Balduin Möllhausen
Die beiden Jachten
Balduin Möllhausen

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Drittes Kapitel.

Der Inhalt der Tafeln. Die Meuterer. In Todesnöten.

Tag für Tag hatten Maud und Sunbeam den größten Teil ihrer Zeit mit der ihnen übertragenen Aufgabe verbracht; Tafel auf Tafel ging unter ihren Händen mit neu belebter Schrift hervor. Ebenso benutzte die Gräfin alle ihre Mußestunden, die mit so viel Qual und endloser Geduld der Vergessenheit entrissenen Aufzeichnungen abzuschreiben. Die flinke Pandora überschritt den Wendekreis, und noch immer schafften die drei befreundeten Gestalten an dem gemeinsamen Werk. Sie schlüpfte unter dem Äquator hindurch und näherte sich der nördlichen gemäßigten Zone, ohne daß der Eifer erlahmte, mit dem man Wort auf Wort zu einem verständlichen Ganzen aneinander reihte. Wenn aber die beiden Freundinnen ihre Arbeit mit holdem Geplauder begleiteten und Maud nur zeitweise dem Einfluß der ergreifenden Schilderungen unterworfen war, so schienen sie auf die Gräfin einen unheimlichen Zauber auszuüben. Verschlossener wurde sie und ernster, tiefer prägte sich auf ihrem farblosen Antlitz ein eigentümlicher Zug der Erbitterung aus, der sich vorübergehend sogar zu dem der Grausamkeit verschärfte.

In dem Prunkgemach brannte nur die Hauptlampe oberhalb des runden Tisches. Melancholisch beleuchtete sie die prächtige Ausstattung. Nach einem der Wandschränkchen hinüberschreitend, entnahm die Gräfin diesem ein Paket zusammengehefteter Blätter. Flüchtig betrachtete sie die letzte Seite, auf der sie vor Stunden erst den Schluß der geheimnisvollen Mitteilungen niedergeschrieben hatte; dann ließ sie sich vor dem Tisch nieder, um alles noch einmal im Zusammenhange durchzulesen.

Um dem Schwanken des Schiffes leichter zu begegnen, hatte sie sich in einem Armstuhl festgesetzt. Eine Weile hielten ihre Hände das Heft regungslos. Es schien sie Überwindung zu kosten, es zu öffnen. Endlich aber richtete sie sich etwas auf, schlug das erste Blatt zurück und las:

»Käte Dale! Dein holdes Bild taucht vor meiner Seele auf; dein teurer Name zittert in meinem Herzen; in der Erinnerung an dich umfloren sich meine Augen. Indem ich an die Erfüllung meiner letzten Lebensaufgabe mich anklammere. fühle ich meinen Mut wachsen. Es trägt mich die Hoffnung, daß die Kunde von meinem traurigen Ende dich dennoch über kurz oder lang erreicht, du die Überzeugung gewinnst, daß mit meinem letzten Atemzuge die Sorge um dich, aber auch meine unverbrüchliche Liebe zu dir vereinigt gewesen ist. Findet mein heißes Gebet Erhörung: wann wird es geschehen? Vielleicht erst, wenn dein von Gram und Alter gebeugtes Haupt sich zitternd dem Grabe zuneigt. Doch wie Gott will, ich habe mich in mein Los ergeben, in das Los, auf einer öden Insel im ewigen Ozean, die von den Schiffern wie ein Fluch gemieden wird, in tödlicher Einsamkeit langsam zu sterben. – Wie wird mein Ende sein? Wann wird es erfolgen? Lange kann es unmöglich dauern, das ist mein Trost. Wie beneide ich die Gefährten! Ihnen wurden die Augen von Freundeshand zugedrückt; Freundeshände bereiteten ihnen die letzte Ruhestätte, wogegen ich selber – fort mit diesen Bildern des Grausens; sie lähmen meinen Geist, führen mich auf die Bahnen des Wahnwitzes.

Vielleicht stand im Schicksalsbuche geschrieben, daß gerade ich der letzte Überlebende sein sollte, um der Welt zu verkünden, daß es Höllengeister auf Erden gibt, die, alle menschlichen und göttlichen Gesetze verhöhnend, um irdischen Vorteils willen die Leben ihrer Nächsten, ohne sie zu zählen, frevelhaft in den Staub treten. Und abermals frage ich: wird überhaupt jemals ein Sterblicher dieses fluchbelastete Eiland betreten, jemals versuchen, die Bedeutung der drei Kreuze, die vielleicht aus der Ferne seine Aufmerksamkeit erregten, kennen zu lernen? Wird er sich dann aber berufen fühlen, dem letzten Flehen eines Sterbenden Folge zu geben? Doch gleichviel: Ich richte mich an dem Glauben auf, daß mein zum Himmel entsendeter Klageruf nicht ungehört verhallt, früh genug da eine teilnahmvolle Aufnahme findet, wo man geneigt ist, begangene Verbrechen zu strafen, unverschuldetes Leid zu mildern. –

»Wie ist es still um mich her! Gedämpft dringt das Brüllen der wütenden Brandung zu mir herüber. Hier und da unterscheide ich den Schrei eines Seevogels. So ist es heute, so wird es sein nach vielen Jahren, wenn der Sturm über meine bleichenden Gebeine hinfegt. – Immer wieder diese schwarzen Gedanken; sie vorübergehend von mir abzuwehren, gelingt mir nur, indem ich mit ganzer Seele der Aufgabe mich weihe, meine und der beiden Gefährten Leidensgeschichte der Nachwelt zu erhalten. Als ich einige der umherliegenden Schiefersteine dazu benutzte, den voraufgegangenen Kameraden weniger leicht vergängliche Gedenktafeln zu errichten, ahnte ich nicht, daß ich damit das Mittel erprobte, meinen letzten Gedanken einen Weg zu den Menschen anzubahnen. Erst die tödliche Einsamkeit und die aus dieser hervorgehende Verzweiflung reiften in mir den Plan, wenigstens die Möglichkeit des Verkehrs längst Verstorbener mit den noch Lebenden zu eröffnen.

