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Den zehn Vorstellungen, zu denen Gregor mit Thusnelda, Singsang und seinen Pferden sich verpflichtete, hatte er noch drei hinzugefügt; dann aber erklärte er, trotz der glänzendsten Anerbietungen, zunächst wieder eine längere Rast eintreten lassen zu wollen. Zu diesem Entschluß bestimmte ihn Stocton, mit dem er seither in regem, wenn auch wenig auffälligem Verkehr gestanden hatte. Aus ihren gegenseitigen Mitteilungen, die namentlich die erbitterte einsame Bewohnerin der Plantage und den ihr verbündeten ränkevollen Slowfield betrafen, wie aus den versteckten Feindseligkeiten, die sich bis vor Ausbruch des Krieges verfolgen ließen, glaubten sie entnehmen zu dürfen, daß jene in ihrem Tun durch in Aussicht stehende beträchtliche Vermögensvorteile geleitet wurden. Damit einte sich die Hoffnung, bei ihren Nachforschungen Spuren zu kreuzen, die zu Verschollenen führten, die also fälschlich für tot ausgegeben worden. Um in ihrem gemeinsamen Handeln ungestört zu bleiben, zugleich aber Slowfields Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken, waren sie nach einem Landstädtchen übergesiedelt. Außer Singsang begleiteten das Künstlerpaar zwei Stallknechte, denen die Pflege der Pferde oblag. Damit war abermals eine Woche hingegangen, und zwischen Stocton und Gregor schwebten Verhandlungen, die ihr Vorgehen gegen Slowfield betrafen, als ihnen eine Zeitung in die Hände fiel, in der Stocton auf den ersten Blick den mit fetter Schrift gedruckten Aufruf Floras entdeckte.
Förmlich bestürzt las er denselben seinem jüngeren Verwandten vor. Unterlag es doch keinem Zweifel mehr, daß Gilbert, den man seit vielen Jahren auf dem Meeresboden wähnte, noch unter den Lebenden weilte, jedoch aus irgendwelchen rätselhaften Gründen für gut befunden hatte, die über ihn umlaufenden Gerüchte nicht zu widerlegen.
Eine Weile saßen die beiden Männer einander schweigend gegenüber, Gregor, die Fäuste krampfhaft geballt, vor sich niederstarrend, Stocton ängstlich dessen Züge überwachend.
»Gilbert Melville, der Gatte der schamlos gemordeten Edith, der Vater Thusneldas,« sprach Gregor endlich wie im Traume. Als hätte der Ton der eigenen Stimme ihn erschreckt, sah er empor und in Stoctons ernstes Antlitz. Aus seinen Augen leuchtete unheimliche Glut; wie bei einem Raubtier, das plötzlich einen Todfeind in den Bereich seiner Pranken treten sieht, dehnten sich seine Nasenflügel.
»Hast du es in dich aufgenommen?« fragte er und seine tiefe Stimme hatte ihren alten Wohlklang verloren, »hast du es gelesen?« fügte er mit gehässigem Lachen hinzu. »Er, dessen Gemüt sich nicht aufbäumte, der nicht rächend einschritt, sogar billigte, daß man die unsäglichsten Qualen ersann, um ein treues Mutterherz zu brechen, der unbarmherzig verstieß, was ihm das Heiligste auf Erden hätte sein sollen, der sein eigen Kind in die Rennbahn jagte, um es zu öffentlichen Schaustellungen benutzen zu lassen, der mich selbst darum brachte, als Mann mit der Waffe in der Faust für das gefährdete Vaterland eintreten zu dürfen: er lebt noch! Ja, er lebt, er erfreut sich vielleicht eines sorglosen Daseins, besitzt Angehörige, wohl gar Weib und Kind, die in Liebe an ihm hängen« – und wiederum lachte er erbittert auf – »Weib und Kind, die um ihn sorgen, oder wer sonst hätte einen derartigen Aufruf in die Welt senden können?«
Da ergriff Stocton seine Hand, und sie krampfhaft pressend, suchte er Gregors unheilverkündenden Blick, während sein eigenes vernarbtes Antlitz sich dunkler färbte.
