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Viertes Kapitel.

Mit meinem Dazwischentreten erhielt die Sache ein ganz verändertes Aussehen. Die verschleierte Dame wich mit einem leichten Aufschrei von mir zurück wie jemand, der unversehens eine Schlange auf seinem Wege erblickt. Aber sie schwieg. Wahrscheinlich erkannte sie an dem festen Tone meiner Stimme, daß ich meinen Entschluß gefaßt hatte und daß bei mir wenigstens tränenvolle Bitten nutzlos sein würden.

Sterling, alter Junge, sagte ich, indem ich meinen Freund auf einen Stuhl nötigte, du kannst über die Papiere des Toten nicht so aufs Geratewohl verfügen.

Aber sie gehören der Dame mit vollem Fug und Recht.

Warte einen Augenblick. Ich wandte mich der Dame zu, die in einen Stuhl gesunken war, und begann ihr in freundlichem und höflichem Tone – denn ich war gern bereit, mich eines Besseren belehren zu lassen und anzuerkennen, daß ich ihr unrecht getan hatte – die Sache von meinem Gesichtspunkte aus darzustellen. Ich gebe Ihnen mein Wort, Madame, sagte ich, daß, wenn Sie beweisen können, daß diese Briefe Ihnen und Ihnen allein gehören, und daß sie Ihnen übergeben werden können, ohne daß jemand anders ein Unrecht oder ein Schaden damit geschieht, ich der Uebergabe der Papiere an Sie kein Hindernis mehr in den Weg legen werde. Aber verstehe ich recht, so wünschen Sie, daß das verschlossene Kuvert Ihnen auf Ihr bloßes Wort hin, ohne weitere Fragen, selbst ohne Verletzung der äußeren Siegel eingehändigt werde?

Das ist es ja, worum ich bitte, erwiderte sie, ihre Gefühle gewaltsam bemeisternd.

Aber sehen Sie denn nicht ein, daß es uns bei den Umständen, unter denen Jean Baptiste seinen Tod gefunden hat, schlechterdings unmöglich ist, Ihrem Wunsche ohne weiteres zu willfahren?

Warum sollte dies unmöglich sein? Habe ich diese Briefe nicht zur Genüge beschrieben, um zu beweisen, daß sie mein Eigentum sind?

Sie sind daher auch diejenige, die das meiste Interesse an der Wiedererlangung der Papiere hat? fragte ich mit scharfer Betonung.

Niemand sonst hat ein Anrecht auf sie oder ein Interesse an ihnen, entgegnete sie, ohne die Spitze in meinen letzten Worten bemerkt zu haben.

Dann müssen Sie zugeben – verzeihen Sie, daß ich die Sache mit dürren Worten bezeichne – daß dieses Paket Material zu enthalten scheint, welches mit dem geheimnisvollen Tod Jean Baptistes in Zusammenhang steht.

Was meinen Sie damit? fragte sie von oben herab.

Ich meine damit, daß Jean Baptiste möglicherweise dieser Briefe wegen seinen Tod gefunden hat.

Seinen Tod gefunden? rief sie aufspringend. Seinen Tod gefunden? Unzweifelhaft. Aber durch mich, Sir? Auf meine Veranlassung hin? Haben Sie die Stirn, mir einen solchen Verdacht ins Gesicht zu schleudern?

Die Würde ihrer empörten Haltung, die wilde Erregung ihrer Frage überzeugten mich davon, daß sie diesmal keine angenommene Rolle spielte. Ich erkannte daraus, daß sie an Jean Baptistes Ermordung keinen Anteil hatte.

Ich äußerte keine Vermutung, erwiderte ich; Sie haben aber durch Ihr Verhalten verraten, daß das Verschwinden jenes Mannes eine große Wohltat für Sie ist.

Eine Wohltat! rief sie aus. Ja, es ist eine Wohltat, die größte Gnade und der höchste Segen, der mir seit langer Zeit zuteil geworden ist. Jetzt ist er tot, ich werde frei sein, Gott sei Dank, ich werde wieder aufatmen können – vorausgesetzt, daß ich meine Briefe erhalte, fügte sie in ganz verändertem, angsterfüllten Tone hinzu.