Bild: Max Vogel

Als Kapitän der Bark ›Emilia‹ war mir der Auftrag geworden, mit Stückgut nach Hongkong zu gehen und dort Seide, Tee und Gewürze in Fracht zu nehmen. Da sich Gelegenheit bot, die Ladung durch Waren für Kalifornien zu vervollständigen, glaubte ich meinen Reedern zum Vorteil zu handeln, wenn ich auf das Angebot einging. Wohlbehalten traf ich in San Francisco ein, hatte aber den Verlust des ersten Steuermanns, eines gewissenhaften Menschen, der einer klimatischen Krankheit erlag, zu beklagen. Als ein Glück betrachtete ich es daher, daß ein zwar junger, jedoch befahrener und gewandter Seemann, ein Schotte, namens Mac Lear, sich um die frei gewordene Stelle bewarb. Außerdem meldete sich ein gewisser Parson, ein englischer Baronet, um, einer seltsamen Laune folgend, auf meinem Schiff um Kap Horn herum nach England zurückzukehren. Als Sohn eines sehr reichen Landbesitzers war er vor Jahresfrist ausgezogen, um fremde Länder und Leute kennen zu lernen; zugleich hatte er die Gelegenheit benutzt, im Auftrage seines Vaters in Madras eine Erbschaft von zweiundzwanzigtausend Pfund Sterling zu erheben. Unvorsichtigerweise führte er diese Summe in Banknoten und geprägtem Golde mit sich. Meinen Rat, Wechsel auf London zu kaufen, verwarf er lachend. Er meinte, daß, wenn er selbst zugrunde gehe, an dem Gelde nichts verloren sei. Er war ein freundlicher, gefälliger und lebhafter junger Mann, mit dem ich gern verkehrte; nur die an Leichtfertigkeit grenzende Vertrauensseligkeit, die sich auf eine unabhängige Stellung und mangelnde Kenntnis der Welt begründete, tadelte ich an ihm. So mißfiel mir auch, daß er, bestochen durch die glatte Außenseite Mac Lears, sich besonders zu diesem hingezogen fühlte, konnte aber nicht hindern, daß sich allmählich ein gewisses Freundschaftsverhältnis zwischen ihnen entwickelte. Ich fühlte mich um so weniger berufen, störend dazwischen zu treten, weil Mac Lear sich als ein gewissenhafter und umsichtiger Seemann erwies, gegen den einen Vorwurf zu erheben ich nie Ursache fand. Sein Blick hatte freilich etwas Unstetes, sogar Scheues. So glaubte ich auch zu entdecken, daß seine Liebe zum Gelde zuweilen in Habsucht ausartete, die nur wenig im Einklang mit seinen sonstigen, für ihn sprechenden Eigenschaften stand; allein dadurch durfte ich mich nicht in der Beurteilung seiner Dienstleistungen bestimmen lassen. Im Gegenteil, mein Vertrauen in seine Fähigkeiten wuchs von Tag zu Tag, bis ich endlich so weit gelangte, daß ich seine Ratschläge, die von ungewöhnlichem Scharfsinn zeugten, vielfach beachtete.

Nachdem wir glücklich um das Kap Horn herumgekommen waren, entschied ich mich für den Kurs an den Falkland-Inseln vorbei. Da aber Mac Lear auf Grund seiner Erfahrungen behauptete, auf der Ostseite der Aurora-Inseln die Strömungen mit besserem Erfolg ausnutzen zu können, so gab ich seinem dringenden Zureden nach. –

Es war gegen Abend. Nachdem ich durch das Fernrohr einen letzten Blick über die nördlichste der öden Inseln geworfen hatte, wo ein von der Brandung überschüttetes Wrack meine Aufmerksamkeit erregte, begab ich mich in die Kajüte hinab. Ich befand mich in einer gedrückten Stimmung. Wie schwarze Ahnungen lastete es auf meinem Gemüt. Ohne mir darüber Rechenschaft ablegen zu können, bereute ich, nicht den von mir ursprünglich ins Auge gefaßten Weg gewählt zu haben.

Als Unterordnung unter den Willen Mac Lears erschien mir mein Verfahren. Unwillkürlich vergegenwärtigte ich ihn mir mit seinem glatten Wesen, das in letzter Zeit einen eigentümlichen Charakter des Kriechenden angenommen hatte. Außerdem glaubte ich entdeckt zu haben, daß zwischen ihm, dem zweiten Steuermann und mehreren Deckhänden bezeichnende Blicke gewechselt wurden, für die ich vergeblich nach einer Deutung suchte. Um mehr gegen das Schwanken des Schiffes geschützt zu sein, hatte ich mich in meiner Koje aufs Bett geworfen. Dort störte mich der Kajütjunge, der, anscheinend von Neugierde getrieben, seinen Kopf zu mir hereinstreckte. Mit heftigen Worten wies ich ihn von dannen, bedauerte aber gleich darauf den Ausbruch meines Unmutes, als ich den baumlangen Burschen sichtbar bestürzt hinausschleichen sah. In der nächsten Minute hatte ich ihn vergessen, indem ich in Gedanken die Zeit berechnete, die mich mutmaßlich noch von allem trennte, worauf ich meine freundlichen Hoffnungen auf ein dauerndes Glück begründet hatte. Da drang zu mir herein der markerschütternde Ruf: »Mann über Bord!« gefolgt von heftigem Laufen und Stampfen, das von großer Verwirrung zeugte. Erschrocken eilte ich hinaus. Die Nacht war hereingebrochen, die See ging hoch. Das Schiff lief vor vollen Segeln, und so mußte das Geschick des Verunglückten von vornherein als besiegelt betrachtet werden. Mac Lear hatte zwar auf den ersten Ruf das Schiff in den Wind drehen lassen, doch welchen Wert hätte das jetzt noch gehabt, da wir uns weit über Kabellänge von der Unglücksstätte entfernt hatten und der Ärmste längst von den schweren Seen zerschlagen und erstickt sein mußte. Trotzdem befahl ich, zu wenden und zurückzukreuzen, wenn auch ohne jegliche Hoffnung, so doch zu meiner eigenen Beruhigung, und jetzt erst fand ich Zeit und Überlegung, mich nach demjenigen zu erkundigen, der so jäh aus dem Kreise seiner Maats gerissen worden war.

Zu meinem peinlichen Erstaunen erfuhr ich, daß Parson, mein freundlicher Fahrgast – so berichtete wenigstens der Mann am Steuerrad – über die Brüstung gelehnt dagestanden habe, als plötzlich eine heftigere Schwingung des Schiffes sein Gleichgewicht störte und ihn kopfüber in die schäumenden Fluten hinabsandte. Was der Mann, der Augenzeuge gewesen, beteuerte, bestätigte Mac Lear, der grade die Wache übernommen hatte, und ich hatte keine Ursache, die Wahrheit ihrer Aussagen zu bezweifeln.

Förmlich niedergeschmettert durch das schreckliche Los, das den hoffnungsvollen, arglosen jungen Mann ereilt hatte, überließ ich es Mac Lear, das Schiff in seinen alten Kurs zurückzubringen. Ich bedurfte der Einsamkeit, um einigermaßen wieder zur Besinnung zu kommen. In düsterer Stimmung warf ich mich abermals aufs Bett. War mir doch, als hörte ich immer wieder den in den Fluten erstickenden Todesschrei jemandes, mit dem ich vor einer Stunde noch in heiterem Geplauder des Einlaufens in den heimatlichen Hafen gedachte.

