Balduin Möllhausen
Die beiden Jachten
Balduin Möllhausen

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Elftes Kapitel.

Die Kumpane. Im Dunkel der Nacht. Über den Fluß.

»Habt eure Sache gut gemacht,« lohnte die Wirtin das Geschwisterpaar, als Susanna ihr endlich den Teller zurückbrachte; »will euch dafür Besseres geben, als 'n paar Cents. Was ihr da verdient mit euren Künsten, ist überhaupt nicht genug, um davon leben zu können, und zu viel, um zu verhungern,« und sich der Magd zukehrend, befahl sie dieser, etwas Brot und Fleisch herzurichten.

Der zweifelhafte Stallmeister, der die Schlangenkinder so lange aufmerksam betrachtet hatte, legte in diesem Augenblick die langfingerige rechte Hand auf das dunkle Lockenhaupt des Knaben.

»Ich möchte wissen, ob du unter der Fuchtel eines akademischen Lehrmeisters heranreiftest,« sprach er, listig mit den Augen blinzelnd, »packe fest zu; wir wollen dich einmal aufs Gewicht prüfen.«

Erstaunt sah der Knabe empor.

»Wie heißt du, mein Junge?« fragte jener grinsend, ohne die Hand von dem Lockenhaupt zurückzuziehen, und wie sich zu einem großartigen Werk rüstend, warf er die Brust heraus, worauf er die Last seines langen Körpers auf den linken Fuß brachte und den rechten zierlich, wie zum Tanz, weiter nach vorne stellte.

»Artur,« hieß es zaghaft zurück.

»Artur? Hm, ein schöner Name; Arturio würde berühmter klingen. Also, Arturio, jetzt zeige, was du verstehst.«

Der Knabe sah fragend auf seine Schwester, die nicht minder ängstlich dreinschaute. Sie mochte voraussetzen, daß Nachgiebigkeit das beste Mittel sei, ferneren Belästigungen auszuweichen, denn sie neigte zustimmend ihr Haupt.

Der Knabe, nunmehr ermutigt, hob die Arme empor und preßte mit beiden Händen die gespreizten langen Finger auf seinen Scheitel. Beinah ebenso schnell packte der Stallmeister ihn mit der linken Faust oberhalb der Hüfte. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß der schlanke Körper die Starrheit eines Holzstückes bewahrte, gab er ihm einen heftigen Schwung, und in der nächsten Sekunde hielt er den auf dem Kopf Stehenden mit steifem Arm von sich.

»Es macht sich,« sprach er selbstgefällig, denn die Stille, die plötzlich eingetreten war, galt ihm als Beweis größter Bewunderung, »jetzt aufgepaßt, daß du, ohne das Genick zu brechen, auf die Füße zu stehen kommst.« Dann, wie seine Last wiegend, hob er sie zweimal etwas höher, und zum drittenmal ihr unter Aufbietung seiner äußersten Kräfte einen Schwung nach oben gebend, wobei der Knabe seinen Halt fahren ließ, schnellte er ihn im Bogen von sich. Der Knabe überschlug sich ohne jegliche Mühe und stand in der nächsten Sekunde so sicher da, als hätte er den festen Boden gar nicht verlassen gehabt.

»Höre, mein lieber Arturio,« redete der kunstfertige Herr Stallmeister ihn alsbald herablassend an, indem er ihm ein Fünfcentstück zuwarf, »du und deine Schwester seid ganz dazu geschaffen, in Sammet und Seide gekleidet zu werden und allabendlich für die Arbeit einer Viertelstunde eure zehn Dollars in die Tasche zu stecken. Es handelt sich nur darum, daß ihr in die richtigen Hände geratet.«

