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In diesem Jahr lagen zwanzig Tage zwischen dem letzten Heu und dem ersten Grummet. Das gab zwanzig Ferientage für die Mähder, zwanzig Zaubertage für die Liebenden, zwanzig mittelschwere Arbeitstage zur Anlage der steinernen Pfade im Staudengarten. Diese Anlage wurde nicht zum puren Luxus geschaffen. Seit ihrer verunglückten Expedition in die Stadt war Lea tiefer in der Glonn verwurzelt als zuvor und im Lauf des Winters war sie schlüssig geworden, ihren Betrieb umzustellen. Der gemischte Kleinbetrieb wurde von Jahr zu Jahr weniger rentabel. Schon ihre Mutter hatte in den letzten Jahren vom Vermögen zugebuttert. Ein bißchen Fohlenzucht und Kälberzucht fürs Bargeld, die Milchwirtschaft und die drei Schweine und die fünfzig Hühner für den eigenen Magen, es sprang nichts mehr dabei heraus. Man mußte sich spezialisieren, auch in der Glonn, die städterne Zwischenzeit der Menschheit drang vor und drang bis ins verhüllteste Tal, da half kein starres Gegenan. Die Dörfler und die Leut vom Seegelände lebten schon seit langer Zeit von Fremdenindustrie und waren Städter geworden, Vorstädter, schlimmere Städter als die städternen Städter. Die Bauern in der Einöd gerieten in die Defensive und sackten ab, wenn sie mit ihren alten Bräuchen sich gegen Stadt und Städter stemmen wollten. Der alte Krallenpeter, der Bruder von Leas Knecht, hatte bereits den halben Krallenwald verholzt, für Steuern und für modische Maschinen und für die Seidenstrümpfe seiner Enkelinnen. Vom Sennenhof ging Jahr für Jahr ein andres Tagwerk Wiese an den Makler, Bauplätze, Wochenendhäuser, Spekulationsterrain. Mit Fohlenzucht war nichts mehr zu verdienen, das dreißigjährige Tier Auto hatte das dreißigtausendjährige Tier Pferd aufgefressen, da half kein Wiehern und kein Stampfen. Die Rinderzucht war eine schöne Zucht, ein preisgekrönter Glonner Stier war eine schönere Sache in der Welt als eine preisgekrönte amerikanische Jungfrau, doch das war eine alte männliche Zucht, nichts für ein junges Weib. So kam als Spezialität des Hersehofs nur Hühnerzucht und Pflanzenzucht in engere Wahl. Am schnellsten eingerichtet und am rentabelsten war eine Hühnerfarm in großem Stil. Drei gute Stämme waren da, ein riesiger Auslauf war bereits gezäunt, es fehlten nur noch Brutgestelle und Ofen und ein paar Hähne von besonderer Rasse, damit aus tausend Hühnerhinterern die Eier rutschten wie aus dem Kapital der Zins und Zinseszins. Doch Lea haßte das Gepiepse und die Kükenwirtschaft, sie hatte sich für Pflanzenzucht entschlossen. Sie wollte harte Sorten perennierender Blütenstauden ziehn, das war ihr neuer Wirtschaftsplan. Sie stand bereits in Unterhandlung mit einem großen Staudenzüchter aus dem Flachland, der sollte ihr die Mutterpflanzen schicken, die für die Gärten im Gebirg verhärtet werden sollten. Aus China und aus Südamerika, aus Afrika und aus der Südsee, von überallher kam zu jenem Züchter das braune und das schwarze Wurzelwunder, aus dem die ewigen Formen und die ewigen Farben dieser Erde quollen, und was verhärtet werden mußte, sollte er Lea schicken, die pflanzte es im rauhen Glonner Boden ein und pflanzte es fort und gab es an die Kundschaft ab. Filiale für Verhärtung edler Blütenstauden, das war ihr Plan, ein Werk auf lange Sicht, jedoch ein Werk voll Spaß und Sinn. Drei Tagwerk Wiese zwischen Haus und Waldrand waren schon für diese Unternehmung abgesteckt. Im Herbst begann die Zufuhr fremder Erde und fremden Mistes. Das kostete Geld, das kostete dem Hersehof drei andre Tagwerk Wiesen in der Ebene, die gingen an den Makler, die wurden Wochenendhäuser-Spekulationsterrain. Dann sollte im September der berühmte Züchter selber kommen, der künftige Kompagnon, um die Filiale seiner harten Sorten zu begucken. So mußte bis September der alte Stamm an winterharten Glonner Stauden in bestem Schwung sein. Die Zucht stand gut, zwei Meter hoch der Rittersporn, zwei Meter hoch die Malven, die Dahlien dicht und trunken wie ein Urwald, es fehlten nur, um das Gesamtbild für die wichtige Prüfung glanzvoll einzurahmen, die steinernen Pfade zwischen den Rabatten. Die waren Benno Tereks Werk in jenen zwanzig Tagen zwischen Heu und Grummet.
Zweihundert Meter überm Tal lag eine tiefe Schlucht, der »Kühle Graben«, wo die Glonn entsprang. Dort gab's im Winter Schneerutsch und Gestäub, im Frühjahr Steinrutsch und Gepolter, im Sommer, wenn das Bett der Glonn vertrocknet war, viel plattige Steine, viel glattgeschliffenes, glattgewaschenes Trümmerzeug. Von dorther mußte er sein Material heruntertransportieren. Die obere Strecke konnte nicht befahren werden: da mußte er die wüsten Kerle auf den Buckel laden und Kerl für Kerl hinunterschleppen zum Sammellager auf dem halben Weg. Von da aus ging es mit dem Karren zum Hauptdepot am Gartentor, ein Sprungtanz, bremsend hinterm vollen Karren her wie hinter einem wildgewordenen Gaul. Dann kippte er am Gartentor den Karren und sonderte die Steine. Dann schlug er sie mit einem langen Hammer zu. Beim Graben und Verpassen half Lea selber mit, das war nur noch ein Spaß. Sie jätete und hob die Nischen aus, er schleppte bei und setzte ein, sie schüttete Erde nach und trampelte die Fugen glatt. So ging's dahin, rechts Phlox und Kirchenlilien und Paeonia-rubra-Daniela-Oldenkott, links Tränende Herzen und Japanische Silberkerzen, rechts Dahlie-Mevrouw-Wurfbein und Delphinium-Kaethe-Mohr, links Schleierkraut, bulgarische Wolfsmilch, Steinbrech, Sonnenhut und Mohn.
Am Abend saß er in der Küche, bei Nana und dem Krallenpeter, dem eingesessenen kinderlosen Gesinde-Ehepaar des Hersehofs. Noch war er Knecht, noch war der Bund und die Verzauberung geheim. Doch das war nur ein schlechter Witz mit den zwei alten Leuten, sie hatten längst gemerkt, was los war. Schon seit dem zweiten Abend wußten sie, daß er ein städtischer Herr auf Reisen war und daß er nur zum Sport den Dienst als Sommerknecht versah. Und wenige Tage später wußten sie, daß seine Bettstatt in der kleinen Rumpelkammer auf der Tenne nicht seine einzige Bettstatt war im Hersehof. Die alten Leute hatten feine Ohren und einen sachten Schlaf. Von ihrer Stube unterm Dach aus konnten sie sehr deutlich unterscheiden, was für Geräusche durch das nächtliche Gebäude geisterten: Geklirr vom Stall, Geknabber von den Mäusen, woher der Wind kam, wo ein kaputter Fensterbalken schlug, und wenn die Tür der Tennenkammer ging und kurz darauf die Tür zum Zimmer ihrer jungen Herrin. Jedoch sie sprachen nicht davon und ließen sich's nicht merken. »Gut Nacht«, sagten sie um neun Uhr, wenn Benno Terek nach der Abendzeitung griff. »Gute Ruh«, sagte Benno Terek und nickte ihnen freundlich zu. Er wollte sich noch zehn Minuten an den letzten technischen Katastrophen und an den letzten Selbstmordepidemien ergötzen, dann schwang auch er sich in die Klappe. Schlaf gut, Herr Peter, träume süß, Frau Nana, gute Ruh.
Kurz danach hörte er im ersten Stock des Hauses jemand in die Badestube huschen. Er hörte, wie die Dusche rauschte. Dann kam ein leiser Singsang beim Frottieren. Dann war es wieder still. Er wartete noch zehn Minuten, eh er zur Tenne stieg, in seine Rumpelkammer. Dort kleidete er sich aus und wusch sich, dann schlich er seinen Weg.
Zuerst die Tennentür, die knarrte fürchterlich, er durfte nicht vergessen, sie morgen heimlich einzuölen. Dann kam der Gang, durchs vordere Verandafenster drang das schummerige Licht des Glonner Monds, vom Stall her kam das leise Schaben einer Kuh, die aufgewacht war und den Hals am Balken rieb. Die letzte Tür zur linken war's, ganz leise ging sie auf, ganz leise ging sie zu. Ein wunderbarer Duft von altem Holz und frischem Leinen war das Erste. Zu sehn war nichts, die kleinen Fenster waren dicht verhängt, die Augen mußten sich zuerst gewöhnen, bevor sie Sicht bekamen.
Links stand ein schwarzer Schrank, starr stand er an der Wand. Daneben stand ein kleiner Ledersessel, darüber hing ein Kleid, ein weißes Hemd und eine weiße Hose, zwei Strümpfe und die Strapsen. Rechts, zwischen den zwei Fenstern, stand ein kleiner Mahagonitisch, darauf zwei hölzerne Kerzenleuchter und einige silberne und kristallne Sächelchen. Darüber goldgerahmt ein runder Spiegel, bayrisches Barock. Das war das ganze Mobiliar. Und gegenüber von der Tür das Bett, flach, niedrig, still, kein Atmen drin, gebannt, verwunschen.
Als die Steinwege fertig waren, spendierte Lea zwei Flaschen Sekt. Auch Nana bekam ein Glas, auch der Krallenpeter bekam ein Glas. Zu viert standen die Herseleute zwischen den Stauden und tranken Sekt am hellen Tag. Es war eine Art Verlobung.
Der Krallenpeter hielt die Rede: »Also«, sagte er, rülpste das Schweinerne vom Mittagessen von sich und roch an dem perlenden Teufelstrank, »indem daß ich ein ausgefranster alter Loder bin mit eingewachsenen Zehennägeln und indem daß meine Nana ein zahnlucketes altes Weib ist und immer dürrer wird von Tag zu Tag und so verstehn wir Zwei nichts mehr vom jungen Menschengeschlecht. Und indem daß die Tennentür nun endlich mal geschmiert werden muß und indem daß sie nämlich arg schiach knarrt in der Nacht und so müssen wir jetzt aufs Wohl vom jungen Menschengeschlecht dieses Springerlzeug saufen. Wir leben hoch, hoch, hoch!«
Nana rief entsetzt: »Der is frech!«, und trank los. Aber als sie den Mund vollgeschüttet hatte, verdrehte sie die Augen und sperrte den Schluckapparat ab und spie den Sekt wieder aus.