Die Zeit ging hin. Bilder auf Bilder tauchten in meiner erregten Phantasie auf; Bilder beglückender Hoffnungen, um alsbald wieder von denen des Schreckens verdrängt zu werden. Endlich übermannte mich die Müdigkeit, und ich verfiel in einen unruhigen Schlaf. Meinte ich doch, durch meine geschlossenen Lider hindurch abermals den Kajütjungen zu sehen, wie er behutsam zu mir hereinschlich, einige Sekunden mich aufmerksam betrachtete und dann verschwand.

Wie lange ich so dagelegen hatte, ich weiß es nicht, glaubte aber, zu meiner um Mitternacht beginnenden Wache geweckt zu werden, als eine Hand sich auf meine Schulter legte, ein Antlitz dem meinigen sich zuneigte und ich die vorsichtig gedämpften Worte vernahm:

»Kapitän, wir sind verloren. Geben Sie keinen Laut von sich, und wir mögen mit dem Leben davonkommen.«

John Holiday, der Schiffskoch, war es, der also zu mir sprach. Hätte ich aber noch Zweifel über die Nähe einer furchtbaren Gefahr gehegt, so wären sie geschwunden vor dem Ausdruck des Entsetzens, das die Gesichtszüge des ehrlichen Burschen beinahe bis zur Unkenntlichkeit entstellte.

Einige Sekunden verharrte ich nach dieser verhängnisvollen Mitteilung wie gelähmt. Ich mußte mich besinnen, ob ich nicht unter dem Einfluß eines wirren Traumes stehe. Dann aber sprang ich auf und war im Begriff, aufs Deck hinauszueilen, als Holiday mich gewaltsam zurückhielt.

»Um des Himmels willen, was wollen Sie draußen?« fragte er zitternd, »alle, bis auf Larsen, sind mit den Steuerleuten eins, da möchten wir drei mit unseren Kräften nicht weit kommen. Ob sie mich in die Kajüte schleichen sahen, weiß ich nicht, wohl aber, daß der erste, der aus der Tür tritt, ein toter Mann sein wird. Mac Lear hat sich mit der Mannschaft verschworen, Sie zu beseitigen und sich des Schiffes zu bemächtigen. Ich mein', sie wollen Schiff und Ladung in irgend 'nem Port verkaufen und sich in alles teilen. Das Genauere verstand ich nicht.«

»So will man uns umbringen?« fragte ich, und kalt, als wäre mein Blut zu Eis erstarrt gewesen, rieselte es mir durch die Adern.

»Darüber verhandeln sie eben,« fuhr Holiday ängstlich fort, »Mac Lear und zwei andere schworen drauf, daß tote Menschen nicht redeten; aber sie hatten die Mehrzahl gegen sich. Die erklärten nämlich, daß sie zu 'nem Mord die Hand nimmermehr bieten würden. Sie behaupteten, es wäre Sicherung genug, wenn man uns drüben auf der Insel aussetzte, da möchten wir hundert Jahre leben, ohne daß jemand nach uns fragte. Viel wurde noch hin und her geredet, bis man sich endlich einigte, daß Leben und Sterben in unsere eigenen Hände gelegt werden sollte. Es hieß, daß, wenn wir uns zur Wehr setzten, ein Schlag auf den Kopf den Widerstand brechen würde; anderenfalls sollten wir's mit dem Ansiedeln auf dem schrecklichen Eiland versuchen. Deutlich unterschied ich von meinem Versteck aus, daß sie mich und den Larsen nannten und von uns wie von Leuten redeten, denen nicht zu trauen sei. Hätt's kaum geglaubt, was ich hörte,« schloß der ehrliche Schiffskoch in seiner Todesangst, »aber nachdem ich beobachtete, daß Mac Lear selber und noch zwei, die neben ihm standen, den jungen Herrn durch 'nen Stoß hinterrücks über Bord sandten, wußte ich, daß man zum Ärgsten entschlossen sei und noch in dieser Nacht auf die eine oder die andere Art ein Ende mit uns machen würde.«

Während Holiday so zu mir sprach, hatte ich Zeit gefunden, meine Gedanken einigermaßen zu ordnen und mit mir zu Rate zu gehen, auf welche Weise es mir vielleicht gelingen könne, der Meuterer Herr zu werden. Meine erste Regung war, mich zu bewaffnen und gemeinschaftlich mit den beiden treu gebliebenen Männern den Kampf gegen eine fünffache Übermacht zu wagen und entweder zu siegen oder auf meinem Posten als ehrlicher Mann zu sterben. In das über mich verhängte schreckliche Los mich stumm zu ergeben und das Schiff zu verlassen, ohne wenigstens den Versuch gemacht zu haben, die Aufsässigen zu ihrer Pflicht zurückzuführen, erschien mir ärger als zehnfacher Tod. Mußte ich sterben, so sollte es wenigstens nicht ungerächt geschehen. Zum Äußersten entschlossen, trat ich trotz der Beschwörungen Holidays neben die Kojentür, hinter der ich meine Pistolen aufzuhängen pflegte, und neuer Schrecken bemächtigte sich meiner, als ich die beiden Nägel leer sah. Ich war so bestürzt, daß ich nicht gleich Worte fand; dagegen leuchtete es in meinem Geiste auf, daß die Erscheinung des Kajütjungen kein Traumgebilde gewesen war, sondern nur der Zweck, mich wehrlos zu machen, ihn zu mir hereinführte. Dem ersten Schrecken folgte alsbald tiefe Erbitterung über den hinterlistig angesponnenen Verrat. In meiner gährenden Wut jeden Gedanken an die möglichen Folgen von mir weisend, stürzte ich in die Kajüte; kaum aber hatte ich die Schwelle überschritten, als eine Leine um meinen Oberkörper geschlungen wurde, und zwar in einer Weise, daß sie, von kraftvollen Fäusten angeholt, die Arme mitfaßte und mich daher vollständig unfähig zu dem geringsten Widerstande machte.

Wer die ersten Angreifer waren, erkannte ich nicht; denn als wären sie von Scheu vor den Blicken ihres Opfers befangen gewesen, hatten sie die Flamme der Kajütenlampe so weit heruntergeschraubt, daß sie nur noch einen matten bläulichen Schein verbreitete. Außerdem war der Angriff von hinten erfolgt, so daß ich keinem ins Antlitz zu schauen vermochte. Ähnlich verfuhr man mit Holiday, wie ich aus dem Geräusch seines ohnmächtigen Ringens, seinem Ächzen und Fluchen innerhalb der Koje erriet. Damit einte sich das niederschmetternde Bewußtsein, nunmehr gänzlich der Willkür einer erbarmungslosen Verbrecherbande preisgegeben zu sein, der letzten Hoffnung auf Rettung entsagen zu müssen.

