Balduin Möllhausen
Die Familie Melville
Balduin Möllhausen

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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Am Grabe der Tochter.

Etwa zwei Wochen später verließ eine kleine Gesellschaft rüstiger Fußgänger lustwandelnd die reizend gelegene Stadt und schlug die Richtung nach dem nahen Walde ein, wo eine Kapelle mit ihrem Türmchen über die Baumwipfel hinauslugte. Erst abends zuvor in Euyahoga-Falls eingetroffen, hatten sie kaum das Frühmahl beendigt, als sie zu dem Gange ins Freie sich rüsteten. Ihrer vier waren es. Vorauf, in ein ernstes Gespräch vertieft, schritten Gregor und Stocton. In einiger Entfernung, als hätten sie außer Hörweite bleiben wollen, folgten Thusnelda und Singsang. Nicht minder eifrig als jene gedachten sie der jüngsten harmlosen Erlebnisse und der Pferde, die unter der Obhut eines gewissenhaften Reitknechtes im Süden zurückgeblieben waren.

Auf Gregors Zügen ruhte die gewöhnliche ernste Ruhe, die wohl im Verlauf einer frohen Unterhaltung den Eindrücken fremder Heiterkeit flüchtig nachgab, am wenigsten aber durch unvorhergesehene Ereignisse erschüttert werden konnte. Aufrecht bewegte er sich einher, wogegen Stocton, wie unter einer Bürde schmerzlicher Betrachtungen, das Haupt geneigt trug.

»Wenn mein Kind hier beerdigt wurde,« sprach er und die Worte schienen sich mit Widerstreben seinen Lippen zu entwinden, »so muß Marianne notgedrungen längere Zeit in der Nachbarschaft geweilt haben.«

»Ohne Zweifel geschah das,« erwiderte Gregor, den Gefährten teilnahmvoll von der Seite betrachtend, »und meine Aufgabe soll sein, das Nähere zu erkunden. Zuvor aber müssen wir uns überzeugen, daß kein Irrtum waltet. Aus der Quelle, aus der ich, vom Zufall begünstigt, schöpfte, erfuhr ich nur von einem Grabstein mit dem Namen Ellen, dem Tage der Geburt und dem des Todes. Finden wir die unbestimmte Mitteilung bestätigt, so hindert uns nichts, unsere Nachforschungen weiter auszudehnen und die einmal entdeckten Spuren bis ans Ende zu verfolgen. Ich rate aber – und mein Urteil ist in diesem Falle doch wohl das unbefangenere – dich keinen überschwänglichen Hoffnungen hinzugeben.«

»Ich pflichte dir bei,« versetzte Stocton traurig, »mein Urteil wird durch zu viele Nebenumstände bedingt. Und wie könnte es anders sein? Ist mir doch ums Herz, als hätte ich mein Kind vor wenigen Tagen noch in den Armen gehalten, um heute vor seinen frisch aufgeworfenen Grabhügel hinzutreten. Ja, Gregor, so wirkte die erschütternde Kunde trotz der langen Trennung auf mich ein. Mein Gott, wie die alten Wunden wieder bluten! Wann werde ich endlich Ruhe finden –«

»Nicht doch, Charles,« unterbrach Gregor ihn ermutigend, »vermeide es, dich fortgesetzt mit trüben Bildern zu umgeben. Noch liegt ein langes Leben vor dir, und jeder neue Tag mag Trost und Frieden bringen. Erkennst du das Grab an dem auf dem Stein verzeichneten Geburtstage als das richtige an, so betrachte das als einen Fingerzeig des Geschicks, das dich dennoch mit den Deinigen zusammenführen möchte. Deiner Trauer um die kleine Verlorene brauchst du deshalb nicht zu entsagen; doch sollst du freundlichen Hoffnungen dich nicht verschließen, sondern sie hegen und dich an ihnen ausrichten. Was hätte aus mir werden sollen, wäre ich leicht zu beugen gewesen? Und ich geriet gewiß in Lagen, geeignet, ein armes, vor Jammer und Not zuckendes Knabenherz zu brechen. Dann aber vergleiche unsere beiderseitigen Aussichten miteinander. Dir lächeln unstreitig noch glückliche Tage im Kreise der dir gebliebenen Deinigen; und ich?« Er lachte herbe und fuhr anscheinend gleichmütig fort: »Vor mir eröffnet sich die Aussicht, nachdem Thusnelda sich vielleicht verheiratete, die Welt einsam zu durchstreifen, wohin ich komme, als Fremdling kalt begrüßt und aufgenommen zu werden. Nicht einmal Singsang wird mir zur Seite stehen, denn ihn von Thusnelda trennen, hieße, ihn ins Verderben stürzen.«

