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Zweiter Teil


 

Erstes Kapitel

Ostwind, Wind aus dem Osten, ein mächtiger Hochdruck über dem Kontinent, den ganzen Juni hielt es an. Benno Terek war am Genfer See. Er verjubelte dort nach der Kündigung seiner Berliner Stellung sein letztes Monatsgehalt. Fünf Jahre lang war er der wissenschaftliche Mitarbeiter eines mächtigen Industriellen gewesen, Elektrizität, wirtschaftlich-technischer Großbetrieb, Marschroute zum Erfolg, und plötzlich hatte er gekündigt und Schluß gemacht. Am Genfer See verjubelte er sein letztes Monatsgehalt. Vormittags mit den freigelassenen jungen Weibern von Welt auf den roten Tennisplätzen von Territet, nachmittags mit den freigelassenen jungen Weibern von Welt in der Zwanzig-Quadratmeter-Jolle auf dem gletscherwassernen See. Aber an den Abenden war er allein. An den Abenden saß er in einer kleinen französischen Kneipe und trank Wein und ließ das elektrische Klavier spielen und glotzte vor sich hin.

Westwind im Juli und August, immerzu Westwind, Tiefdruck über Tiefdruck von der Biscaya-See, Regen über dem ganzen Kontinent. Benno Terek war in Berlin und feierte seinen fünfunddreißigsten Geburtstag. Er feierte die Mitte des Lebens und ordnete seine Verhältnisse. Er ließ seine sämtlichen wissenschaftlichen und industriellen Beziehungen in die Brüche gehn und verkrachte sich mit seinen sämtlichen Verwandten und Bekannten. Er kündigte seine Dreizimmer-Wohnung im alten Westen und verkaufte seine Möbel, seine Bücher, seinen Smoking, seinen Frack. Er ließ sich einen kleinen rötlichen Vollbart stehn, ein wüstes Ding trotz der peinlichen Pflege im Sieben-Millimeter-Schnitt. So ordnete er seine Verhältnisse, Dr. phil. Benno Terek, naturwissenschaftlicher und industrieller Mensch a. D., freigelassener junger Weiber glattrasierter Freund a. D., zur Mitte des Lebens, im Juli und im August.

Im September war wieder Ostwind und Hochdruck über Europa, da war er mit Katharina Gauß unterwegs nach Wien. Auch Katharina Gauß gehörte zur Klasse der freigelassenen jungen Weiber, mit denen man sich nach seinem Rezept zur Mitte des Lebens verkrachen mußte: er war nur aus purem Zufall mit ihr losgegondelt. Sie hatte ihn auf der Straße begrüßt, eine Stunde vor ihrer Abfahrt aus Berlin, bei ihrem letzten Bummel über den Bummel, vergafft in seine verlorene Dahinschlenkerei über den Asphalt und in seinen aparten neuen Sieben-Millimeter-Bart. In einer Stunde führe ein kleiner Zweisitzer aus der Stadt heraus, Richtung Süd-Süd-Ost, darin wäre noch ein kleiner Platz frei, unterwegs könnte jederzeit ausgestiegen werden, nichts weiter wie eine menschenfreundliche Idee, um einen verlorenen Dahinschlenkerer aus seiner verlorenen Dahinschlenkerei zu reißen. Und warum nicht? Warum nicht mit der ersten besten Gelegenheit raus aus dem Bummel über den Bummel, raus aus dem asphaltenen Asphalt, raus aus dem betonenen Beton? Erstmal raus aus der städternen Stadt und morgen war ein andrer Tag.

Katharina Gauß chauffierte. Sie behandelte ihren Gast wie einen Kranken. Sie kannte als dreißigjährige Freigelassene von Welt bereits aus eigener Erfahrung die Mitte-des-Lebens-Krankheit, von der sie ihn befallen sah.

Benno Terek war ihr dankbar. Er freute sich an der freien Landschaft, die sich vor ihm auftat, und begrüßte es, daß freie Landschaft überhaupt noch vorhanden war auf der Welt. Er freute sich an der langentbehrten Luftmassage und an dem kapitalistischen Polstergefühl unterm Hinterteil.

Mitten in seiner Mitte-des-Lebens-Krankheit glitt er nochmal in die Freigelassenen-Stimmung seines früheren Lebens zurück. Das zeigte sich schon beim ersten Stop des lavendelblauen Zweisitzerchens. Nach gutem alten Brauch veranstaltete er schon beim ersten abendlichen Stop ein intimes Geküsse mit seiner hübschen Chauffeurin.

Es war nur eine kleine Schweinerei von Welt, sonst nichts. Nur ein leichter Rückfall in die nackten Sitten des Jahrhunderts. Aber das Schlimme war, daß sie sich dabei in ihn verliebte und Umwege zu fahren begann.

 

Am sechsten Tag ihrer Fahrt kamen sie durch die Wachau. Lang genug waren sie im Zickzack gefahren, jetzt ging es scharf nach Osten. Die Straße führte an der Donau entlang, am Abend konnten sie in Wien sein. Sie waren ein Liebespaar geworden, schweigend glitten sie durch den wolkenlosen Nachmittag dahin. Die Wälder am Ufer des alten Stroms standen schon im tropischen Feuer des Herbstes, es war ein früher Herbst.

Plötzlich sagte Benno Terek auf offener Strecke: »Bitte, halten Sie an, gnädige Frau, lassen Sie mich aussteigen.«

Katharina Gauß warf einen schnellen Blick auf ihren Passagier, dann wandte sie wieder ihre volle Aufmerksamkeit dem Wagen und der Straße zu. Mit naivem Lächeln tutete sie um die nächste Ecke, als hätte sie nichts gehört.

