiziers lautet?
Oberst Boissy-Rennes; er ist ein Mann, der ganz und gar unfähig ist – ebenso unfähig wie Eugène Berthault – einen Verrat zu begehen. Ich bin nicht genau mit ihm bekannt, aber ich weiß, daß er ein Soldat ist, der tapfer für Frankreich gekämpft hat, ein Soldat, der im ganzen Heere – und das bedeutet in gewissem Sinn das ganze Volk – geachtet und beliebt ist. Nein, nein! geben Sie diesem Gedanken nicht weiter Raum, mein lieber Herr, Boissy-Rennes hat nicht das geringste mit der Angelegenheit zu tun.
Der alte Herr sprach mit derselben festen Ueberzeugung, als hätte er die Ehre seines lieben, teuren Freundes, des Vaters Estelles, verteidigt.
Ich pflichte der Meinung Maître Guichards vollständig bei, bemerkte Mademoiselle Berthault. Oberst Boissy-Rennes ist bei dem schändlichen Handel nicht beteiligt. An ihn wandte ich mich zuerst in meinem Kummer, und sowohl er wie Madame Boissy-Rennes haben mich nicht allein in der liebenswürdigsten Weise ihrer Sympathie versichert, sondern auch alles, was in ihren Kräften stand, getan, um mir zu helfen. Ich kann ihn ebensowenig für schuldig halten wie meinen Vater.
In welcher anderen Richtung haben wir dann nach dem Missetäter zu suchen?
Ach, das ist die Frage, die wir uns schon hundertmal selbst vorgelegt haben, erwiderte der Rechtsanwalt mit einer leichten Gebärde der Verzweiflung. Das ist das Problem, das uns auf Schritt und Tritt verfolgt und dessen Lösung bisher unseres ganzen Scharfsinnes gespottet hat. Die einzige Person, die uns hätte einen Fingerzeig geben können, ist offenbar der Auftraggeber des Verräters.
Der fremde Attaché?
Ja. Auch an ihn wagte die arme Estelle eine Bitte um Hilfe zu richten. Aber er hat sich als hart und gefühllos erwiesen, als ein Mann von Stein, von Eisen.
Als ein Mann, bar jeder milderen Regung, bestätigte das Mädchen mit tränenerstickter Stimme. O, er war grausam gegen mich, er war grausam.
Sie erzählte ihm ihre Geschichte, das arme Kind, fuhr der Rechtsanwalt fort, indem er ihre Hand beruhigend streichelte. Er hörte sie mit aller Höflichkeit an, wollte aber nichts zugeben, er behauptete sogar, von der Angelegenheit nicht das geringste zu wissen, und komplimentierte sie am Ende aus seinem Zimmer hinaus, ohne ein einziges Wort des Mitgefühls oder der Hoffnung. Aber wir wissen ganz genau, daß dieser verschlagene Heuchler genau zu derselben Zeit alle Hebel in Bewegung setzte, um das fehlende Dokument wiederzubekommen. So konnten wir nur annehmen, daß sein einziges Bestreben war, seine Regierung zu decken, die Geheimnisse seiner Agenten zu wahren, und den in seinem Solde stehenden erbärmlichen Verräter zu retten. Unser armer Berthault kann nun sehen, woher er Beweise für seine Unschuld erbringt!
Gerechter Himmel! rief Sterling entrüstet, können denn solche gewissenlose Handlungen überhaupt verübt werden?
Mein lieber Herr, erwiderte der Rechtsanwalt würdevoll, das Spionagesystem ist stets gewissenlos. Auf der empörendsten Unehrenhaftigkeit beruhend, wird es durch die militärische Notwendigkeit gestützt, und der eiserne Fuß des Militarismus kennt kein Mitleid, fühlt keine Gewissensbisse. Er stampft nieder, was ihm in den Weg kommt, und stürmt vorwärts, ohne auch nur einmal zurückzublicken.
O, es ist gräßlich, es ist entsetzlich! Ich hoffe zu Gott, mein Vaterland gibt sich nicht zu dergleichen Schandtaten her.
Ihr Vaterland, entgegnete Maître Guichard, ist wahrscheinlich das Land, das unter allen am reinsten von diesem Vorwurfe dasteht. Das Meer, das Ihre Küsten von allen Seiten umspült, scheint die Regierungsgrundsätze bei Ihnen sauberer zu halten, als sie anderswo sind.