»Verdamme nicht vorschnell,« sprach er schwermütig warnend, »vergiß nicht, wir alle sind denselben Verfolgungen ausgesetzt gewesen. In den damaligen politischen Wirren, die alle Leidenschaften entfesselten, finden sich gewiß Milderungsgründe –«
»Nein, Charles,« fuhr Gregor heftig auf, und indem er sich regte, schienen die gewaltigen Muskeln der breiten Schultern durch die leichte Sommerkleidung hindurch sich Bahn brechen zu wollen, »für das, was damals geschah, gibt es keine Entschuldigung, keine Milderungsgründe, und heute denke ich noch ernster darüber, als in jenen Tagen der Not und bitteren Jammers, nein, keine Entschuldigung! Du ahnst nicht, mit welcher Liebe ich an Edith gehangen, mit welcher Treue ich heute noch die Erinnerung an sie hege und pflege.«
»Gregor,« versetzte Stocton erschüttert, »er, dem du den tiefsten Haß nachträgst, dein Vetter Gilbert, ist der Vater Thusneldas.«
»Ja, Charles, Thusneldas Vater, aber nur noch dem Namen nach. Jetzt hoffe ich mehr, denn je zuvor, ihm das in die Ohren zu schreien gemeinsam mit der Kunde, daß seine Tochter eine Kunstreiterin geworden. Des weiteren erkenne ich seine Vaterschaft nicht an. Für mich ist er der Mörder Ediths, wie ich in Marianne –«
»Nicht weiter in diesem Sinne,« wendete Stocton bestürzt ein, »vergegenwärtige dir, wie deine Worte mich martern müssen. Marianne, deine nahe Verwandte, ist die Mutter meiner eigenen lieben Kinder –«
»Denen sie gewissenlos den Vater raubte, die sie mit feindseligem Bedacht fern von dir hielt, oder du hättest sie auf deinen langjährigen Wanderungen finden müssen.«
»Gregor, Gregor, hättest du nicht die zahlreichen Beweise warmer Herzensregungen geliefert, so möchte man dich für einen Tiger halten.«
»Bin ich ein Tiger, so fällt es denjenigen zur Last, die mich in einen solchen verwandelten,« erklärte Gregor finster, und milder, als hätte der Anblick Stoctons, der wie gebrochen vor ihm saß, plötzlich sein ganzes Mitgefühl wachgerufen, fügte er hinzu: »Doch du hast recht, Marianne war deine Frau, ist es vielleicht heute noch, zugleich die Mutter deiner Kinder. Möchten diese in deine Arme geführt werden, und was in meinen Kräften steht, zu ihrer Entdeckung beizutragen, das geschieht – glaube es mir – mit Freuden.«
»Es wird vergebliche Mühe sein,« sprach Stocton schwermütig vor sich hin, »flackert in der einen Minute eine vermessene Hoffnung auf, so sinkt sie in der anderen wieder dahin. Wer weiß, ob sie überhaupt noch auf diesem Kontinent weilen, ob sie nicht, gleich dir und Thusnelda, nach fernen Erdteilen verschlagen wurden.«
»Auch dann darfst du die letzte Hoffnung nicht verlieren,« nahm Gregor wieder das Wort, jetzt aber mit herzlich klingender Stimme, »unterschätze nicht, daß Gilbert noch lebt; von ihm ist vorauszusetzen, daß er und die einzige Schwester sich gegenseitig nicht aus den Augen verloren, zumal bei der früher wenigstens bestehenden Gleichartigkeit ihrer Gesinnungen. Weiß Gilbert aber um die Deinigen, so erfahre ich es, gleichviel ob durch Güte oder Gewalt.«
»Du willst hin, wo man in Sorgen um ihn ist?« fragte Stocton und gespannt hingen seine Blicke an den Lippen des entschlossenen wilden Reiters, der in dem Vollbewußtsein der ihm innewohnenden Kraft durch ungestümes Entscheiden eine Art Herrschaft über ihn gewonnen hatte.
