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Die zornige Erregung der Frau übte auf mich ganz dieselbe ernüchternde Wirkung aus wie ein kaltes Sturzbad. Als ich mich umgewandt und nach einem Blick in ihr entsetztes Gesicht erkannt hatte, daß meine erste Vermutung, sie sei an der Entwendung der Papiere beteiligt, unbegründet sei, war ich geneigt gewesen, Sterlings Gefühl der Demütigung beim Eingestehen dieses unerklärlichen Unglücksfalls zu teilen. Dort stand er – das getreue Abbild eines niedergeschmetterten und zerknirschten Missetäters. Was mich selbst betrifft, so hatte der beleidigende Vorwurf, den sie mir ins Gesicht geschleudert hatte, und zwar der Ton, in dem er geäußert worden, mehr noch als die Worte selbst, tatsächlich jede Regung des Mitgefühls, die mein Herz zu empfinden begonnen hatte, erstickt. Und wie das Mitleid verschwand, so kehrte die kühle Ueberlegung zurück. Der Ausbruch der Leidenschaft war, wie ich fest überzeugt war, nicht der einer schuldbewußten, verzweifelten irrenden Frau mit gebrochenem Herzen, sondern eher der einer wütenden Rachsucht, die sich an der Ausführung irgend eines schändlichen Planes gehindert sieht.
Ich stand schweigend da und überließ die Erklärungen meinem Freunde.
Bei Gott, ich bin trostlos, stammelte er niedergeschlagen.
Sind sie fort, unwiderruflich fort? fragte die Dame jetzt wieder ruhiger, da sie mit ihm sprach, aber mit einer namenlosen Angst in der Stimme.
Die Frage schien Sterling eine Erleichterung zu gewähren; sie gab ihm einen Anlaß zur Tätigkeit. Er beugte sich nieder und zog das Schubfach heraus, das augenscheinlich allein von den Dieben durchsucht worden war. Es war das gewöhnliche Kastenschubfach eines französischen Schreibtisches, innen mit Fächern, einer Abteilung für Geld, einem besonders verschließbaren Fache für wichtige Papiere und Wertsachen in der Hinterwand. Sterling schüttete den gesamten Inhalt auf die Platte des Schreibtisches und begann ratlos unter den Papieren zu suchen.
Pah! Der ungeduldige Ausruf rührte von der Fremden her. Sie deutete nachdrücklich auf die Spuren eines Meißels, die sowohl an der Außenfläche wie an der Innenseite des Schubfaches sichtbar waren.
Ach ja, ein regelrechter Einbruch, das ist ganz klar, sagte Sterling, während er immer noch den Haufen Papiere durchwühlte.
Vermissen Sie sonst noch etwas? fragte sie.
Lassen Sie mich sehen, erwiderte er. Es lag ein Päckchen mit ein paar hundert Francs in dem Schubfach. Auch dies ist verschwunden.
Dann ist der Mann vielleicht doch nur ein gewöhnlicher Dieb gewesen. Sehen Sie noch einmal nach.
Sterling kam ihrem Wunsche nach, durchsuchte alles sorgfältig und wandte jedes Blatt Papier einzeln um. Aber das versiegelte Kuvert fand sich bestimmt nicht mehr vor.
Sie sehen, sagte er, gerade als Sie ankamen, hatten Herr Hylton und ich das Ding in der Hand. In der Tat standen wir gerade im Begriff, den Umschlag zu öffnen, als Ihr Läuten ertönte. Ich legte das Päckchen Briefe in das Schubfach zurück und drehte den Schlüssel um. Wenn uns nun ein Dieb beobachtet hat – er blickte auf die großen Oberlichtfenster im Dache, von denen eins, wie ich jetzt erst bemerkte, offen stand – so hat er auch jenes Kuvert gesehen, und da er es zweifellos für wertvoll hielt, weil es so sorgfältig gesiegelt war, so wird er es sich außer dem Gelde angeeignet haben.
Oder auch umgekehrt, erwiderte die Dame bitter, beinahe höhnisch, er kam wie ich hierher, um die Papiere zu holen, und da er das Geld sah, steckte er es ebenfalls in seine Tasche.
Das ist keineswegs ausgeschlossen, Madame, entgegnete Sterling, durch ihren Ton offenbar beleidigt, denn er richtete sich mit ruhiger Würde empor und sprach mit studierter Höflichkeit. Jede von beiden Annahmen kann die richtige sein. Sie sind vielleicht besser imstande als ich, hierin zu entscheiden.
Sie sah, daß sie einen Fehler begangen hatte, und änderte sofort ihren Ton.
Was können wir nur tun? fragte sie bittend und bahnte sich dadurch wieder am leichtesten den Weg zu Sterlings Herzen.