Er wollte noch etwas hinzufügen, als das Küstergespenst dicht zu ihm herantrat und ihm einige Worte zuraunte. Diese bezogen sich auf die Entdeckung, daß Susannas Augen immer wieder scheu das Fenster des Zimmers suchten. Als Antwort sandte der Stallmeister ebenfalls einen mißtrauischen Blick hinüber, und mit einem Ausdruck, als sei ihm plötzlich ein Blitz des Verständnisses durch den Kopf gefahren, schickte er sich zum Gehen an. Herablassend grüßte er die Wirtin, verbindlich die Gräfin und Simpson, und mit der Haltung eines Helden schritt er durch das Vorzimmer. Das Küstergespenst folgte ihm in der Entfernung einiger Ellen. In dem Vorzimmer hatte sich wilder Lärm erhoben, indem man auf den Stallmeister-Helden eindrang und ihn zu einer abermaligen Kraftprobe zu bereden suchte. Dieser verstand es indessen, sich den Belästigungen zu entziehen, denn als die heroischen Zurückweisungen ohne Erfolg blieben, warf er seinem Begleiter einen bezeichnenden Blick zu, der wie Zauber wirkte. Ein kreischender Hahnenruf ertönte, und als man sich darnach umwandte, sah man das ehrbare Küstergespenst, wie es, die Rockschöße um den Leib gewunden und den Hut zwischen den Zähnen, dem Gefährten auf den Händen nachschritt und dabei die Beine wie Windmühlenflügel in der Luft schwang.

Schallendes Gelächter lohnte den Einfall, und bevor man sich über den Zweck des wunderlichen Treibens recht klar geworden war, schlug die Tür hinter den seltsamen Gefährten zu.

Die beiden Schlangenkinder hatten unterdessen die ihnen verabreichten Speisen in Empfang genommen. Mit eigentümlicher Hast verzehrten sie sie. Kein Laut verließ ihre Lippen, aber nach dem Fenster spähten sie immer wieder verstohlen hinüber, als hätten sie die Blicke gefühlt, mit denen von draußen ein Mann sie fortgesetzt aufmerksam überwachte.

»Das sind also die Enkel des verstorbenen Holiday,« wiederholte die Wirtin der Gräfin, nachdem der Lärm im Vorzimmer sich einigermaßen gelegt hatte, »die Kinder seiner Tochter und des ausländischen Spielers. Sie sahen's selber: Art läßt nicht von Art, und hängen will ich noch in dieser Stunde, wenn die beiden alten Fratzen, die sich schnell genug aus dem Staube machten, um nicht selber ordentlich mitgespielt zu bekommen, nicht darauf ausgingen, die elenden Dinger für irgend 'ne Schaubude zu gewinnen. Weiß der Henker, wer's ihnen verriet, daß sie hier ein- und ausgehen: denn blind mögen Sie mich nennen, wie 'nen Maulwurf im Sonnenschein, wenn ich die Gauner je zuvor sah.«

»Die Kinder geben vielleicht anderweitig Vorstellungen, wodurch die beiden Gaukler, und Gaukler waren es unstreitig, auf ihre Spuren gelenkt wurden,« meinte Simpson.

»Vermutlich,« antwortete die Wirtin nachlässig, »denn von den Paar Cents, die das faule Gesindel da drinnen sich vom Groggelde abknappst, möchten sie sich schwerlich samt der Großmutter durchfüttern.«

»Ein Unglück wäre es, kämen sie in die Gewalt dieser Vagabonden,« warf die Gräfin ein, »was würde da anders aus ihnen werden, als ebenfalls Landstreicher.«

»In denen steckt überhaupt Spielerblut, und das ist kein gutes,« erklärte die Wirtin; »sind die erst über die Hungerjahre hinaus, so macht sich's von selbst, daß sie die Heiligengesichter abstreifen und es mit dem Landstreichern halten.«

»Wo sie wohnen, erfuhren Sie nicht?« forschte die Gräfin, und mit unverkennbarer Teilnahme ruhten ihre Blicke auf den Geschwistern, die ihr einfaches Mahl in einer Weise verzehrten, als hätten sie sich auf verbotenen Wegen befunden.

»Nicht 'ne Ahnung habe ich, und der Henker mag etwas aus jemand herausholen, der nicht reden will. Ich befragte sie einst drum, aber sie wußten's selber nicht, und die Ausrede mag ihnen jemand anbefohlen haben, der seinen Vorteil darin sucht. Mit rechten Dingen geht's auf keinen Fall zu; denn was könnte sonst 'nen ehrlichen Christen dazu bewegen, vor anderen zu verheimlichen, wo er seinen Unterschlupf findet.«

Hier begab die Wirtin sich hinter den Schenktisch, um die Gäste zu bedienen, deren so viele herangetreten waren, daß die Hände der Magd nicht ausreichten, allen Anforderungen zu genügen.