»Auf, alle Fälle,« antwortete Gregor beinah herrisch, »hier ist mein Wegweiser,« und er legte die Hand auf die Zeitung, »hat man ernstlich einen Entschluß gefaßt, soll man mit Schwanken und Zweifeln keine Zeit verlieren. Morgen breche ich auf. Von dir erwarte ich nur das Zugeständnis, Thusnelda während meiner Abwesenheit zur Seite zu stehen. Die Ärmste, es geschieht zum ersten Male, daß ich mich auf längere Zeit von ihr trenne. Sie wird es beklagen, sich jedoch leichter in das Unabänderliche fügen, weil sie dich hat. Wunderbar,« schaltete er träumerisch ein, »wie wir uns aneinander gewöhnten. Ich werde sie recht vermissen, allein mitnehmen kann ich sie nicht, solange die Gefahr für sie waltet, ihrem Vater zu begegnen. Auch Singsang wird bleiben; ich wüßte nicht, wie sie ohne ihn fertig werden sollte. Gemeinsam mit ihm mag sie unseren Marstall überwachen. Schade, daß Singsang sich nicht auf den Rücken eines Pferdes getraut, er möchte sie sonst auf ihren Spazierritten begleiten. Vielleicht übernimmst du es; denn dem Verkehr mit den Pferden, wenn auch nur auf kurze Zeit, zu entsagen, wäre für sie eine grausame Zumutung.«
»Ich?« fragte Stocton mit einem schmerzlichen Lächeln, »ich, der seit so vielen Jahren sich unter der Last des Hausierballens einherbewegte?«
»So wollen wir ihr anheimgeben, sich von einem der Stallknechte begleiten zu lassen. Ich bin schon beruhigt, wenn ich dich in ihrer Nähe weiß.«
»Thusnelda gehört ja auch zu mir,« versetzte Stocton, und er reichte, wie ein Versprechen besiegelnd, Gregor die Hand, »meine ich doch, in ihr meine eigenen Töchter erblühen zu sehen. Reise daher unbesorgt und handle, wie es dir angemessen erscheint. In dir wohnen Jugendmut und Entschlossenheit; die sind bei mir längst schlafen gegangen.«
Hier endigte die Unterhaltung zwischen den beiden Männern.
In dem Strandhause hatte sich in den letzten zehn Tagen, also seit Melvilles geheimnisvollem Verschwinden, nichts geändert. In der bangen Erwartung, Nachricht über den Verbleib ihres Wohltäters zu erhalten, schlichen Flora die Tage langsam dahin. Kit, dessen sich ein gewisses Gefühl der Hilflosigkeit bemächtigt hatte, war am wenigsten geeignet, sie in ihren Hoffnungen zu bestärken.
Hawkins war nur einmal nach dem Strandhause herübergekommen. Mit Rücksicht auf Melvilles Gemütszustand tadelte er ernst die in den Zeitungen erlassenen Aufrufe. Er wies darauf hin, daß nur einer derselben dem Kapitän vor Augen zu kommen brauche, um ihn durch die rücksichtslose Bloßstellung unversöhnlich zu erbittern, seine Erregbarkeit auf einen gefährlichen Gipfel zu treiben. Dagegen riet er dringend, mit weniger auffälligen Nachforschungen nicht müde zu werden, wie er selbst nichts unversucht lasse, um zunächst auf die Spuren des Entflohenen zu gelangen. Zugleich beklagte er das Fehlen von Anhaltepunkten, die ihm bei ferneren Nachforschungen zustatten kommen würden. Nach seiner Überzeugung mußten sich solche unter Melvilles Papieren befinden, namentlich in einem Mahagonikästchen, und da riet er dringend, ihm, als dem vertrautesten Freunde des Kapitäns, alles zur Einsicht vorzulegen.
Flora durfte mit gutem Gewissen erklären, über den Verbleib der genannten Gegenstände nichts zu wissen, wogegen Kit Kotton mit allen nur denkbaren Seemannseiden beschwur, in seinem ganzen Leben kein Mahagonikästchen in Melvilles Händen gesehen zu haben.