»Alte Geisen sind heikel«, sagte ihr Gatte zu ihrer Entschuldigung und trank mutig sein Glas leer. Ihm schmeckte es ausgezeichnet. Lea kredenzte ihm noch ein zweites Glas, das war für die Gicht in den Händen, und noch ein drittes Glas, das war für den Reißmatthias im Rücken, dann war die erste Flasche leer.
Die zweite Flasche trank das junge Menschengeschlecht allein, auf der Mooswiese, unterm Christus. Der stand noch immer auf seinem Platz, gut überwintert trotz des abgeworfenen Regendachs. Zum erstenmal seit ihrem Picknick mit Terese Nüll und Quirin Linsinger saß Lea wieder zu den Füßen des gemarterten Gottes.
Benno Terek hörte nur mit halbem Ohr auf ihre Erzählung von Terese Nüll und Quirin Linsinger. Es interessierte ihn nicht, daß diese beiden Menschen sich verlobt hatten. Es interessierte ihn auch nicht, daß Terese Nüll täglich zwei Briefe an ihren forschen Bräutigam schrieb. Nicht einmal das interessierte ihn, daß der Fuchszüchter und Schispringer einstmals Leas Verlobter gewesen war … Hoch sprang Egon und schrie: »Was, Du hast mich betrogen, nicht ich habe Dich zuerst befleckt?« Mit niedergeschlagenen Kalbsaugen schüttelte Marion die Dauerwellen. »Dann bitte«, sagte Egon gelassen, »gestatten Sie, daß ich Gas gebe, ich muß die heiße Stirn im Hundertzwanzigkilometertempo kühlen, darüber kommt kein Sportsmann weg!«, und gab Gas … Nein, er spürte keine Eifersucht auf den Herrn, der sich, als Lea hier zuletzt gesessen war, geweigert hatte, das morsche Kruzifix zu stürzen. Es ging um andere Dinge zwischen ihm und ihr.
»Umgeworfen ist's leicht«, sagte er, als sie den Bericht von ihrem letzten Picknick unterm Christus beendet hatte. Er trat prüfend an das Kreuz, umspannte es und hebelte es hin und her. Dann vergewisserte er sich, daß es nicht auf Lea und die Sektgläser stürzen konnte, und sprang's mit einem mächtigen Satz an. Beim vierten Anprall krachte es um, bergwärts, und lag im Moos. Der Stumpf blieb stehen, drei Handbreit überm Boden, verwurmt und faul.
»Umgeworfen ist's leicht«, sagte er und setzte sich wieder neben sie, »aber was dann?«
Sie hatte ihm zugeschaut, ohne sich zu rühren. Umgeworfen war's schnell, aber was dann? Was hieß das? Was quälte ihn seit ein paar Tagen? Mit melancholischen Augen sah er an ihr vorbei ins Tal hinunter und glich in seinem hellen Sieben-Millimeter-Bart selbst einem Christus. Was war? Seit einer Woche erhielt er Post, war schlechte Post für ihn gekommen? Aber sie wußte ganz genau, was mit der Post für ihn gekommen war. Die beiden Briefe seiner Mutter hatte er ihr gezeigt: Vorwürfe, Segenswünsche, Mahnungen zur schnellen Heimfahrt, Ansporn zum baldigen Geldverdienen, wie eben Mütterbriefe waren. Die tausend Mark Erbteilvorschuß, die er gefordert hatte, waren eingelaufen: sie hatte selbst die Postanweisung quittiert, da er noch immer keinen Paß und kein Papier besaß. Und dann der »Grüne Tümpel« von Rousseau! Seine verheiratete Schwester, bei der das Bild in Verwahrung gewesen war, hatte es ihm mit einem kurzen bissigen Brief geschickt. Vorgestern Abend, als sie in ihre Schlafstube getreten war, war statt des kleinen bayrischen Barockspiegels der »Grüne Tümpel« überm Toilettentisch gehangen. Dort hing es jetzt in Ewigkeit, das wunderbare klare Ding, mit kleinen Nägeln ungerahmt an die gekalkte Wand gepickt, mit solcher Lust ihr dargebracht, daß sie es ohne viele Worte hatte nehmen müssen. Sonst war noch keine Post für ihn gekommen, was also drückte ihn? Was war? Seltsam sind Männer, dachte sie und musterte aufmerksam sein verbranntes Gesicht und seinen athletischen Körper. Unruhig sind Männer, unruhig. Halten's nicht lang aus im Garten Eden, verwurzeln nicht, verwurzeln nicht. Ein Weib verwurzelte leichter als ein Mann im Boden dieser Erde. Ein Weib, wenn es geschwängert war, war ruhig und trug die Frucht des Lebens in seinem Leib mit sich. Ein Mann, kaum daß er in der Sonne lag, sprang auf und rief: »Was dann?« Und grad so mußte es sein, sonst war's kein Mann …
»Wollen wir heiraten?«, frug er nach einer kleinen Weile.
»Dja?« frug sie zurück. »Wollen wir?«
»Es muß ja nicht in der Kirche sein?«
»Nein, sicher nicht.«
»Es muß auch nicht auf dem Standesamt sein.«
»Nein.«
»Aber wie heiratet man dann?«
Sie lachte.
»Eigentlich sind wir schon verheiratet?«
»Nein,« sagte sie, »das glaube ich nicht.«
»Nicht? Sind wir's noch nicht?«
»Nein, bis jetzt noch nicht.«
»Was fehlt uns? Ein väterlicher Segen? Irgendein Segen?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Irgend etwas.«
»Ein Kind?«
»Ein Kind bekommen wir«, sagte sie ruhig.
Er schaute sie fragend an.
»Ja, ich glaube bestimmt, daß ich ein Kind bekomme.«
»Tatsächlich?«
»Ja, ziemlich sicher.«
»Das finde ich wunderbar«, brummte er leis vor sich hin.
»Ich auch«, erwiderte sie und wurde plötzlich über und über rot. Zwei Minuten lang hatte sie die Farbe ihrer sibirischen Purpurmalven, dann war's wieder vorbei. »Aber deswegen müssen wir nicht heiraten, mein Lieber«, sagte sie in kühlem Ton und goß sich ein Viertelglas Sekt ein.
Die Flasche war noch fast voll, schade drum, ausgeperlt und schal geworden war der kostbare Trunk in dem durchsonnten Moos. »Ganz warm!« Sie spie den Sekt wieder aus, packte die Flasche am Hals und schleuderte sie im Wirbelbogen den Hang hinunter. Am Gatter fiel sie nieder und floß aus.
»Die Eidechsen und die Regenwürmer werden betrunken werden, wenn sie dieses Zeug schlecken.« Sie legte sich ins Moos zurück, auf beide Schulterblätter. »Nein, Kinderkriegen und Heiraten ist zweierlei. Deswegen müssen wir nicht heiraten. Sieh meine Mutter an! Sieh mich an! Es geht auch ohne Mann und ohne Papa. Vielleicht bin ich erblich belastet mit Unehelichkeit?«
»Unsinn«, sagte er rauh.
»Wer weiß?«
»Du bist nicht Deine Mutter und ich bin nicht Professor Pasternak. Ich wollte wir wären es.«
»Warum denn? Wir sind wir.«
»Oder wir wären Stefan Hadrawa vom Bratschenkees und die Sanni Gundisch von Bruck-Fusch.«
»Nein, auch die wollen wir nicht sein, durchaus nicht, wir sind wir.«
»Leider. Ein wenig dümmer wäre aber entschieden besser für uns und unsere Generation.«
»Kann ich nicht finden.«
»Jedenfalls würden wir dann nicht länger übers Heiraten quatschen und uns quälen.«
»Quälen wir uns denn?«
»Ja«, sagte er bestimmt.
»Das ist mir neu«, sagte sie eingeschüchtert.
»Du sagst ja selbst, daß uns irgend etwas zur Heirat fehlt. Du nennst es irgend etwas, irgendeinen Segen – ich weiß was es ist. Ich weiß ganz genau, was uns fehlt.«
»Es liegt an mir, nicht an Dir.«
Sie schwieg.
Er rutschte neben sie und ließ sich dicht an ihrer Seite nieder, eine Schwertesbreite von ihr getrennt, auch er auf beiden Schulterblättern ruhend, auch er den Blick den ziehenden Juliwolken zugewandt.
»Was hast Du denn?« frug sie nach einer kleinen Weile.
»Ein Mann, wenn er heiratet, muß ein Ziel haben auf der Welt, ein Ziel und einen Beruf, der seinem Ziel dient. Auch wenn er nicht heiratet, sollte er ein Ziel haben auf der Welt. Aber wenn er heiratet, muß er ganz unbedingt ein Ziel und einen Beruf haben auf der Welt.«
»Du kannst ja Staudenzüchter werden, wie wir's gestern nacht besprochen haben? Ist das kein Beruf mit einem Ziel?«
»Nein, nicht für mich. Das ist Dein Beruf. Wenn wir's so machen, wie wir's gestern nacht besprochen haben, dann gibt's eine Einheirat, wie's in den Zeitungsannoncen heißt. Dann heiratest Du mich, dann bist Du der Mann, der etwas gründet, und ich das Weib, das sich nehmen läßt.«
»Unsinn!«
»Durchaus nicht Unsinn. Du weißt selbst, daß es so ist. Das hat mit unserer Liebe nicht das geringste zu tun, Liebe und Heirat ist zweierlei: Ist's nicht so?«
Sie schwieg.
»Außerdem kann ich ein Leben, wie wir es gestern nacht besprochen haben, gar nicht durchführen. Ich kann nicht mein Leben lang in der Glonn bleiben. Ich kann nicht Wurzel fassen hier. Ich kann Wurzel fassen bei Dir, in Dir, in Dir, aber nicht in Deinem Grund und Boden.«
»Nein«, sagte er mit Entschiedenheit.