Erbittert und entsetzt zugleich fragte ich, was dies alles zu bedeuten habe, doch keine Antwort erfolgte. Unter unheimlichem Schweigen wurde ich aufs Deck hinausgeschoben. Draußen herrschte mondlose Nacht. Der Überfall war offenbar bis ins kleinste hinein zwischen den Verrätern beraten und vereinbart worden: denn kaum wehte die kühle Nachtluft mir entgegen, als ohne vorausgegangenes Kommando das Schiff beigedreht und die Segel aufgegeit wurden. Die beim Untergange der Sonne scharf wehende Brise war ermattet, das Meer begann sich zu beruhigen, und so gelangte die Emilia bald zum Stillstand. Die Deckhände und Topgasten arbeiteten mit einem Eifer, als hätte es ihr Leben gegolten. Ich gewann den Eindruck, daß sie nachträglich von Schrecken über ihr Tun ergriffen, sich aufs äußerste beeilten, um mich, die lebendige Mahnung an ihre verbrecherische Handlung, so bald wie möglich aus ihren Augen zu schaffen.

So verrann kurze Zeit: dann wurde ich nach dem Spiegel des Schiffes hinüber geführt und gefesselt, wie ich war, in die oberhalb des Steuerruders an den Davids schwebende Heckjolle hineingehoben. Larsen, ähnlich gefesselt, folgte mir nach, wogegen Holiday. der ebenfalls zum Aussetzen bestimmt worden war, um unsere Banden lösen zu können, den freien Gebrauch der Glieder behalten hatte. Zum Schluß warf man zwei Paar Riemen zu uns in das Boot: außerdem erkannte ich den Kajütjungen an seiner unförmlich langen, knochigen Gestalt, wie er zwei straff gefüllte Säcke eiligst neben mich hinschob, und in der nächsten Minute glitt die Jolle an den durch die Blöcke rollenden Tauen niederwärts. Trotz der Überstürzung der Leute und des schweren Stampfens der Emilia erreichten wir, und wohl gegen Mac Lears Berechnung, ohne weiteren Unfall das Wasser. Die Taue, die einzuholen man sich die Mühe nicht gab, fielen klatschend neben uns nieder, und damit war das letzte zwischen uns und der ganzen übrigen Welt bestehende Band endgültig zerschnitten.

Wenn ich mir heute unsere damalige Lage vergegenwärtige, so erscheint es mir immer noch wie ein Wunder, daß die elende Nußschale, die von der nächsten See mit fortgerissen wurde, nicht kenterte oder Wasser bis zum Sinken einnahm. Dauerte es doch eine Weile, bevor es Holiday gelang, unsere Fesseln zu zerschneiden und wir imstande waren, die Riemen zu gebrauchen. Und in Mac Lears Plan hatte es offenbar gelegen, daß wir schon hier, anscheinend zufällig, unser Ende finden sollten. Es zeugte dafür schon allein der Umstand, daß er statt eines der größeren seetüchtigen Boote, die Jolle für uns auswählte. Unsere Lage war daher eine hoffnungslose. Doch der Selbsterhaltungstrieb war erwacht. Mochten wir immerhin um eine voraussichtlich nur kurze Frist eines qualvollen Daseins kämpfen: den letzten Atemzug setzten wir daran, uns selbst die nicht entschlüpfen zu lassen. Und so ruderten wir zu Zweien unablässig aus Leibeskräften, während der Dritte sich zur Ablösung bereit hielt. Die Dunkelheit erschwerte zwar die Arbeit, dagegen unterrichteten die herbeirollenden Wogen und die ermattende Brise uns fortgesetzt über die Lage der Insel. Bald in einem Trog, bald auf dem Schaumgipfel einer See befanden wir uns. Doch ob tief unten oder hoch oben: unsere Aussicht blieb auf einen geringen Umkreis beschränkt, in dem hier und da die Schaumstreifen matt aufleuchteten, um alsbald wieder zu erblinden. Von der Emilia hatten wir, seitdem wir ausgesetzt wurden, nichts mehr gesehen. Ich begriff, daß man unter der Wucht eines bösen Gewissens an deren Bord in dieser Nacht keine Laterne anzündete, durch deren Schein wir in unserem Kurs hätten gelenkt werden können.

Bild: Max Vogel

So ruderten wir Stunde um Stunde sinkenden Herzens. Der immer noch schwere Seegang hinderte uns, viel Fahrt zu machen. Erst als der Morgen zu grauen begann, entdeckten wir, daß in der Wahl unseres Kurses das Glück uns begünstigt hatte. Die Insel lag gerade vor uns, aber einer Stunde schwerer Arbeit bedurfte es noch, bevor wir soweit gelangten, um nach einer zum Landen geeigneten Stelle auslugen zu können.

Der Tag hatte sich bis dahin vollends gelichtet, und was er uns zeigte, diente am wenigsten dazu, unseren gesunkenen Mut wieder ein wenig zu heben. So weit unsere Augen reichten, umschlang ein mächtiger Schaumgürtel die Küste. Außerdem wiederholten sich nach allen Richtungen kleinere und größere Felder weißen Wassers, wo die Fluten über Klippen und Untiefen brandeten. Seitdem die wachsende Helligkeit es mir ermöglichte, hatten meine Blicke an dem Wrack gehangen, das am vorigen Abend schon meine Aufmerksamkeit erregte. Zugleich beschäftigte ich mich mit der Frage, ob sich von dort aus vielleicht Gelegenheit biete, über die Brandung hinweg festen Boden zu gewinnen. Wie an Bord der Emilia, sahen auch in der elenden Jolle Holiday und Larsen mit unerschütterlichem Vertrauen zu mir auf. Sie wußten, daß ich für sie dachte, kannten daher nur das einzige Bestreben, meinen Ratschlägen pünktlich Folge zu leisten. Nicht eine Silbe des Zweifels ließen sie laut werden, als ich befahl, gerade auf das Wrack zuzurudern. Ich selbst hatte mich unterdessen überzeugt, daß die beiden wasserdichten Säcke Lebensmittel und Kleidungsstücke enthielten, also wohl ohne Mac Lears Vorwissen in das Boot geworfen worden waren. Sie zu sichern, war meine erste Aufgabe.

Näher rückten wir dem Wrack, und deutlicher drang das Brüllen der sich überstürzenden Dünungen an unsere Ohren. Anstatt angesichts der furchtbaren Gefahr zu zagen, hatte ich meine volle Kaltblütigkeit zurückgewonnen. Diese steigerte sich sogar zu einem Gefühl des Spottes über den Eifer, mit dem wir unser Leben für ein noch schrecklicheres Ende zu bewahren suchten, als es nach kurzem Ringen uns auf dem Meeresboden beschieden gewesen wäre. Die Jolle mußte verloren gehen, das unterlag keinem Zweifel; es handelte sich also nur darum, daß im entscheidenden Zeitpunkt wir selbst einen sicheren Halt an dem halbzertrümmerten Schiffsrumpfe fanden. Und es glückte uns. Denn in dem gleichen Augenblick, in dem die Jolle in unwiderstehlichem Anprall zerschellte, hingen wir an den triefenden Planken der zerschmetterten Schiffswand, um nach zwei anderen Sekunden aus dem brausenden Gischt einer zurückweichenden Dünung aufzutauchen. Bevor dann eine neue auf das Wrack hereinbrach, hatten wir uns so weil nach oben geschwungen, daß wir uns vorläufig als gesichert betrachten durften, und wie ein Geschenk des Himmels begrüßten wir es, mit uns zugleich die beiden Säcke gerettet zu haben. Armer Bill – so hieß der Kajütjunge – du kannst nicht mit Leib und Seele zu den Verrätern gehört, kannst nur unter dem Druck einer fürchterlichen Drohung gelebt haben, oder es wäre dir schwerlich in den Sinn gekommen, deinem wohlwollenden, zum Tode verurteilten Herrn noch etwas zur Erleichterung seiner entsetzlichen Lage mit auf den Weg zu geben.