Die Gräfin sah eine Weile vor sich auf den Tisch nieder, und wie ihre Worte von diesem ablesend, sagte sie gedämpft: »Ist es mir verwehrt, den Kindern des ehrlichen Schiffskochs Gutes zu erweisen, so will ich es wenigstens auf seine Enkel übertragen. Was ich vor den drei Kreuzen gelobte, muß gehalten werden, soll mich das Bewußtsein nicht quälen, an den armen Toten mich schwer vergangen zu haben. Ja, ich will die armen Geschöpfe einem Lose entreißen, das, Sie hörten es sogar von dem gemütsrohen Weibe, ihr sittliches Verkommen in sich birgt. Sie haben das gleiche Anrecht an meine Teilnahme, wie der Neffe des gemordeten Larsen; von großem Wert für die Zukunft sind sie mir obenein. Die Kinder aber, wenn sie der Person da drüben jede Auskunft verweigerten, werden uns gegenüber schwerlich mitteilsamer sein.«

»Der einzige Ausweg wäre,« versetzte Simpson, »sie zurzeit nicht zu beachten, sondern sich an ihre Fersen zu heften, und zwar noch in dieser Stunde. Denn niemand bürgt dafür, daß wir jemals wieder auf ihre Spuren geraten.«

»Ich bin bereit,« erwiderte die Gräfin, indem sie sich erhob, und von Simpson gefolgt, verließ sie unbelästigt die widerwärtig belebten Räume.

Bevor sie ins Freie hinaustraten, blieben sie, um die Augen an die ihnen entgegenstarrende Dunkelheit zu gewöhnen und über die zunächst einzuschlagende Richtung sich zu verständigen, auf der Schwelle stehen. Aufwärts und abwärts sahen sie alles in Finsternis gehüllt, als Simpson plötzlich der Gräfin Hand ergriff und sie mit sich fortzog. Indem er an den erleuchteten Fenstern hinspähte, war er mehrerer Männer ansichtig geworden, die von dem durch das letzte Fenster fallenden Lichtschein gestreift wurden. Flüchtig, wie er sie sah, gewann er doch den Eindruck, daß sie in das Schenkzimmer hineinlugten, jedoch auf das in der Haustür erzeugte Geräusch schleunigst den Schatten suchten. Sie wollten offenbar nicht entdeckt werden, verschwanden aber nicht schnell genug, um zu vermeiden, daß Simpson in zweien von ihnen die Gestalten der beiden Gaukler erkannte. Der dritte, dessen von der matten Beleuchtung voll getroffenes Antlitz eine Sekunde in seinem Gesichtskreise blieb, war ihm dagegen fremd. Nur eine schwarzbärtige Physiognomie unterschied er und einen Wust dunklen Lockenhaars, auf dem ein niedriger Hut mit Widerstreben seinen Platz zu behaupten schien. Wem das heimliche Hineinlugen galt, unterlag nach den vorhergegangenen Beobachtungen kaum noch einem Zweifel; und so trachtete der Kapitän zunächst, ohne Argwohn zu erregen, aus der Nachbarschaft der rätselhaften Lauscher zu gelangen.

Auf dem Wege, den sie gekommen waren, erreichten sie nach kurzer Frist einen die Straße begrenzenden Plankenzaun. Wie sich ergab, fand dieser keine Seitenfortsetzung; es hinderte sie daher nichts, hinter die Verschalung zu treten. Sie genossen dort den Vorteil, nicht nur die etwa auf der anderen Seite der Bretter gewechselten Worte zu verstehen, sondern es reichten auch ihre Blicke nach der Whiskykneipe hinüber, die sich durch den auf die Straße hinausfallenden rötlichen Schein auszeichnete. Dort unterschieden sie zunächst, daß es sich vor den erleuchteten Fenstern wieder schattenähnlich regte.

Wie Simpson beim Verlassen des Hauses des in das Schenkzimmer hineinlugenden Mannes ansichtig wurde, hatten der Gauklerchef und sein Gefährte ihn zuvor ebenfalls entdeckt. Anstatt indessen sich wenig auffällig zu entfernen, waren sie auf ihn zugeschritten.

»Keine Ursach', einem Kollegen auszuweichen,« redete ersterer den geheimnisvollen Fremden ohne Säumen zuversichtlich an, »ich glaube wenigstens nicht fehl zu gehen, wenn ich Sie als den Besitzer der beiden jungen Schlangenmenschen begrüße.«

»Und was dann?« fragte eine tiefe Stimme trotzig zurück.