Hawkins schied bitter enttäuscht, hielt es indessen für ratsam, seine wahren Empfindungen hinter den freundschaftlichsten Beteuerungen zu verbergen. Kit aber säumte nunmehr nicht länger, Flora mit allem vertraut zu machen, was er bis dahin als ein ihm nicht gehörendes Geheimnis streng überwachte.
Flora hatte ihre Freunde in der Stadt besucht und befand sich auf dem Wege nach dem Strandhause. Heute schwang sie keine Gerte, noch weniger vergnügte sie sich mit Singen oder Pfeifen, dagegen folgte Wasp ihr nach alter Weise so dicht auf dem Fuße, als wäre seine schwarze Doppelnase mit einigen flüchtigen Stichen an den Saum des flatternden Kleides festgeheftet gewesen.
Die Hälfte des Weges lag hinter ihr, als sie in einiger Entfernung, da, wo ein Nebenweg sich abzweigte, eines einsamen Wanderers ansichtig wurde. Wie um zu rasten, hatte er sich auf einen Stein niedergelassen und sah, anscheinend teilnahmlos, ihrer Ankunft entgegen.
Furcht kannte Flora nicht, trotzdem überwachte sie den Fremden aufmerksam. Erst als sie ihm so nahe, daß sie eine jugendliche Gestalt und ein frisches, wohlgebildetes Antlitz einigermaßen zu unterscheiden vermochte, sah sie in eine andere Richtung, um seiner nicht achtend vorüberzugehen. Wenige Schritte trennten sie noch von ihm, da erhob sich der Fremde und trat ihr mit höflichem Gruß entgegen.
Flora blieb stehen und maß ihn mit ruhigem Blick vom Kopf bis zu den Füßen. Gleichzeitig stellte Wasp sich vor ihr auf, und aus dem Sträuben der Rückenhaare ging hervor, daß der Weg zu seiner Herrin über seine Leiche führe. Der Eindruck, den diese nach der flüchtigen Prüfung von dem Fremden gewann, war unstreitig kein ungünstiger, denn leicht errötend beantwortete sie den Gruß mit der Warnung, nicht zu nahe zu kommen, wenn er nicht Gefahr laufen wolle, von dem Hunde zerrissen zu werden.
»So weit würden Sie ihm schwerlich freien Spielraum geben,« erwiderte der junge Fremde lachend, beachtete aber vorsichtig die Warnung, »müßte ich mich doch sehr täuschen, genügte ein Laut von den roten Lippen ihrer schönen Gebieterin nicht, die grimmige Bestie in ein Lamm zu verwandeln.«
Flora zuckte die Achseln. Sie versuchte, dem mit heiteren Worten um sich werfenden jungen Mann zu zürnen, allein es gelang ihr nicht. Wenig bedrohlich klangen daher auch ihre Worte, indem sie versetzte: »Und doch würde ich Ihnen raten, mehr die Lippen der Bestie, nebenbei ein edles Tier, als die meinigen im Auge zu behalten. Es gibt nämlich eine Grenze, auf deren anderer Seite meine Gewalt über die sogenannte grimmige Bestie aufhört.«
Auf des jungen Mannes anziehender Physiognomie spiegelte sich inniges Ergötzen. Hatte Floras anmutige Erscheinung beim ersten Anblick schon seine bewundernde Teilnahme erregt, so gewann sie durch das in ihrer Haltung sich offenbarende Selbstbewußtsein erhöhte Reize für ihn. Was er aber empfand, scheute er sich nicht, in seinen Zügen zu verraten und durch Worte gleichsam zu bekräftigen.