Nach meiner Berechnung herrschte zur Zeit die Flut. Es ließ sich also voraussetzen, daß nach Eintritt der Ebbe das gegen hundert Ellen entfernte Gestade uns erheblich näher rücken würde. Die Stunden bis dahin entschwanden uns träge. Wir sprachen nur wenig zueinander. Der Wechsel der Lage war ein zu jäher gewesen, als daß wir uns schnell mit ihm hätten vertraut machen können. Die Umgebung aber war am wenigsten geeignet, einen letzten Funken von Hoffnung in uns rege zu halten. Vor uns dehnte das öde Eiland sich menschenfeindlich aus. Hohl brüllte auf beiden Seiten die Brandung. Seevögel umkreisten uns in großer Zahl. Wie Hohn klang deren schriller Ruf in meinen Ohren, wie gräßlicher Hohn, vom Bord der Emilia entsendet, deren Segel längst unter die Linie des Horizontes hinabgetaucht waren.

Nach den vorhandenen Merkmalen zu schließen, hatte das Wrack schon seit Monaten dort gelegen, und Monate mochten noch vergehen, bevor es gänzlich auseinander fiel. Augenscheinlich hatte die vom Orkan gepeitschte Hochflut das Schiff auf dem Rücken einer schweren See in fast unmittelbare Nachbarschaft der Insel getragen und es dort, mit dem Spiegel landwärts, derartig geschleudert, daß es, indem die Fluten zurückrollten, ohne vernichtenden Stoß zwischen zwei Klippen zu liegen gekommen war. In das Felsenbett fest eingekeilt und den Bug seewärts gekehrt, konnte es nicht überraschen, wenn es sich so lange eine gewisse Widerstandsfähigkeit bewahrte. –

Weshalb schreibe ich das alles aber so ausführlich nieder, da meine Zeit voraussichtlich doch nur nach Monaten oder Wochen zählt und das Einschneiden jedes einzelnen Wortes mich unsägliche Mühe kostet? Indem ich jene Stunden eines entsetzlichen Ringens mir vergegenwärtige, durchlebe ich sie im Geiste gewissermaßen zum zweitenmal. Ein trauriger Genuß in der tödlichen Einsamkeit des ewigen Ozeans; und dennoch finde ich eine Art Trost darin, meine Gedanken auf das Gestein festzubannen, mit mir selbst mich zu unterhalten, seitdem kein anderer mehr vorhanden ist, mit dem ich im Austausch schwermütiger Betrachtungen die träge dahinschleichende Zeit töten könnte. –

Leichter, als wir anfänglich glaubten, gelang es uns, das Wrack zu verlassen. Als Mittel dienten losgebrochene Planken, die wir unter Benutzung des noch vorhandenen Tauwerks zu einem Floß vereinigten. Die See war unterdessen noch mehr heruntergegangen, und als die Ebbe abermals eintrat, setzten wir mit den beiden Säcken, unserem ganzen irdischen Reichtum, binnen wenigen Minuten nach dem Strande über.

Ein Gefühl gänzlicher Trostlosigkeit, das ich vergeblich vor den Gefährten zu verheimlichen suchte, beschlich mich, als ich plötzlich wieder festen Boden betrat. Wohin ich mich wenden mochte, nirgends entdeckte ich einen Punkt, auf dem das Auge auch nur ein wenig länger hätte rasten mögen. Abgesehen von dem dumpfen Dröhnen der Brandung und dem gelegentlichen melancholischen Ruf einer Möve, herrschte das Schweigen des Todes auf dem Eilande, wie auf dem unendlichen Ozean. Doch wie jeder Mensch selbst in den verhängnisvollsten Lagen sich mit letzter schwindender Kraft an das dem Verderben verfallene Leben anklammert, so gaben auch wir die Hoffnung nicht auf, dennoch aus der grauenhaften Gefangenschaft erlöst zu werden. Diese Hoffnung war es, die unseren gesunkenen Mut wieder aufrichtete. Vereint sannen wir auf Mittel, bis dahin unser Leben zu fristen. Was die Insel uns bot, war nur sehr wenig: zunächst das von dem Wrack losgebrochene und nach dem Strande hinaufgeworfene Holzwerk, Segeltuchfetzen und einige Eisengeräte, die wir an besonders ruhigen Tagen aus der Tiefe heraufholten. An Speisevorräten fanden wir dagegen nichts mehr vor. Bis auf das Letzte waren sie von den Fluten längst durch die eingeschlagenen Schiffswände fortgespült oder vernichtet worden. Dagegen entdeckten wir hier und da genießbare Muscheln; außerdem fanden wir Gelegenheit, einzelne der auf den Sandfelsen schlafenden Robben zu töten und deren tranige Fleischteile zu einem widerwärtigen Mahl herzurichten. Bei der Wahl der Stätte zur Anlage einer Hütte, die uns Schutz gegen die sich häufig wiederholenden, markerkältenden Südstürme gewährte, bestimmte uns eine zisternenartige Vertiefung im Gestein mit einem für uns unerschöpflichen Vorrat trinkbaren Wassers. Außer zur Beschaffung der allernotwendigsten Nahrungsmittel, verwendeten wir unsere Zeit fast ausschließlich dazu, von einem höheren Punkte aus in die Ferne zu spähen. Wohl entdeckten wir hin und wieder am fernen Horizont ein Segel, wohl entzündeten wir zu solcher Stunde einen zum Zweck des Signalisierens bereitgehaltenen Holzstoß, allein stets vergeblich.

Was wir in den wenigen Monaten unseres Beisammenseins erduldeten, ist unbeschreiblich. Wie der Körper ermattete, stumpfte auch der Geist ab. Ein langsames Hinsterben kann ich unser Leben nur nennen. Und dennoch, wir waren unserer drei; wir genossen die Wohltat, andere Stimmen zu hören und die eigene gehört zu wissen, mochte immerhin der Gedanke, wer wohl der letzte Überlebende sein würde, sich bei jedem in den Vordergrund drängen. Auf die Beantwortung dieser verhängnisvollen Frage brauchten wir nicht lange zu warten. Erich Larsen, ein Mann von hünenhaftem Körperbau, dem ich die größte Lebenskraft zutraute, war der erste, der aus unserem kleinen Kreise schied. Seine Krankheit dauerte kaum vierundzwanzig Stunden; dann entschlief er mit klarem Bewußtsein.