»Ein Fremdling überall,« versetzte Stocton etwas lebhafter, »jedoch nur so lange, bis auch du einen eigenen Herd dir gründetest –«

»Unsinn, Charles,« fiel Gregor spöttisch ein, »um im Familienleben meine Befriedigung zu suchen, müßte ich ein anderer sein, einen anderen Beruf gewählt haben – das heißt, ich verwahre mich gegen den Verdacht, diesen Schritt jemals bereut zu haben. Nein, Charles, für das Familienleben bin ich abgestumpft, ich mußte abstumpfen durch die Erfahrungen, die hinter mir liegen. Doch vergessen wir das. Sieh da die Kapelle, wie sie freundlich zwischen den Bäumen hervorlugt. Eine liebliche Stätte, auf der dein Töchterchen schläft. Vor dem Grabhügel wollen wir beide der alten Zeiten gedenken, ungehemmt den auf uns einstürmenden Betrachtungen Raum geben; das ist unser Recht, unsere Pflicht.«

Stocton antwortete nicht. Er schien sich gänzlich dem Eindruck des Bewußtseins hingegeben zu haben, nach wenigen Minuten vor das Grab einer Tochter hinzutreten, die ihm in der Erinnerung als ein lachender Engel vorschwebte. Gregor vermied, ihn in seinem traurigen Brüten zu stören.

Heiter, wenn auch nicht ganz frei von Besorgnissen, verkehrten dagegen Thusnelda und Singsang miteinander.

Wenige Minuten lebhaften Einherschreitens brachten sie nach der Kapelle und vor die Einfriedigungsmauer des Friedhofes. Neben der Pforte blieben sie stehen, um die Rückkehr der beiden Verwandten abzuwarten. So war es verabredet worden. In Gregors Plan lag es, Zeugen fernzuhalten, wenn Stocton vor dem Grabe seines Kindes von Wehmut übermannt werden sollte. Über die Lage der Stätte war er auf seine wie beiläufig gestellten Fragen durch Frank, der den Zweck nicht ahnte, einigermaßen unterrichtet worden. Es bedurfte daher nur kurzen Spähens und Suchens, um an sein Ziel zu gelangen. Stocton überließ sich vollständig seiner Führung. Er war zu ergriffen, um seinen Empfindungen noch Ausdruck verleihen zu können. Als er aber endlich vor einem mit üppig blühenden Pflanzen, mit älteren und neueren Blumengewinden geschmückten Hügel stand, zu dessen Häupten eine Marmortafel den Namen der unter demselben ruhenden stillen Schläferin trug, da atmete und seufzte er so schwer, als hätte er sich mit dem Tode in hartem Ringen befunden. Während seine Hände sich krampfhaft ineinander wanden, brach seine hohe breite Gestalt förmlich in sich zusammen.

»Armes, liebes Kind,« lispelte er über den kleinen Hügel hin, »warum ist es mir nicht vergönnt gewesen, dir noch einmal in die klaren, unschuldigen Augen zu schauen, nur noch ein einzig Mal deinen lieblichen Kindermund zu küssen. Ellen, Ellen, hier steht dein Vater vor dir und sendet seine Herzensgrüße zu dir hinab. Möchten sie sich in deine Träume verflechten – mein armes, liebes Töchterchen – wo weilt deine Mutter, wo sind deine Geschwister?«

Tiefer beugte der sonst so starke Mann sich unter den seine Seele wie den Körper durchrieselnden Erschütterungen.

Gregor war einige Schritte zurückgetreten. Einen Blick sandte er nach der Pforte hinüber, wo Thusnelda und Singsang bereits ein Weilchen gestanden hatten. Dann überwachte er mit ernster Teilnahme Stocton, der in Schmerz versunken nunmehr regungslos auf das in Blumen gekleidete Grab niederstarrte. Der Trauer wollte er ihr Recht einräumen, wie der Freude. Jene sollte gewissermaßen die Vorbereitung zu dieser bilden. So hatte es in seiner Absicht gelegen, seitdem Frank ihm das Heim seiner Mutter und der Schwester wie deren Tätigkeit schilderte, ahnungslos, daß er dadurch dem eigenen verschollenen Vater den Weg in den Schoß seiner Familie zeigte. –

Thusnelda und Singsang, die schweigend zu den beiden Männern hinübersahen, wurden in ihrem Sinnen durch eine leichte Bewegung gestört. Als sie sich umkehrten, schritt eine bleiche Frau in dunklem Anzuge und vor sich einen Blumenstrauß tragend bei ihnen vorüber. Befremdet hatte diese schon aus der Ferne die seltsame Erscheinung des Chinesen betrachtet. Indem sie aber einen vollen Blick in Thusneldas Antlitz gewann, glitt es wie ein Ausdruck der Bewunderung über ihre schwermütig erregten Züge. Ihre Überraschung offenbarte sich gleichsam unwillkürlich durch eine freundliche Verneigung, die Thusnelda höflich erwiderte; dann schritt sie durch die Pforte auf nächstem Wege nach der Stelle hinüber, auf der Stocton und Gregor noch immer weilten.