Wissen Sie aber, daß es noch andere gibt, denen es um den Besitz dieser Briefe zu tun ist? fragte ich.

Was soll das heißen? rief sie rasch und erregt aus.

Wissen Sie, daß vor ungefähr drei Monaten Jean Baptiste bei einem Versuche, ihm eben diese Papiere zu entreißen, in die Seine geworfen worden ist und beinahe ertrunken wäre?

Nein, nein, ich habe nie etwas davon gehört, erwiderte sie, gespannt aufhorchend. Abermals verrieten Stimme und Haltung, daß sie die Wahrheit sprach. Wer außer mir kann Interesse an diesen Briefen haben? fragte sie ängstlich.

Ich würde viel darum gegeben haben, hätte ich ihr Gesicht beobachten können, und doch glaubte ich, auf mir selbst unerklärbare Weise durch den Schleier hindurch das Arbeiten dieser Züge, die bei jedem Satze ihren Ausdruck wechselten, zu erkennen. Ich wußte, daß ihre Lippen jetzt in nervöser Furcht und quälender Ungewißheit geöffnet waren.

Dies ist ein Punkt, den die Dokumente selbst am ehesten aufklären werden, entgegnete ich. Die Briefe geben uns möglicherweise Mittel und Wege an die Hand, die Mörder Jean Baptistes der Gerechtigkeit zu überliefern.

Sie blieb wie betäubt stehen; dann aber, als sie meine Meinung zu erraten schien, schlug ihre Stimme sofort um: ihre Angst verwandelte sich in fast unzähmbare Wut.

Sie beabsichtigen, diese Briefe zu lesen? rief sie mit einer wilden Handbewegung. Sie wollen es wagen, sie zu lesen?

Aber ihr stürmischer Protest prallte machtlos an mir ab. Er hatte im Gegenteil nur die Wirkung, mein Herz gegen sie zu verhärten und meine beabsichtigte Handlungsweise vor mir selbst umsomehr zu rechtfertigen. Wie ich schon früher überzeugt gewesen war, waren wir noch weit entfernt von einer vollen Einsicht in den wirklichen Sachverhalt, und aus ihrem von wahnsinniger Angst eingegebenen Verlangen, diese Papiere in ihren Besitz zu bekommen, ohne daß wir eine Kenntnis von deren Inhalt erhielten, konnte ich entnehmen, daß hier noch etwas anderes dahintersteckte, von dem wir keine Ahnung hatten. Wie zum Beispiel, wenn sie die Briefe haben wollte, weniger um ihren eigenen Ruf zu schützen als vielmehr um den eines anderen zu schädigen?

Ich sehe keinen anderen Weg, den wir einschlagen könnten, erwiderte ich trocken, während mir diese Erwägungen durch den Sinn schossen.

Ah, Sie erbärmlicher Wicht! Sie tragen kein Bedenken, eine so gemeine, niederträchtige Handlung zu begehen? rief sie in wildem, leidenschaftlichem Hohne. Dann wandte sie sich an Sterling und begann, ohne ihn direkt anzureden, zu bitten, indem sie fortfuhr, mich zu beschuldigen. Sie wollen die Ehre einer Frau mit Füßen treten, wollen mich vernichten und in Ihre Gewalt bekommen, genau so, wie es der Schurke tat, der nun tot ist!

Sie brach in leidenschaftliches Weinen aus, und das war für Sterlings Empfindungen zu viel.

Sieh einmal zu, Hylton, läßt sich denn gar nichts tun? fragte er ziemlich einfältig.

Bevor irgend ein Versprechen, welcher Art es auch immer sei, gegeben werden kann, antwortete ich fest, muß der äußere Umschlag jenes Briefpaketes geöffnet werden. Wir müssen wissen, welches Jean Baptistes eigene Absichten in bezug auf diese Briefe waren. Außerdem können seine Anordnungen auf dem inneren Umschlage, wie sie auch lauten mögen, einen Schlüssel zu dem Geheimnis, das seinen Tod umgibt, enthalten.

Ich sah, daß sie auf jedes Wort mit atemlosem Interesse lauschte.

Und dann? fragte Sterling.