»Warum nicht?«
»Es ist nicht mein Beruf.«
»Was ist Dein Beruf?«
»Der Beruf aller meiner Zeitgenossen.«
»Was denn?«
»Geldverdienen.«
»O weh!«
»Es gibt keinen andern Beruf für Männer mehr. Es gibt noch ein paar Einödsbauern, ein paar Ärzte und Dichter und Polospieler von Beruf, aber das sind die lumpigen Ausnahmen, das zählt nicht. Die Männer sind Geldverdiener und basta.«
»Geldverdienen ist kein Beruf.«
»Nein, es ist eine Sauerei, das ist es ja.«
»Dann gibt es überhaupt keinen gültigen Männerberuf mehr?«
»Nein, ich glaube nicht. Ich glaube, es ist vorbei damit.«
Sie drehte sich ihm zu und lachte. »Du! Du bist ja völlig verdreht heute! Ist's die Strafe des Himmels, weil Du den Christus umgeschmissen hast?«
»Kann sein,« sagte er ernst. »Ich hab mir die Sache vielleicht etwas zu leicht vorgestellt.«
»Welche Sache?«
»Die ganze Sache. Die Sache des Mannes. Ein Weib kann sich verwurzeln in ihrem Staudengarten und kann Kinder kriegen aus ihrem Bauch heraus. Ein Mann muß außer seinem Weib ein Ziel haben, einen Beruf, sonst ist er kein Mann.«
»Gut, dann ziehn wir zusammen in die Stadt, wenn Du hier keinen Beruf finden kannst. Was ist dabei?«
»Allerlei ist dabei. Erstens hab ich in der Stadt auch keinen anderen Beruf wie Geldverdienen und das ist kein Beruf. Zweitens will ich Dich, wenn ich Dich heirate, zur Frau eines Mannes machen, nicht zu einer entwurzelten Geldverdienersgattin in einer Etagenwohnung mit Sicherheitsschloß.«
»Du bist ja ekelhaft heute«, rief sie und versuchte zu lachen. »Muß denn immer ein Ziel sein auf der Welt? Genügt das Leben nicht?«
»Nein, es genügt nicht, ein Mann braucht ein Ziel«, sagte er verbohrt. »Sonst ist sein Leben nicht erfüllt, sonst ist ein leerer Raum um ihn, sonst kann er sein Weib nicht umhüllen, sonst ist er ein Bubi oder ein Geldverdiener, aber kein Mann. Zuerst hielt ich Physik und Industrie für einen Männerberuf, dann hielt ich Handgranatenwerfen und Politik für einen Beruf, dann ging ich auf Wanderschaft und hielt es für meinen Beruf, mich abseits zu stellen und zu lachen: das alles waren keine Berufe. Das war Geldverdienerei oder Narrengelächter oder hohle Machtwut ohne Ziel, nichts weiter. Jetzt hab ich den Christus umgeworfen, dort liegt er – was ist damit geschaffen? Er wäre mit der Zeit von selber umgefallen. Umwerfen, was von selber umfällt, ist das ein Beruf?«
»Stell ihn wieder auf«, rief sie in bösem Ton. »Stell ihn wieder auf und fall auf die Knie vor ihm und bitt um Verzeihung.«
»Nein, er soll liegenbleiben, es ist zu Ende mit seinen Worten. Wir lechzen nach neuen Worten. Er hat uns gelehrt, mit dem einen Auge ins Jenseits zu schielen, bis wir einäugig geworden sind für unsern Erdenwandel. Er hat uns gelehrt, mit dem einen Fuß so lange über der Erde zu schweben, bis wir einbeinig geworden sind für unsern Erdenwandel. Er hat uns gelehrt, nur die eine Herzkammer, die Herzkammer der Nächstenliebe schlagen zu lassen, bis unsre andre Herzkammer zusammengeschrumpft ist, die Herzkammer der Selbstherrlichkeit. Jetzt zünden wir uns viele grelle Lichter an gegen unsere Einäugigkeit und erfinden uns viele Maschinen gegen unsere Einbeinigkeit und treiben viel Sport und Seelenquatsch gegen unsere Einherzigkeit – jetzt ist es zu spät. Jetzt wächst sich nur zu einem Monstrum aus die eine Hälfte unsres Erdenwandels und die verlorene Hälfte, unsre selbstherrliche Wirklichkeit, schrumpft immer weiter ein und schrumpft und schrumpft. Nein, er soll liegenbleiben, seine Worte sind zu Ende gesprochen, zu Ende gedeutet, zu Ende umgedeutet, Schluß damit! Aber ihn umzuwerfen, kurz eh er von selber fällt und verschwindet, ist das ein Beruf? Geldverdienerei, leere Machtgier, Narrengelächter, Umwerfen, was von selber fällt – ich danke schön! Ich brauch ein anderes Ziel, um ein Mann zu sein!«
»Du, mit Deinem Ziel! Du bist genau wie Christus! Ein richtiger Christus bist Du! Denkst immer nur an die ganze Menschheit! Ein Christus, ein erlösungsgieriger Christus!« Sie lachte ein böses Lachen.
»Woran soll ich sonst denken, wenn nicht an die Menschheit, bei meinem Ziel? Vielleicht an die Tierheit? An die Affenheit?«
»An überhaupt keine Heit! Das ist es ja, Du Christus! Es gibt nur Tiere und Menschen, Tierheit und Menschheit gibt's ja nur in Euren blöden Schädeln.« Sie war in hellem Zorn.
»Hier liegt der Unterschied zwischen Mann und Weib,« sagte er ruhig, »hier liegt's, im Heit, hier liegt der Unterschied zwischen Deinem wirklichen Bauch und meinem unwirklichen Beruf.«
»Pfui, wie häßlich«, rief sie wütend.
»Häßliche Worte, Männerworte.«
Sie sprang auf. »Ich will nichts mehr hören! Du schiebst eine schwarze Wolke vor die Sonne mit Deinen blöden Männerworten.«
»Auch ein Beruf«, sagte er heiser. »Auch ein Beruf, eine schwarze Wolke vor Eure blöde Weibersonne zu schieben.« Er stand auf und ging ein paar Schritte bergwärts.
»Christuslein«, rief sie ihm nach. »Tucki tucki tucki tucki, komm wieder her, mein kleines Menschheitsküken –«
Er lief weiter, ohne sich zu wenden. Am Waldrand war eine tiefe Mulde im Moos, dort verschwand er. Er legte sich in die moosige Mulde, als wollte er sich verkriechen.
Sie äffte ihn eine Zeitlang mit Tucki-tucki-tucki und den andern Stallrufen des Hersehofs. Dann ging sie, als er kein Zeichen gab, zu ihm in die Mulde. Er lag auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen, und rührte sich nicht. Sie kniete neben ihm nieder, riß Moos und moosige Erde aus und legte ihm das feuchte Moderzeug aufs Gesicht.
Er ließ sich das ganze Gesicht von ihr bedecken, ohne sich zu rühren.
»Tot,« sagte sie. »Gekreuzigt, gestorben, begraben, niedergefahren zur Hölle.« Über und über bedeckte sie ihn mit Moos und Erde.
Er rührte sich nicht.
»Am dritten Tag wieder auferstanden von den Toten«, rief sie und schob schnell den Humus von seinem Gesicht.
Er lag mit geschlossenen Augen wie zuvor, beschmutzt das Gesicht, regungslos.
Sie blieb neben ihm knien und schaute auf ihn. War's von dem feuchten Moos, der kleine Wassertropfen zwischen Augenlid und Nase? Wars eine wirkliche Träne?
»Nochmal«, rief sie beherzt und bedeckte nochmal sein Gesicht mit der schweren Grabesschicht aus Moos und Erde. »Eingesenkt im heidnischen Boden der Glonn, verwurzelt zwischen den Steinen und Würmern, getränkt vom Regen, gehegt von der bekannten Staudenzüchterin und Geldverdienerin Lea Lauskamm zu Affenschmalz auf Käsebrot, überwintert im tiefen Schnee bis zur Lichtmeß, hochgesprossen im April, herrlich in Blüte geschossen im Juli –« Sie schob schnell sein Gesicht frei.
Er lächelte und schlug die Augen auf, schlang die Arme um sie und zog sie über sich.
Sie flüsterte: »Vorsicht, man kann uns sehen, man sieht uns vom Tal aus.«
Er flüsterte: »Nein, niemand kann uns sehn, wir sind doch in der Mulde.«
Der Grummet-Schnitt begann. Benno Tereks Papiere kamen. Sie fuhren in der Hersekutsche ins Dorf, zum Gemeindehaus, um ihr Aufgebot aushängen zu lassen. Ende August heirateten sie. Der Krallenpeter und die Nana waren die Brautzeugen, der Bürgermeister des Dorfes vollzog die Trauung.
Es ging schnell und schmerzlos. Das Faß Freibier, das an diesem Tag für die Herseleute und für die Nachbarn vom Krallen und vom Sennen ausgegeben wurde, war gleichzeitig zur Erntefeier bestimmt. Das Grummet war eingebracht, die Tenne war voll, die Sommerarbeit war getan.
Am andern Tag kam Quirin Linsinger auf seinem Motorrad angebraust, natürlich hatte er irgendwo die neueste Hersehofsensation aufgegabelt. Er brachte eine Kristallvase mit Chrysantemen, seine und Terese Nülls herzlichste Glückwünsche, dazu die freundliche Aufforderung, den Linsingerschen Tennisplatz zu benutzen, sooft wie möglich. Nachdem er Benno Terek von allen Seiten beguckt hatte, knatterte er wieder ab.
Ein paar Tage später kamen ein paar kühle Glückwunschtelegramme von Leas Hamburger Verwandten. Terese Nüll, die ihre Brautzeit in Hamburg verbibberte, hatte den Klatsch besorgt. Es kamen noch ein paar eiskalte Vettern- und Cousinenbriefe, es kam noch eine grauenhafte silbergeschwungene Obstschale vom Onkel Oldenkott und eine teuflische selbstentworfene Kaffeetischdecke von einer unverheirateten Tante Gezelle, es kam noch vom Bürgermeister die Rechnung für die standesamtliche Trauung und von der Steuergemeinde die Invalidenmarkenquittung für den eingeheirateten Sommerknecht, dann war's vorüber.
Es herbstelte in der Glonn. Die Holzarbeit begann. Viel Bodennebel stieg am Morgen und am Abend. Die Kühe und die Kälber kamen auf die Weide und läuteten den Winter ein. Es roch nach kaltem Tau auf frierendem Grün und nach dem Rauch von langsam glimmendem Holz, nach Fallobst, Rübenzeug und heldischem Tod. Die späten Astern und der späte Phlox, die sonnengelben Herbstlinge und die japanischen Anemonen erglühten in der letzten Inbrunst. Die lichten Sommerstauden fielen ab und zogen ihre Schäfte ein zum Winterschlaf, zurück zur Erde, ins braune und ins schwarze Wurzelwerk zurück.
Während der letzten Septembertage, die für den Besuch des berühmten Flachlandzüchters bestimmt waren, fuhr Benno Terek in die Stadt, nach München. Er wollte ein paar Einkäufe machen, die tausend Mark Erbteilvorschuß seiner Mutter in Ware umsetzen, sich ein wenig ausstaffieren, ein wenig Geld verpulvern. Vor allem wollte er Lea während dieser drei Tage mit ihrem zukünftigen Kompagnon allein lassen, er sah die große Staudenkonferenz nicht als seine Sache an. Am Mittag wurde der Züchter erwartet, am Morgen fuhr er. Der Krallenpeter lieh ihm einen schwarzen lodenen Umhang und brachte ihn mit der dicken Stute zum Bahnsteig.
