Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Sechstes Kapitel.

In den Außenwerken von Vicksburg.

Ein furchtbares Ringen war es um das stark befestigte Vicksburg, das den Mississippi gerade in seiner großen Biegung beherrschte. Vom Strom aus wie von allen Landseiten erfolgten die wütenden Angriffe der Unionisten unter General Grant, bis die halb verhungerten Konföderierten endlich am Morgen des 3. Juli 1863 nach siebenundvierzigtägiger Belagerung die Parlamentärflagge aufzogen und tags darauf der Einmarsch der Unionisten erfolgte.

Den Tag über hatte die Sonne unbarmherzig auf die zerschossene, rauchende Stadt und deren blutgetränkte Umgebung niedergebrannt. Massenhaft waren die Leichen der jüngst Gefallenen eingescharrt worden, und noch immer suchte man erfolgreich nach Toten und Verwundeten. Die landesübliche brennende Tonpfeife zwischen den Zähnen, walteten die zu dem traurigen Werk Kommandierten ihres Amtes. Ihnen war der Anblick der Szenen des Grausens und Entsetzens nichts Neues. Die Gewohnheit hatte sie abgestumpft. Arbeit war ihnen Arbeit, gleichviel ob es galt, Axt und Beil zu schwingen, blutüberströmte Bahren zu tragen oder neue Gruben auszuwerfen. Der Krieg verhärtet, die milderen Empfindungen gehen verloren.

Sichtbar von Grauen erfüllt, bewegte auf der Ostseite der Stadt ein einzelner Wanderer sich zwischen den Außenwerken einher. Scheu spähte er bald in diese, bald in jene Richtung. Wohin er blicken mochte, überall begegnete er Merkmalen der Zerstörung. Gefurchtes und trichterförmig aufgewühltes Erdreich, Granatsplitter, zerschossene Lafetten und Wagen, aus ihrer Lage gewichene und zersprungene Geschütze, Handwaffen, Uniformstücke, Kopfbedeckungen, Feldflaschen und wer weiß, was sonst noch – alles, alles zeugte von den furchtbaren Leiden, denen die Belagerten Wochen und Wochen hindurch unterworfen gewesen. Es war ein Anblick, auch den Beherztesten zaghaft zu stimmen, um so mehr jemand, dem man, wie jenem Fremden, leicht ansah, daß er an dem erbitterten Kampfe weder mittelbar noch unmittelbar beteiligt gewesen, überhaupt für mannhaftes Ringen nicht geschaffen war.

Zwei Soldaten, zwischen sich eine Bahre, deren unheimliche Ladung eine wollene Decke verbarg, schritten an ihm vorüber.

»Heda, meine Freunde,« redete er sie an, »ich suche einen gewissen Kolonel Melville, könnt ihr mir auf seine Spur helfen?«

»Von welcher Seite?« hieß es mürrisch zurück.

»Von der sezessionistischen,« lautete die Antwort.

»Die Konföderierten sind meistens aus der Stadt heraus. Was noch drinnen ist, befindet sich in Gefangenschaft, wird aber bald nachgeschoben werden. Da mag der Henker in dem Gewirre nach 'nem einzelnen Mann suchen. Sie sind selber Sezessionist?«

»Das tut nichts zur Sache. Hier ist ein Passierschein vom Stabe des Generals. Auch suche ich keinen gesunden Mann, sondern einen Schwerverwundeten. Von einem Gefangenen seines Regiments erfuhr ich, daß er hier irgendwo liege, da sein Zustand das Fortschaffen verboten habe.«

»So wird er da drüben in einer Munitionskammer liegen,« versetzte der eine Leichenträger, indem er durch eine gleichmütige Kopfbewegung nach der nächsten Schanze hinüberwies, und mit einem aufmunternden: »Vorwärts« zu dem Gefährten setzte er sich wieder in Bewegung.

Der Wanderer schlug die Richtung nach dem Wall ein, wo zwischen den Geschützeinschnitten ihm die schwarzen Öffnungen der bombenfesten Kammern entgegengähnten. Patrouillen gingen ab und zu; Schildwachen standen hier und dort, mit seinem Passierscheine kam er ungehindert überall vorbei. Auf seine Frage wurde er von einem zum andern gewiesen, bis er endlich die Antwort erhielt, daß in der nächsten Kammer allerdings ein Verwundeter liege, mit dem es indessen wohl vorbei sein dürfte. Man habe wenigstens den Chirurgen nach sehr kurzem Besuche heraustreten und sich entfernen gesehen.