Sie fühlte, daß er den Kopf nach ihr gedreht hatte und sie anstarrte. Aber sie gehörte nicht zu den Frauen, die den Blick aufs Profil nicht ertragen können. Im Gegenteil, ihr Profil war ihre Stärke, das wußte sie ganz genau. Mochte er sie doch begucken, solang er Lust hatte. Mit unverminderter Geschwindigkeit fuhr sie dahin.

Nach einigen Minuten kam es wieder, feindselig: »Bitte, halten Sie, gnädige Frau, ich will aussteigen, ich will mich verabschieden.«

Jetzt war nicht mehr zu überhören, daß irgendeine Unverschämtheit im Gang war. Das »Sie« und das »gnädige Frau«, der bösartige, rauhe Ton, sie spürte die plötzliche Bedrohung. Aber sie überhörte zum zweitenmal und fuhr weiter, sechzig Kilometer, als wüßte sie von nichts.

»Halt! Aussteigen lassen! Stop!«

Und nun gerade nicht! Offene Strecke, kilometerweit kein Mensch und kein Haus, nirgendwo ein Anlaß zu einem Stop. Nach den automobilistischen Sitten aller fünf Erdteile gab's auf solcher Strecke, wenn keine Panne vorlag, nur drei Stops: den Photographier-Stop, den Knutsch-Stop, den Piß-Stop. Keiner dieser drei international anerkannten Stops kam hier in Frage. Also Schluß mit diesen rüden Tönen! Sie antwortete nicht und starrte gespannt auf ihre Route.

Plötzlich fühlte sie ihren Nacken von einem festen Männergriff umgriffen. Kein grober Griff vorerst, man konnte es vorerst noch als Liebkosung gelten lassen. Aber als sie nicht nachgab, wurde der Griff fester. Fester und fester wurde der Griff, schließlich war es gemeine Gewalt, eine brutale Klammer, die ihr den Kopf nach vorn preßte. Mit einem wütigen Blick brachte sie den Wagen neben der Weinbergmauer, die die Straße säumte, zum Stehn.

»Danke«, sagte Benno Terek ruhig und gab ihren Nacken frei.

»Was ist?,« rief sie zornig, »bist Du verrückt geworden?«

»Mag sein. Denk was Du willst!«

Sie massierte ihren Nacken. »Was soll denn das, Du Grobian?«

»Ich will aussteigen, ich will mich verabschieden.«

Sie stellte den Motor ab und klappte das Steuerrad zurück. Kein Zweifel, daß er im Ernst sprach. Aber er tat nichts, um seine Worte wahr zu machen. Er stand nicht auf und öffnete nicht den Wagenschlag. Er saß still und starrte auf die leere Straße, als wäre er allein auf der Welt, als hätte er den erzwungenen Stop und seine gehorsame Chauffeurin bereits wieder vergessen.

Mit wüstem Krach und Staub kam ein vollbesetzter schwerer Tourenwagen vorübergesaust, dann war wieder Stille. Stille in dem kleinen lavendelblauen Zweisitzer, Stille in der ganzen Wachau. Man hörte plötzlich zur Rechten die Donau rauschen. Zum erstenmal in ihrem Leben hörte Katharina Gauß einen großen Strom auf freier Strecke dahinrauschen und gurgelnd vorwärts drängen. Sie zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch ihrem erfrorenen Liebhaber ins Gesicht. Er saß still und döste vor sich hin.

»Was denn eigentlich los, mein Kerlchen«, frug sie schließlich in sanftem Ton, nachdem die Zigarette zu Ende war.

Er riß sich aus seiner erfrorenen Haltung und kehrte in die Realität des Lebens zurück. Die Realität des Lebens bestand aus einer leeren staubigen Landstraße, aus einem Blechkasten auf Gummi, aus einer geschiedenen Bankiersgattin aus Frankfurt a. Main, schwarz, klug, trainiert, belesen, zarter japanischer Busen, harte englische Knochen, melancholisch und frech, je nach Bedarf, reich und sozial, je nach Bedarf, graues Schneiderkostüm aus irischer Wolle, darunter die bekannte Wäsche, vor der die Ladenschwungs und Journalisten bibberten. Ja, ja, das war die Realität des Lebens, eine staubige Staatsstraße, ein funkelnder Blechkasten, ein bißchen verjüngtes Fleisch mit Bibberwäsche.

»Ja, ja«, sagte er gelassen, »es tut mir leid, ich bitte um Verzeihung, aber ich muß aussteigen, ich muß mich verabschieden.«

»Bitte«, sagte sie lachend, »adieu«.

»Adieu«, erwiderte er ernsthaft. »Es muß sein, Schluß der Vorstellung, Abschied.«

»Winki – Winki!« Sie winkte ihm wie ein Baby zu.

»Besten Dank für die nette Gastfreundschaft im Auto und im Bett, Madame«.