»Das soll von Ihnen selbst abhängen. Mein Name ist Buonaventura, akademischer Künstler und Chef einer der berühmtesten Akrobaten- und Seiltänzer-Gesellschaften. Auf die Spuren Ihrer gut veranlagten Zöglinge geraten, machte ich es mir zur Aufgabe, sie unter soliden Bedingungen meinem Personal – lauter Kräften ersten Ranges – einzureihen. Mein Kunsttempel erhebt sich auf dem Nordende der Stadt, und es steht Ihnen frei, sich durch Augenschein zu überzeugen, daß Ihre Zöglinge durch Eintritt bei mir auf die erste Stufe zu Glanz und Ruhm gestellt werden würden.«

»Sie sind noch nicht fertig,« antwortete der Fremde kurz, nachdem der Gauklerchef mit seinem Bericht zu Ende gekommen war.

»Was mir nicht entgehen konnte,« versetzte dieser erhaben, »ich bürge indessen dafür, daß ich die Kinder bei ihrer glücklichen Veranlagung binnen kürzester Frist zu etwas Fertigem, Radikalem, Ungewöhnlichem ausbilde.«

»Wozu ich selber Manns genug bin,« lautete die ungeduldige Erwiderung.

»Sie übersehen, mein lieber Kollege, daß ich mich in der Lage befinde, ganz andere Honorare zu bieten, als Sie mit Ihren Gelegenheitsvorstellungen erzielen. Auch bin ich bereit, Ihnen die Geschwister ein für alle Male abzukaufen oder auf bestimmte Zeit abzumieten.«

»Das lockt mich nicht,« versetzte der Fremde wiederum verdrossen, »lieber zehre ich mit den Meinigen – denn meine Kinder sind's – noch eine Weile am Hungertuch, um sie eines Tages als Niedagewesenes vor die Welt zu bringen, anstatt 'nen lumpigen Gewinn brockenweise in die Tasche zu stecken.«

»Die beiden sind also Ihre eigenen Kinder?« meinte der Gauklerchef gedehnt, daß es klang wie Unglaube; »da ist's nicht befremdlich, wenn Sie nur ungern sich von ihnen trennen. Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, sie eines Tages auf meiner Bühne den Beifall eines vornehmen Publikums herausfordern zu sehen. Vielleicht würden Sie selbst –«

Hier wurde das Gespräch durch die aus dem Hause tretende Gräfin und Simpson unterbrochen. Sobald diese aber außer Hörweite getreten waren, hob der Gauklerchef wieder an: »Wahrscheinlich würden Sie anders urteilen, wenn Sie mein Kunstinstitut zu einer Abendvorstellung besuchten, wohl gar Ihren Kindern gestatteten, mitzuwirken. Für standesgemäße Kostüme neben gutem Spielgeld würde ich selbstverständlich Sorge tragen.«

»Ich wiederhol's, meine Pläne habe ich nicht gemacht, um sie von dem ersten besten über den Haufen werfen zu lassen. Doch sie werden gleich herauskommen, da möchte ich ungestört mit ihnen bleiben. Es paßte mir überhaupt nicht, daß Sie den Jungen der Gefahr aussetzten, sich das Genick zu brechen.«

»Arturio? Dieser Gummiball das Genick brechen?« fiel der Gauklerchef sittlich entrüstet ein, als der Fremde schnell wieder das Wort nahm:

»Zum Henker mit Ihrem Arturio! Gehen Sie jetzt. Sollte es mir einmal über Nacht einfallen, in Beziehung zu Ihnen zu treten, so weiß ich Sie zu finden.«

»Und wo würde ich Sie aufsuchen können?«

Der Fremde sann einige Sekunden nach, nannte eine Stelle, auf der er zu erfragen sei, und gleich darauf befand er sich allein. Der Gauklerchef und sein Gefährte folgten dagegen eiligst dem Wege, den Simpson und die Gräfin zuvor eingeschlagen hatten. Erst nachdem sie in der Nähe des Plankenzauns eingetroffen waren, brach das Küstergespenst das bis dahin vorsichtig beobachtete Schweigen mit den Worten:

»Der ausgefeimteste Gauner, der je seine Gelegenheit auszunutzen trachtete. Legen Sie blankes Gold vor ihn hin, so zieht er andere Saiten auf.«

»Mit einer Kleinigkeit ist's bei dem nicht getan,« erwiderte der Gauklerchef mißmutig, »und doch wäre ich zu einem mäßigen Opfer bereit. Überließe er sie mir nur auf vier, fünf Tage – nachher könnte er uns nachpfeifen.«

»Ich mein', er kommt von selbst,« lautete die Erwiderung. Das waren die letzten Worte, die verständlich zu der Gräfin und Simpson in ihr Versteck drangen.

