Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Elftes Kapitel.

Eine Fahrt aufs Land.

Während Miß Sarah in einer wahren Flut marternder Zweifel und zügellosen Hasses gleichsam schwelgte, und in dieser Stimmung kaum der sich dienstfertig um sie her bewegenden lahmen jungen Negerin achtete, verfolgte der Pedlar gemessenen Schrittes seinen Weg. Sengend brannte die Mittagssonne auf ihn nieder. Deren Glut bereitete ihm ebensowenig Beschwerden, wie die auf seinen breiten Schultern hängende Last. Und doch ging er jetzt gebeugter, als vor seinem Besuch auf der verwahrlosten Plantage.

Traurig schweiften seine Blicke im Kreise. Wie eine Ewigkeit erschien ihm die Zeit, die vorüberrollte, seitdem er dieselben fruchtbaren Niederungen reich belebt sah, von allen Seiten die Merkmale eines, wenn auch durch Sklavenarbeit begründeten Wohlstandes ihm entgegenlachten. Heut waren sogar die Landstraßen vereinsamt. Ein Fluch schien die Lebenskraft der ganzen Gegend erstickt zu haben. Und dennoch – in der Richtung, in welcher sein Ziel lag, regte es sich auf dem breiten Wege, und zwar mit einer Lebhaftigkeit, die gleichsam im Widerspruch zu der stillen Umgebung stand. Schärfer hinüberspähend, erkannte er durch die wellenförmig zitternde, sonnendurchglühte Atmosphäre hindurch ein von zwei hellfarbigen Pferden gezogenes Fuhrwerk, das sich ihm mit großer Schnelligkeit näherte. Als habe er dadurch der Gelegenheit, angesprochen zu werden, vorbeugen wollen, schob er den Stab, auf den er sich so lange gestützt hatte, unter den Tragriemen, und mit gemäßigter Eile schritt er weiter, wie zuvor den Nacken gebeugt und die Augen vor sich auf den Erdboden gerichtet. Bald darauf fuhr der Wagen bei ihm vorüber. Er gab sich kaum die Mühe, zu beachten, daß zwei weißmähnige Falben von hoher Schönheit in scharfem Trabe einen leichtgebauten Buggy hinter sich herzogen, eine Dame Peitsche und Zügel führte, ein Herr neben ihr nachlässig in der Bankecke lehnte und ein Diener den kleinen Sitz hinter ihnen einnahm. Einige Sekunden brachten ihn und das flinke Gespann weit auseinander und damit war es für ihn vergessen.

»Der trägt doppelt,« bemerkte der auffallend kräftig gebaute Herr, der zugleich ein Urbild männlicher Schönheit, und sorglos strich er mit der Hand über seinen weichen braunen Vollbart, »sogar dreifach: einmal an seinem Warenballen, einmal an der Hitze und schließlich an seinem Alter. Eine gute Fahrgelegenheit wäre ihm zu gönnen.«

Die junge Dame, die auf dem festgepolsterten Sitzkissen mit dem Haupte das ihres Begleiters beinahe überragte, antwortete nicht. Dagegen knallte sie mit der Peitsche, daß die Pferde schärfer ausgriffen, dann aber unter dem Druck ihrer kräftigen kleinen Hände eine kunstgerechte Volte beschrieben und die Richtung einschlugen, aus der sie eben gekommen waren.

»Was soll das?« fragte der Herr und seine ernsten Augen richteten sich forschend auf das liebliche Profil seiner Nachbarin.

»Ich will den armen Pedlar eine Strecke fahren,« lautete die gleichmütige Antwort; »ich glaubte wenigstens aus deiner Bemerkung die Aufforderung dazu herauszuhören.«

»Unsinn, Thusnelda, kehr um,« versetzte der Herr, und als jene sofort eine neue Volte fuhr, fügte er wohlwollend hinzu: »Zu jeder anderen Zeit möchte es angebracht gewesen sein, heute hingegen müssen wir mit den Minuten geizen, aber auch mit dem Atem der Tiere. Sieh doch, wie sie schäumen.«

»Alles Sonnenhitze, lieber Gregor,« erwiderte die jugendliche Rosselenkerin sorglos, »ängstige dich also nicht um die Tiere. Denen ergeht's nicht anders, als mir: je schwerer die Arbeit, um so mehr wächst ihre Begeisterung. Das Blut beginnt zu kochen; dann gilt das Leben nicht so viel, wie der Dampf da von deiner Zigarre. Ich dächte, darin wärest du nicht besser – o, schlechter, sollte ich sagen, als die Gäule und ich.«