»O bitte, gern geschehn, bitte sehr.«

»Es tut mir selber leid, daß es so plötzlich Schluß sein muß.«

»Sehr bedauerlich! Muß es denn so plötzlich sein?«

»Leider.«

»Hier auf offener Strecke?«

»Leider.«

Sie lachte hellauf. Man konnte den Zwischenfall nur komisch nehmen. Bei der Mittagsrast vor zwei Stunden hätte man über die Trennung sprechen können. Doch da war er Arm in Arm mit ihr durch die Straßen der alten Stadt Melk spaziert, als sollte der Bund ewig dauern. Auch am Abend in Wien könnte man sich trennen, vor der Nacht, nach der Nacht, wie es grad kommen würde, sie hatte keine Angst vor der Aussprache, sie war eine große Diskutiererin in Liebesdingen, sowohl beim Sichfinden wie beim Winki-Winki. Aber hier auf offener Strecke konnte sich's wirklich nur um einen Spaß handeln.

»Bitte«, sagte sie heiter, »ich kann Sie nicht mit Gewalt halten, Herr Doktor, adios.«

»Adios«.

Er öffnete den Schlag und schwang sich auf die Straße. Er schloß von der gelben Straße aus den Schlag wieder sorgfältig ab und rückte seine gelbe Mütze fest über's Ohr. Dann spähte er aufmerksam auf die Straße, erst nach rechts, dann nach links. Offenbar wußte er noch nicht, welche Marschrichtung er nehmen sollte.

»Na, wohin?« frug sie amüsiert. »Nach Osten oder nach Westen?« »Ich weiß es tatsächlich selbst noch nicht, gnädige Frau, ich glaube, Westen«. Er reichte ihr die Hand über den Schlag hinüber. »Nochmals besten Dank! Und gute Reise!« »Ebenfalls«. Sie schüttelte kameradschaftlich seine Hand. »Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite.«

Noch einmal spähte er aus, dann schien er sich für Westen entschlossen zu haben, für die Richtung, aus der sie soeben gekommen waren. Er winkte ihr freundlich zu, ein großes freies Winken aus der Ellenbeuge, und wandte sich und ging. »Einen Augenblick«, rief sie schrill, als er fünfzig Schritt marschiert war und dem Spaß noch immer kein Ende machte. »Eine Minute, Herr Doktor Terek, bitte, kommen Sie doch nochmal zurück!«

Er stoppte, überlegte eine Sekunde und schlenkerte wieder zurück. »Ja?« Er trat wieder an den Wagenschlag.

»Sie haben noch einen Koffer im Wagen, Herr Doktor Terek, wollen Sie ihn bitte herunterschnallen – oder soll ich Sie vielleicht bedienen?«

Da war er da, der böse Ton. Da waren sie da, die giftigen Augen. Da war das Gekeif doch noch gekommen, nachdem er schon geglaubt hatte, ohne große Auseinandersetzung auf und davon zu sein. Nur keine Widerrede jetzt. Keine Widerrede bei Weibergekeif. Keine Widerrede und kein Mitleid. Sie war ja völlig im Recht, wenn sie seine plötzliche Flucht aus dem lavendelblauen Zweisitzerchen als eine wüste Beleidigung nahm: doch was sollte ein langes Gerede zwischen einem Weib von Welt, von Leichenwelt, und einem Mann, der sich entschieden hatte, ins Leben zurückzufinden um jeden Preis der Welt.

»Können Sie meinen Koffer nicht als Andenken behalten, gnädige Frau«, frug er in mildem Ton.

»Nein! Ich habe keine Verwendung für Ihre schmutzige Wäsche!«

Er überlegte nicht lang. Er hatte schon vor einer halben Stunde die Entscheidung über sein Gepäck getroffen. Ein großer Handkoffer, ein vielgereister treuer alter Lederkerl, blauer Anzug, Wäsche, kölnisches Wasser und solches Zeug: herzlich schade drum, aber es ging um wichtigere Dinge heute.

»Bitte, schenken Sie ihn doch einem Bettler, er wird sich freun damit.«

»Nein! Nehmen Sie ihn herunter!«

»Oder werfen Sie ihn in die Donau?«

»Fällt mir nicht ein! Sofort herunter damit!«

»Nein, nein«, sagte er eigensinnig. »Ich nehme ihn nicht herunter. Stellen Sie ihn irgendwo in Wien ab, im Imperial vielleicht, ich hab das Bedürfnis, ohne Gepäck zu reisen, zu Fuß.«

»Und Sie geben sich nicht die Mühe, mir diese Frechheit näher zu erklären«?, gellte sie in hellem Zorn.

»Wieso erklären? Wieso Frechheit? Ist das Frechheit: zu Fuß marschieren zu wollen, auf dem heiligen Boden der Erde?«

»Heiliger Boden der Erde!« Seine milde Ironie machte sie vollends wütend. Sie begann ein richtiges Marktweibergekeif.

Er stand schweigend am Schlag und ließ es über sich ergehn. Er war völlig unbeteiligt. Wenn sie gegirrt und gegurrt hätte, wär er ebenso dagestanden. Da brach sie mitten im Satz ab, spuckte aus, warf den Motor an und fuhr davon.

Krach der Maschine, Tuten der Hupe, Staub der Straße, ein paar Tränen vielleicht noch aus den gekränkten Augen von Welt, und Benno Terek war allein.

 

Er schwang sich auf die Weinbergmauer und baumelte mit den Füßen hin und her. Allmählich legte sich der Gestank. Es kam wieder Ruhe in die angekeifte und angetutete Landschaft.

Er stellte sich auf die Weinbergmauer und schlug aus drei Meter Höhe das Wasser ab. Dabei versuchte er, sein Monogramm in den Staub der Straße zu schwenken, ein großes T und ein zierliches B, danach brachte er sich wieder in Form.