»Die Augen sind eigenwillig und im Eigenwillen gerecht,« erklärte er, wie sich entschuldigend, »da darf ihnen nicht zugemutet werden, auf dem Riesenhaupte eines allerdings sehr edlen, jedoch nicht übermäßig mit Schönheit ausgestatteten Tieres zu haften, wenn sie nur ein wenig die Richtung der Blicke zu ändern brauchen, um in ein Antlitz zu schauen –«
»Das übrige können Sie sich ersparen,« fiel Flora anscheinend ungeduldig ein, obwohl ihr ungewöhnlicher Scharfsinn sie belehrte, daß von dem Fremden keine Belästigungen zu befürchten, »und was die mangelnde Schönheit des Hundes betrifft, da ist er so schön, wie ein Vertreter seiner Rasse überhaupt nur sein kann. Ich hebe ausdrücklich hervor: je häßlicher, um so schöner.«
»Ich pflichte aus vollem Herzen bei,« gab der junge Fremde sorglos zu, »es ist mit den Tieren wie mit den Menschen: die häßlichsten sind zuweilen die edelsten, und umgekehrt: eine Ungerechtigkeit des Himmels würde ich es nennen, wäre es anders.«
»So sind wir einig, und Sie erlauben, daß ich weitergehe,« erwiderte Flora, unter den bewundernden Blicken des jungen Mannes nach besten Kräften die Brauen runzelnd. »Wasp, zurück!« rief sie diesem zu, der sich sofort an ihre Ferse heftete, und mit flinken Bewegungen setzte sie ihre Wanderung fort.
»Und ich bitte um die Erlaubnis, Sie eine kurze Strecke begleiten zu dürfen,« entgegnete der Fremde ehrerbietig, indem er gleichen Schritt mit Flora hielt, »denn das, was mich dazu bewog, Sie kühnlich aufzuhalten, ist ja noch nicht erledigt,«
Flora sandte ihrem Begleiter einen gleichsam begutachtenden Seitenblick zu und bemerkte gleichmütig: »Die Straße ist breit, ich kann Ihnen nicht verbieten, mit mir dieselbe Richtung zu verfolgen.«
»Mehr beanspruche ich nicht,« hieß es herzlich zurück, »und säume ich daher nicht, mein Anliegen vorzutragen. Auf der Wanderung hierher stieß ich auf den Kreuzweg. Da hieß es – ich bin natürlich fremd in dieser Gegend – welcher Weg ist der richtige. Ratlos sah ich mich um. In der Ferne jemand entdeckend, der mir folgte, beschloß ich zu warten, um von Ihrer Güte mir Aufklärung zu erbitten.«
»Das hätten Sie gleich sagen sollen. Jetzt sind Sie vielleicht in Notwendigkeit versetzt, umzukehren. Doch wohin wollen Sie?«
»Nach Klein-Melvillehouse,«
Erschrocken blieb Flora stehen, nahm aber sogleich ihre Bewegung wieder auf, und des Fremden Überraschung nicht achtend, bemerkte sie wie beiläufig: »Klein-Melvillehouse? Da befinden Sie sich auf dem rechten Wege. Es kommen übrigens nicht viele Menschen in diese Gegend, es ist daher wohl verzeihlich, zu fragen, was Sie gerade nach dem einsamen Strandhause führt?«
Der Fremde köpfte, mit seinem Stabe spielend, einen am Wege stehenden Distelbusch und antwortete zögernd: »Was mich dahin führt? Nun – das ist nicht so schnell gesagt, wie gefragt –«
»Mit anderen Worten,« fiel Flora lebhaft ein und ihr blühendes Antlitz färbte sich ein wenig tiefer, »Sie finden meine Frage unbescheiden. Wohlan, so will ich Sie der Antwort überheben; Sie lasen in den Zeitungen einen Aufruf, der Ihnen den Weg hierher zeigte.«
»Sie haben es erraten,« versetzte der Fremde mit freudigem Erstaunen, »nur muß ich bekennen, daß nicht ich den Aufruf entdeckte, sondern meine Mutter. Ich selbst könnte ihn zehnmal gelesen haben, ohne hohen Wert darauf zu legen.«
»So bringen Sie Kunde von ihm, ich meine von dem Kapitän Melville?« forschte Flora tief aufatmend und frei sah sie in die bewundernden ehrlichen Augen, »wir sind nämlich in großer Sorge um ihn. Er verließ uns unter beängstigenden Umständen; wir fürchten, eine ernste Krankheit hält ihn fern.«
»Viel gäbe ich darum, der Träger einer beruhigenden Nachricht zu sein,« antwortete der junge Fremde, während auf seinem hübschen Antlitz freundliche Spannung sich ausprägte, »allein ich muß bekennen, daß ich nur den Auftrag erhielt, über die Person des Kapitäns Melville Näheres einzuziehen. Mein Name ist Frank Stocton, mein Beruf der eines Offiziers, meine Aufgabe, mich den Angehörigen des Kapitäns Melville zur Verfügung zu stellen, und nach Ihren bisherigen Mitteilungen liegt die Vermutung nahe, daß Sie wenigstens in Beziehung zu dessen Angehörigen stehen.«
»Ich selbst verfaßte den Aufruf,« erklärte Flora mit einem Anfluge von Befangenheit.