Gleich darauf stand der Fremde vor dem mittels schwerer Balken gestützten und überwölbten Eingange. Mißtrauisch spähte er in die schwarze Finsternis hinein.

»Ist hier jemand?« fragte er nach einer Pause des Zweifelns.

Alsbald trat ihm die verwitterte und zerlumpte Gestalt eines südstaatlichen Kavalleristen entgegen und fragte nach seinem Begehr.

»Den Kolonel Melville suche ich,« antwortete er scheu, »er soll hier irgendwo untergebracht sein.«

»Da sind Sie vor die richtige Tür gelangt,« hieß es mürrisch zurück, »Sie könnten aber Besseres tun, als einen Verscheidenden zu stören, es sei denn, Sie wären der Mr. Slowfield selber.«

»Der bin ich, und einem günstigen Zufall ist's zu verdanken, daß der nach mir entsendete Bote ein Stück unzerbrochenen Telegraphendrahtes fand, oder es sollte ihm schwer geworden sein, mich hierher zu bescheiden.«

»Der Kolonel erwartet Sie seit frühmorgens.«

»Und ich nenne es Glück, daß ich überhaupt hier bin. Vierzehn Stunden ritt ich ohne eine Minute mehr Rast, als ich zum Wechseln des Pferdes gebrauchte. Steht es denn in der Tat so böse mit ihm?«

Der Soldat, offenbar der Diener Melvilles, zuckte die Achseln und fügte mitleidig hinzu: »Wem ein Granatsplitter die eine Hüfte fortriß, auch wohl noch 'n Stück Eisen in die Eingeweide trieb, der darf nicht mehr auf viel Zeit rechnen.«

»Das ist ja furchtbar,« versetzte Slowfield zaghaft, als hätte Scheu vor dem Anblick des so gräßlich Zerfleischten ihn beseelt; »hoffentlich ist er noch bei Besinnung, daß ich zu ihm sprechen kann?«

»Mehr als zuviel. Ich hätte ihm längst 'nen sanften Tod gewünscht, um seiner Qualen willen.«

»So darf ich zu ihm gehen?«

»Will Sie anmelden. Vielleicht ist ihm 's Reden leid geworden; mag auch nicht recht mehr können. Ich kalkulier', in der letzten Stunde vergeht einem die Lust, viel zu verhandeln,«

Mit diesen Worten schritt der Soldat in die Kammer zurück. Slowfield lauschte ihm ängstlich nach und hörte, wie er im Hintergrunde mit unverkennbarer Teilnahme zu jemand sprach.

»Gott sei Dank,« ertönte eine vertraute Stimme, jedoch durch Todesmattigkeit entstellt, zu ihm heraus; »ich hatte schon alles aufgegeben – rufe ihn herein – schnell!«

Slowfield wartete die Rückkehr des Mannes nicht ab, sondern trat ein. Nach den ersten Schritten blieb er stehen, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Erst als Melville ihn bei Namen nannte, bewegte er sich auf die Stimme zu. Gleich darauf kniete er neben einem aus Decken und Mänteln hergestellten Lager, auf welchem der Verwundete, wie er bei dem durch die Türe hereinfallenden gedämpften Lichtschein allmählich zu unterscheiden vermochte, lang ausgestreckt ruhte. Seinen Körper verhüllte eine wollene Decke, wogegen sein Kopf durch einen zusammengerollten Mantel gestützt wurde.

»Mein armer Freund und Gönner, wie muß ich Sie wiedersehen,« redete Slowfield ihn alsbald an und ergriff seine beiden erkalteten Hände, »und hier in dem elenden dumpfigen Raum ohne jede Bequemlichkeit –«

»Sagen Sie lieber: wie muß ich die gerechte Sache der Konföderierten finden,« fiel Melville mit krampfhafter Hast und unter Aufbietung der letzten ihm gebliebenen Kräfte ein, »denn zum Sterben ist jeder Winkel gut genug. Man wollte mich fortbringen, aber ich litt es nicht. Ich wäre unterwegs gestorben. Nur durch ungestörte Ruhe konnte mein Leben noch ein wenig aufgehalten werden – und leben mußte ich – ich durfte nicht sterben, ohne Sie vorher gesprochen zu haben. Geh hinaus und sorge dafür, daß niemand uns stört,« kehrte er sich dem Soldaten zu, dann fuhr er wieder zu Slowfield gewendet fort: »Er braucht nicht zu erfahren, was ich Ihnen anzuvertrauen habe.«

»Kann ich Ihre Lage in irgendeiner Weise erleichtern?« fragte Slowfield.