»Singsang,« kehrte Thusnelda sich dem Chinesen mit gedämpfter Stimme zu, »die trägt die Blumen einem teuren Verstorbenen zu. Wenn auch ich das könnte,« und ihre Gedanken suchten den Schleier zu durchdringen, hinter dem ihre erste Kindheit lag.

Singsang verstand die Andeutung und antwortete in der ihm eigentümlichen Weise tröstlich: »Unser liebes Grab schmückt die Natur –« er brach ab, und durch Thusnelda darauf aufmerksam gemacht, sah er zu der schwarz gekleideten Dame hinüber. Diese war stehen geblieben. Sichtbar erstaunt, Fremde vor dem von ihr selbst aufgesuchten Grabe zu finden, zögerte sie, ihren Weg fortzusetzen. Nach kurzem Sinnen entschloß sie sich, deren Entfernung abzuwarten.

Während Stocton, gleichsam unempfindlich gegen äußere Eindrücke, in Schmerz versunken das Haupt neigte, hatte Gregor sich nach dem kaum vernehmbaren Geräusch der leichten Schritte umgekehrt. Der erste Blick belehrte ihn, daß die einsame Wanderin durch seine und Stoctons Anwesenheit gestört wurde. Eine dumpfe Ahnung erwachte in ihm. Sie wurde aber zur Überzeugung, als er in das bleiche Antlitz sah und, trotz des Einflusses vieler langer, in endlosem Grame verlebter Jahre, Gesichtszüge wiedererkannte, die in seinem Knabenalter ihm so vertraut gewesen waren. Zweifel bestürmten ihn. Er wußte nicht, war es als eine glückliche Fügung zu preisen oder zu bedauern, daß das bedachtsam vorbereitete Wiedersehen sich schon hier vollziehen sollte. Ernste Besorgnisse stiegen in ihm auf. Wie von seiner Anwesenheit einen nachteiligen Einfluß befürchtend, schritt er eine Strecke weiter, die Aufmerksamkeit scheinbar einem größeren Grabdenkmal zuwendend. In der Tat aber lauschte er gleichsam atemlos auf die hinter ihm sich entwickelnden Vorgänge.

Eine Weile herrschte noch Stille. Gregor, dadurch beängstigt, sandte einen verstohlenen Blick nach der bleichen Frau hinüber. Sie hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt, aber kleiner schien sie geworden zu sein, und in den unsteten Bewegungen, mit denen sie nunmehr Stocton näher trat, verriet sich, daß irgendein sie unwiderstehlich fesselndes und doch schmerzlich erregendes Bild ihr vorschwebte, dessen alsbaldiges Zerrinnen sie vorhersah. Wenige Schritte trennten sie noch von Stocton, als dieser sich umkehrte, dann aber, wie mit einer Vision ringend, auf sie hinstarrte. Doch nur einige Sekunden dauerte dieser, einer Lähmung ähnliche Zustand. Er sah, wie die vor ihm Stehende tödlich erbleichte, sah, wie beim Anblick seiner vernarbten Züge ein Ausdruck unsäglichen Jammers über ihr Antlitz hineilte, heiße Tränen ihren Augen entstürzten, die Blumen zerstreut zur Erde fielen, ihre Arme sich weit ausbreiteten und ihn dann fest umschlangen.

»Charles, Charles, wie hast du gelitten – Verzeihung – Verzeihung! Charles, was hast du erduldet,« einte es sich mit ihrem krampfhaften Schluchzen, und von Stocton in die Arme geschlossen, weinten die nach langen Jahren der Trennung wieder vereinigten Gatten heiße Tränen des Schmerzes und der Freude; des Schmerzes um unwiederbringlich Verlorenes, der Freude, daß es ihnen beschieden sein sollte, anstatt in unbekannter Ferne und ohne voneinander zu wissen, selber zur ewigen Ruhe gebettet zu werden, versöhnt und Hand in Hand die noch vor ihnen liegende Bahn zu durchwandeln.

Gregor war unbemerkt davongeschlichen. Wehmut durchzitterte sein Herz. Die Augen des Mannes, dessen ehernen Körper ein eherner Wille beherrschte, umflorten sich. An ihn dachte niemand in den heiligen Minuten. Im ersten Gedankenaustausch blieb unbeachtet, daß es sein Werk war, wenn ein freundliches Abendrot an Stelle der bisherigen düsteren Wolkenschattens trat. –

 


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