Jetzt blieb Frank stehen. Indem er die nunmehr tief errötende holde Erscheinung mit freudigem Erstaunen betrachtete, rief er gleichsam jubelnd aus: »Sie sind des Kapitäns Tochter! Meine eigene liebe Kusine!«
»Nicht seine Tochter, Flora Hewet ist mein Name,« berichtete Flora freundlich, wie sich für ein Fehl entschuldigend, »aber gehen wir weiter. Sie mögen immerhin etwas näher zu mir herantreten; der Hund tut Ihnen nichts, nachdem er mich im friedlichen Verkehr mit Ihnen sah. Nein, leider nicht des Kapitäns Tochter; nur in dem Verhältnis einer Schutzbefohlenen stehe ich zu ihm, aber eine Tochter könnte nicht besorgter um ihren Vater sein, als ich um meinen edlen Wohltäter.« Sie säumte einige Atemzüge und fuhr etwas lebhafter fort: »Gedenken Sie in der Tat, mit Ihrem Rat mich zu unterstützen, so fällt Ihr Auftrag mit meinem herzlichen Wunsch zusammen, und sollen Sie uns in Klein-Melvillehouse doppelt willkommen sein.«
»Hier ist meine Hand, Miß Flora, zum Bündnis in einer uns gleich heiligen Sache,« und ohne zu zögern, legte Flora ihre Hand in die seinige. »Wozu ich raten soll, ich ahne es freilich nicht, kann es nicht ahnen, bevor ich einen Blick in alle Verhältnisse geworfen habe; dann aber sollen Sie mich stets treu an Ihrer Seite finden, und müßte ich den ganzen Kontinent nach dem Verschwundenen absuchen.«
»Stocton, Stocton,« sprach Flora nachdenklich vor sich hin, »ja, ich entsinne mich. Mehrfach sprach der Kapitän, wenn auch nur andeutungsweise, von einem Schwager Stocton, und zwar jedesmal wehmütig, als betrauerte er jemand aus tiefsten Herzen. Mein Gott, wie würde es ihn beglückt haben, seinen Schwestersohn in unserem stillen Heim zu empfangen! Wie traurig ist es aber für mich, in die Befugnisse meines Wohltäters eintreten zu müssen, an seiner Stelle die Pflichten der Gastfreundschaft zu üben, während die Angst um ihn mir keine ruhige Minute mehr gönnt. Ich setze voraus, Sie verstehen sich dazu, bei uns im Strandhause zu wohnen. Kit Kottons – der ist nämlich ein alter treuer Diener des Kapitäns – und meine Aufgabe soll es sein, Ihnen den Aufenthalt in unserem stillen Heim zu einem erträglichen zu machen.«
Eine Erwiderung des Dankes war Frank im Begriffe zu erteilen, als die Aufmerksamkeit beider plötzlich nach einer anderen Richtung hingelenkt wurde.