»Durch nichts, mein teurer Freund. Hier oben mir zu Häupten steht eine Flasche Wasser mit etwas Whisky drinnen – ein erbärmlicher Trunk – wollen Sie die hin und wieder an meinen Mund halten, so danke ich es Ihnen. Mein Durst ist unauslöschlich.«

Bereitwillig reichte Slowfield ihm die Flasche und ohne Säumen fuhr der Kolonel fort: »Wir müssen uns beeilen. Jede neue Minute mag meine letzte sein, und ich habe Ihnen noch so viel mitzuteilen. Zunächst meine Kinder. Wie ergeht es Marianne?«

»Sie ist wohlauf samt ihren Kleinen. Erst gestern hörte ich von ihr,« antwortete Slowfield.

»Meine gute, meine starke Tochter,« flüsterte Melville wie im Traume, dann wieder lauter: »Sie war von jeher mein Stolz, und das soll ihr und ihren Nachkommen reich gesegnet sein. Und Gilbert? Hörten Sie von ihm?«

»In neuester Zeit nichts. Er kreuzt auf hoher See. Die Unionisten wissen von zahlreichen Schiffen zu erzählen, die er verbrannte. Tief sind die Wunden, die er ihrem Handel schlägt.«

»Mein kühner Sohn,« flüsterte Melville wieder zärtlich, »mag es ihm beschieden sein, diese schrecklichen Zeiten gesund zu überleben. Sie wissen nichts von Stocton?«

»Von Stocton?« fragte Slowfield erschrocken, und in seiner Stimme offenbarte sich, trotz der unheimlichen, zum Ernst mahnenden Umgebung, gehässige Enttäuschung.

»Ja, von ihm, von dem Gatten meiner Tochter, dem Vater meiner Enkel,« versetzte Melville.

»Er ist tot, es waltet kein Zweifel mehr,« erklärte Slowfield zögernd, »er muß bald nach der Zusammenkunft am Arkansas ums Leben gekommen sein, und das ist an die zwei Jahre her. Ein Mann von seinen Fähigkeiten hätte unmöglich lange unbeachtet bleiben können. In ihm wohnten alle Eigenschaften eines Heerführers, die, wären sie zugunsten des Südens ausgenützt worden, uns manchen glänzenden Erfolg eingetragen hätten.«

»Jetzt nichts von solchen Dingen,« bat der Kolonel matt, »der Tod sühnt alles, seine Fehler, wie das, was ich selber, wenn auch in der ehrenwertesten Absicht verbrach. Von Edith ist ebenfalls keine Kunde eingelaufen, von ihr und dem Töchterchen meines Sohnes?«

»Nicht die leiseste Nachricht. Seit wir ihr von dannen halfen, um sie dem Volksunwillen zu entziehen, ist sie verschollen. Ich fürchte, sie lebt, um peinlichen Begegnungen auszuweichen, im Verborgenen bei irgendeinem ihrer unionistischen Freunde.«

»Armes junges Weib,« klagte Melville, »jetzt, da ich auf der äußersten Grenze des Lebens stehe, fällt mir schwer auf die Seele, daß ich im Übereifer mich dennoch schwer an den Meinigen versündigte. Ich mußte anders auftreten. Ich durfte nicht dulden, daß sich voneinander trennte, was der Himmel zusammenfügte.«

»Sie trifft keine Schuld,« beruhigte Slowfield, »Sie haben gehandelt, wie ein Mann von Ehre, wie ein Mann, dem das Wohl des Vaterlandes, die heimischen, althergebrachten Institutionen höher stehen, als alle anderen, selbst die heiligsten Rücksichten. Als Held, wie als Mann und Patriot stehen Sie gleich erhaben da, ein hehres Beispiel für kommende Geschlechter.«