Lea hatte gerade die Kälber auf die Weide getrieben, als er losfuhr. Sie stand in ihrer blauen Leinenhose ein wenig verfroren zwischen dem läutenden Vieh. Sie warf die Gerte aus der Hand und schwang zum Winken beide Arme hoch.
Es war noch alles da. Der Beamte am Schalter und der Beamte an der Sperre, der Zeitungsmann und der Zigarettenmann, der schlechte Atem der Lokomotive und der verblichene Samt in der zweiten Klasse.
Auf dem Platz gegenüber saß eine hübsche junge Dame mit einem fünfjährigen Mädchen. Die Dame trug eine Schlupfhose in einem Giftgrün, wie er's bisher nur bei billigen Lutschbonbons gesehen hatte. Das Kind war gekleidet und frisiert wie die Mama. Es starrte mit großen Augen auf ihn und schätzte seinen Anzug ab.
Er trug noch immer das Zeug, das er bei seiner Entlassung aus der chirurgischen Klinik von Innsbruck mitbekommen hatte, die gelbe Kakihose und den grauen Sweater. Nachdem er seinen Zeitungspack durchgeblättert hatte, ohne erkundet zu haben, ob die Menschheit noch lebte oder schon verendet war, kam er mit seinem Gegenüber ins Gespräch.
»Warum sind Sie nich rasiert«, frug das Kind.
»Hab kein Geld für einen Rasierapparat«, erwiderte er lachend.
»Warum haben Sie kein Geld?«
Die Mutter lächelte, stolz.
»Man hat mir's gestohlen«, sagte Benno Terek.
»Aber doch nicht alles Geld?« Die fünfjährige Dame runzelte mißtrauisch die Stirn.
»Doch, alles«. Er sah nachdenklich in das nackte tote Kindergesicht. »Alles.«
»Nicht wahr!« rief sie. »Sie lügen ja.«
»Tatsächlich, alles Geld gestohlen. Und noch viel mehr als Geld, überhaupt alles.«
»Sie öden mich ja an«, sagte die Kleine und wippte gelangweilt mit den Beinen.
»Sei nicht ungezogen, Mausi«, sagte die Mutter.
»Wenn er mich doch anödet!« Sie blickte mißtrauisch auf seine braunen und verarbeiteten Hände. »Der Kerl!«
»Tatsächlich, Mausi,« sagte er lachend, »wirklich. Alles weg! Es waren eine ganze Masse Diebe, die an mir herumgestohlen haben.«
»Wieviel?«
»Milliarden! Milliarden Diebe!«
»Ach Sie!« Sie begann zu kichern. »Sie sind komisch.«
»Glaub mirs, Mausi,« sagte er melancholisch, »es war eine ganze Welt voll Diebesgesindel, Du warst auch dabei, Du bist ja auch so'n Dieb.«
»Sie spinnen ja«, sagte Mausi.
Die Mutter zog abweisend den Rocksaum über ihr Lutschbonbongrün.
»Wie heißt Du denn«, frug Benno Terek in freundlichem Ton, um seine sinnlose Attacke auf das kleine Nichts von der jüngsten Generation wieder gutzumachen.
»Sag ich nicht! Neugierde heiß ich!«
Die Mutter verkniff ihr Lachen und sagte: »Du bist unartig, Gesa.«
»Na haben Sie jetzt gehört, wie ich heiße«, frug das Kind.
»Ich wills gar nicht wissen,« sagte er böse, »Du verdienst gar keinen Namen.«
Er brach das Gespräch ab und nahm wieder seine Zeitung auf. Die beiden giftgrünen Schlupfhöschen aßen Pralinées und Weintrauben. In der Zeitung wurde ein großer Kampf zwischen Kapitalissimus und Pöbel ausgefochten und beschwörend hoben zwischen den Parteien die Vermittler der Mitte ihre ringgeschmückten Patschhände gen Himmel. Es war noch alles da. Er tat wie alle Welt, er blätterte um und wandte sich dem Sportteil zu.
Und das Teuflische war, daß er eine Art Heimatgefühl verspürte, als er dann wieder auf Asphalt stand. Zum erstenmal seit einem Jahr stand er wieder auf Asphalt, Autos hupten, elektrische Wagen klingelten, Kirchenglocken läuteten, Sensationen wurden ausgerufen, Hüften wippten, männliche und weibliche, tausend bekannte Plakate und Gesichter begrüßten ihn, es war ein verblasenes Gefühl, doch es war ein Heimatgefühl. Als wackerer Soldat und mancherorts hatte er für die Würde seines Lebens gestritten, auf dem Strom, im Nebel, im Schnee, im Spital, auf der Landstraße, in der Glonn, in der Glonn, in der Glonn, mit aller Kraft seiner Seele hatte er sein Manntum verteidigt gegen die städterne Stadt, wo sich die letzten Seufzer des gemarterten Gottes mit dem Geklirr und Stampfen der Maschinen zu einer schauerlichen Grabmusik vermischten, jetzt mußte er sich sagen wie alle Welt: hier war seine Heimat, in der städternen Stadt. Der verlorene Sohn war aus der Wildnis heimgekehrt, um die Säue seines Vaters zu hüten.
Zuerst ging's zum Friseur, zum Haarschnitt. Er geriet in einen erstklassigen Salon. Ein reizender Jüngling geleitete ihn in ein lila Liebesgemach, schmeichelte ihn in einen hygienischen Operationsstuhl, bog ihm zart den Nacken in Abrahams Schoß zurück und nahm von seinem Kopf Besitz.
»Lange nicht geschnitten, der Herr?«
»War auf Hochtouren, immer hoch oben –«
»Ah …«
Es war alles entschuldigt, Kaki, Sweater, Haarschnitt.
»Shampoon?«
»Jawohl.«
»Lavendel, Portugal, Chinin?«
»Kopfhautmassage?«
»Bitte.«
»Vibrationsmassage im Gesicht?«
»Ja, glauben Sie?«
»Machen jetzt alle unsere Herren.«
»Also bitte.«
»Wollen wir nicht zuvor unsern kleinen Bart abnehmen?«
»Was? Nein! Um Gotteswillen nicht!«
»Der Bart macht doch so alt.«
»Ich habe keine Alterskomplexe.«
»Ich verstehe –«
Die Vibrationsmassage begann.
»Ein Christusbart, ich verstehe.«
Der Apparat surrte ein süßes Surren.
»Sehr apart, sehr originell.«
Der Apparat surrte und der Herrscher des Apparats blickte seinem Opfer im Spiegel in die Augen.
»Ganz richtig, mal was anders –«
»Nehmen Sie ihn ab, den Bart«, sagte der Angeklagte mit heiserer Stimme und schloß die Augen unter den sanften Händen seines höchsten Richters.
Als er sich dann aus dem elektrischen Stuhl der Zeit erhob, sah er lange in den Spiegel und beguckte aufmerksam sein neues nacktes Spiegelgesicht.
Das Spiegelgesicht sagte: »Die Füchse haben Gruben und die Vögel unterm Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege.«
Er zahlte und gab ein Trinkgeld und torkelte auf die Straße. Er fuhr zu dem orthopädischen Schuster, den Quirin Linsinger ihm empfohlen hatte. Er fand ein Paar braune Halbschuhe, in die seine Tiroler Einlagen paßten. Er konnte sie sofort anbehalten. Er ließ sich noch ein paar schwarze Stiefel anmessen, die sollten in einer Woche mit seinem alten Tiroler Schuhwerk zusammen an seine Glonner Adresse gesandt werden.
Er fuhr in das Schneidergeschäft, wo er sich vor drei Jahren, bei einer Elektriker-Tagung, einen tadellosen Smoking hatte bauen lassen. Er wurde wie ein guter alter Freund begrüßt. Er fand einen englischen Sportanzug, der ihm so gut paßte, daß der Chef sein ganzes Personal zusammentrommelte, um ihn bewundern zu lassen. Dazu schottische Strümpfe, Übergangsmantel, graue Mütze. Es paßte alles zusammen wie bei Lord Affenschwanz. Sein altes Zeug und den Umhang vom Krallenpeter ließ er an seine Glonner Adresse senden. Auf Wiedersehn, Lord Affenschwanz.
Zwei Wäschegarnituren für »Best«, zwei Wäschegarnituren für Feld und Wald und Wiese. Ein kleiner Handkoffer, Rasierzeug, Toilettenzeug. Ein verspäteter Lunch, eine Flasche Chablis, Mokka, Zigaretten. Eine Telegrammzeitung, dazu Whisky-Soda. Als sein Erbteilvorschuß bis auf zweihundert Mark verpulvert war, war er komplett und konnte leicht angetrunken den Bummel über den Bummel antreten.
Alles war in Ordnung. Die Welt war ganz in Ordnung. Dreimal bummelte er über den Bummel, dann ging er zum Telegraphenamt und drahtete an Frau Lea Terek, Glonn: »die füchse haben bauten stop die vögel unterm Himmel haben nester stop aber des menschen sohn hat nicht da er sein haupt hinlege stop lord christus bartlos und leicht angetrunken.«
Der Beamte las das Formular mehrere Male durch, dann sagte er: »Unterschrift fehlt!«
»Können Sie nicht lesen«, fuhr Benno Terek ihn an, »meine ganzen Personalien stehn ja unter dem Telegramm.«
Der Beamte las noch einmal, dann sagte er: »Hiesige Adresse fehlt!«
»Sind Sie Analphabet, Herr?« Er beherrschte den städternen Ton bereits wieder tadellos. »Das telegraphiere ich ja gerade, daß ich momentan keine Adresse habe.«
Der Beamte las mit verdickter Stirnwand zum drittenmal, dann schob er das Formular zurück und sagte: »Gotteslästerungen und Beleidigungen dürfen wir nicht weitergeben.«
»Ach du mein Gott!« Er verzog den linken Mundwinkel zu einem sanften Lächeln. »Keine Gotteslästerung, mein Freund, keine Beleidigung, es ist eine Chiffre, wenn Sie vielleicht wissen, was das ist.«
Der Beamte kassierte das Geld ein, warf das Telegramm zu den anderen Telegrammen und entließ ihn mit einem giftigen Blick. Es war noch alles da.
Er ging in das Hotel, wo er während der Elektriker-Tagung gewohnt hatte, und ließ sich ein Zimmer mit Bad geben. Der greise Portier trug mit frommer Schrift seinen Namen in die Gesetzes-Rolle ein, die Liftjungen sprangen wie die Cherubim um ihn herum, und eine goldige Zofe richtete das Bad und ihre süßen Proletarierbrüste unterm Weiß der kapitalistischen Uniform verkündeten: »Was Du gern willst, das man Dir tu, das füg' auch möglichst vielen andern zu.« Es war noch alles da.