Er setzte sich wieder auf die Mauer nieder, um mit den Füßen hin und her zu baumeln und auf das Rauschen des alten Hunnenstroms zu lauschen.

An dieser Stelle war vor achthundert Jahren ein Spielmann vorbeigezogen, Spervogel genannt. Durch irgendeinen Zufall war eine Strophe jenes Spielmanns erhalten geblieben. Durch einen zweiten Zufall kannte Benno Terek diese Strophe. Längst schon waren die Brücken zu seinem alten Leben abgerissen gewesen, als er mit Katharina Gauß losgegondelt war, aber die Brücken zu seinem neuen Leben waren noch nirgendwo in Sicht gewesen, sinnlos war er dahingetrieben auf den Wellen des Weltwassers: da war ihm vor einer halben Stunde jene Strophe des Spielmanns Spervogel durch den Sinn gefallen. So war es gekommen, daß er sich so plötzlich entschieden hatte, zu Fuß zu marschieren und allein.

wurze des waldes
und erze des goldes
und elliu abgründe,
diu sind dir, hêrre, künde:
diu stent in dîner hende.
allez himmeleschez her
daz enmöhte dich niht volloben an ein ende.

Er ließ die alte Strophe wie eine Glocke von der Weinbergmauer herunterklingen. Er glaubte nicht mehr an das himmlische Heer des Spielmanns Spervogel, der Gott des Spielmanns Spervogel war für ihn tot und dahin: Aber die Würze des Waldes mußte doch noch zu finden sein?

Wurze des Waldes, Wurzeln des Waldes, Würze des Lebens, Würde des Lebens! Vorerst stand er auf einer staubigen Landstraße, weit weg von jenen ewigen Dingen. Ein Lastwagen mit Zementsäcken rasselte vorbei und hinterließ eine stinkige Ölspur. Er war belesen genug, um zu wissen, daß er dort angelangt war, wo die Erkenntnis und die Literatur seiner Zeit am Ende war: wenn die Helden der Romane genug Cocktail gecocktailt und genug Bibberwäsche angebibbert hatten, gingen sie auf die Landstraße und der Dichter schloß seinen Vortrag mit dem Verleger. Er hatte keine gedruckte Gebrauchsanweisung für seinen Marsch zur Wurze des Waldes zur Verfügung. Er wußte noch nicht einmal, ob er nach Osten marschieren sollte, von wo das Licht und die Religionen kamen, oder nach Westen, von wo die Blechkästen und die Bibberwäsche kamen. Vielleicht nach Norden, da er ein nordischer Typus war, rötlich blond, mit langen Beinen und breiter behaarter Brust? Oder nach Süden, grüne Feigen zu fressen und die Nächte im Freien zu verpennen? Wo war die Würze des Lebens wiederzufinden, inmitten des verpfuschten Großstädtertums?

Eins wußte er in der Mitte des Lebens: es war ein hundertjähriger Krieg ausgebrochen zwischen den Menschen der Stadt und den Menschen von der Wurze des Waldes, ein tausendjähriger Krieg vielleicht. Wer flunkerte und sich nicht entschied, war ausgestrichen aus dem Buch des Lebens. Besser ein lebendiger Tod unter freiem Himmel als ein totes Leben in der Stadt!

Er zählte sein Geld. Fünfhundert österreichische Schilling, siebenhundert deutsche Mark, zehn englische Pfund. Das gab vorerst Freiheit auf lange Sicht. Und sein grünlicher Sportanzug hielt alle Strapazen aus, mindestens ein Jahr lang. Und sein Paß war in Ordnung. Mit den kleinen Waffen des Alltags war er versehn. Was aber war seine große Waffe inmitten der gefährlichen Leichenwelt seiner Zeit? Gewiß lauerte die schon an der nächsten Ecke auf ihn, um ihn wieder einzufangen? Denn rachsüchtig sind die Leichen gegen alles Lebendige, rachsüchtig und neidisch und voller Tricks. Man brauchte eine große Waffe gegen sie. Der Spielmann Spervogel, als er diese Stromstraße gezogen war, hatte seinen Gott und alles himmlische Heer, eine gewaltige Waffe, und hatte seinen Lehensherrn gehabt, für den er sang und der ihn stützte mit Speer und Schild: was war davon geblieben?

Er schwang sich von der Mauer und marschierte los, westwärts. Katharina Gauß mochte wohl schon dreißig Kilometer ostwärts gefahren sein, ihre Tränen waren wohl schon versiegt, getrocknet, abgepudert. Er brach in lautes Lachen aus bei dem Gedanken an seinen schnellen Abschied.

Dies Lachen war wohl seine einzige Waffe vorerst? Also losmarschiert, lachend? Vielleicht wurde es ein freies großes Lachen, kein Gekicher von Welt? Erstmal war es halb und halb.

 

Er war ein echter Großstädter, geboren in Berlin und aufgewachsen in Berlin. Mit fünf Jahren hatte er Konditor werden wollen, mit sieben Jahren Lokomotivführer, mit elf Jahren Kapitän zur See. Mit fünfzehn Jahren hatte er die Ansicht vertreten, daß nicht nur seine beiden älteren Schwestern, sondern alle Weiber der Welt minderwertige Geschöpfe wären. Trotzdem hatte er sich mit siebzehn Jahren heimlich verlobt. Es war eine Lavendelcousine gewesen, welche die gemeinsame Familie Terek und Fabian genau so verachtet und gehaßt hatte wie er selbst. Doch es war nur bis zum Brustleibchen gekommen. Sein Vater, ein preußischer Richter aus alter preußischer Richterfamilie, war damals schon tot gewesen. Ein großes protestantisches Begräbnis mit vielen Zylinderhüten und vielen Regenschirmen, das war die einzige klare Erinnerung an ihn. Spreu im Wind!