Gregor schwieg. Ob Befriedigung über die Antwort ihn erfüllte, ob Mißmut, wäre schwer auf seinem undurchdringlichen Antlitz zu erkennen gewesen, ebensowenig der Eindruck, den er empfing, als er Thusnelda wieder von der Seite betrachtete. Ein weißes Musselinkleid umhüllte ihre schlanke, kräftige Gestalt von dem stolzgetragenen Nacken bis zu den zierlichen Füßen hinunter. Diese waren mit langen Schnürstiefeln von bronzeschillerndem Saffian bekleidet und stützten sich so fest gegen das Trittbrett, daß sie dadurch beinahe zum Stehen gelangte. Den Oberkörper umschloß lose eine leichte faltige Jacke von hellblauer Seide, deren Farbe einen freundlichen Gegensatz zu dem ins Weißliche spielenden Blond des weichen Haares bildete. Als Schmuck trug sie nur eine aus breiten Goldplatten zusammengefügte Halskette. Ähnliche Armbänder verschwanden unter den Stulpen der aus starkem Leder angefertigten Handschuhe. Verriet sie aber in der Wahl der Farben wie in der ganzen Bekleidung einen eigentümlichen, bestechenden Geschmack, so hätte man in ihrem Antlitz vergeblich nach Merkmalen gesucht, die von wirklicher Gefallsucht zeugten. Es rief sogar den Eindruck hervor, als wäre sie ihrer Schönheit sich nicht einmal bewußt gewesen. Auf alle Fälle ging sie zurzeit in dem Verkehr mit den beiden Falben förmlich auf, unbekümmert um die ernsten Blicke Gregors, unbekümmert um das gelbe, schlitzäugige Gesicht, das von dem beinah freischwebenden Sitz hinter der Bank aus bald auf der rechten, bald auf der linken Seite einen flüchtigen Anblick dieser oder jener Gesichtshälfte zu erhaschen trachtete und dabei alle jene Eitelkeit, jenen Stolz und jene Selbstgefälligkeit zur Schau trug, die man bei ihr vergeblich suchte.

Ja, der alte Singsang war es selber, der dahinten auf dem luftigen Sitz sorglos das Gleichgewicht bewahrte; derselbe alte Singsang, wohlgenährt, in seinem unveränderlichen blauen Kittel, mit der runden Filzmütze und einem Zopf, der dem würdigsten Mandarinen zur Ehre gereicht haben würde.

Einige Minuten waren in Schweigen verronnen, als Gregor wie beiläufig bemerkte: »Fast will mir scheinen, du hältst die Zügel ein wenig zu straff. Gib den Tieren mehr Spielraum, das erleichtert ihnen bei der Hitze das Atmen. Wir machen ja keine Paradefahrt; oder fürchtest du, sie möchten mit uns durchgehen?«

Thusnelda sah ihn mutwillig lachend an, runzelte die dunklen Brauen im Scherz und rief aus: »Und wenn sie durchgingen! Ich wäre die letzte, die dadurch eingeschüchtert würde.«

»Ich möchte es dir trotzdem nicht gönnen,« erwiderte Gregor belehrend, »du kennst die dabei waltenden Gefahren noch nicht.«

»Je mehr Gefahr, um so aufregender,« versetzte Thusnelda. Sie warf einen flüchtigen Blick um sich. Weder Baum, noch Prellstein oder Graben beengten den Weg, während zu beiden Seiten ebene, brache Felder sich ausdehnten. »Eine schöne Gelegenheit zum Durchgehen,« bemerkte sie darauf spöttisch.

Sie zog die Zügel fester an, traf mit der Peitsche die beiden Falben, diese bäumten sich auf und drängten gewaltsam nach vorne.

»Mädchen, du bist des Teufels!« rief Gregor warnend aus, mochte es in seinen ruhigen Augen immerhin wie Stolz aufleuchten.