Eine Weile lauschten sie den sich Entfernenden nach, dann bemerkte die Gräfin in tiefer Erbitterung: »Sie haben gehört, wie man um die armen Geschöpfe feilscht. Es ist, als ob deren Schutzengel selber uns in dieser Nacht hierherführte.« Sie lachte bitter vor sich hin und fügte hinzu: »Mich sollte es kaum überraschen, würde mein jetziges Tun ebenfalls als Verrücktheit –«

»St,« warnte Simpson. Die Gräfin verstummte. Nach der Whiskyschenke hinüberlauschend, unterschied sie wiederum Schritte und bald darauf die in rohen Ausbrüchen sich ergehende Stimme eines Mannes, auf die das Geschwisterpaar in jammervollem Klageton antwortete.

»Wozu habe ich euch unter den erdenklichsten Kosten und Mühen zu Künstlern erzogen, wenn nicht, um gemeinschaftlich mit euch von den Früchten meiner schweren Arbeit zu zehren?« verstanden die gespannt Lauschenden endlich.

Bild: Max Vogel

»Unsere Schuld ist es nicht, wenn die Leute Cents bieten, wo wir uns für Dollars abarbeiteten,« versetzte Susanna mit einer Anwandlung herben Trotzes.

»Und dennoch eure Schuld,« polterte der ergrimmte Vater, »denn an dir war es, den Schurken die Cents vor die Füße zu werfen, ihnen zu sagen, daß ihr nicht um Hundelohn eure Künste zeigt. Bei deiner Schönheit – die kann dir keiner absprechen – darfst du solchem Lumpengesindel das Ärgste zuschreien; funkeln dabei deine Augen, so macht's die Menschen freigebig mit dem Gelde.«

»Ich wünsche, ich wäre häßlich wie die Nacht,« erwiderte das Mädchen in Verzweiflung; »bekäme ich heute noch die Blattern, da hätte es sein Ende mit den schrecklichen Vorstellungen. Lieber will ich todhungern, als mich zu Tode schämen.«

»So? Das sagst du deinem Vater, der eine Person aus dir heranbildete, die binnen zwei Jahren über Tausende verliebter Einfaltspinsel und deren Geld verfügen wird? Aber ich merk's, hinter dir steckt die Großmutter. Die soll sich hüten, daß ich eines Tages nicht mit euch verschwinde. Da mag sie verhungern; mich soll's nicht grämen.«

Langsam einherschreitend, waren sie dicht neben den beiden Lauschern eingetroffen. Deutlich unterschieden diese das Schluchzen der Geschwister.

»Ich möchte tot sein samt dem Artur, nichts mehr hören und sehen,« entwand es sich der Brust des gequälten Mädchens.

»Schweig' mit deinem Geplärre, oder ich geb' dir einen Grund zum Heulen,« hieß es ingrimmig zurück. »Bist eine dankbare Brut, daß ich mich schämen möchte, von dir Vater gerufen zu werden.« Das weitere erstarb in unverständlichem Gemurmel.

»Entsetzlich,« meinte die Gräfin nach einer kurzen Pause, indem sie an der Seite Simpsons wieder auf die Straße hinaustrat, wo die gedämpft herüberdringenden Stimmen sie in ihren Bewegungen lenkten, »wahrhaft entsetzlich. Und ein solcher Mensch nennt sich Vater der unter seiner Tyrannei sich qualvoll windenden, unglücklichen Geschöpfe.«

»Und deren Zukunft erst,« fügte Simpson finster hinzu, »was kann unter dem Einfluß einer solchen Roheit aus dem Mädchen nur werden!«

Die leidenschaftliche Wallung der Gräfin hatte sich gelegt. Kalte Überlegung war an Stelle der heftigen Erregung getreten. Es beherrschte sie allein der vor keinem Widerstande zurückscheuende, eiserne Wille. So klang auch ihre Stimme wieder ausdruckslos, indem sie erklärte: »Das Mädchen muß ihm entzogen werden samt ihrem Bruder, koste es, was es wolle. Die unter den drei Kreuzen Schlummernden sollen keine Ursache finden, dereinst vor einem höheren Richter Rechenschaft von mir zu fordern.«