»Wenn ihr gerettet werdet,« sprach er, während die hellen Tränen aus seinen Augen rannen, »oder auch nur einer von euch, dann tragt die Kunde von meinem Tode nach meinem Heimatsort, wo eine Mutter sehnsüchtig auf ihren Sohn wartet und eine junge Braut bangen Herzens des Tages harrt, an dem ihr Schatz mit ihr vor den Traualtar hintreten soll. Alles vorbei – vorbei – Gott sei ihnen gnädig und tröste sie.«

Was er erbat, wir gelobten gewissenhafte Erfüllung. Dann drückten wir ihm die treuen Augen zu. Die Morgensonne hatte ihm zu seinem Heimgange geleuchtet, und als sie zur Rüste ging, da streiften ihre letzten Strahlen seinen Grabhügel und das auf diesem errichtete Kreuz. Bedachtsam hatten wir dazu eine Stelle gewählt, die von der See her leicht überblickt werden konnte.

Tief gebeugt kehrten Holiday und ich in unser elendes Heim zurück. Wir waren so traurig, fühlten uns so gänzlich verlassen, daß wir keine Worte fanden, uns gegenseitig, wie bisher, durch freundlichen Zuspruch aufzurichten. Mit Holiday war noch eine besondere Wandlung vor sich gegangen. Der Anblick des Hügels, unter dem Erich Larsen schlummerte, diese unzweideutige Mahnung an das uns selbst bevorstehende Ende, schien seinen Geist vollständig gebrochen zu haben. Erst in der Hütte kam er wieder einigermaßen zu sich selbst; doch offenbarte sich in seinem Wesen eine so düstere Ergebung, daß es mich mit größter Besorgnis erfüllte.

»Kapitän,« redete er mich an, und seine Stimme klang wie aus einem Grabe, »der Kommandant soll von Rechts wegen als letzter das sinkende Schiff verlassen; also wird es auch hier auf dieser Insel geschehen. Wann meine Stunde schlägt, ich weiß es noch nicht; lange kann ich mich indessen nicht mehr über Wasser halten. Ich fühl's in meinem Kopf, in dem alle Gedanken kieloberst gehen. Da wollen wir denn, wenn's Ihnen ansteht, morgen gemeinschaftlich mein Grab schaufeln: nachdem ich erst über Bord gegangen, möcht's Ihnen allein zu viel werden. Auch ein festes Kreuz wollen wir zimmern und zu Häupten der offenen Gruft aufstellen, und das schaffen zwei bequemer, als einer allein. Wollen Sie dann noch ein übriges tun, so versehen Sie, wie für den Larsen, auch für mich eine Schieferplatte mit 'ner Inschrift. Vielleicht fügen Sie einen frommen Spruch aus der Bibel bei. Sollten Sie wieder unter Menschen kommen – und ich mein', es könnte nicht anders sein –, so führt Ihr Weg Sie wohl einmal nach Newyork. Dort fragen Sie nach einer Frau John Holiday, das ist nämlich meine Frau. Der vermelden Sie also, daß ich mit treuem Angedenken an sie gestorben sei. Geht's Ihnen nicht wider die Natur, so küssen Sie meine drei Kinder, liebe, herzige Dinger, zwei Mädchen und ein Junge, und raunen Sie ihnen meinen Segen zu, auf daß es ihnen wohl ergehe und sie lange leben auf Erden. Sollte Not an das arme Weib herangetreten sein und sollten die unschuldigen Kleinen am Hungertuch nagen, dann brauche ich Sie nicht zu bitten, sich der Darbenden zu erbarmen.«

Das waren die letzten zusammenhängenden Worte, die der ehrliche Holiday zu mir sprach. Ergreifend klangen sie, daß es mich bis ins Mark hinein erschütterte.

Obwohl auf mein eigenes baldiges Ende gefaßt, versprach ich alles. Darauf wurde er ruhiger. Wie einem kleinen Kinde, mußte ich ihm zureden, daß er überhaupt noch etwas zu sich nahm.

Folgenden Tages gingen wir in der Tat ans Werk, neben Larsens Grab das seinige auszuwerfen. Dabei entwickelte er einen krankhaften Eifer, und als hätte diese Art Arbeit ihm Freude bereitet, schlug er mir vor, nachdem seine Gruft fertig geworden, auch die meinige zu schaufeln und beide zugleich mit Kreuzen zu versehen. Dabei blinzelte er eigentümlich listig, und wie sich entschuldigend meinte er, man könne nicht wissen, ob ich nicht ebenfalls hinunter müsse. Zugleich offenbarte er den Wunsch, an Ort und Stelle zu sterben, weil es mir mit meinen geschwundenen Kräften schwer werden würde, ihn ohne fremde Hilfe dorthin zu schaffen. Wie ich selbst den Weg in mein Grab finden sollte, dafür fehlte ihm in jener Stunde die Berechnung.

Sein unheimliches Gebahren beunruhigte mich immer mehr. Es war ersichtlich, daß sein Geist sich auf dem Wege gänzlicher Umnachtung befand. Es äußerte sich indessen in milder Weise und den rührendsten Beweisen seiner Anhänglichkeit, dann aber in dem Umstande, daß er die ihm sonst so verhaßte Einsamkeit suchte. Vom frühen Morgen bis zum Abend saß er zwischen den offenen Gräbern, die Blicke dahin gerichtet, wo seine Heimat lag. Das dauerte eine Woche. Dann blieb er eines Abends fort, und als ich, vom Mondlicht begünstigt, nach ihm suchte, da fand ich ihn auf seiner gewohnten Stelle zusammengekauert, aber tot und starr. Neben ihm lag die Tafel, auf der ich nach seinen Angaben die Inschrift eingeschabt hatte.

Bild: Max Vogel

Heiße Tränen entquollen meinen Augen, als ich am folgenden Morgen Holiday in sein Grab hinab ließ und es schloß. Getreu meinem Versprechen, stellte ich die Gedenktafel am Fuße seines Kreuzes auf; zugleich erinnerte mich die Inschrift an den jüngst aufgetauchten Plan, eine Schilderung unserer Leidenszeit zu hinterlassen. Ich fühlte, daß ich mit irgend etwas mich beschäftigen mußte, um nicht dem Wahnwitz zu verfallen. Denn welche Abwechselung hätten mir die Seevögel geboten, die scharenweise das öde Eiland besuchten und mich schreiend umkreisten? Welche Abwechselung die Robben, die hin und wieder die nackten Felsen zur Rast wählten, oder die Brandung mit ihrem ewigen eintönigen Rauschen und Brüllen? Diesen wie jenen fehlte der Geist, dem der meinige im Verkehr hätte begegnen können. Der Geist Gottes aber, der über dem endlosen Ozean wie über dem öden Felseneilande schwebte, der war – verzweifelnd muß ich es aussprechen – unzugänglich, oder er hätte nicht geduldet, daß Teufel in Menschengestalt an seiner Statt über das Geschick treuer Menschen nach Willkür verfügten.