Sie waren in ein niedriges Gehölz eingetreten, welches strichweise sehr licht, hier und da eine weitere Umschau gestattete. Zunächst störte ihre Unterhaltung das Geräusch, mit dem seitwärts von ihnen ein Mensch im wilden Lauf durch die Büsche brach und in gleicher Richtung mit ihnen über die kleinen Waldblößen hinwegeilte. Sie lauschten noch gespannt auf die flüchtigen Schritte, als in der Entfernung von etwa hundert Ellen eine mittelgroße schmächtige Gestalt in unvollständigem zerlumpten Anzuge, anscheinend ein junger Bursche, aus dem Gebüsch auf den Weg hinaustrat und dort mit allen äußeren Zeichen der Todesangst stehenblieb. Sichtbar nach Atem ringend, spähte er um sich. Als er die beiden jungen Leute gewahr wurde, wandelte ihn offenbar die Neigung an, sich ihnen zuzugesellen. Einige Schritte tat er auf sie zu, mochte aber des Hundes ansichtig werden, der hinter seiner Herrin hervortrat und unter drohendem Knurren ihn scharf ins Auge faßte; denn er blieb abermals stehen, wodurch Frank und Flora Gelegenheit fanden, ein bleiches Gesicht mit großen dunklen Augen zu unterscheiden, welches das schwarze Haar des unbedeutenden Hauptes in dichtem Gelock wild umwogte. Doch nur auf die Dauer weniger Schritte war ihnen der Anblick der befremdenden Erscheinung vergönnt; denn der Bursche, ihnen offenbar mißtrauend, kehrte sich um und stürmte auf dem Wege so schnell davon, wie seine nackten Füße ihn nur zu tragen vermochten. Bevor Frank und seine liebliche Begleiterin Zeit fanden, in Worten ihr Erstaunen zu offenbaren, sprang auf derselben Stelle, auf der der Flüchtling das Gebüsch verlassen hatte, ein zweiter, jedoch kräftigerer Bursche in den Weg. Durch einen Blick überzeugte er sich, welche Richtung jener eingeschlagen hatte, und ohne die beiden ihm langsam folgenden Gestalten weiter zu beachten, setzte er ihm unter Aufbietung seiner äußersten Kräfte nach.
Schweigend und unverkennbar unter dem Eindruck eines unbestimmten Mitleids beobachteten Frank und Flora nunmehr die sich vor ihnen entwickelnde Szene. Da das Gehölz hier vorzugsweise aus zerstreutem niedrigem Gebüsch bestand, das nur hier und da ein größerer Baum überragte, außerdem der einst planlos gebrochene breite Weg eine ziemlich gerade Richtung hielt, so reichten ihre Blicke noch über den davonstürzenden Jüngling hinaus. Sie vermochten daher zu unterscheiden, daß die Entfernung zwischen diesem und seinem Verfolger sich allmählich verringerte und der Zeitpunkt absehbar, der beide zusammenführte, zumal die Kräfte des ersteren erlahmten und er nur mit Mühe sich im Lauf erhielt.
Gleichsam unwillkürlich beschleunigte Frank seine Bewegungen, Flora dadurch mit sich fortziehend. Es beseelte ihn das dumpfe Gefühl, daß er Augenzeuge einer unerhörten Gewalttätigkeit, und damit das Trachten, vermittelnd einzuschreiten und des bedrängten Burschen sich anzunehmen. Bevor dieser aber seinem Verfolger in die Hände fiel, brach eine kurze Strecke vor ihm ein von zwei scharf getriebenen Pferden gezogener Wagen aus dem lichten Gebüsch, um ihm, kurz wendend, den Weg zu verlegen. Auf den Flüchtling wirkte der Anblick des Gefährtes augenscheinlich lähmend ein; denn anstatt den Weg zu verlassen und wieder in dem Gebüsch Zuflucht zu suchen, warf er sich nieder, das Antlitz, wie um dadurch sich unsichtbar zu machen, zwischen den gekreuzten Armen auf den Rasen pressend. In der nächsten Minute befand sich nicht nur sein Verfolger neben ihm, sondern auch der Führer des Wagens, ein älterer vierschrötiger Mann, der zur Erde gesprungen war und die Peitsche mit unbarmherziger Gewalt auf den sich jammervoll Windenden und Klagenden niedersinken ließ.