Seine Mutter hatte das Vermögen, das ziemlich groß war, jahrzehntelang straff zusammengehalten. Sie war in ihrer Jugend sehr hübsch und sehr klug gewesen. Noch mit Siebzig war sie – das höchste Lob für eine Matrone – sehr appetitlich anzusehn. Lange Zeit war ihr einziger Sohn ganz und gar unter ihrem Einfluß gestanden. Sie vertrat die Idee, daß es weder einen Gott noch eine höhere Gerechtigkeit gäbe, daß man sich aber streng an einen Gott und an eine höhere Gerechtigkeit zu halten habe, auf alle Fälle und ›als ob‹. Nach dem Krieg war er ihren klugen Lebensregeln entglitten. Er hatte sie seinen verheirateten Schwestern und dem Großmama-Geschäft überlassen. Spreu im Wind!

Aus Zufall war er Naturwissenschaftler geworden. Er war ein guter Musiker, doch die Vernunft seiner Mutter hatte ihm die Geige aus der Hand geschlagen. So hatte er Physik studiert. Dann waren vier Jahre Weltkrieg auch über ihn gekommen, dazu ein Extra-Jahr in englischer Gefangenschaft. Am linken Oberarm trug er eine große bläuliche Narbe von einer Maschinengewehrkugel. Deutlich war der Einschuß und der Ausschuß zu sehn und die strahlenförmigen Schnitte gegen Eiterung und Gasphlegmon. Zuerst war die Narbe immer enger und enger zusammengeschrumpft, in den letzten Jahren war sie stillgestanden, blau und zerzackt. Durch die Familie seiner Mutter war er im physikalischen Laboratorium eines wirtschaftlich-technischen Großbetriebes untergekommen und schnell ein paar Stufen auf der Erfolgsleiter der großen Welt emporgekrabbelt. Mit sechs Frauen insgesamt hatte er sich vereint, Katharina Gauß inbegriffen, es war nicht viel in jener Epoche der freigelassenen Weiber. Bis vor einem Jahr hatte er noch Schubertquartette gespielt. Bis vor drei Monaten hatte er noch Tennis trainiert. Oft schämte er sich bis auf den Grund seiner Seele, ein Deutscher zu sein. Oft war er stolz vor allen Völkern der Erde, ein Deutscher zu sein. Allen seinen Freunden und Bekannten ging es genau so. Allerwelt ging es so. Spreu im Wind, Spreu im Wind, Spreu im Wind.

wurze des waldes
und erze des goldes
und elliu abgründe,
diu sind dir, hêrre, künde:
diu stent in dîner hende.

Nach zwei Stunden kam er durch eine kleine Stadt, Krems in der Wachau, es dämmerte schon zur Nacht.

 

Zuerst kam eine städtische Anlage mit Bänken, Sandhaufen, Kinderwagen. In einer grünen Blechbude gab's Limonaden und Lakritzen. Gegenüber lag das neue städtische Krankenhaus. Die Besuchszeit war von drei bis sechs Uhr nachmittags. Eine Dame von Vierzig war bis auf die Stiefeletten sehr modisch angezogen. Neben ihr trippelte ein Herr, von dem man nicht sagen konnte, ob er ein alter Aristokrat war oder der alte Lakai eines alten Aristokraten. Er trug einen langen schwarzen Rock. Plötzlich beugte er sich ans Ohr der Dame und flüsterte ihr etwas zu. Sie blieb stehn und schrie auf vor Lachen. Es war der beste Witz, den sie in ihrem ganzen Leben gehört hatte.

Dann kamen ein paar Peripheriestraßen, dann kam der Marktplatz. Eine Siebzehnjährige hatte holde Augensterne, doch der Busen war schon zu fett und verkündete eine schlimme Zukunft. Es gab viele Kirchen und viele Zahnateliers. Kommet zu mir, die Ihr mühselig und beladen seid! Aber die plombierten Zähne taugten nichts. Wer Geld hatte, konnte sich die Zähne beim amerikanischen Dentisten à l'americaine mit Gold überkappen lassen. Doch auch dann faulten sie weiter unter der glänzenden Krone. Kirchen und Zahnateliers, Zahnateliers und Kirchen, und die Zähne faulten langsam weiter unter der goldenen Krone. Endlich kam die Hauptstraße, die Geschäftsstraße, ewig lang.

Bibberwäsche, Brot, Wurstwaren, Fahrräder, Haut- und Geschlechtskrankheiten, Bücher und Zeitungen, Sundheimers Warenhaus für alles, Hotel, Apotheke, Brot, Fleisch, Radio-Zubehör, Hüte, Weine, Frauenkrankheiten, bodenständige Heimatkunst, Schweineschmalz, Rosentals Pariser Chic, Motorräder, Hotel, Knabenkleidung, Brot, Bibberwäsche, Führer durch die Perle der Wachau, Autos, Hebamme, Kaffee, Teigwaren, englische Herrenmoden, Brot, Schuhe, Musikalien, Wurstwaren.