»Meine Grundsätze besiegle ich mit meinem Tode,« erwiderte der Kolonel unsäglich bitter, »und alles, alles vergeblich. Wie mein Haus, so wird auch der Süden zusammenbrechen. Ich sterbe und nehme das Bewußtsein mit hinüber, daß die schweren Opfer, die ich brachte, nutzlos waren. Wie viel leichter erschiene mir der Tod, wäre mir ein letzter Blick auf siegreich wehende Banner, auf meine Angehörigen vergönnt gewesen, wie sie über die allmählich vernarbende Kluft hinweg sich wieder die Hände reichten. Alles, alles verloren, unheilbar vernichtet. Seitdem die Befreiung der Sklaven ausgesprochen wurde, ist dem einst so mächtigen Süden die Lebensader durchschnitten. Selbst im glücklichsten Falle könnte es nicht mehr so werden, wie es gewesen ist.«

Er schwieg. Der Eifer, mit dem er sprach und der ihm anfänglich neue Kräfte zu verleihen schien, hatte ihn erschöpft. Slowfield beobachtete ihn ängstlich. Es erwachte in ihm die Besorgnis, daß der Kolonel sterben könne, bevor er das, was sein Gemüt unzweifelhaft beschwerte, vor ihm offenbarte. Er versuchte daher, seine Lebensgeister dadurch wieder anzuregen, daß er seinen, einst mit so viel Begeisterung gehegten politischen Hoffnungen neue Nahrung bot.

»Die Befreiung der Sklaven ist freilich ausgesprochen,« hob er an, »allein wer besitzt das Recht, dem Süden derartige Befehle zu erteilen?«

»Der Stärkere,« warf Melville etwas lebhafter ein.

»Wer ist der Stärkere?« fragte Slowfield wie in Entrüstung, »in jedem gewaltigen Ringen geht es hinauf und hinunter; so wird auch die Konföderation schließlich die Oberhand gewinnen.«

»So geschähe es aus ausgebrannten Trümmern, aus denen weder Gott noch die Menschen neues Leben hervorzurufen vermöchten,« versetzte Melville spöttisch. »Die auseinandergerissenen Familienmitglieder mögen sich wieder vereinigen, geläutert und zufrieden aus den vermessen heraufbeschworenen Prüfungen hervorgehen, soweit ein feindseliges Geschick sie nicht von der Erde nahm; aber ebensowenig, wie die Toten erweckt werden können, ersteht der Süden jemals wieder zu seinem alten vornehmen Glanz.«

»Sie leiden,« bemerkte Slowfield, als der Kolonel kurz abbrach, und führte die Flasche wieder an dessen Lippen, »die Schmerzen sind es, die Ihnen alles in der düstersten Färbung vorschweben lassen,«

Melville hob die Hand abwehrend.

»Die Schmerzen sind erträglich,« sprach er geringschätzig, »ich beobachtete solche Merkmale zu oft an anderen, ich weiß, was sie bedeuten. Dumpfer und dumpfer wird die Pein, bis sie plötzlich ganz aufhört. Indem es kühl und zugleich lähmend durch meine Gebeine rieselt, könnte ich die Zeit berechnen, innerhalb welcher ich Ruhe finde. Bis dahin aber wird mein Geist ziemlich klar bleiben. Wollte der Körper in der letzten Stunde seinen Dienst versagen: der Geist, der um meine Kinder und Enkel tief besorgte Geist würde es nicht dulden. Lassen wir daher das, was nicht geändert werden kann. Meine Pflicht gegen das Vaterland habe ich bis zu dem Augenblick treu erfüllt, in welchem das mörderische Geschoß mich traf; über diese Grenze reichen meine Verbindlichkeiten nicht hinaus. Der letzte Atemzug gehört meinen Kindern und Kindeskindern; meine letzte Aufgabe ist, deren irdische Wohlfahrt nach besten Kräften zu sichern, und zu solchem Zweck habe ich Sie herbeirufen lassen. Wie eine Vergünstigung des Himmels aber erscheint es mir, daß meine Botschaft Sie erreichte und Sie derselben Folge zu leisten vermochten.«

Tiefer neigte Slowfield sich nunmehr über den Verwundeten hin. Hätten Melvilles matte Augen das tiefe Dämmerlicht durchdringen können, so wären vielleicht die ferneren Mitteilungen ihm auf den Lippen erstorben vor der zügellosen Gier, die aus Slowfields sich verschärfenden Blicken hervorleuchtete.