Sie sind sehr liebenswürdig, so etwas zu sagen, stammelte Sterling, beinahe um Entschuldigung für die seiner Nation gezollte Anerkennung bittend, zu der er den edelmütigen alten Franzosen durch seine Aeußerung veranlaßt hatte. Die Gerechtigkeitsliebe dieses Franzosen wurzelte augenscheinlich in jenem erhabenen Geiste des Kosmopolitismus, der so selten unter uns anzutreffen ist und Menschen jeder Rasse, jedes Glaubens, jeder Farbe mit gleicher Liebe umfaßt.
Lassen wir dies aber jetzt, fuhr Maître Guichard mit leichtem Lächeln fort. Wie ich gesagt habe, war der Attaché unbeugsam; wir konnten nichts von ihm erhoffen. So hatten wir denn allein zu handeln; in der Tat hatten wir jetzt genügenden Grund, den Brief, wo immer er sei, an uns zu bringen, bevor er noch in die Hände dieses Mannes zurückgelangen konnte. So entwarf denn Mademoiselle einen Plan – ganz für sich, und führte ihn, kühn und geschickt, wie Sie zugeben werden, und auch glücklich aus, wie der Erfolg hoffentlich bald lehren wird. Sie hatte den Attaché genau bewachen lassen, und durch ihre Spione – denn durch erkaufte Spione kann man alles in Paris erreichen – erfuhren wir, daß sich unter den von ihm zur Wiederbeschaffung des gestohlenen Papiers geworbenen Agenten ein notorisches Mitglied der Diebes- und Einbrecherzunft in Paris gehöre.
Ah, mein Freund von heute früh, Monsieur Sidi Maugras, fiel Sterling lachend ein.
Derselbe, Sir; der Spitzbube, mit dem Mademoiselle Sie im Café Béarnais verhandeln sah. Wir gelangten erst vor vierzehn Tagen in den Besitz dieser Nachricht, obgleich wir Grund zu der Annahme haben, daß Maugras schon eine ganz beträchtliche Zeit an dieser Aufgabe arbeitete – bis dahin allerdings ohne Erfolg. Und nach dieser Entdeckung – was glauben Sie wohl, daß meine junge Freundin hier tat? Trotz all meiner Proteste, meiner Bitten – ach, und selbst meiner Tränen, hat sie diesen Burschen persönlich bei jeder möglichen Gelegenheit überwacht, in der Hoffnung, hierdurch etwas über den Verbleib des Briefes herauszubringen.
Estelles Wangen brannten, weniger allerdings, wie ich zu bemerken glaubte, infolge der Eröffnungen des alten Rechtsanwaltes, als vielmehr aus der Verwirrung, in die Sterlings bewundernde Blicke sie versetzten.
Bei Gott! murmelte er.
Es war nichts dabei, tatsächlich nichts, ich versichere Sie, wehrte sie mit sanftem Lächeln und in reizender Verwirrung ab. Sie müssen mich die Sache erklären lassen, lieber Maître Guichard. Sehen Sie, Sir Richard, ich bin Künstlerin.
Künstlerin! wiederholte er, etwas erstaunt. Auch ich bin Künstler.
O, das ist hübsch; da sind wir ja Kollegen von der Palette, erwiderte sie naiv. Nun also, ich bin Künstlerin – bis jetzt freilich noch eine sehr bescheidene, aber ich hoffe, eines Tages mehr zu leisten. Und ich habe ein spezielles Gebiet, auf das mich meine Neigungen hinführen. Ich liebe es, die kleinen Straßenjungen von Paris zu skizzieren und zu malen, so oft sich nur die Gelegenheit dazu bietet. Ich werde Ihnen später einige von meinen Arbeiten zeigen, wenn Sie sich dafür interessieren sollten.
Ich würde nur zu entzückt darüber sein! rief Sterling in heller Begeisterung.
Er blickte sich um, als suche er die Skizzenmappe, und ich glaube bestimmt, er würde den Brief Jean Baptistes völlig vergessen haben, wenn sich die schöne Künstlerin erboten hätte, ihm ihre Zeichnungen zu zeigen. Aber sie blieb bei dem vorliegenden Thema.