Sie sprach noch, als Simpson wieder stehen blieb. Die Gestalten des Vaters und seiner Kinder vermochten sie nicht zu erkennen; dagegen verrieten deren Schritte, daß sie sich auf den Fluß zu bewegten. Auf dem äußersten Rande des Kais verhallten die Schritte. Die Gräfin und Simpson eilten nunmehr soweit nach vorne, bis sie sich in gleicher Höhe mit der Stelle befanden, auf der nach Simpsons Berechnung die von ihnen Überwachten zum Wasser hinunterstiegen. Gleich darauf drang das Poltern herüber, mit dem zwei Riemen zwischen die Ruderpflöcke geworfen wurden. Länger säumten sie nicht; ihre Schritte beschleunigend, erreichten sie bald die Treppe, vor der Niels mit dem Boote ihrer harrte. Schnell gelangten sie zu ihm hinab. Nach flüchtiger Verständigung hatten sie kaum Platz genommen, als in mäßiger Entfernung von ihnen ein Boot mit langsamen Ruderschlägen stromabwärts getrieben wurde. Regungslos lauschten sie, doch keine Stimme drang zu ihnen herüber. Ebenso hinderte der auf dem Wasser lagernde Dunst sie, das Boot und die in ihm Befindlichen zu unterscheiden. Doch nicht in Zweifel über deren Persönlichkeiten, legten Simpson und Niels die Riemen ein, und nach besten Kräften zu lautes Stoßen und Klappern vermeidend, jedoch sorgfältig darauf Bedacht nehmend, daß der bestehende Zwischenraum nicht verringert wurde, schlugen sie die Richtung ein, die das andere Boot ihnen vorschrieb.

So verfolgten beide Teile eine Viertelstunde den nämlichen Weg. Dieser führte sie allmählich nach dem jenseitigen Ufer hinüber. In gleichem Maße, in dem sie sich der eigentlichen Stadt näherten, mehrte sich die Zahl der verankerten Schiffe, Leichterprahme und Bumböte; es waltete daher die Gefahr, daß das vordere Boot zwischen diese hineinschlüpfte und dann verschwand. Simpson ließ daraufhin das eigene dicht an die Schiffsreihe herangleiten, beschleunigte aber zugleich dessen Lauf, bis er, scharf auslugend, das verfolgte Boot notdürftig als einen formlosen Schatten von dem dunkeln Wasserspiegel zu trennen vermochte. Es konnte ihm also nicht entgehen, daß dieses plötzlich den Bug herumwarf und hinter einem größeren Fahrzeuge seinen Blicken entzogen wurde. Fast gleichzeitig trieb er gemeinschaftlich mit Niels das seinige landeinwärts, und noch drang das Klappern und Klirren herüber, mit dem der unnatürliche Vater die Riemen zur Seite legte und sein Boot ankettete, als Niels bereits auf dem Ufer stand und sich auf jenen zu bewegte. Wie jemand, der sich an Bord dieses oder jenes Schiffes verspätete, schritt er vorüber. Er erkannte einen einzelnen Mann und zwei Kinder. Sobald diese aber die Richtung nach dem sich dort ausdehnenden düsteren Stadtteil einschlugen, kehrte er zurück, um sie im Auge zu behalten. Gleich darauf stießen die Gräfin und Simpson zu ihm. Er begleitete sie noch, bis ein Abirren von den Spuren der sich Entfernenden nicht mehr zu befürchten stand, dann begab er sich wieder nach seinem Boot, um sie dort zu erwarten.

Ahnungslos, daß überhaupt jemand sich um sie kümmerte, verfolgten der Vater und seine Kinder ihren Weg langsam in die Stadt hinein. Die Straßen waren verödet. Hier und da brannte wohl eine Laterne, allein die mit Nebeldunst erfüllte Atmosphäre beschränkte ihre Wirkung auf einen nur geringen Umkreis. Die Gräfin und Simpson konnten sich ihnen daher so nahe halten, daß das Geräusch ihrer Schritte ihnen als Wegweiser diente, wogegen es ihnen erleichtert war, unbemerkt zu bleiben. Nur selten unterschieden sie eine Stimme, und dann war es jedesmal der Vater, der in roher Weise eine Bemerkung an die Kinder richtete.