»Ja, Gregor, des Teufels!« wiederholte Thusnelda hell auflachend, und aufmerksam verfolgte sie die Bewegungen der beiden flotten Renner. Irgendeine muntere Frage schwebte ihr auf den Lippen, als Gregor ihr mit den Worten zuvorkam: »Nachdem du die Gäule ausgiebig bewundert hast, wende deine Aufmerksamkeit auch der weiteren Umgebung ein wenig zu. Beachte, wie alles verödet und verwahrlost daliegt. Als ich diese Gegend zum letzten Male durcheilte, kostete es mich mein schönes, gelehriges Pferd. In Fortsetzung der Flucht wäre es mir hinderlich gewesen, und denen, die mich verfolgten, gönnte ich das kluge Tier nicht. Sie hätten es sicher um meinetwillen mißhandelt, wohl gar vor einen Wagen gespannt oder vor ein Geschütz. Ich setzte ihm daher die Mündung der Pistole hinters Ohr, schloß die Augen und schmerzlos war es allen drohenden Leiden entzogen. Es waren schreckliche Stunden für mich, aber sie mußten durchlebt werden. Damals herrschte noch etwas, wenn auch nur wenig Regsamkeit hier. Aber in jenen Tagen, in denen deine schöne, sanfte Mutter im glänzenden Brautstaat diesen Weg fuhr, hättest du unsere Landschaft sehen sollen. Wie deine Mutter, prangten auch Wiesen und Felder, Haine und Wälder in so lieblichem bräutlichen Schmuck, wie nur je ein lachender Frühling ihn erschloß. Und das ist jetzt alles dahin, dahin auf Nimmerwiederkehr. Die Kriegsfackel leuchtete über das ganze Land, und wohin ihr unheimliches Licht nicht drang, da machte ihre grauenhafte Wirkung sich doch nicht weniger fühlbar. Der vernichtete Wohlstand wäre wohl noch zu verschmerzen gewesen, aber die Menschen, die Menschen, die mit fortgerissen wurden, und so manches vernichtete Familienglück – dergleichen konnte nicht mehr ersetzt werden.«

Thusnelda, obwohl aufmerksam lauschend, hatte die Pferde wieder ins Auge gefaßt, aber sie blickte traurig. Sie kannte das Ende ihrer Mutter, wenn auch nicht alle Umstände, die es verschuldeten. Und so mochte ihr ein sie zärtlich überwachendes Antlitz vorschweben, dem eine bestimmte Form zu geben ihre Phantasie indessen nicht ausreichte.

»Also diesen Weg,« sagte sie endlich träumerisch, »und auf dem, was hier vor mir liegt, ruhten einst ihre Augen. Wie bei solchen Gedanken mich alles anheimelt –«

»Und was für Augen!« fiel Gregor wieder lebhafter ein. »Ach, Kind, das Bild, das sie damals auf dem Gipfel ihres so kurz bemessenen Glückes bot, es wird mir ewig unvergeßlich bleiben. Ich zählte kaum fünfzehn Jahre, und doch liebte ich sie mit einer weit über mein Alter hinausreichenden Innigkeit, und dafür fand ich meinen Lohn in der Herzensgüte, mit der sie mir stets begegnete. Ja, ich war sogar eifersüchtig auf deinen Vater, dem ich in meinem knabenhaften Sinnen und Trachten den kostbaren Schatz nicht gönnte. Bisher sprach ich nie mit dir darüber; aber hier, auf den Stätten, auf denen ich meine Kindheit verbrachte und deine Mutter meinem Geiste doppelt lebhaft vorschwebt, mag ich der alten Zeiten vor dir gedenken. Dadurch gewinnst du zugleich ein klares Bild von den Ursachen, die mich bis zu ihrem Tode so innig an sie und später an dich fesselten.«

»Nachdem du diese Gegend verlassen hattest, sahst du meinen Vater nicht wieder?«

»Nie wieder. Wer weiß, wo und wie er sein Ende fand. Sind doch Tausende in dem unheilvollen Kriege verschollen, ohne daß je die leiseste Nachricht von ihnen in die Öffentlichkeit drang.«

»Wäre es nicht möglich, daß mein Vater dennoch lebte,« forschte Thusnelda, »vielleicht irgendwo gegen seinen Willen zurückgehalten wird? Auch mag er, gleich uns, die Welt durchstreifen und nach meiner Mutter und seiner Tochter suchen.«