Nachdem ich Holiday zur ewigen Ruhe gebettet hatte, war mein nächstes Werk, eine Stelle auszukundschaften, auf der es mir mit leichter Mühe gelang, Schieferplatten loszubrechen und für meine Zwecke herzurichten. Dabei empfand ich zum erstenmal wieder die Wohltat, einer nicht gänzlich nutzlosen Beschäftigung mit regem Eifer obzuliegen. Diese Empfindung machte sich in erhöhtem Grade geltend, als ich folgenden Tages mit einem spitz geschliffenen Nagel und dem Messer zu schreiben begann. Es war eine mühsame Arbeit, doch Übung war meine Lehrerin, Geduld mein Gehilfe, und es ging mir von Tag zu Tag leichter von Händen.

So wurden die Wochen zu Monaten, dem südlichen Sommer folgte der Herbst, es meldeten sich die ersten Schneestürme an, und noch immer bin ich mit dem Aufzeichnen meiner Erlebnisse beschäftigt. Ich könnte hier abschließen, zumal ich so elend geworden, daß ich nur noch mit Mühe mich zu bewegen vermag; allein es würde mir schwer werden, einer Unterhaltung zu entsagen, die, obwohl anstrengend, die Gedanken von meiner hoffnungslosen Lage ablenkt. Das Gefühl meiner gräßlichen Gottverlassenheit, das Bewußtsein, einem grauenhaften Ende unrettbar verfallen zu sein, ich muß es gewaltsam übertäuben, um nicht Hand an mich selbst zu legen.

Eine tiefe Klage zittert in meinem Herzen, lenkt die ermattende Hand mit dem eisernen Stift zu einem traurigen Bekenntnis. Wer über kurz oder lang diese Insel betreten mag und aus den hinterlassenen Tafeln mein und der beiden treuen Gefährten Los kennen lernte, der soll zugleich erfahren, wer es gewesen ist, der ihn bittet, seine Gebeine in das leere Grab zu legen. Ich will ihm anvertrauen, was mich einst so hoch beglückte und mir jetzt das Scheiden aus dem Leben so unsäglich erschwert.

Schon in frühester Jugend entschied ich mich für das Gewerbe eines Seefahrers. Alle Vorstellungen meines Vaters, eines anspruchslosen Landbesitzers in der Nähe der Stadt Hull – er schläft längst neben meiner Mutter in seinem Grabe – scheiterten an meinem eisernen Willen. Und so ereignete es sich, daß er endlich, wenn auch mit Widerstreben, meinem Drängen nachgab und mich selbst an Bord eines Ostindienfahrers begleitete. Von Begeisterung für meinen Beruf beseelt, gelangte ich schnell vorwärts, so daß ich schon mit dem achtundzwanzigsten Jahr als Kapitän ein Schiff anvertraut erhielt. Dazu war mir das Glück beschieden, die Liebe eines holden Mädchens zu erwerben, eines Kindes, dessen äußerer Liebreiz nur durch die edlen Eigenschaften eines reinen Herzens übertroffen werden konnte.

Käte Dale, eine Waise, ist die Tochter eines Landgeistlichen. Obgleich nur mäßig mit Glücksgütern gesegnet, hat dieser ihr doch eine Erziehung angedeihen lassen, die sie so hoch über mich stellt, daß ich jetzt vor den Pforten des Todes noch erstaunt frage, ob es denn wahr, daß sie mir, dem rauhen Seemann, ihr Herz schenkte, mit Augen und Lippen mir eine bis über dieses Leben hinausreichende Treue angelobte. Wir liebten uns innig, fanden einer in dem anderen unser höchstes Glück, das nur durch meine wiederholte längere Abwesenheit zeitweise getrübt ward, jedoch in der Hoffnung auf unsere endliche Vereinigung gipfelte. – Arme Käte! Du beklagenswertes Opfer einer verruchten Verbrecherbande! Zurzeit vergegenwärtigst du dir wohl noch mit banger Sehnsucht den Tag, an dem ich in deine Arme eile. Wie aber wirst du es ertragen, wenn Jahr auf Jahr dahin geht, und der, auf den du deine Hoffnung bautest, fern bleibt? Welche schamlosen Lügen wird man dir über mein Ende zutragen, wenn die Emilia, von Mördern geführt und bedient, ohne ihren Kapitän in den heimatlichen Hafen einläuft? Welches Zerrbild wird dir vorschweben, wenn man dir etwa von meiner Untreue erzählt – doch nein, du glaubst ihnen nicht, glaubst nichts, was einen Schatten auf ihn werfen könnte, dem du mit Hand und Herz dich verlobtest. Arme Käte, wenn du jetzt neben mir säßest! Indem ich dein liebes Bild vor meinen Geist hinbeschwöre, ist mir, als fühlte ich deine treue Hand über meine Stirne hingleiten, deine warmen Lippen die meinigen sanft berühren. Käte, deine Gedanken suchen mich. Auf den Flügeln des Traumes eilt deine Seele zu mir. Trauernd umschwebt sie den gänzlich gebrochenen Geliebten. Arme Käte, du holdes Engelsbild, wer wird dich trösten? Für dich gibt es keinen Trost, nicht einmal den der Zeit; für mich dagegen nur noch den Trost des Todes.

Wie die Tage unter dem düster verhangenen, kalten Herbsthimmel so eintönig vergehen! Die Möven höre ich kreischen, den Sturmvogel klagen. Ich höre das dumpfe Donnern der nimmer ruhenden Brandung, eine eintönige Musik für den Verlassenen, der sich zum Sterben vorbereitet.

Welch' trauriges Verhängnis hat über deinem Liebesfrühling gewaltet, du arme, arme Käte. War es denn nicht genug, wenn ein feindseliges Geschick mich zertrat? Mußtest auch du darunter leiden?! »Verschollen!« wird es dir fortgesetzt in den Ohren klingen und in deinem Herzen einen marternden Nachhall erwecken. »Verschollen und verloren!« Kein Gedenkstein bezeichnet die Ruhestätte, vor der du um mich weinen könntest! Verschollen und verloren! klage auch ich; fortgefegt von der Erde, während meine Mörder vielleicht im Sonnenschein des Glücks hohnlachen, eines durch irdischen Reichtum bedingten Glückes, zu dem durch frevelhaften Raub der erste Grundstein gelegt wurde. – –

Stunde folgt auf Stunde trostlos und bleiern. Zu Tagen reihen sie sich aneinander, und in gleichem Maße schwinden meine Kräfte. Nur mühsam vermag ich mich noch von meinem Lager zu erheben. Hätte ich nicht beizeiten für Speise- und Brennholzvorräte gesorgt, so möchte ich bereits ausgelitten haben. Und dennoch, weshalb klammere ich mich noch immer mit so viel Angst an den letzten Lebensrest an? Ach, ich weiß es: jeder Gedanke an dich in weiter Ferne ist ein Gewinn, ist ein Sakrament, das mir auf meinem Sterbelager gespendet wird.