Augenscheinlich hatte sie sich inzwischen ein Bild von ihm gemacht und wußte sehr wohl, daß dieser ritterliche, gutherzige Mann niemals glücklicher war, als wenn er jemand – und namentlich einer Frau – im Unglück beistehen konnte.
Ich denke, ich werde die Sache der Polizei übergeben müssen, erwiderte er zögernd.
Nein, bitte, tun Sie das nicht, versetzte sie, während sich ein erschreckter Ausdruck in ihren Augen zeigte; versprechen Sie mir, es nicht zu tun.
Warum nicht?
Weil jene Briefe mir gehören, ihr Geheimnis ist mein Geheimnis! Wenn sich die Polizei einmischt, so wird der Skandal aller Welt bekannt.
Wiederum legte diese Frau, die in so wunderbarer Weise ihre Stimmungen zu wechseln verstand, eine solche Weichheit des Bittens in Ton und Blick, daß sie beinahe unwiderstehlich war.
Und bevor ich noch eingreifen konnte, wenn ich überhaupt den Wunsch gehegt hätte, es zu tun, hatte Sterling ihr das verlangte Versprechen gegeben.
Nun gut, erklärte er zuvorkommend; die Polizei soll nicht benachrichtigt werden.
O, wie kann ich Ihnen genugsam danken? rief sie mit einer Erkenntlichkeit, die offenbar ungeheuchelt war, und nahm im Uebermaß ihrer Erregung eine Hand ihres Wohltäters zwischen ihre beiden. Sterling stand etwas verlegen da. Ich behauptete meinen Platz im Hintergrunde. Ich hatte aus ihrer Abneigung gegen die Einmischung der Polizei meine eigenen Folgerungen gezogen, aber der Entschluß, zu dem Sterling in dieser Hinsicht gelangt war, mißfiel mir nicht. In erster Linie, weil ich es stets und überall vorziehe, so wenig wie möglich mit der Polizei zu tun zu haben; namentlich aber mußte ich mich in Anbetracht der Notwendigkeit, ohne unnötigen Aufenthalt nach England zurückzukehren, vor der französischen Polizei mit ihrer Kleinlichkeitskrämerei und ihrem kaum verhehlten Mißtrauen gegen die Fremden hüten. Auf jeden Fall mußte der Fall, soweit er uns betraf, mit dem Verluste dieses verwünschten Briefpakets und einigem Geld erledigt sein.
Was sollen wir denn aber tun? fragte jetzt Sterling seinerseits.
Wir müssen den Dieb ermitteln, erwiderte die Dame mit einer Ruhe und Sicherheit, die von der resoluten Gewandtheit ihres Geistes beredtes Zeugnis ablegten. Morgen früh werde ich einen Privatdetektiv herschicken, einen Mann, auf dessen Verschwiegenheit man sich verlassen kann. Sie werden ihm freundlichst gestatten, dieses Zimmer zu besichtigen, und vielleicht wird es ihm gelingen, betreffs der Diebe einen Anhaltspunkt zu finden. Das ist einstweilen alles was geschehen kann.
Wenn aber einige von Jean Baptistes Genossen die Briefe in ihre Hände bekommen haben?
Dann werde ich es noch zeitig genug erfahren, erwiderte die Dame mit einem leisen Seufzer.
Ah, ich verstehe; wiederum Erpressung! Aber würden Sie mir nicht gestatten, Ihnen zu helfen? rief Sterling mit impulsiver Ritterlichkeit aus. In einem Falle wie diesem würde ich bereit sein, dem Schufte sofort den Hals umzudrehen.
Sie können mir nicht helfen.
Wer kann das wissen? Wollen Sie mir nicht ein wenig mehr Vertrauen schenken als bisher? Wollen Sie mir nicht Ihren Namen nennen?
Nicht jetzt, antwortete sie. Ich merkte sehr wohl, daß sie dabei an mich dachte, als sie diese kurze Weigerung aussprach. Vielleicht ein andermal, Sir Richard, fuhr sie freundlicher fort, indem sie ihm die Hand zum Abschiede reichte.
Ich weiß nicht genau, was mich plötzlich zu folgendem veranlaßte. Ich befand mich dicht bei der Staffelei, auf der das Bild Jean Baptistes stand. Während der Unterhaltung hatte ich mit dem Tuche gespielt, mit dem dieses bedeckt war. Ich zog es nun geräuschlos beiseite, aber diese Ecke des Ateliers lag noch zum Teil in Dunkelheit. Ich hatte jedoch den kleinen Griff – dicht am Arm der Dame – bemerkt, mittelst dessen Sterling vorhin das Licht angedreht hatte.
Ich werde Sie nach Ihrem Wagen begleiten, sagte er gerade, als ich mich näherte, um mich gleichfalls zu verabschieden.