Nach kurzer Wanderung blieben die breiteren Straßen hinter ihnen zurück. Enge Gassen traten an deren Stelle und endlich ins Freie hinausführende Wege, die der Beleuchtung gänzlich entbehrten. Niedrige Bauwerke erhoben sich zu beiden Seiten, oder Zäune, die zum Schutz kleiner Gärten und Bleichen dienten. Sie befanden sich eben auf der äußersten Grenze der Vorstadt, die vorzugsweise von Arbeitern bewohnt wurde, und wo man selbst am Tage seine Not hatte, ohne viele Fragen an sein Ziel zu gelangen.

Plötzlich verhallten die Schritte vor ihnen. Simpson und die Gräfin blieben stehen und horchten gespannt. Erst als sie abseits vom Wege zwischen den unregelmäßig und schwarz emporragenden Baulichkeiten eine Tür gehen hörten, setzten sie sich wieder in Bewegung. Auf einem engbegrenzten, finsteren Pfade traten sie nach kurzer Zeit ins Freie hinaus, wo ein einsames Licht ihnen entgegenschimmerte. Gleich darauf standen sie vor einem Hause, das in seinen Umrissen an einen von verkrüppelten Bäumen beschatteten Stall erinnerte. Da weder Einfriedigung noch Vorplatz es von dem holperigen Wege schied, hinderte sie nichts, dicht an das erleuchtete Fenster heranzutreten. Auf den ersten Blick überzeugten sie sich, daß sie in der Tat vor ihrem Ziel eingetroffen waren.

Bild: Max Vogel

Die beiden Geschwister hatten bereits ihre äußere Hülle abgeworfen und nestelten an sich herum, um auch der jämmerlichen Gaukleranzüge sich zu entledigen. Mehr noch als bei den Vorstellungen offenbarte sich in ihrem Wesen die Scheu eines verschlagenen Hundes, der stets gewärtig ist, die Peitsche auf sich niedersausen zu hören. Müde blickten ihre großen Augen, und erschöpft von den wiederholten, ihre jungen Kräfte aufreibenden Anstrengungen und der weiten, beschwerlichen Wanderung, bewegten sie sich nur schwankend. Es war ersichtlich, sie sehnten den Zeitpunkt herbei, in dem sie zum Schlaf auf ihr ärmliches Lager kriechen durften. Der Vater achtete ihrer nicht. Vor einem alten Tisch stand er, mit Gier die Münzen zählend und ordnend, die er der Gelenkigkeit seiner Kinder verdankte. Den Hut hatte er zur Seite geworfen, infolgedessen sein wirres, dunkles Lockenhaar ihm die Stirne bis zu den Brauen hinunter verschleierte. Ein schwarzer Vollbart bedeckte die untere Hälfte des südlich bräunlichen Gesichtes. Obwohl sträfliche Leidenschaften den sichtbaren Teil entstellt hatten, trugen seine Züge trotz eines Alters von etwa sechsundvierzig Jahren noch immer Merkmale früherer männlicher Anziehung, wie sie geeignet war, bestrickend auf ein unbedachtes junges Mädchen einzuwirken. Kräftig war er gewachsen, doch seine Haltung schlaff wie bei jemand, der unter einer schleichenden Krankheit leidet.

Nachdem er das Geld gezählt hatte, kehrte er sich mit einem Ausdruck herber Enttäuschung den Geschwistern zu. Verhaltener Zorn webte in seinem Blick. Es war ein Blick, von dem es nicht befremdete, wenn er die Ärmsten bis ins Mark hinein erbeben machte. Und dennoch, indem er den unsäglich schwermütigen Augen des Mädchens begegnete, sah er schnell zur Seite. War es der in deren Tiefe verborgene Ausdruck eines zum Himmel entsendeten Klagerufs, oder der einer von Verzweiflung getragenen Todesangst: er vermochte den Blick nicht zu ertragen.

»Schert euch zu Bett,« vernahmen die vor dem Fenster Lauschenden seine häßliche, schnarrende Stimme; »schlagt die Unterschenkel noch einmal übers eigene Genick und laßt sie da 'ne Weile liegen; da wird's euch morgen um so leichter mit den Übungen.«

Die Geschwister, nunmehr in der allernotdürftigsten zerfetzten Bekleidung, verschwanden in dem finsteren, alkovenartigen Nebenraum. Susanna, die ihren Bruder vorausgehen ließ, sah von der Schwelle aus noch einmal zurück. Deutlich gewahrte die Gräfin, wie es in den großen Augen feindselig aufflackerte, dann aber gänzliche Trostlosigkeit wieder die Oberhand gewann. Wehmut beschlich sie. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Vater hingelenkt. Erst nach einer Weile kehrte er sich einer im Halbdunkel des häßlichen Raumes stehenden breiten Bettstelle zu, und jetzt erst entdeckten die Gräfin und ihr Begleiter das abgezehrte Antlitz einer alten Frau, die, eine unsaubere Decke bis an den Hals emporgezogen, den grausamen Peiniger ihrer Enkel mit großen Augen betrachtete.