Lea stand in ihrem roten Teekleid am Gatter und wartete auf Professor Gfäller. Sie war ein wenig eingeschüchtert durch den Eilbrief, den der Postbote ihr auf die Weide gebracht hatte, kurz nach Benno Tereks Abfahrt. Professor Gfäller schrieb, sie sollte nicht, wie brieflich verabredet worden war, die Herse-Kutsche zum Nachmittagszug an die Bahnstation schicken. Er wäre gestern mit dem Flugzeug von Berlin nach München gekommen, heute wollte er sich zur Fahrt in die Glonn ein Münchner Auto mieten, sie sollte ihn gegen Mittag im Hersehof erwarten.
Nach seinen früheren Briefen hatte sie sich unter ihrem künftigen Kompagnon einen sanften erdigen Wurzelgreis vorgestellt, bei dem sie außer der Geschäftsverbindung vielleicht auch einen kleinen Schutz gegen die anwachsende Bedrängnis ihres Herzens finden könnte. Die schwarze Wolke, die sie über Benno Terek hängen fühlte, nahm ihr den freien Atem. Wie schön wäre es gewesen, jetzt einen starken Vater zu finden, oder einen weisen Großpapa, der über dieser schwarzen Männerwolke stünde und irgend eine Hilfe bringen, irgend einen Segen spenden könnte, damit sie wieder freier atmen könnte, sie und mit ihr der verwandelte Geliebte. Professor Gfäller hatte ihr reizende Briefe geschrieben, sie wußte, daß er über siebzig war und weit gereist, einst Wissenschaftler und Botaniker, jetzt nur noch Züchter, Gärtner, Wurzelgräber, und schon seit Kindheit kannte sie aus seinen Katalogen die Pflanzen, die er zog, und die entzückenden Namen, die er ihnen gab. Ihre Hoffnung, einen väterlichen Halt in ihm zu finden, war in den letzten Wochen fast zu einer fixen Idee angewachsen. Jetzt las sie plötzlich in dem Eilbrief von Flugzeug, Auto, Tempo, Voranschlägen, Kalkulationen und Prozenten: war das die Sprache eines sanften erdigen Wurzelgreises, der irgendeinen Segen spenden konnte? Ein Geldverdiener und Geschäftemacher wie alle andern! Einer von der schwarzen Wolke selber, ganz gewiß!
Trotzdem stand sie schon seit einer halben Stunde am Gatter und starrte auf die kleine Glonner Straße wie gebannt. Man sah ihr noch nicht an, daß sie geschwängert war. Sie spürte auch noch keinerlei Beschwerden, ihr Leib war in der Trächtigkeit gespannter als zuvor. Das rote Seidenkleid vom Frühjahr paßte noch, nur ein paar Falten in der Hüfte waren ausgelassen worden, das war alles.
Da knatterte das große gelbe Auto endlich um die Straßenecke am Krallenhof.
Sie riß das Gatter auf und wies dem Chauffeur die Einfahrt. Aus dem Wagen krabbelte ein kleiner Herr mit kurzem, weißen Stoppelbart, blauem Anzug, kleiner Ledertasche in der Hand, und während er vom Trittbrett stolperte, brummte er: »Pfui Teufel, ja! Scheußlich!« Sie hatte sich vorgenommen, »Herzlich willkommen!« zu sagen, aber sie verschluckte sich und sagte nichts.
Der kleine Herr beachtete sie auch gar nicht, er ging sofort zu seinem Chauffeur und sagte: »Dampfen Sie ab, lassen Sie sich von Ihrem Herrn zehn Prozent Trinkgeld auszahlen, er soll es auf meine Rechnung setzen, kommen Sie übermorgen um diese Zeit wieder hierher, aber pünktlich, los, fort, avanti, aus den Augen, aus dem Sinn – na, Mensch, Sie machen ja alles kaputt hier, können Sie nicht kürzer wenden mit Ihrer Dreckkarre, Mensch, bleiben Sie gefälligst auf dem Kies, lassen Sie die schöne Erde in Frieden, marsch, fährt der Mensch in die schöne Wiese hinein – na, endlich –«
Er schaute dem Wagen nach, bis er hinterm Krallenhof verschwunden war, dann erst wandte er sich Lea zu. »Guten Tag –« Er stellte sein Köfferchen ab und reichte ihr beide Hände.
Lea sagte: »Herzlich willkommen«, und nahm seine Hände zu einem kurzen Druck.
»Ach, so spät blüht hier die Rudbeckia?« Er trat sofort an die Gartenecke. »Sind diese Rudbeckia von mir?«
»Jawohl«, sagte sie im Schulmädchenton. »Aber wollen Sie nicht zuerst ein Frühstück nehmen? Sie werden müde sein?«
Er musterte den Garten, ohne auf sie zu hören. Dann spähte er den Hang hinauf, zum Wald, zum Berg. Dann wandte er sich auf dem Absatz um und beguckte das Haus. Dann sah er auf seine Wirtin und lächelte sie an und sagte: »So, so.«
Sie geleitete ihn ins Haus, zu dem Imbiß, den sie in der getäfelten Stube im Parterre gerichtet hatte. Es gab kalte Küken mit Salat, Schinken und Eier, Käse, Trauben, Tiroler Spezial. Er aß und trank kräftig und fragte sie mit kurzen Examensätzen aus.
Wieviel Tagwerk Wiese? Wieviel Tagwerk Wald? Wieviel Sonne im Winter? Wie tief die Erdschicht? Was für Gestein? Wasserverhältnisse? Was für Tiere? Wieviel Tiere? Rentabilität? Hypotheken auf dem Haus? Verhältnis zu den Nachbarn? Wieviel Arbeitskräfte? Seit wann Vater gestorben? Seit wann Mutter gestorben? Kein Verkehr? Wie alt? Wo geboren? Vorbildung? Welche Sprachen? Keine Reisen? Keine Freundin? Kein Freund?
»Ich bin verheiratet«, sagte Lea an dieser Stelle.
»Seit fünf Wochen.«
Er schaute ihr mit seinen scharfen grauen Augen ins Gesicht und sagte: »Da steckt irgendeine Lüge, mein Kind.«
»Wieso«, fuhr sie zornig auf.
»Sehr einfach«, sagte er schnell. »Sie korrespondieren seit einem Jahr unter dem Namen Lea Herse mit mir und haben noch vor einer Woche Lea Herse unterschrieben – oder heißt Ihr Mann auch Herse?«
»Nein, nein, Terek, Doktor Terek –«
»Na, sehn Sie! Da steckt irgendwo eine Lüge.«
»Das muß ein Versehen gewesen sein in meinem letzten Brief.«
»So, so.«
»Ich kann mich erinnern, ich habe mich tatsächlich mit meinem Mädchennamen unterschrieben, verzeihen Sie.«
»Bitte, bitte … So, so …«
Er trank von seinem Wein und legte sich seinen Teller zum drittenmal voll.
»Und wo steckt der Herr Gemahl«, frug er nach einer kleinen Pause.
»Er ist auf ein paar Tage geschäftlich verreist.«
»Wohin?«
»Nach München.«
»Und was sind das für Geschäfte?«
»Allerlei Einkäufe, nichts Besonderes.«
»Nein, ich meine, was er von Beruf ist?«
»Wissenschaftler, Physiker.«
»Theoretische Physik? Universität?«
»Nein praktische Physik. Industrie. Er ist in der Elektrobranche.«
»Aber hier kann er doch keine Industrie treiben? Oder?«
»Er hat momentan keine Stellung. Er war lange krank. Er hat sich die Zehen erfroren und ist amputiert worden. Ein Jahr lang fast ist er gelegen. Er hat sich bei einer Schitour am Bratschenkees –«
»Das ist mir egal, mich interessiert sein Beruf. Sucht er Stellung?«
»Ja.«
»Und wenn er sie findet?«
»Dann muß er sie antreten.«
»Wo sucht er Stellung? Wo hat er seine Beziehungen?«
»In Berlin.«
»Na, was ist denn, wenn er Stellung findet? Wollen Sie getrennt von ihm leben? Oder wollen Sie mit ihm nach Berlin ziehn?«
»Vorerst hat er noch keine Stellung.«
»Aber wenn er sie findet! Das ist doch sehr wichtig für mich! Werden Sie in die Stadt ziehn, wenn er Stellung findet?«
»Er wünscht nicht, daß ich in die Stadt ziehe.«
»Das ist sehr vernünftig von ihm, Sie werden, so wie Sie sind, zu Grund gehn in der Stadt, am Mehltau – aber das interessiert mich nicht, was Ihr Mann wünscht oder nicht wünscht, ich muß wissen, was Sie selbst wollen – werden Sie mit ihm in die Stadt ziehn, ja oder nein?«
Sie wagte nicht mehr von ihrem Teller aufzusehn. Der verfluchte kleine Teufel! In der ersten Viertelstunde schon trieb er das Gespräch hartnäckig dem gefährlichen Punkt zu. Sowie sie ihm gestand, daß sie mit ihrem Mann, wenn er hier nicht leben konnte, in die Stadt ziehn würde, brach er die Verhandlungen ab, ganz gewiß. Und wenn er ihr einen Riesenkrach schlug, weil sie die Verhandlungen soweit vorgetrieben hatte, bevor sie sich über ihre Zukunft schlüssig war, hatte er vollständig recht. Es war ein Geschäft auf lange Sicht, zu dem sie hier zusammensaßen, und er hatte die weite Reise nicht gemacht, um mit ihr zu quatschen. Sollte sie ihn einfach belügen?
»Sagen Sie mir die Wahrheit«, hörte sie ihn sagen, als ob er ihre Gedanken erriete.
»Ich werde, wenn mein Mann hier nicht leben kann«, sagte sie »selbstverständlich mit ihm in die Stadt ziehn.«
»Bravo! Ganz in der Ordnung! Das wollte ich wissen.«
Sie sah erstaunt zu ihm auf.
»Aber haben Sie doch nicht solche Angst vor mir«, sagte er im sanften Ton des alten Wurzelgräbers. »Das ist doch alles sehr einfach. Wenn Sie mit Ihrem Mann in die Stadt ziehn, dann verpachten Sie mir Ihren Grund und ich setze hier eine gute Verwalterin ein. Das ändert nicht viel an unserm Geschäft. Wir werden schon zusammenbleiben in den nächsten dreißig Jahren, meine kleine Glonnerin.«
»Besten Dank«, sagte sie und reichte ihm die Hand über den Tisch.