Wollen Sie nicht, bevor Sie gehen, einen Blick auf das letzte Gemälde meines Freundes werfen? fragte ich lächelnd. Es wird Sie interessieren. Und ohne weitere Umstände drehte ich das elektrische Licht an.
Ich bereute sofort meine Handlungsweise. Sowie ihre Augen auf die Leinwand fielen, fuhr sie mit einem Schrei des Entsetzens und der Bestürzung zurück und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, als wolle sie sich vor einem widerwärtigen Anblick schützen.
Dieser Mann! kreischte sie beinahe. O mein Gott, führen Sie mich fort, führen Sie mich fort von hier! setzte sie unter leisen, mitleiderregenden Klagen hinzu.
Sterling warf mir einen zornigen, vorwurfsvollen Blick zu und geleitete sie aus dem Zimmer.
Ihre Erregung war diesmal echt gewesen, dieser Aufschrei war aus den tiefsten Tiefen ihrer Seele gekommen.
Ich war mir bewußt, eine Grausamkeit, eine unnötige Grausamkeit begangen zu haben, und ich war mit mir selbst unzufrieden. Aber der Vorfall gab mir zu denken. Er schien mir ein Licht auf die geheimnisvolle Angelegenheit zu werfen. In diesem Blick und diesem Aufschrei hatte nicht nur Widerwille, sondern auch Scham gelegen.
Guter Gott! sagte ich verwundert, als ich diese nervige, männlich-schöne Gestalt, diese edlen Züge, die nur durch das zynische Lächeln um die Lippen entstellt wurden, betrachtete, war dieser Mann wirklich der feige Erpresser, als der er geschildert worden war, oder nicht vielmehr der Liebhaber der schuldigen Frau?
Diese Frage regte eine andere, ganz neue Gedankenreihe an, die mich in Verwirrung setzte. Während ich nachsann, lauschten meine Ohren angespannt auf das leiseste Geräusch. Ich hatte das Aufschließen der Haustür, das entfernte Knarren der Gartenpforte, das Davonrollen des Wagens gehört. Sterling mußte jetzt auf dem Rückwege sein. Ich lauschte angestrengt, während ich noch immer auf das Bild blickte. Dann, gleich der Katze, die durch ein nagendes Geräusch im Fußboden in einen Zustand fieberhafter Erregung versetzt wird, fühlte ich jeden Nerv in mir beben. Die Diele hatte dort hinter dem Bilde gekracht.
Ich übersah alles im Nu. Der Dieb war noch im Zimmer! Ich will mir doch noch eine Zigarre anzünden, sagte ich laut in ruhigem, gedehntem Ton und ging gemächlich an den Seitentisch, um mir eine Havanna zu holen. Aber meine Augen wichen nicht von der Ecke des Zimmers, in der die Staffelei stand. Unten hörte ich Sterling die Haustür zuschlagen und abriegeln. Dann bewegten sich Schritte in dem Salon unten; Sterling drehte zweifellos das Licht aus.
Es geht auf eins, fuhr ich fort, indem ich auf meine Uhr sah und ein Streichholz anzündete. Die Schritte meines Freundes ertönten nun auf der Treppe. Auf dem Tische vor mir lag ein Schreibblock; dicht neben ihm stand eine kleine Schale mit Bleistiften.
Ich beugte mich nieder und kritzelte flüchtig die paar Worte hin: Hole Revolver; Dieb ist hier.
Ist sie fort? fragte ich nachlässig.
Ja, sie ist fort. Arme Frau! Ich weiß noch nicht recht, was ich aus ihrer Geschichte machen soll.
Zünde dir eine Zigarre an. Ich will dir überlegen helfen.
Das ist schön von dir.
Als er an mich herantrat, ergriff ich leise seine Hand und machte ihn auf das Geschriebene aufmerksam.
Er las und bekundete mit einem raschen Blicke, daß er verstanden hatte.
Schmecken dir diese Zigarren? fragte er leichthin. Ich habe unten eine bessere Sorte.
Hole sie nur herauf, auf alle Fälle, erwiderte ich.
All right!
In ein paar Minuten war er zurück mit einer Zigarrenkiste in der Hand.
Probiere nachher einmal eine von diesen, sagte er mit bedeutungsvollem Lächeln.
Danke.
Ich steckte meine Hand in die Kiste und zog die Waffe hervor, die, wie ich wußte, darin lag. Die andere bemerkte ich in Sterlings Tasche, der sie mit festem Griff gepackt hatte.
Nun, komm jetzt einmal heraus, mein Bursche! rief ich, ging auf das Bild Jean Baptistes zu und riß den Vorhang, der es noch teilweise bedeckte, ganz herunter.