Dann kam ein altes Tor, eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges, ein berühmtes Bauwerk aus der Vergangenheit. Mit Schulkreide war neben den beschmutzten Torbogen von Kinderhand geschrieben: »Was der Bäcker backt – was der Fleischer hackt – das wird hier unverpackt – wieder ausgekackt!!!« Dann kam noch ein kleiner Vorort, noch ein paar Kirchen, noch ein paar Zahnateliers, dann war die kleine Stadt zu Ende und die Landstraße tat sich wieder auf.

und elliu abgründe
diu sind dir, hêrre, künde,
diu stent in dîner hende:
allez himmeleschez hêr
daz enmöhte dich niht volloben an ein ende.

Eine helle Nacht war über die Erde gekommen. Ein milder Mond beleuchtete das dunstige Tal des alten Hunnenstroms. Er marschierte noch zwei Stunden und kam zum Dorf Dürnstein. Dort hatte er bei der Durchfahrt mit Katharina Gauß eine alte Ruine vorbeiflitzen sehn, dort wollte er schlafen. In der alten Ruine wollte er schlafen, im Freien, eine blödsinnige romantische Idee, aber da er sich's in den Kopf gesetzt hatte, führte er es durch. Auf einem kleinen Pfad stieg er bergwärts, fand die Ruine und fand zwischen abgebrochenen Quadermauern eine kleine Nische, hoch überm Tal. Hier konnte er sich verkriechen wie ein angeschossner Fuchs und schlafen.

 

Es hieß, daß auf dieser Burg Richard Löwenherz in Gefangenschaft gehalten worden war, hier war er von seinen Feinden aufgegriffen und versteckt worden. Sein Sänger Blondel war unter der Burg vorübergeritten, auf der Suche nach seinem verschollenen Herrn, und hatte das Versteck entdeckt. An einem Spottvers aus den Tagen der Freiheit hatten sie sich erkannt. Schon vor vielen Verliesen hatte Blondel seinen Trick versucht, endlich war es geglückt. Er hatte im Tal die erste Strophe jenes Spottlieds angeschlagen, mit heller Stimme, und Richard Löwenherz hatte aus diesen Quadermauern heraus mit der zweiten Strophe geantwortet, mit verschleiertem Baß. So hatten sie sich erkannt. So war die Befreiung gekommen. Es war die Zeit der Kreuzzüge gewesen, die Zeit des heiligen Geistes, die Zeit der Löwenherzen und der Minne.

Benno Terek träumte nicht von Geklirr und Minne. Er saß in einer Schulbank, die ihm viel zu eng und niedrig war. Um ihn herum saßen etwa fünfzig kleine Bengelchen, zu denen diese Bänke paßten. Er selbst saß als Einziger eingezwängt mit hohen Knien, ein ausgewachsener Herr im Sieben-Millimeter-Bart. Sämtliche Prüfungen seines Lebens waren ungültig, er mußte von vorn anfangen. Aber er hatte alles vergessen. Nicht einmal eine Gleichung mit einer einzigen Unbekannten konnte er lösen. Die ganze Klasse brach in Gelächter aus, als er behauptete, Pipin der Kleine wäre protestantisch gewesen. »Natürlich jüdisch«, schrie er schnell, aber es war schon zu spät. Der Lehrer im grauen Lüsterjäckchen hatte bereits gemerkt, daß er verbotenen Umgang mit Frauenspersonen gepflegt hatte; danach war es fast unmöglich, das Klassenziel zu erreichen. Und wenn es ihm auch gelang, das Jahrespensum dieser niedrigen Klasse nachzuholen? Es kamen noch viele Klassen, noch viele Prüfungen, ein Ozean von Zahlen und Daten wartete auf ihn.

Neben ihm saß ein kleiner Musterknabe, der auf jede Frage die richtige Antwort herunterrasselte, ein wunderbarer Verstand, ein eingeseiftes Scheißkerlchen, das machte sich den Spaß, ihm falsch vorzusagen. Trotzdem die Schufterei klar war, sagte er alles nach, was er von dem Geflüster auffangen konnte. So kam es, daß er auf die Frage nach dem Entdecker Amerikas mit »Evangelist Johannes!« antwortete und sich dann schnell mit »Doktor Martin Luther« verbesserte. Ein fünfzigfaches Gewieher war das Echo. Selbst der Professor grinste, obwohl er bisher keine Miene verzogen hatte.

Ein Ozean von Zahlen, ein Gaurisankar von Namen, niemals konnte man das Klassenziel erreichen! Aber es gab kein andres Ziel auf der Menschenwelt wie dieses Klassenziel, und dahinter taten sich immer neue Klassenziele auf, das Menschenleben bestand aus einem Spiegelkabinett von Klassenzielen. Und loszuheulen zwischen den kleinen Jungen, war ausgeschlossen. Nur das nicht! Der Musterknabe neben ihm wartete schon auf dieses berühmte Geheul, er sollte vergebens warten! Eher Mord und Totschlag! Trotzdem bestand keine hundertprozentige Garantie, daß es nicht doch noch zum Geheul kommen könnte.