Ich habe viele hunderte von Skizzen dieser lieben kleinen gamins entworfen und habe zu diesem Zwecke natürlich die seltsamsten Winkel in Paris durchstreifen müssen. Nun, bitte, lächeln Sie nicht über meine Kühnheit, große Dinge mit kleinen zu vergleichen und einen weltberühmten Namen in Verbindung mit meinem eigenen zu bringen. Aber Sie wissen vielleicht von unserer großen Rosa Bonheur, daß sie ihre ersten Tierstudien noch als Kind in den Pariser Schlachthäusern gemacht hat. Sie war so arm, daß sie keinen anderen Unterricht nehmen konnte. Und das einzige Kostüm, in dem sie jene schrecklichen Orte besuchen konnte, war das eines Knaben. So legte sie die Bluse der arbeitenden Klassen an und konnte ihren Zweck erreichen, ohne von irgend jemand belästigt zu werden. Nun, vor mehr als einem Jahre wagte ich, dem Beispiel dieser großen Frau zu folgen, und habe oft, sehr oft zu allen Stunden des Tages die abgelegensten Gegenden in dem Kostüm durchwandert, in dem Sie mich heute früh gesehen haben, Sir Richard, in dem eines camelot, eines Zeitungsjungen.
Ich sagte dir ja, Hylton, es war ein wirklicher Roman, ein herrlicher Roman, rief Sterling enthusiastisch aus, ohne den leisesten Versuch zu machen, seine Begeisterung einzudämmen.
Unter seinem Blicke senkte Estelle abermals ihre Augen; aber sie erlangte bald ihre Fassung wieder und nahm ihre Erzählung von neuem auf.
Es kommt Ihnen vielleicht schrecklich vor, aber auf diese Weise habe ich Dinge zu sehen bekommen, die ich sonst niemals gesehen haben würde, und ich habe Skizzen entworfen, zu denen mir unter anderen Verhältnissen die Modelle ganz unerreichbar geblieben wären. Als ich nun über diesen Sidi Maugras, dessen Aufenthaltsorte und Lebensgewohnheiten nicht allzuschwer zu ermitteln waren, Näheres in Erfahrung bringen mußte, entschloß ich mich dazu, ihn, so gut es ging, mit meinen eigenen Augen zu überwachen. Wo er den größten Teil seiner Zeit verbringt, kann ich natürlich nicht sagen; aber es scheint zu seinen unabänderlichen Gewohnheiten zu gehören, am Morgen in das Café Béarnais zu kommen, um seine Briefe abzuholen und seinen Kaffee zu trinken.
Ein ganz anständiges Lokal, fiel der alte Rechtsanwalt ein, aber nur einen Steinwurf von einigen der verrufensten Diebeshöhlen von ganz Paris entfernt.
Wir haben schon vom Quartier Maubert gehört, erwiderte ich mit einem zustimmenden Nicken.
Nun, in den letzten vierzehn Tagen, fuhr Estelle fort, ist dieser Maugras täglich in das Café Béarnais gekommen, bisweilen schon um sieben Uhr, niemals später als um acht. Ich habe ihn beobachtet, während er seine Briefe las und seinen Kaffee trank, und bin ihm sogar später durch die Straßen gefolgt. Und irgend etwas in seinem Verhalten brachte mich stets zu der Ueberzeugung, daß seine Aufgabe noch nicht erledigt sei, daß er sich noch auf der Suche nach jenem Briefe befinde.
Und wenn Sie geglaubt hätten, er habe ihn?
So würde ich ihn für das Dokument bezahlt und den Attaché überboten haben, erwiderte sie ruhig.
Und im Weigerungsfalle, Mademoiselle?
Dann würde ich ihn darum gebeten haben, rief Estelle, ihre Hände mit einer flehenden Gebärde zusammenlegend und mit einem strahlenden Ausdruck schöner Begeisterung in ihrem Antlitze. Ich würde ihn zum Mitleid bewegt haben. Ein Dieb kann ein Herz haben, während der Chef eines amtlichen Spionageressorts für jede Bitte taub sein kann.
Ein Klang leidenschaftlicher Bitterkeit lag in ihren letzten Worten. Mein Herz war gerührt; nie zuvor hatte ich im wirklichen Leben eine ergreifendere Geschichte von der Hingebung einer Tochter vernommen; Träume von Frauenliebe, wie jenes Mädchen ihrer fähig war, begannen nebelhaft durch meinen Sinn zu ziehen. Aber Sterlings Stimme versetzte mich in die Gegenwart zurück.
Sie haben es, Gott sei Dank, nicht nötig, diesen Schuft um den Brief zu bitten, rief er voller Eifer.
Wieso? fragte sie mit einem schüchternen, erstaunten Blicke.
Weil ich den Brief hier habe!
Und ein triumphierendes, glückliches Lächeln überflog seine Züge, als er das versiegelte Met Jean Baptistes in die Höhe hielt.