»Ich habe zu danken.« Er verbeugte sich, über die Tischkante hinüber, wie ein Tanzjüngling. Dann gab er ihr die schmale siebzigjährige Hand, mit der er in Tibet und Australien die kleinen Wurzelballen ausgegraben hatte … Sie war nahe am Heulen. Zum erstenmal in ihrem Leben fühlte sie sich geborgen. Kaiserkron und Päonien rot, die mußten verzaubert sein, denn Vater und Mutter waren tot, was blühten sie noch allein, Vater und Mutter waren tot und der Geliebte war geworden wie eine schwarze Wolke, jedoch beim sanften Wurzelgreis war sie geborgen, kampflos und krampflos geborgen …
»Natürlich kann er nicht hier leben«, sagte er plötzlich, nachdem das Gespräch schon woanders gewesen war, bei der Auswahl der Stauden, die sich besonders zur Verhärtung in der neuen Glonner Filiale eigneten.
»Wie bitte«, frug sie erschrocken.
»Ich glaube kaum, daß Sie einen Mann geheiratet haben, der hier leben kann, meine kleine Tochter. Das müßte ein fauler Bubi sein, der sich von Ihnen mitschleppen läßt? Oder ein Bauer, der aus eigner Dumpfheit hier existieren kann? Beides wird er wohl nicht sein? Er wird Sie wohl in die Stadt schleppen? Aber das will er nun auch nicht tun? Er weiß, daß Sie dort Mehltau ansetzen und verkümmern, und er kann wohl selbst kein richtiger Städter mehr sein?«
Sie schwieg.
»Donnerwetter ja … So, so … Ei, ei … So, so … Ts, ts ts …«
»Ja, so ist es«, sagte sie zaghaft.
»Erwarten Sie ein Kind?«
Sie nickte.
»Na, was wollen Sie mehr? Dann ist ja alles andere gleichgültig für Sie?«
»Nein«, rief sie entsetzt. »Ich habe nicht geheiratet, um mein Leben mit Kinderkriegen zu beschließen.«
»Wozu sonst? Ja natürlich, um einen Mann zu kriegen. Aber Sie haben natürlich einen Mann mit Geist bekommen und der Geist ist ein gefährliches Ding. Ein herrliches Ding, aber ein gefährliches Ding. Mit einem Dummkopf ist nichts zu machen in der Welt, aber der Geist ist gefährlich, das ist nun mal so. Bei den Pflanzen liegt die Sache einfacher. Da gibt es natürlich auch dumme und geistvolle Exemplare. Die Wiesenblumen und das Unkraut und die Jährlinge sind dumm, Massenware, die überlassen sich dem Wind, und unsre winterharten Stauden sind sehr geistvoll und selbstherrlich, die veredeln sich aus ihrem eigenen Wurzelwerk heraus. Aber ich habe noch nie gehört, daß die Pflanzen so geistvoll wären, um Rittersporn-Städte und Enzian-Religion zu gründen.«
Sie lachte. »Auch keine Malven-Technik und keine Primeln-Erlöser, nein.«
»Nein, das gibt es nicht. Trotzdem ist es eine herrliche Sache, ein Mensch zu sein. Und das Schicksal der Männer ist nunmal, mit dem bösen Geist zu ringen.«
»Das Schicksal der Männer ist auch das Schicksal der Weiber.«
»Ja? Glauben Sie? Vielleicht. Fast. Beinahe.«
»Ganz gewiß.«
»Also lassen Sie ihn ringen, den Mann. Gebären Sie Ihr Kind und lassen Sie ihn mit dem Geist seiner Zeit fertig werden. Mehr weiß ich auch nicht zu diesem Fall zu sagen.«
Er brach das Thema ab und erzählte ihr, warum er im Flugzeug und im Auto gekommen war. Er war bisher noch nie geflogen und sehr selten im Auto gefahren. Er mußte sich mit allen diesen Dingen auseinandersetzen, die blödsinnige Verehrung aller technischen Dinge war nicht besser und nicht schlechter als das theoretische Geschimpfe der Romantiker auf alle diese technischen Dinge. Er hatte einen Luftrausch gehabt, im Flugzeug und im Auto, das war herrlich gewesen. Andrerseits hatte er gefühlt, daß ihm durch die Geschwindigkeit etwas aus seinem Leben gestohlen worden war, irgendein körperlicher Dunst war von ihm gestreift worden. Irgendeine Hülle, die ihn umhüllte, war durch die unmenschliche Geschwindigkeit verletzt worden. Er fühlte sich nackter als zuvor. »Einerseits war es herrlich, andrerseits ist ein nackter Greis nichts Schönes in der Welt. Oder?«
Sie lachte. »Sie sind ja gar kein Greis, Sie sind jünger als die Jünglinge meiner Generation.«
»Ich bin ein Greis«, sagte er schroff, schob den Tisch zurück und hob die Tafel auf. »Ich bin ein Greis und ich bin stolz darauf, ein Greis zu sein.«
Sie gingen in den Garten, zur Generalinspektion. Er lobte allerlei, er tadelte allerlei. Dann schritt er mit ihr den ganzen Herse-Grund ab. Zu der Bergwiese am grünen Tümpel war's zu weit, dorthin sollte sie ihn morgen früh fahren, dort mußte die Sumpfpflanzenzucht organisiert werden.
Da der Tag warm war, konnten sie den Tee in der Mulde neben dem gestürzten Christus nehmen. Das Kruzifix war längst weggeschafft und verfeuert. In der Mulde lag ein altes halbverwittertes Taschentuch.
Als der Abendnebel sie ins Haus zurücktrieb, fanden sie Benno Tereks Telegramm. Lea gab es ihrem Gast zu lesen. Er las es schweigend durch und brauchte ziemlich lange Zeit dazu. Dann reichte er es ihr wieder zurück und sagte: »So, so.«
Er wollte noch den Stall besehn, dann mußte er vor dem Abendessen ein wenig ruhn. Sie hatte ihm ihr eigenes Zimmer gerichtet, sie selbst schlief in dem Zimmer gegenüber, das seit fünf Wochen für Benno Terek eingerichtet war. Er bewunderte ihre Kälber und ihr Fohlen, patschte dem Mutterschwein auf den schmutzigen Rücken und gab Nana und dem Krallenpeter die Hand. Dann beguckte er in seinem Zimmer den »Grünen Tümpel« von Rousseau und ließ sich erzählen, wie sie eines Abends mit dem Bild überrascht worden war. Er beguckte das Bild sehr aufmerksam und hörte sehr aufmerksam zu, dann sagte er: »So, so.«
Bevor sie aus dem Zimmer ging, um ihn ein paar Stunden lang den Greisenschlaf schlafen zu lassen, sagte er: »Darf ich Ihnen einen Kuß geben, gnädige Frau?« und drückte ihr zart die weißen Stoppeln auf den Mund. Es schmeckte nach Wurzelwerk und Rauch. So schmeckte wohl dem eingelullten Kind, wenn schon die Mutter fortgeschlichen war und sich ein letztes großes Etwas über seine Wiege beugte, der väterliche Odem.
Benno Terek schlug den Kragen seines neuen Mantels hoch, gab seiner Mütze einen eleganten Dreh und ließ sich Stufe um Stufe die samtene Hoteltreppe hinunterplumpsen.
Er hatte die Absicht, sich zu amüsieren. Beim Bad hatte er eine Spinne gesehn, eine süße kleine Spinne, die hatte sich in seine Wanne verirrt. Mit angehaltenem Atem hatte er den Kampf des Tierchens mit der glatten Emaillewand beobachtet, den Kampf um Spinnenseele und Spinnenleib. Das Wasser, das freundschaftlich seinen Leib umschlossen hatte, war der Todfeind der Spinne gewesen, und Emaille war keine Spinnenwelt. Immer wieder war die kleine Spinne hochgekrabbelt, immer wieder war sie abgerutscht, aber immer wieder hatte sie kurz vor dem Wasserspiegel des tödlichen Ozeans sich gefangen und einen letzten Halt gefunden, um den heroischen Kampf von vorne anzufangen. Schließlich hatte er sie mit sanfter Hand umhüllt und auf den Badeteppich gesetzt. Dort konnte sie haften, dort war Spinnenwelt.
Spinne am Abend, erquickend und labend. Wie ein Hotelgast von Gottes Gnaden schlenkerte er durch die Halle, um für sein nächtliches Amusement die Plakate der Lust zu studieren. Oper, Revue, Kino? Vorträge? Nichts, er wollte ohne festes Programm losmarschieren, in die fröhlichen Bumslokale, zu Tschinderada und Hüftenschwupps.
Bei der Schlüsselabgabe an der Portierloge hatte er das Gefühl, irgendeine Sache, die Lea betraf, vergessen zu haben. Was hatte er ihr gedrahtet? Daß des Menschen Sohn nirgendwo sein Haupt hinlegen könnte? Daß des Menschen Sohn nirgendwo haften könnte? Wie war das? Für eine Spinne gab's Emaillewände, die nicht von ihrer Welt waren, doch gab's auch Badeteppiche, die ihre Welt waren? Wo die Spinne nicht haften konnte, gab's heroischen Kampf und Tod, aber wo sie haften konnte, war Spinnenwelt? Es gab in Ewigkeit für Spinnen Spinnenwelten, zu denen sie nach ihren Emaille-Exkursionen zurückfinden konnten: und für des Menschen Sohn sollte es keine Menschenwelt mehr geben, zu der er nach seinen Jenseits-Exkursionen und nach seinen Maschinen-Exkursionen zurückfinden konnte? Des Menschen Sohn sollte alle seine Haftorgane verloren haben, die für die städtische Gesellschaft und auch die für die heidnische Glonn?
Mensch, Menschensohn, Menschenvater! Er ließ sich vom Portier ein Telegrammformular geben und drahtete an Frau Lea Terek, Glonn: »rückkehre schon morgen stop zur glonn stop zur unsterblichen geliebten stop bin geheilt stop.« Der Portier fand das letzte Stop überflüssig, doch er bestand darauf: »stop bin geheilt stop.« Dann schlenkerte er zur Straße.
Aber in der Drehtür fiel ihm ein, daß man seine Gesundheit nicht berufen sollte und daß sein Telegramm geschmacklos war. Er drehte sich durch die Drehtür zurück, ging zur Portierloge und ließ sich sein Telegrammformular zurückgeben. Er zerriß es, überließ dem Portier die bezahlten Gebühren als Trinkgeld und drehte sich wieder auf die Straße hinaus.
Die vom Geschäftsschluß überfüllten Straßen waren wunderbar zu durchschreiten, obwohl ihm ein klein wenig übel war, weiß der Teufel woher. Es war nur ein ganz winziger Übelgeschmack im Mund, wie nach einer schweren körperlichen Anstrengung, doch die erste Zigarette nahm es weg. Er streifte durch ein paar Bumslokale und fand bei seiner dritten Streife Doktor Frommel.