»Ich habe meine Not mit ihnen,« kam er einer Anrede der hinfälligen Alten zuvor, »doch nur noch ein Jahr des Abrichtens, und sie sind so weit, daß für jeden Kupfercent, der ihnen jetzt zugeworfen wird, ein Zwanzigdollarstück in ihren Schoß fällt.«

»Spielerkinder bleiben Spielerkinder,« versetzte die Alte, die sich offenbar ebenfalls unter dem Banne der Furcht vor ihrem Schwiegersohne befand, mit einer gewissen Todesverachtung; »was von unehrlichen Eltern kommt, kann nicht ehrlich werden.«

Der Mann lachte höhnisch. Er war zu sehr an derartige Ausbrüche verhaltener Feindschaft gewöhnt, um noch viel Wert darauf zu legen.

»Wären sie nur unehrlich, so möchte es besser um uns alle stehen,« sprach er ingrimmig; »ich habe noch keinen gesehen, der mit allzuviel Ehrlichkeit auf 'nen grünen Zweig gekommen wäre.«

Gedämpft, aber immer noch verständlich, drangen diese Worte durch das schlecht gefugte Fenster ins Freie hinaus. Widerwille bemächtigte sich der Gräfin, und Simpsons Arm ergreifend, zog sie ihn mit sich fort.

»Seine eigenen Kinder, sein eigen Fleisch und Blut, und doch kein Erbarmen,« raunte sie ihm zu, »es kann nicht so bleiben, es muß Hilfe geschafft werden. Doch gehen wir langsam. Wir müssen versuchen, die Umgebung unserem Gedächtnis einzuprägen, oder wir laufen Gefahr, morgen am Tage vergeblich nach ihnen zu suchen.«

»Sie wollen selber zu ihnen?« fragte Simpson düster, denn auch in ihm wirkte die eben beobachtete Szene peinlich nach.

»Ich habe es beschlossen,« antwortete die Gräfin mit der ihr eigenen kalten Entschiedenheit. »Den mir übertragenen letzten Gruß richte ich aus, und müßte ich deshalb in eine Mördergrube hinabsteigen. Und wer weiß, ob nicht andere Enthüllungen unserer harren. Lebt jener Mac Lear noch, so muß ich ihn finden, und wäre ich gezwungen, die Erde nach allen Richtungen hin noch zehnmal zu umkreisen. Er mordete mehr, als den jungen Baronet und die stillen Bewohner des fernen Eilandes, und das soll ihm vergolten werden. Was hätte ich sonst noch von meinem Leben?« Und klanglos lachte sie vor sich hin.

Simpson schwieg. Seltsam erschien ihm die Aufgabe, die die Gräfin sich gestellt hatte; jedoch ihr treu ergeben, hätte er keine Einwendungen erhoben, und wäre er dazu verdammt gewesen, bis an sein Lebensende, dem ewigen Juden ähnlich, planlos auf dem Erdball umherzuschweifen. Auch die Gräfin schwieg. Aber mit erhöhter Aufmerksamkeit prägten beide die Richtung des von ihnen inne gehaltenen Weges ihrem Gedächtnis ein, bis sie endlich wieder mit Niels zusammentrafen. Bald darauf glitt das Boot auf den Fluß hinaus, wo die Strömung ihnen schneller von dannen half. Auch jetzt noch verharrten die Gefährten in dumpfem Schweigen. Mit den düsteren Betrachtungen, die die jüngsten Erlebnisse anregten, stand die ganze nächtliche Umgebung im Einklang. Der Nebel hatte sich verdichtet. Weiter und weiter glitt das Boot wie in einem schwarzen Gewölbe. Angesichts eines gespenstisch emporragenden Krahns schwang das Boot seewärts. Zehn Minuten rührten Simpson und Niels noch die Riemen kräftig. Ein langgestreckter Schatten tauchte vor ihnen auf, und vom Bord der Pandora tönte der erfreuende Ruf: »Boot ahoi!« zu ihnen nieder.

 


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