Der Lehrer rief ihn an die Tafel. Er sollte ein Gedicht aufsagen. Aber er hatte sämtliche Gedichte der Welt vergessen. Irgend ein Gedicht? »Nein, Exzellenz, ich bedaure aufs gewichtigste«. Was heißt denn das? »Aufs-ge-wicht-ig-ste!« Aber irgend ein Gedicht weiß doch jedes Baby? »Ich-be-daure-aufs-gewich-tig-ste!!!« Die Klasse war totenstill, der Lehrer hielt die Augen wie ein Leichnam geschlossen, da sagte er schließlich mit letzter Kraftanstrengung und zitternd vor Kälte: »Was der liebe Gott backt, was der liebe Gott hackt, das wird von den Menschen unverpackt –« Weiter kam er nicht. Die ganze Klasse wälzte sich vor Lachen, unter den Bänken und auf den Pulten wälzten sie sich, der Lehrer riß sich die Kleider vom Leib, schwang sich nackt auf sein Motorrad, ergriff die dicke schwarzlederne Bibel, die auf dem Pult lag, und fuhr langsam auf ihn zu, immer näher, mit der rechten Hand die Bibel zum Schlag gegen sein Gesicht erhoben, mit der linken Hand Gas gebend und schrecklich hupend. Aber bevor der Schlag kam, heulte er los und wachte auf.

Der Mond war am Untergehn, sein letzter Schummerglanz lag auf dem alten Strom im Tal. Ein Schlepper mit sieben schwarzen Riesenkähnen zog stromauf. Man hörte die Maschine keuchen, wie eine alte Dienstmagd schnaufte sie. Es war Übergewicht, offenbar, trotzdem war das Geschnaufe übertrieben, wie eine hysterische Klage klang es durch die Nacht. Eine zwecklose Klage, die Kähne mußten an ihren Bestimmungsort gebracht werden, da gab's kein Halt und kein Zurück. Meter für Meter ging's vorwärts. Langsam zog der Trauerzug um die Kurve, die der Strom zwischen den waldigen Bergen schlug.

Er lief von der Burg der Löwenherzen und der Minne ein Stück talwärts. Er kam zu einer Bank mit der Aufschrift »Verschönerungsverein Dürnstein«. Er setzte sich und glotzte zum Strom hinab. Was war passiert, was war zerronnen, woher die Trauer und woher die Angst?

Nichts. Ein kleiner Rechenfehler, weiter nichts. Anstatt ins Dorf zu gehn, ins Gasthaus, ins Bett, anstatt sich gründlich auszuschlafen von den Strapazen seines ersten Freiheitstages, anstatt das Ziel der neuen Wanderschaft mit ausgeruhtem Kopf und frischen Nerven zu erforschen, war er, wie eine Amerikanerin im Mondenschein, hineingestolpert in die erste beste Dreckruine! Er spuckte aus und lachte auf. Es fehlten nur noch ein paar Ansichtskarten, an den Herrn Chef, an die Mama, an Tante »Ich-habs-gleich-gesagt«.

Er stieg ins Dorf und suchte das Hotel.

Das Hotel Richard Löwenherz war längst geschlossen. Hinterm Tor kläffte ein kleiner Pinscher und zerplatzte fast vor Wut über den Verbrecher, der auf die Klinke drückte. Es hatte keinen Sinn mehr, zu Bett zu gehn. Eine steinerne Stiege führte zum Ufer des Stroms, dort war die Dämmerung gut zu erwarten.

Aus nächster Nähe sah sich das Gewässer anders an. Vom Berg aus mild und eingelullt, ein Kind der Ewigkeit: vom Ufer aus ein böser alter Kerl voll strudelnden Todes. Vom Berg aus dunkle Kurven und Musik: hier gelbe Wirbel und der drängende Krach. Vom Berg aus sah man eine weltenalte Stromesseele strömen: hier roch man den vergänglichen Dunst, das Wassergas, das Gas der mitgerissenen Pflanzen und verwesten Fische. Das eine war ein Trug, das andre war ein Trug, jedoch das eine und das andre war in eins der Strom.

Im ersten Licht des Tags war das schwere Drahtseil der Rollfähre zu erkennen. Drüben schlief ein Dorf und hier schlief ein Dorf. Drüben ging's zu den Alpen, hier ging's über die granitnen Berge zum Böhmerwald. Ein langer Steg führte über Altwasser zum Anlegeplatz der Rollfähre. Dort stand am Geländer ein Mann, ein Arbeiter oder ein Weinbauer, der erste Passagier der Fähre, ein einsames Menschentier zwischen den dämmernden Waldbergen. Benno Terek schritt über den wippenden Steg auf das andre Menschentier zu. Man sollte sich doch Gutenmorgen sagen, da man auf die gleiche Sonne wartete.

Es war kein Arbeiter, kein Weinbauer, kein Menschentier. Es war ein Zeitgenosse, ein Großstädter, Sportanzug, Brille, Handkoffer, schmächtige Figur, blasses nacktes Gesicht. Sein Gutenmorgen klang zag, er schien sich zu fürchten. Erst als er durch die scharfen Gläser hindurch erkannt hatte, daß auch der Ankömmling kein Menschentier war, sondern ein Zeitgenosse, ein Großstädter wie er selbst, verlor sich seine Scheu. »Ich warte auf das Floß«, meldete er mit Stolz und schätzte dabei Benno Tereks Hose und Jacke ab, »warten Sie auch auf das Floß?« Und da seine Schätzung günstig ausgefallen war, tippte er an seine Mütze und verbeugte sich kurz und sagte, während der Hunnenstrom im ersten Tagwind stärker rauschte: »Möbius«.