»Halt! Haltet ein!« rief Frank laut hinüber, und Flora zurücklassend, eilte er vollen Laufes auf die Stätte der grausigen Mißhandlung zu. Doch bevor er die Hälfte der ihn von derselben trennenden Strecke durchmessen hatte, schallte ein grimmiger Fluch zu ihm herüber. Die beiden Männer packten ihr unglückseliges Opfer an Händen und Füßen, und es nach dem nahen Wagen hintragend, warfen sie es mit einem heftigen Schwunge in das denselben zum Teil füllende Stroh. Gleich darauf saßen auch sie oben; die Peitsche knallte, die Pferde zogen an, und mit einer abermaligen Wendung drangen sie wieder in das lichte Gebüsch ein, wo sie sich bald außer Hörweite Franks befanden. Dieser hatte nur den flüchtigen Anblick eines auf einem Stiernacken sich aufbauenden viereckigen Hauptes gewonnen, wie eines rotbraunen Antlitzes, das ihn mit wahrhaft tierischer Wut angrinste.
»Das war fürchterlich,« sprach er gleich darauf zu Flora, die verstört zu ihm aufsah, »andere Menschen, als Verbrecher, sind einer derartigen Handlung nicht fähig. Wäre ich doch rechtzeitig eingetroffen! Sie zu verfolgen, liegt außerhalb der Möglichkeit. Wohl aber erscheint das Ereignis ernst genug, um es nicht in Vergessenheit versinken zu lassen,«
»Entsetzlich,« gab Flora noch immer unter dem vollen Eindruck des Erlebten zu, »warum konnte der schreckliche Anblick mir nicht erspart bleiben? Seit Jahren wandere ich zwischen der Stadt und dem Strandhause hin und her, ohne jemals die leiseste Anwandlung von Besorgnis zu empfinden. Für derartiges bin ich indessen nicht stark genug. So oft ich diesen Weg gehe, wird mir die jammervolle Gestalt des Flüchtlings vorschweben, wie er sich unter den rohen Mißhandlungen seiner Verfolger wand, werden in meinen Ohren die Klagerufe gellen, die die grausame Züchtigung ihm erpreßte. Was der Ärmste auch verbrochen haben mag, eine solche Strafe kann er nicht verdient haben!«
»Er kann sie nicht verdient haben,« pflichtete Frank aus vollem Herzen bei, »und als eine heilige Pflicht betrachte ich es, die peinliche Kunde über das von uns Beobachtete dahin zu tragen, wo ich eine Verfolgung der Angelegenheit voraussetzen darf,« Er schwieg; da er vergeblich auf eine Erwiderung wartete, zugleich in Floras gutem Antlitz noch immer die Nachwirkung des empfundenen Schreckens bemerkte, führte er das Gespräch auf die Ursachen zurück, denen er seine Anwesenheit in der Gegend verdankte.
Bereitwillig ging Flora darauf ein, und mehr und mehr gewann sie die alte heitere Regsamkeit des Geistes zurück, indem sie Frank mit allen Verhältnissen des Strandhauses und seiner Bewohner vertraut machte. Als sie endlich dort eintrafen, begrüßte Frank den erstaunten Kit Kotton wie einen langst gekannten Freund, um von diesem mit wahrer Begeisterung willkommen geheißen zu werden.
Etwas später lernte er den Seminolen kennen. Nach zweitägiger Abwesenheit kehrte er zurück, und wiederum lautete seine Antwort auf die an ihn gestellten Fragen, daß er noch keine Spur entdeckt habe.
Als man folgenden Morgens beim Frühmahl wieder zusammentraf, war Blackbird bereits verschwunden. Nur von Kit Kotton, der ihn fürsorglich mit Nahrungsmitteln ausrüstete, hatte er sich verabschiedet und ihm zugleich den Rat erteilt, nichts zu unternehmen, bevor er ihn nicht wiedergesehen habe.