Und der Dieb kauerte da hinter der Staffelei – der richtige Pariser Gauner von dem bekannten Typus; ein unbedeutend aussehendes Wesen mit grüner Mütze, offener Jacke, einer Weste, die keine Aehnlichkeit mit seiner sonstigen Kleidung hatte, und schmutzigen, gewürfelten Beinkleidern. Der Bursche war in bloßen Strümpfen, von Stiefeln war keine Spur zu sehen; wahrscheinlich hatte er sie draußen gelassen.
Der Spitzbube sah sofort, daß er in eine Falle geraten war, und mit einem sacré nom folgte er meiner Aufforderung, indem er sich erhob und widerwillig aus seinem Verstecke herauskam.
Sterlings Gesicht strahlte vor Entzücken. Hurra! rief er; jetzt werden wir unsere Briefe wiederbekommen.
Sachte, alter Junge, sagte ich. Dann zu unserem ungebetenen Gast: Hände hoch!
Er verstand und gehorchte.
Nun, Sterling, nimm ihn mit deinem Revolver aufs Korn!
Dann unterzog ich mich der unangenehmen Aufgabe, meine Hände über die Kleider des Burschen gleiten zu lassen, jedoch nicht, um das gestohlene Paket zu suchen, sondern einfach in der Absicht, ihm etwaige Waffen abzunehmen. Die Vorsicht erwies sich als klug; aus der einen Hosentasche zog ich einen schweren Totschläger, aus der anderen ein starkes Brecheisen und aus dem Gürtel ein in einer Scheide steckendes Messer von gehöriger Länge. Mein Gefangener war gefährlich, obgleich er keine Schußwaffen trug.
Setzen Sie sich jetzt hierher, sagte ich, auf einen großen hölzernen Stuhl deutend, der vor der Staffelei stand, und wenn Sie den leisesten Versuch machen, zu entwischen, so sind Sie ein Kind des Todes.
Der Bursche versuchte zu grinsen; die unerwartete Lage völliger Hilflosigkeit, in der er sich befand, erschien ihm nicht ohne einige Ironie. In den Gewohnheitsverbrechern steckt stets ein Stück von einem Philosophen.
Ich ermahnte Sterling, seinen Revolver bereit zu halten, und nahm dem Gefangenen gegenüber Platz. Unser neuer Bekannter nickte ziemlich vergnügt; ich sah, es würde sich mit ihm reden lassen.
Nun, lieber Freund, begann ich, es wird für Sie bedeutend besser sein, wenn Sie die Wahrheit sagen. In diesem Falle glaube ich, ist es vielleicht möglich, Sie laufen zu lassen.
Sie werden mich doch nicht den Blauen ausliefern wollen, Herr Oberst? fragte er in ungläubigem Erstaunen.
Vielleicht nicht, vorausgesetzt, daß Sie gewisse Aussagen machen und zurückgeben, was Sie gestohlen haben.
Hier ist der Quark! Und der Bursche ließ ein Päckchen Banknoten auf den Teppich fallen.
Aber da war auch noch ein versiegeltes Kuvert, erklärte ich.
Ach ja, der Brief mit den großen roten Siegeln. Ja, auch den haben wir »gekauft«, ganz recht. Aber mein Freund hat ihn mit nach oben genommen, erwiderte er und deutete nach dem offenen Oberlichtfenster.
So waren also zwei von Ihnen hier? Wo mag wohl jetzt Ihr Freund sein?
Nun, ich meine, er ist jetzt im Château Rouge, entgegnete lachend der Gauner.
Der Name des berüchtigten Cabarets, das von der Hälfte aller Diebe, Räuber und Mörder von Paris besucht wird, kannte ich zur Genüge. Eine Spelunke, die selbst die Polizei nicht ohne besondere Vorsichtsmaßregeln zu betreten wagt.
Und Sie sagen, er hat den Brief mitgenommen?
Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf. Und wäre ich nur sechs Zoll größer gewesen, so würde ich jetzt selbst in der Rue Gallande sitzen und eins von diesen Dingern hier auf Ihr Wohl vertrinken.
Er sprach diese Worte in bedauerndem Tone, indem er mit einem seiner in Strümpfen steckenden Füße auf den ihm abgenommenen Raub deutete.
Was ist nun zunächst zu tun? fragte Sterling, als ich schwieg.
Gedulde dich einen Augenblick, versetzte ich. Eins ist gewiß: Niemand kann es wagen, sich bei Nacht in jenes Quartier Maubert zu begeben, wenn er nicht ein anerkanntes Mitglied der Diebeszunft ist, und es würde selbst bei Tage für uns nicht gefahrlos sein, dort Nachforschungen anzustellen.
Dein Freund da? nickte Sterling fragend.
Ja. Wir müssen einen Plan ausdenken, nach dem er uns die Briefe aus diesem Pfuhl des Verbrechens zurückbringt.