Ein Journalist, der auf ein Floß wartete. Seine Zeitung wollte eine Floßfahrt bringen. Denn mit den Flößen ging's wie mit den Droschkengäulen: sie starben aus, und das Publikum liebte die Berichte über die aussterbenden Dinge. Das gab den Leuten Selbstbewußtsein, weil sie selbst noch nicht ausgestorben waren. Möbius hatte schon über die aussterbenden Indianer geschrieben und über die aussterbenden Dichter, über die aussterbenden Elefanten und über die aussterbenden Unterröcke, über die aussterbenden Pudel und über die aussterbende eheliche Treue, über die aussterbenden Fußgänger, Petroleumlampen. Fettwaden, Bisamratten, Religionen. Jetzt war die aussterbende Flößerei an der Reihe. Der nächste Floßhafen lag zehn Kilometer stromaufwärts, dort hatte er gestern eines der letzten lebenden Flöße ausfindig gemacht und mit dem Anführer der Floßknechte seine Verabredung getroffen. In wenigen Minuten war das Floß zu erwarten und holte ihn über. Es war sehr interessant und kostete außer einem kleinen Trinkgeld an die guten alten Aussterbenden überhaupt nichts, Anschluß herzlich willkommen.

Benno Terek beschloß, sich anzuschließen. Weiter, weiter, fort mit der ersten Gelegenheit, die Landschaft der toten alten Löwenherzen nahm seine städterne Seele nicht an! Weiter, weiter, in würzigere Länder, in tiefere Täler.

Da bog das Floß um die Kurve des Stroms. Sieben Flößer standen an den Steuerbalken und schrien im Chor: »Hong-Pong-Ruck! Hong-Pong-Ruck!« Möbius schrie: »Hier-ich-bitte! Hier-ich-bitte!« Ein kleiner Kahn löste sich vom Floß, flitzte voraus und kam zum Anlegeplatz der Rollfähre. Möbius sprang über, Benno Terek sprang nach, sie mußten in die Kniebeuge gehn und Balance halten, eine wacklige Expedition, plötzlich waren sie mitten in der Strömung, das Floß war schon an ihnen vorbeigerauscht, wie ein Tobsüchtiger ruderte der alte Knecht im Kahn hinterher, endlich schwammen sie neben den roten Baumstämmen aus der Steiermark und wurden von ein paar festen Armen hinaufgezerrt.

Sieben Floßknechte, ein Anführer und ein Koch. Bis zum Abend war kein Halt mehr. Der nächste Floßhafen lag östlich von Wien. Morgen ging's ins welsche Land. In den Kurven standen sie an den Steuerbalken und schrien: »Hong-Pong-Ruck!« In der Graden war Stille. In einer kleinen Bretterbude war ein Strohlager, ein kleiner Herd, ein Weinfaß. Möbius machte sofort Notizen. Benno Terek kaufte bei dem alten Koch ein Frühstück. Er bekam Rindfleisch, Brot, Most. Vierzig Jahre flößte dieser alte Küchenchef auf dem Strom, jetzt starb er zu Möbius' Lust langsam aus.

Gegen Mittag begann es langweilig zu werden. Möbius schlief mit verrutschter Brille und offenem Goldplombenrachen auf dem Stroh. Manchmal fuhr er jäh hoch und sagte: »Und die Oper? Stirbt aus! Genau wie die Hosenträger. Und die Frauenbewegung ist ja auch schon wieder am Aussterben!« Benno Terek sah mit leeren Augen die Landschaft vorübergleiten. Im Tempo des Stroms zog die Welt vorüber, aber wenn man statt ans Ufer in den hohen Himmel sah, stand die Welt still. Man sprang am Bug ins Wasser und trieb mit dem Floß, man sprang am Kiel ins Wasser und trieb mit dem Floß, alles ging im Tempo des Stroms, die roten Stämme aus der Steiermark, der bleiche Leib des städtischen Schwimmers, Möbius' Zigarettenstummeln und Zeitungspapier. Nein, auch der strömende Strom nahm seine kranke Stadtseele nicht an. Gegen Abend ließ er sich an einem Brückenpfeiler in Wien ans Land rudern. Möbius adieu, Löwenherzen adieu, Hunnenstrom adieu.

Und das Teuflische war, daß er sich wohlig geborgen fühlte, als er plötzlich wieder auf Asphalt stand. Zeitungen wurden ausgerufen, Autos hupten, Kirchenglocken läuteten, Hüften wippten, weibliche und männliche, tausend bekannte Plakate und tausend bekannte Gesichter begrüßten ihn. Er konnte an seinen freundlichen Chef nach Berlin telegraphieren und seine industriellen Beziehungen wieder aufnehmen. Er konnte an seine Mutter telegraphieren: »bin gesund stop will wieder geld verdienen stop benno«. Er konnte ins Imperial stiefeln, zu Katharina Gauß, um nach einer kleinen Szene wieder zu versinken im chemischen Parfüm ihres weißen Betts. Hier war seine Heimat, in der städternen Stadt.

Er nahm ein Taxi und fuhr zum Bahnhof. Da er müde war und ohne Lachen, fuhr er erster Klasse. Am Morgen war er mitten in den Alpen. In einem Hochtal, das zu fremden Wäldern, fremden Almen, fremden Gletschern zog, lag frischer Schnee.

Er öffnete das Fenster und roch eine andre Luft. Bei der nächsten Station stolperte er aus dem schlaftrunknen stinkenden Zug, obwohl sein Billet noch viel weiter lief. Auf dem Stationsgebäude stand: »Bruck-Fusch«. Der Zugführer schrie: »Bruck-Fusch-Bruck-Fusch-Bruck-Fusch«, dann fuhr der Zug wieder ab. Aus dem Hochtal kam ein junger wunderbarer Wind, Wurze des Waldes! Was ausstarb, zu Möbius; was leben wollte, in dieses Tal! Beherzt und beschwingt marschierte er los.


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