»Eine Vergünstigung des Himmels,« wiederholte dieser inbrünstig, »oder es wäre unmöglich gewesen, alle sich mir auf Schritt und Tritt entgegenstellenden Hindernisse zu besiegen. Sie hingegen, mein verehrter Gönner, mögen, wenn es Ihnen zur Beruhigung gereicht, mein Versprechen hinnehmen, daß jeder von Ihnen erteilte Auftrag mir heilig sein wird.«

»Ich weiß es, Slowfield, ja, ich weiß es, und das gewährt mir großen Trost. Wie bedachtsam ich meine Anordnungen zugunsten meiner Kinder traf, werden Sie wie diese seiner Zeit erfahren. Nichts verabsäumte ich, was dazu dienen kann, meine bewegliche Habe oder vielmehr die ihrer verstorbenen Mutter für sie zu retten. Denn die Plantage hat, seitdem die Sklaven angesichts der ihnen lachenden Freiheit entflohen, ihren Wert in einer Weise verloren, daß die auf ihr lastenden Schulden wohl kaum zur Hälfte Deckung finden. Aber immerhin: werden die Gläubiger geschädigt, so bin ich unschuldig. Ich konnte die Ereignisse nicht vorhersehen, mußte auf den Sieg des Südens rechnen, der heute mehr denn je zuvor zweifelhaft ist. Das Vermögen meiner verstorbenen Frau blieb dagegen unantastbar; es gehörte Marianne und Gilbert. Stelle ich es ihnen nicht sogleich zur Verfügung, so bewegen zwingende Gründe mich dazu. So traf ich auch meine Vorkehrungen, daß es ihnen vor Beendigung des Krieges unzugänglich bleibt. Mißbilligen sie mein Verfahren jetzt, so werden sie es später um so dankbarer anerkennen. Wo ich das Vermögen zu einem mäßigen Zinsfuß sicher unterbrachte, bleibt auch Ihnen Geheimnis. So viel will ich indessen andeuten, daß ich es außer Landes schaffte und Sie die Zinsen nur durch die dritte Hand erheben können. Legen Sie mir das nicht als einen Mangel an Vertrauen aus. Ich mußte so handeln; denn ein einziges unbedachtes Wort kann noch heute die Gefahr herbeiführen, daß der Moloch des Verzweiflungskampfes auch das verschlingt.«

»Liegt in diesen Mitteilungen nicht das größte Vertrauen?« fragte Slowfield, als der Verwundete, von Erschöpfung überwältigt, wieder eine Pause eintreten ließ, und besorgt lauschte er auf dessen Atemzüge. »Welche Wege auch immer Sie zur Verwirklichung Ihrer von väterlicher Liebe getragenen Pläne einschlugen: mir fällt einzig und allein die Aufgabe zu, ohne rechts oder links zu schauen, mich genau an die mir erteilten Anweisungen zu halten. Und hätten Sie meine ganze Tatkraft, meine ganze Zeit beansprucht, so würde meine freundschaftliche Bereitwilligkeit dadurch nicht verringert werden,« glaubte Slowfield hinzufügen zu dürfen.

»Ich weiß, ich weiß,« fuhr Melville mit einer Anwandlung von Ungeduld fort, »zwischen uns bedarf es keiner Freundschaftsbeteuerungen mehr. – Und nun zu der Lage, in der die Plantage sich befindet,« spann der Kolonel nach einer längeren Pause seine Mitteilungen wie im Traume weiter. »Mich vor den Gläubigern zu rechtfertigen, brauche ich Sie nicht zu bitten: Sie wissen am besten, daß die Plantage ursprünglich nicht über die Gebühr belastet wurde, daß aber die ausgesprochene Aufhebung der Sklaverei unausbleiblich den Grundbesitz auf Jahrzehnte hinaus entwertet. Durch Ihre Vermittlung bezog ich nicht unerhebliche Vorschüsse, die in die Kriegskasse flössen. Wie hoch dieselben sich belaufen, weiß ich nicht; wohl aber, daß über die letzten Summen Sie nur einfache Empfangsscheine erhielten. Es wurde damals zwischen uns verabredet, Ihre ganzen Forderungen ebenfalls ungeteilt auf die Plantage eintragen zu lassen. Ist das geschehen?«

»Insoweit, daß es nur Ihrer Namensunterschrift bedarf, um dem Hypothekendokument Rechtsgültigkeit zu verleihen.«

»Führen Sie das zur Vollziehung Erforderliche bei sich? Sonst dürfte Ihre Mühe wohl vergeblich gewesen sein.«

»Ich trug Ihrer früheren Aufforderung Rechnung, hätte indessen ohne Ihre Mahnung nicht gewagt, daran zu erinnern.«

»So beeilen wir uns. Ist diese letzte Sorge von meiner Seele, so bleibt mir vielleicht noch etwas Zeit, mit meinen Kindern und Enkeln im Geiste mich zu beschäftigen.«

Slowfield zog ein Schriftstück hervor, und es in den durch die Türe hereinfallenden Lichtstreifen haltend, begann er zu lesen.