Wenn wir den zweiten Umschlag gesehen haben, läßt sich vielleicht auch die Frage beantworten, wer außer dieser Dame sich um jeden Preis in den Besitz dieser Dokumente setzen will.

O, was das betrifft, erinnerst du dich denn nicht, daß Jean Baptiste einer Erpresserbande angehörte? Wahrscheinlich hatten sie ausgespürt, daß er irgendwelche sichere Einnahmequellen besaß, und beneideten ihn um sein Geheimnis. Mit Hilfe solcher Briefe verschafft sich ein Erpresser oft einen sehr behaglichen Lebensunterhalt. Dies ist ohne Zweifel der Grund, weshalb Jean Baptistes Leben so unaufhörlich bedroht war und endlich ein gewaltsames Ende fand.

Das mag alles sein, erwiderte ich, ohne mich von meiner Meinung abbringen zu lassen, und dies um so weniger, als die Frau sich sofort an dieses neue Argument klammerte wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm.

Ja, ja, rief sie rasch aus; sie wollen mir auch fernerhin Geld erpressen, mich erbarmungsloser als je verfolgen. Sie werden mich vor diesem furchtbaren Geschick retten, nicht wahr, Sie werden dies tun? flehte sie, natürlich nicht zu mir, sondern zu meinem Freund gewandt.

Ich sah, daß er von neuem schwankte, aber ich warf ihm einen warnenden Blick zu, der seine Wirkung nicht verfehlte.

Ich fürchte, daß wenigstens der äußere Umschlag geöffnet werden muß, stotterte er.

Er muß geöffnet werden, fügte ich hinzu, seine Worte mit nicht mißzuverstehender Betonung wiederholend.

Sie schwieg kurze Zeit und schien jede Möglichkeit zu erwägen, jede Gefahr abzuschätzen.

Wenn es sich herausstellt, daß die Briefe mir gehören, sagte sie, ohne jeden Zweifel mir gehören, werden Sie mir sie dann aushändigen?

Das verspreche ich Ihnen, entfuhr es Sterling, ehe es mir möglich war, die Erfüllung dieser Zusage auch nur von einer einzigen Bedingung abhängig zu machen.

Und Sie versprechen mir ferner, fragte sie, jetzt wieder in sanftem Tone – ah, ich konnte das Lächeln auf ihrem maskierten Gesichte, das Lächeln des Triumphes über ein bestandenes Wagnis, ein gewonnenes Spiel erkennen – daß, wenn bei der Oeffnung des Umschlages mein Name ans Licht kommen sollte, beide Herren diesen Namen geheim halten wollen, so lieb Ihnen Ihre Ehre ist?

Selbstverständlich, selbstverständlich, erwiderte Sterling; in betreff dieses Punktes brauchen Sie keine Angst zu haben.

Denn bedenken Sie, fügte sie sanft hinzu, es ist das Geheimnis einer Frau, es handelt sich um die Ehre einer Frau.

Das ganz unnötige Zurückgreifen auf dieses peinliche Argument – ein Argument, das, wie ich wohl erkannte, ihr ebenso wie das frühere durch Sterling selbst nahegelegt worden war – empörte mich nicht nur, sondern es bestärkte mich noch in meiner Ueberzeugung, daß sie mit seinen Gefühlen spielte, um sich den Vorteil, den sie durch sein vorschnelles Versprechen erlangt hatte, endgültig zu sichern.

Ein Geheimnis, das die Ehre einer Frau betrifft, kommt niemals über die Lippen eines Ehrenmannes, erwiderte mein Gefährte feierlich.

Sie sah mich an, als erwarte sie von mir eine ähnliche Versicherung.

Was Ihren Namen betrifft, versetzte ich kalt, so wissen Sie sehr wohl, daß er bei uns sicher aufgehoben ist. Was mit dem versiegelten Pakete geschehen soll, ist die Sache meines Freundes, und er hat sein Wort gegeben. Es bleibt jedoch selbstverständlich dabei, daß der äußere Umschlag in unserer Gegenwart geöffnet werden muß.

Von unserer Seite hatte, wie ich wohl erkannte, ein schwächliches, voreiliges Nachgeben stattgefunden. Aber im Grunde genommen war das getroffene Uebereinkommen ein Kompromiß, und wir würden wenigstens erfahren, was Jean Baptistes eigene Absichten in betreff der endgültigen Verfügung über diese Briefe gewesen waren.