»Tag, Frommel!«
»Terek?« Die eingefrorenen Industriellenbacken tauten auf.
»Woher, wohin?«
»Immer an der Wand lang.«
»Nehmen Sie Platz, sehn ja famos aus –«
Er ließ sich neben Frommel in den Klubsessel plumpsen.
»Darf ich vorstellen«, sagte Frommel, »das ist mein Freund Doktor Terek, das ist die schönste Frau Bayerns, direkt aus Lodz importiert, Namen hab' ich leider vergessen –«
Terek gab Frommels Dame die Hand.
»Woher, alter Terek?«
»Aus Genf.«
»Genf? Politisch? Geschäftlich?«
»Nö, nur zum Vergnügen.«
»Wo stecken Sie denn immer?«
»Auto?«
»Selbstverständlich.«
»Was für'n Wagen?«
»Farman.«
»Was für'n Weib?«
»Meine Frau.«
»Was? Verheiratet? Das Allerneueste.«
»Ja, das Neueste.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Besten Dank.«
»Mensch. Sie haben's gut! Wir ersaufen im Betrieb und Sie gondeln mit Ihrer Frau im Farman spazieren – Ober, ein Glas, Ober, Ober –« Die Auskunft roch nach einer schweren Geldheirat. »Also prost, alter Terek!«
»Prost, gnädiges Fräulein, prost, alter Frommel –«
Frommel war Syndikus des wirtschaftlich-technischen Großbetriebs, dem Terek bis vor einem Jahr angehört hatte. Er war vierzigjährig, fett und lüstern, wohlwollend, Terek hätte keinen besseren Bekannten aus seinem früheren Leben treffen können. Im Nu war er über den Gesellschaftsklatsch und Wirtschaftsklatsch des letzten Jahres unterrichtet. Er hörte die letzten Witze über seinen verflossenen Chef und hörte, daß seine alte Stellung noch immer nur provisorisch besetzt war. Er hörte, daß es Frommel nur ein Wort kosten würde, ihm wieder einen Posten im Werk zu verschaffen, und hörte, daß der Aufschwung im Werk, überhaupt der Aufschwung in der ganzen wirtschaftlich-technischen Welt ganz toll wäre.
Wo er selbst immer gesteckt hatte? Na, immer an der Wand lang, auf Jagden in Nordafrika, auf Schiffahrten im Engadin, auf Autotouren in Frankreich, auf dem Landgut seiner Frau in der Glonn, immer an der Wand lang. Und was er immer getrieben hatte? Na, entre nous deux soit dit, alter Frommel, eine wissenschaftliche Arbeit, bombige Sache, vorerst nur theoretisch und geheim, später praktisch verwertbar, toi toi toi, soeben theoretisch abgeschlossen, Gott sei dank, Kopf wieder frei, es handelte sich, entre nous deux, um grundlegende Erkenntnisse in dem alten Streit zwischen der Korpuskulartheorie und der Wellentheorie des Lichts, bombige Geschichte, toi toi toi, aber en discretion vorerst.
Donnerwetter ja, das interessierte Frommel sehr, und warum sollte Terek, wenn jetzt sein Kopf wieder frei war von seinen großen Theorien, nicht wieder in die Praxis zurück?
Möglich, leicht möglich, vielleicht konnte der alte Frommel mit dem Chef reden?
Das kostete bei Tereks glänzendem Namen dem alten Frommel nur ein Wort, gemacht.
Die schönste Bayerin aus Lodz hörte gelangweilt zu und lächelte. Aber die zwei Herren blieben bei den gehirnlichen Dingen des Lebens, beim Geschäft. Im Gegenteil, sie verabredeten, als die Dame zur Toilette ging, einen Trick, um sie abzuhängen und das Wiedersehn für sich allein zu feiern. Frommel entschuldigte sich lebhaft, daß er aus purer Verzweiflung – er war nur einen Tag zu einem gerichtlichen Termin in München – mit der ersten besten Bibberwäsche soupiert hatte. Terek entschuldigte sich lebhaft wegen seines uralten Sportanzugs, er war vor einer halben Stunde aus Zürich gekommen; nachdem er seine Frau auf ihrem Landgut am Tegernsee abgesetzt, hatte er seinen Wagen in Reparatur fahren müssen, ohne Zeit zu finden, seine großen Koffer auszupacken. Dann spielten sie ihren Trick aus und verabschiedeten die schönste Bayerin aus Lodz. Im nächsten Lokal gab's Moselwein und große Wirtschaftspläne. Im übernächsten Lokal gab's Whisky-Soda und Weltschmerz. Endlich entdeckte Frommel, daß in einem dritten Lokal seine alte Freundin Lydia Lacaze mit ihrer russischen Damenkapelle konzertierte, sie nahmen ein Taxi und fuhren zur Lydia Lacaze.
Es war ein kleines Guirlandenlokal, halb voll. Die beiden Herren von der Elektrobranche waren die einzigen Sekttrinker zwischen den schäbigen Bier-Liebespärchen. Die »Fünf Schwestern Sassanow« bestanden aus fünf Damen in kaukasischer Tracht, Balalaika, Geige, Schlagzeug. Die Dirigentin, Lydia Lacaze und ihre Schwester Olga Lacaze waren tatsächlich in Rußland geboren, Moskowiterinnen, Töchter einer südfranzösischen Emigrantenfamilie, zwei sanfte, schlanke Musikantinnen, schwarzhaarig und gemütvoll, gezeichnet mit dem süßen Charme der Tuberkulose. Die drei andern Damen waren gesund und robust und stammten aus Mitteldeutschland. Aber sie waren gut zusammengespielt. Die Wolga rauschte und die Troika klingelte, das Kindchen in dem hölzernen Bauernhaus ward eingelullt, dazwischen riefen rote Märsche auf zum Tod in der heroischen Morgenröte, Genosse General im Schritt und Tritt. Dennoch war kahle Stimmung, bis die ermatteten Liebespärchen nach Mitternacht endlich zahlten und Lydia Lacaze ihre Damen zum Schlußmarsch anfeuerte. Dann blieben die zwei Schwestern und die zwei Herren von der Elektro-Branche im abgeschlossenen Lokal noch eine Stunde unter sich und feierten ihr Leben.
»Meine Frau ist ein wunderbares Wesen«, sagte Benno Terek zu Olga Lacaze, die sich auf seinem Schoß sehr zart und hold hin und her wippte, nachdem sie schon das fünfte Glas Sekt in sich hineingesogen hatte. »Komm mit mir auf mein Landgut, Olga, in die frische Luft, meine Frau wird Dich willkommen heißen und pflegen nach all den bösen Dingen hier.«
»Das sind doch keine bösen Dinge hier«, sagte Olga Lacaze und strich ihm das Haar zurück. »Du bist eine ganz melancholische Unke. Bist Du Bolschewist? Alle richtigen Bolschewisten sind melancholisch. Ich liebe Bolschewisten.«
»Fällt mir nicht ein, Bolschewist zu sein!«
»Bist Du Nihilist?«
»Ich bin gar nichts.«
»Du, Doktor Frommel,« rief sie über den Tisch, »was ist dieser Mann, auf dessen Schoß ich sitze?«
Doktor Frommel, der Lydia Lacaze im Arm hielt und schon ziemlich betrunken war, rief: »Er ist einer der größten Physiker unserer Zeit, Ehrenwort.«
»Sowas bist Du,« sagte Olga und sah Terek aufmerksam ins Gesicht. »Was macht denn so ein Physiker den ganzen Tag? Eier ausbrüten?«
»Nein, ganz andre Dinge. Alle Dinge aufteilen, mein Kind. Sehr ähnlich wie Deine Bolschewisten. Immerzu die Dinge aufteilen.«
»Und wenn sie ganz aufgeteilt sind, die Dinger?«
»Dann kann man die Erde in die Luft sprengen. Dann wird man den Stoff gefunden haben, der alle Atome zertrümmert und alle Elektrons zertrümmert, dann kann man endlich die Erde in die Luft sprengen.«
»Aber mich nicht? Mit mir machst Du eine Ausnahme? Bitte bitte, mich nicht in die Luft sprengen!«
»Alles wird in die Luft gesprengt! Dazu ist die Physik da! Da gibt's keine Ausnahmen!«
»O weh, o weh, o weh!« Sie gab ihm einen Kuß.
»Einen Ausweg gibt's noch vor der großen In-die-Luft-Sprengerei: man kann sich vorher selbständig wegschaffen. Wollen wir uns zusammen totschießen, Olgalein?«
»Lydia!« rief Olgalein, »hört mal zu Ihr Zwei, knutscht nicht so blöd, ich muß Euch was fragen – so hör' doch, Lydia –« Sie warf Lydia ein Stück Kuchen an den Kopf.
»Ja«, sagte Lydia und erwachte langsam aus Frommels Geküsse.
»Soll ich mich mit diesem Physiker totschießen?«
»Was zahlt er Dir dafür?« frug Lydia.
»Was zahlst Du mir, wenn ich mich mit Dir totschieße?« frug Olga.
»Der Kerl hat Geld wie Heu«, lallte Frommel, »tu es nicht so billig, Olga, laß Dich nicht neppen.«
Terek setzte Olga ab. »Ach was, Ihr besoffenen Schweine! Ich will mal sehn, ob ich noch Geige spielen kann, ich will mal Musik machen, Ihr Idioten.«
»Er kneift,« schrie Olga, »er will sich nicht totschießen mit mir, schon wieder kein Geschäft zu machen!«
Terek trat auf das kleine Podium und stimmte die Geige der »Fünf Schwestern Sassanow«. Er probierte ein paar Doppelgriffe und spielte eine Bach'sche Fuge an. Es ging noch ausgezeichnet.
Die Schwestern Lacaze waren begeistert. Sie wollten ihn engagieren, unter der Bedingung, daß er einen Rock anzöge und als Weib mit ihnen konzertierte.
»Gemacht,« rief er vom Podium herunter, »ich bleibe bei Euch, im Rock –« Er spielte »Nachtigall, ach Nachtigall«.
Lydia lief zu ihrer Balalaika, um ihn zu begleiten. Olga zog ihre Baßlaute wieder aus der Hülle, um mitzuspielen. Schließlich torkelte auch Doktor Frommel aufs Podium und versuchte sich am Schlagzeug.
Sie spielten richtiges Ensemble. Nur, daß Frommel alle zarten Stellen kaputt trommelte. Terek stimmte den Marsch der roten Armee an und schrie bei der vierten Wiederholung: »Das Leben ist wunderbar!«
Sie fingen den Marsch immer wieder von vorn an.