»Nicht doch,« wendete der Kolonel ungeduldig ein, »nennen Sie die Summe und geben Sie mir die Feder.«

»Achtundvierzigtausend Dollars,« antwortete Slowfield schüchtern, aber durchdringend sah er auf die halbgeschlossenen sterbensmüden Augen des Leidenden nieder.

»Ich glaubte, es sei mehr gewesen,« hieß es träumerisch zurück.

»Ein genauer Auszug aus meinen Rechnungen,« erklärte Slowfield, indem er das Taschenschreibzeug ordnete und Melville eine befeuchtete Feder reichte. Dann legte er das Papier auf sein Notizbuch, dieses auf die Decke, und Melvilles Hand ergreifend, führte er sie behutsam nach der Stelle hin, auf welche der Name zu stehen kommen sollte.

»Sie zittern,« bemerkte der Kolonel spöttisch, während er mit sichtbarer Anstrengung seinen Namen niederschrieb.

»Von Ihnen scheiden zu müssen – ich kann es nicht fassen – kann es nicht fassen,« antwortete Slowfield mit plötzlich veränderter Stimme, als hätte schmerzliche Bewegung ihn in der Tat übermannt. Dann schwang er das Papier langsam hin und her, um das Trocknen der Tinte zu beschleunigen.

»Der eine heute, der andere morgen,« versetzte Melville leise, jedoch beinahe heiter, »für eine edle, wenn auch voraussichtlich verlorene Sache verbluten zu müssen, ist immer noch nicht das härteste Los. Ich bin jetzt ruhig. Das Bewußtsein, nach bestem Können und Wissen allen Menschen gerecht geworden zu sein, verleiht mir einen unbeschreiblichen Frieden.«

Slowfield hatte des Leidenden Hand ergriffen. Schweigend hielt er sie, die eben noch über ein Vermögen verfügte, bis er sich überzeugt hatte, daß Bewußtlosigkeit eingetreten war. Dann schlich er leise hinaus, wo er dem Soldaten riet, nunmehr wieder die Wache bei seinem Herrn zu übernehmen.

Nachdem dieser sich entfernt hatte, zog er das Hypothekendokument noch einmal hervor. Aufmerksam prüfte er den Namen Melvilles, der klar und deutlich oberhalb eines, mehrere Monate zurückreichenden Datums stand. Demnächst las er die in dem Dokument vermerkte Summe.

»Hundertzwanzigtausend Dollars,« sprach er im Übermaß seines Triumphes unbewußt vor sich hin, und unersättliche Gier sprühte aus seinen Augen, »fiele die Hälfte aus, so wäre ich gedeckt und mit guten Zinsen obenein. Jetzt mag's kommen, wie es will, und müßte ich selber die Plantage übernehmen.«

Während der Nacht ließ sich Slowfield neben dem Lager des Kolonels nieder.

Erst gegen Morgen regte sich dieser wieder. Lauter und röchelnd wurde sein unregelmäßiger Atem, bis er endlich, ohne die Augen zu öffnen, in kurzen Absätzen zu lispeln begann. Zu Marianne sprach er und zu Gilbert, als hätten beide vor ihm gestanden. Dann wieder zu Edith, Stocton und Gregor. Er ermahnte zur Versöhnung und Eintracht, bat um Verzeihung, wenn sein Einfluß vielleicht verderblichen Entschlüssen Vorschub geleistet habe. Eine Pause folgte, während deren Slowfield die Brieftasche des Kolonels an sich nahm. Dann atmete dieser noch einmal tief auf. Ein Segensspruch für die Seinigen erstarb auf seinen Lippen, wohltätige Ruhe umfing den zerschlagenen und gemarterten Körper; es strebte die befreite Seele dem ewigen Lichte zu.

Nur noch einen Tag weilte Slowfield in der unheimlichen Umgebung; nur so lange, bis es ihm geglückt war, den Kolonel in ein gesondertes Grab zu betten und seine Ruhestätte mit einem dauernden Merkmal zu versehen. Dann eilte er südwärts, um Marianne und Gilbert die Trauerkunde zu übermitteln und sie seines tiefen, aufrichtigen Beileids zu versichern.

 


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