Mag es denn sein, stimmte sie zu. Mögen die äußeren Siegel gelöst werden. Ich habe Sir Richards Ehrenwort, daß, wenn es sich herausstellt, daß die Briefe mir gehören, mir das Paket ohne weitere Erörterung ausgehändigt wird.

Das ist richtig, erwiderte Sterling. Das ist vollständig richtig, nicht wahr, Hylton? fragte er mich etwas nervös, ohne Zweifel infolge meiner finsteren Miene.

Ich nickte zustimmend, nicht allzu freundlich und sicherlich widerwillig.

In diesem Falle, meine Herren, sagte sie, da Sie jetzt meinen Namen erfahren werden, liegt kein Grund vor, weshalb ich diese Vermummung beibehalten soll.

Sie warf Mantel und Schleier zurück und enthüllte ein blasses, vornehmes, herrisches Antlitz mit regelmäßigen Zügen und blitzenden Augen – das Antlitz einer Frau im vollen Glanze gereifter, wunderbarer Schönheit, dessen Wirkung noch erhöht wurde durch die dreifache Perlenschnur, die ihren Hals umwand, und durch das kostbare Schmuckstück, das von dieser herabhing und auf ihrer Büste funkelte.

Sterling trat zurück, verwirrt und geblendet. Auch ich war für den Augenblick überrascht, und ein leiser Ausruf entschlüpfte meinen Lippen.

So wollen wir denn das Paket besichtigen, Sir Richard, fuhr sie mit einem Blicke hochmütiger Verachtung auf mich fort.

Ich will es holen, erwiderte er und wandte sich zur Tür, um das Zimmer zu verlassen.

Ich blieb in unbehaglicher und gedrückter Stimmung zurück, und die Dame geruhte nicht, das lastende Schweigen zu unterbrechen. Sie hatte ihr Gesicht abgewandt und schritt langsam im Zimmer auf und ab.

Einen Augenblick später hörte ich die Stimme meines Freundes von oben rufen.

Hylton! Hylton!

Ich murmelte eine Entschuldigung und eilte hinaus.

Ich fand Sterling in der Mitte des Ateliers stehend, in verstörter Haltung, eine Hand gegen seine Stirn gepreßt.

Was ist geschehen? fragte ich erschrocken.

Das Paket ist fort, flüsterte er heiser.

Fort? rief ich ungläubig. Fort?

Ja. Sieh her. Mein Schreibtisch ist erbrochen worden.

Jetzt erst bemerkte ich eine Anzahl auf dem Fußboden verstreuter Papiere.

Gerechter Gott! Während wir unten verhandelten, ist ein Dieb hier gewesen.

Du hast recht; es ist ja alles klar. Was wird sie sagen?

Die Erwähnung der Fremden brachte mich auf einen Gedanken, der mir blitzschnell durch den Kopf schoß.

Ein Verbündeter! rief ich. Hinters Licht geführt wie die Kinder, bei Gott!

Ich stürzte hinaus, um nach unten zu stürmen, ehe die freche Betrügerin sich aus dem Staube machen könnte.

Aber sie stand unmittelbar hinter mir. Sie war mir die Treppe hinauf gefolgt. Die tödliche Blässe auf ihrem Gesicht, der entsetzte Ausdruck ihrer großen, schwarzen Augen, ihr rasches Atmen, ihre aufs Herz gepreßte Hand verrieten mir, daß sie ahnte, es habe sich etwas sehr Unangenehmes ereignet.

Die Briefe? Wo sind die Briefe? keuchte sie, in das Zimmer tretend.

Ich konnte nur auf die am Boden liegenden Papiere deuten.

Gestohlen? rief sie in grenzenloser Bestürzung.

Gestohlen, allem Anschein nach, erwiderte ich.

Jetzt wandte sie sich mir zu mit einem Blicke voll so tödlichen Hasses und einem Aufschrei ohnmächtiger Wut, wie ich sie niemals mehr in den Augen und von den Lippen einer Frau zu sehen und zu hören hoffe.

Sie sind es, dem ich dies zu verdanken habe, zischte sie.


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