Ein neuer Tag mit neuen Qualen. Unter den äußersten Anstrengungen gelingt es mir nur noch, mit dem eisernen Stift den Stein zu ritzen. Für wen unterziehe ich mich dieser Arbeit? frage ich oft. Hundert Jahre mögen vergehen, bevor jemand die Tafeln findet und als eine Merkwürdigkeit mit übers Meer nimmt. Sorglos wird man von der treuen Anhänglichkeit zweier Menschen sprechen, die fern voneinander starben und deren Liebesleid durch den Tod gestillt wurde. Wer weiß, vielleicht benutzt jemand meine Mitteilungen zur Anfertigung eines schwermütigen Märleins, den Menschen zum Zeitvertreib und Ergötzen. Was kümmert's mich – – –

Ich lebe noch, aber den Tod fühle ich durch meine Adern schleichen. Wie meine Hand erlahmt! Käte, gute Nacht. Gott segne dich, mein Glück, mein Heil und Trost in der letzten Stunde! – –

Abermals zieht ein Tag herauf. Will das Leben denn gar kein Ende nehmen? Will das Herz nicht endlich aufhören zu schlagen? Käte, reiche mir die Hand. Schatten blenden meine Augen – Käte, bleibe bei mir. – – –

Käte – gute Nacht. Fahre wohl – auf Wiederse– –«

Bild: Max Vogel

Das Meer rauschte. Zischend glitten die zerteilten Fluten an den glatten Wänden der Pandora hin. Singend und pfeifend fuhr der Wind durch die Takelage. Der durch das Prunkgemach hindurchragende Mast knarrte verdrossen in seinem Lager. Gläser und Silbergefäße klirrten geheimnisvoll in ihren Brettausschnitten. Geräuschlos schwangen die Lampen in den sie tragenden Ringen. Die beiden Jagdpanther schliefen auf der gleichen Stelle, auf der sie sich vor Stunden ausstreckten. Tiefer hatte die Gräfin ihr Haupt geneigt. Die Hände mit dem Heft waren auf ihren Schoß gesunken. Fest hafteten ihre Blicke an den Schlußworten der letzten Seite. Ihr Antlitz hatte wieder Härte und Farbe des Marmors angenommen. So lange sie las, hatte sie ihre Selbstbeherrschung bewahrt. Kein kürzerer Atemzug legte Zeugnis ab von der in ihr wogenden heftigen Erregung. Nur gelegentlich fuhr sie mit der schmalen Hand über ihre Augen, wie um sie zu klären, daß die Buchstaben nicht ineinander verschwommen. Mit dem Lesen des letzten Wortes war aber auch die Gewalt, die sie über sich selbst besaß, erschöpft. Die um die Lippen lagernde herbe Strenge ging in Feindseligkeit über, um allmählich zu einem unheimlichen Ausdruck dämonischer Grausamkeit sich zu verschärfen.

Die Zeit schlich dahin. Die Gräfin schien der Gegenwart nicht mehr anzugehören, im Geiste unbekannte Fernen zu durchschweifen. Da weckten Kommandorufe, Poltern und Stampfen schwerer Füße sie aus dem traumähnlichen Zustande. Sie lauschte nach oben. Flüchtig heftete sie den Blick auf den ihr zu Häupten hängenden Kompaß. Die Magnetnadel schwang leise nach Steuerbord hinüber. Sie kannte die Bedeutung. Die Pandora war zum Wenden durch den Wind gedreht worden. Es folgte der seltsame Gesang, mit dem man das Aufgieren der Schoten und das Brassen begleitete.

Schwerfällig erhob sie sich. Nachdem sie das Heft zu den sorgfältig aufbewahrten Tafeln verschlossen hatte, schritt sie einige Male auf und ab. Doch das geräumige Gemach schien ihr zu eng, die Luft ihr zu schwer zu werden. Sie sah nach der Uhr. Die zweite Morgenstunde hatte begonnen. Leise öffnete sie die Kammer, in der Maud und Sunbeam schliefen. Eine rote Ampel verbreitete ein mattes, geheimnisvolles Licht. Im lieblichen Kontrast zueinander und inmitten der nach orientalischer Sitte getroffenen Einrichtung glichen die Träumenden selber einem Traum. Holde Unschuld schmückte ihre Züge, kindliche Sorglosigkeit regelte ihren Atem.

Sinnend betrachtete die Gräfin das bezaubernde Märchenbild. Sie mochte der Zeiten gedenken, in denen sie selbst ähnlich in den Tag hineinlebte; denn ihr Antlitz, eben noch undurchdringlich hart und strenge, erweichte sich zu einem Ausdruck der Milde. Geräuschlos trat sie in das Prunkgemach zurück. Ein Tuch um die Schultern werfend und den gewohnten lackierten Hut auf dem Haupte befestigend, begab sie sich nach dem Quarterdeck hinauf.

Helles Mondlicht umströmte sie dort oben. Nach wie vor jagten sich die Wolken am Himmel, aber in geringerer Zahl und weniger massig, so daß sie von dem Silberschein des Mondes durchdrungen wurden. Scharf pfiff der Wind durch die Takelage. Das Meer rauschte und sandte hin und wieder eine weißleuchtende Schaumgarbe über Deck. Gleichmäßig stampfte die Pandora. Bald wies der Klüverbaum schräge gen Himmel, bald bohrte der scharfe Bug sich tief in die nächste See ein, daß die Schaumstrahlen zischend auseinander stäubten. Die Matrosen der Wache rasteten. In gemessenen Schritten wandelte Simpson vor dem Kompaßhäuschen auf und ab, im Vorbeigehen zuweilen eine Bemerkung an den Mann hinter dem Steuerrade richtend. Sobald er die Gräfin gewahr wurde, schritt er ihr entgegen.

»Ich habe mich entschieden,« redete sie ihn ruhig an. »Auf die Gefahr hin, daß Mr. Lowcastle auf seinem ›Eremit‹ die Jagd nach einer Verrückten erneuert, zuerst nach Liverpool, um die Vorräte zu ergänzen. Vielleicht benutze ich die Zeit zu einem kurzen Ausfluge nach Marleyhouse. Dann nach der norwegischen Küste hinüber.«

Simpson verneigte sich. Leicht erkennend, daß die Gräfin ein weiteres Gespräch zu vermeiden wünschte, nahm er seinen unterbrochenen Gang wieder auf. Jene hatte sich auf eine an der Brüstung hinlaufende Bank niedergelassen, und als der Morgen graute, saß sie noch immer da, den einen Arm auf die Brüstung gestützt und das Haupt in der Hand rastend.

 


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