Gregors Züge hatten sich bei dieser Frage verfinstert. Unheimlich sprühte es aus seinen sonst so ruhigen Augen. Einige Sekunden betrachtete er Thusneldas den Pferden wieder zugekehrtes Antlitz nachdenklich, dann sprach er wie unter dem Druck einer sein Gemüt beschwerenden Last: »Nein, mein Kind, das halte ich für mehr als unwahrscheinlich. Sollte es aber der Fall sein, wer weiß, ob dann das Wiedersehen auf Grund mancherlei Erfahrungen ein beglückendes wäre – doch laß die Pferde ruhig wieder ausgreifen,« verfiel er in seine gewöhnliche, beinah ausdruckslose Weise, »die Mittagssonne drückt auf uns alle. Je früher die Tiere Schatten finden, um so wohltätiger für sie. Sie werden ohnehin eine Weile rasten müssen, bevor ihnen Wasser gereicht werden darf.«

Thusnelda, vertraut mit den jäh wechselnden Stimmungen ihres Beschützers, trieb die Pferde wieder schärfer an. Sie fühlte, daß er seinen Gedanken ungestört nachzuhängen wünschte, begriff, daß der Besuch der Stätten seiner Kindheit nicht ohne Einfluß auf ihn bleiben konnte.

So gelangten sie binnen kurzer Frist bis dahin, wo ein mit Gras und Kraut überwucherter Weg sich von der Landstraße abzweigte und zwischen eingefriedigten Parkanlagen hinführte. Von den einst aus weißangestrichenen Pfosten und Latten hergestellten Zäunen war nur noch wenig vorhanden. Einzelne Reste lagen modernd im Grase. Das meiste mochte den letzten Bewohnern des Negerdorfes als Brennholz gedient haben.

Beim Anblick dieser Verwüstung lachte Gregor spöttisch vor sich hin. Thusnelda gab sich das Ansehen, es nicht zu gewahren, und ließ die Pferde ihre Gangart zu einem bequemen Schritt mäßigen. Sie fürchtete förmlich Gregors etwaige Bemerkungen über den heillosen Verfall alles dessen, was einst mit so viel Geschmack und Kunstsinn angelegt wurde.

Kurz bevor sie die Grenze erreichten, die die Parkanlagen von dem Vorgarten des Herrenhauses schied, kamen sie an einem auf gewaltiger Holzsäule schirmartig errichteten japanischen Dach vorüber. Auf Gregors Rat hielt Thusnelda die Pferde an.

»Sieh das Lusthaus,« sprach er gleichmütig, »ich bin erstaunt, es nicht ebenfalls in Trümmern liegen zu sehen. Das war einst mein Lieblingsplätzchen. Da auf der um die Säule herumlaufenden vermorschten Bank habe ich manche Stunde gelegen und meine Zeit mit Lesen und Nichtstun ausgefüllt.« Er warf einen prüfenden Blick um sich und fuhr fort: »Wenn ich es mir recht überlege, stehen die Pferde hier besser, als in einem dumpfigen Stall. Fahre dort nach der rasigen Fläche hinauf. Das war einst ein mit Kies bestreuter Platz, der, überdacht von den schattigen Bäumen, sich vortrefflich zu geselligen Zusammenkünften und heiteren Spielen eignete. Mehrfach hat auch deine schöne Mutter dort im Tanz die Sohlen ihrer kleinen Schuhe in den Sand ausgeprägt.«

Schweigend lenkte Thusnelda die Pferde vom Wege ab, und nach einigen vorsichtig ausgeführten Wendungen zwischen lichter stehenden alten Bäumen hindurch hielt sie vor dem Pavillon an. Gewandt sprang sie vom Wagen. Gregor gesellte sich ihr fast ebenso schnell zu; etwas gemächlicher folgte Singsang, und wenn je Pferde unter freundlichem Zuspruch ihrer Geschirre entledigt und durch linnene Fliegendecken gegen Bremsen geschützt wurden, so geschah es hier, indem die drei befreundeten Gestalten sich gleich fürsorglich um die beiden Falben herum bewegten. So dauerte es nur wenige Minuten, bis diese an leichten Gurtenhalftern vor der Säule des Pavillons standen und den für sie auf die Bank geschnittenen Brotscheiben eifrig zusprachen. Singsang begab sich darauf an die Arbeit, sie abzureiben, wogegen Gregor und Thusnelda sich anschickten, ihren Rundgang auf dem verfallenden Gehöft anzutreten.

»Wenn sie die Hälfte des Brotes verzehrt haben, gieße jedem eine halbe Flasche Wein in die Kehle. Tränken wollen wir sie später!« rief Gregor dem dienstfertigen Chinesen zu, und Thusnelda den Arm bietend, schritt er mit ihr in den Weg zurück.

 


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