»Ich fahre morgen mit Dir nach Berlin, Frommel«, schrie Terek, »mit welchem Zug fährst Du, ich fahre mit, ich muß ans Werk! Ans Werk, ans Werk!«
Frommel schlug gerade auf sein Schlagzeug ein, daß weder die Geige und die Zupfinstrumente noch Tereks Worte gehört werden konnten. Terek stieß ihm das Schlagzeug mit dem Fuß um und klemmte die Trommel zwischen seinen Beinen ein. Dann war fünf Minuten lang schwebende Harmonie in dem kleinen Saal, bis Frommel sein Schlagzeug geangelt hatte und drauf los hieb. Es war nichts mehr mit ihm anzufangen, sie brachen den Marsch der roten Armee mit großem Krach ab.
»Ernsthaft,« sagte Terek und nahm Frommel beiseite, »mit welchem Zug fährst Du? Ich fahre mit, ich muß in den Betrieb zurück, ich ertrage meine Einsamkeit nicht mehr.«
Frommel wurde sofort nüchtern, als er sah, daß es sich wirklich um geschäftliche Dinge handelte. »Ich hab einen Platz im Flugzeug, Abfahrt neun Uhr früh – Kinder, um acht Uhr muß ich ausstehn – flieg mit, Terek, wir wollen sofort anklingeln, ob Du noch einen Platz bekommst –«
Er hatte eine Idee: er wohnte im Hause eines Geschäftsfreundes, dort wohnte er stets, wenn er in München zu tun hatte, doch diesmal war er ganz allein in der »Fritzsch'schen Protzenvilla«, Papa Fritzsch und Mama Fritzsch waren mit allen ihren Sprößlingen an die See gereist – die ganze Kapelle der In-die-Luft-Sprenger konnte dort bei ihm schlafen, Terek und Olga und Lydia. Dort konnte er auch beim Nachtdienst vom Lufthafen anfragen, ob noch ein Platz für Terek zu haben wäre.
Sie fuhren in die Fritzsch'sche Villa, schlichen sich an der Hausmeisterwohnung vorüber und drehten im ersten Stock alle Lichter auf. Frommel telephonierte und bekam einen Flugplatz nach Berlin für Doktor Terek reserviert. Lydia Lacaze kochte in der Küche Kaffee. Olga saß mit leisem Gewipp auf dem Schoß ihres Physikers und amüsierte sich über den ernsten Telephonton, mit dem er sein Telegramm an Lea aufgab.
»Ludwig Emil Adam, Theodor Emil Richard Emil Karl, Gustav Leo Otto Nathan Nathan –«
»Nathan, mein süßer Nathan«, schrie Olga auf seinem Schoß. »Muß dringend Berlin fliegen, stop, Brief folgt – nein, Unterschrift ist nicht nötig –«
»Doch,« schrie Olga, »halt, es kommt noch was,« rief sie ins Telephon, »noch was, noch was, noch was, telegraphier' noch ein bisserl, bitte, bitte –«
»Stop«, rief er ins Telephon. »Muß eine Million verdienen, stop –«
»Noch was«, schrie Olga entzückt, »das zahlt ja doch alles Herr Fritzschi-Fritzschi –«
»Stop«, telephonierte Terek, »und nichts für ungut, ein Stromer ist's gewesen –«
Der Beamte am andern Ende las vor und frug nach der Unterschrift.
»Dein«, sagte Terek, »Dein Barbara Emil Nathan Nathan Opapa –«
»Mein Opapa Nathan«, rief Olga und saugte sich an seinem Mund fest, während er den Hörer zurück legte.
Er schob sie sanft von sich. »Es geht nicht«, sagte er und steckte ihr schnell einen von seinen letzten vier Fünfzigmarkscheinen in die Hand, während Lydia den Kaffee auftrug.
»Nein?«, sagte Olga kühl und schob den Schein in die Seitentasche ihrer wollenen Weste. »Armer Kerl, armer Opapa Nathan –«
Sie tranken zu viert Kaffee, müde, und gingen schlafen. Frommel schlief mit Lydia im Schlafzimmer des Hausherrn. Terek war mit Olga im Zimmer der Kinderbonne einquartiert. Er nahm seiner Dame den Pelz ab, küßte ihr die Hand und schlich sich ins Kinderzimmer nebenan.
Er schlief in einer weißlackierten Kinderbettstatt, mit einem Raffaelschen Engel zu seinen Häupten und mit unzähligen Puppen, Puppenwagen, Teddybären, Eisenbahnen, Autos, Puppenküchen und Wollaffen zu seiner Rechten und zu seiner Linken. Er mußte sich ein wenig zusammenkauern, doch es ging, er schlief einen schwarzen traumlosen, toten Schlaf.
Am andern Morgen flog er mit Frommel nach Berlin. Seinen Farman und seine drei Schrankkoffer ließ er stehen, wo sie standen.
Frommel sah aus die Landschaft hinab und sagte: »Wunderbar – ist das nicht wunderbar –«
Terek schrie: »Was ist?«
Frommel schrie: »Ist es nicht wunderbar, was der Menschengeist –«
Terek schrie: »Das ist Mord, Sie Idiot, wir morden den Raum und die Zeit, Mord ist das –«
Frommel schrie: »Was sagen Sie da –«
Terek schrie: »Mord! Der Mensch lebt im Raum und in der Zeit, die morden wir hier, Mord an Zeit und Raum, das ist viel schlimmer als Menschenmord –«
Frommel schrie zurück: »Wunderbar, nicht wahr?«
Terek schrie: »Ja, Sie haben recht, ja, ja, wunderbar, wunderbar, wunderbar –«
Frommel hatte verstanden und war befriedigt. Er zog sich fröstelnd den Pelz an den Körper und schloß die übernächtigen Augen.
Professor Gfäller ließ das Verdeck zurückschlagen. Trotz seiner Theorie von dem abgestreiften Dunstkreis des Geschwindigkeitsmenschen wollte er im offenen Wagen durch das dunstige Blau fahren. Während der Chauffeur die Scharniere zurückwürgte und die Fenster herabließ, mußte Lea in den Stall laufen, um eine alte Pferdedecke zu suchen, weil Professor Gfäller die schottische Decke von Tante Nüll nicht mitnehmen wollte. Als sie mit einer dicken grauen Decke zurückkam, saß er schon im Wagen. Sie hüllte ihm sorgfältig die Beine ein und stopfte ihm die Decke so fest unter, daß er wie eine gewickelte Mumie saß. Dann sprang sie vom Trittbrett und der Motor schlug an.
»Erstens?« Professor Gfäller zwinkerte ihr zu.
»Erstens die chinesische Mauer«, sagte sie gehorsam.
»Zweitens?«
»Zweitens der Kartoffelacker.«
»Drittens?«
Drittens wußte sie nicht.
Er winkte sie geheimnisvoll zu sich, um ihr sein drittes Stichwort ins Ohr zu flüstern, und zog sie, als sie in Reichweite gekommen war, zu sich, um ihr zwei schnelle segnende Küsse auf die Augen zu geben. Sie blinzelte und sprang zurück, der Wagen fuhr an, der alte Herr winkte mit erhobenem Arm bis zur Krallenhof-Ecke, ohne sich zu wenden, dann war sie allein …
Erstens die chinesische Mauer. Die Chinesen hatten eine Mauer um ihr Reich gezogen, und Professor Gfäller hatte ihr von dem tieferen Sinn dieser Mauer erzählt, er war als Spezialist für ostasiatische Botanik zehn Jahre lang in der Mongolei gewesen. Innerhalb jener Mauer gab's keinen Staat, sondern ein Reich, ein Menschenreich. Innerhalb jener Mauer wurde der Tod nicht mit Jenseitsmärchen übertölpelt, dort wurde er als dunkler Bruder dieses hellen Lebens ins Dasein einbezogen und in heidnischer Diesseits-Frömmigkeit gehegt. Innerhalb jener Mauer gab's kein Ziel, auf das die Menschheit mit gerunzelter Stirn und mit geballter Faust losmarschieren mußte, kein Jenseits-Ziel im Himmel, wie es die Missionare importierten, kein Diesseits-Ziel mit Fortschritt und Entwicklung, wie es die Techniker und Händler importierten, Europa und Amerika, die Russen und die Militärs und Cook and son: dort war ein Wandeln und ein Wallen rund im Kreis, ziellos, und in der Mitte aller Dinge lebte, in klösterlichen Dynastien und in Familiendynastien, in Einsamkeit und in verworrenen richtungslosen Bünden, er selbst, der Mensch. Dort gab's die schönsten Stauden dieser Erde. Und war's auch nur ein gelbes Menschenreich, ein fernes und zerbröckelndes Beispiel eines wirklichen Menschenreichs: es war gewesen und es konnte wieder sein.
Zweitens der Kartoffelacker. Nach Professor Gfällers Meinung war es zu spät im Jahr, um für die Herbstpflanzung ein Stück Wiese umzugraben. Sie sollte die Herbstpflanzung ihrer neuen Stauden auf dem alten Herseschen Kartoffelacker beginnen, dort war der Boden schon verwittert, die Kartoffelernte dieses Jahres sollte geopfert werden. Sofort heraus mit den Kartoffeln, sofort heraus damit, trotz Nanas und des Krallenpeters Jammer um die halbgereifte Frucht. Umgraben, Steinelesen, Düngen, Wässern, und schnell ans Werk, in einer Woche waren seine ersten Körbe mit den Mutterpflanzen da. Dann erst kam's Wiesenland am Hang in Arbeit, zur Vorbereitung für die große Frühjahrspflanzung, danach die Wasserpflanzenzucht am Grünen Tümpel, danach die Steinpflanzenzucht im Kühlen Graben, danach noch vielerlei. Doch der Kartoffelacker war das wichtigste, das war Professor Gfällers zweites Stichwort.
Und drittens? Drittens sein väterlicher Segen für die große Einsamkeit? Sehr schön, daß er in diesen schwarzen Tagen sie beraten hatte, jetzt war's vorbei. Sie hatte Benno Tereks letztes Telegramm mit ihm besprochen, jedoch was war viel zu besprechen dran? Nichts …
Chinesische Mauer und Kartoffelacker graben. Mehr wußte auch Professor Gfäller nicht. Und wenn sie mit ihm nach Berlin gefahren wäre? Zu einer zweiten Pasternakschen Expedition? Den eingefrorenen Geliebten aufzutauen? Wach auf, gefrorener Heid', der Mai steht vor der Tür, Du blühest nimmermehr, blühst Du nicht jetzt und hier? Professor Gfäller hatte ihr abgeraten, und sie war selbst dagegen … Sie war kein rettender Engel von der Heilsarmee. Was fallen wollte, fiel. Was frieren wollte, fror. Wer Millionär sein wollte, im Betrieb sein wollte, mußte es sein. Was sterben wollte, starb. Und nichts für ungut, ein Stromer ist's gewesen. Was frieren wollte, fror, fror ein und wurde Eis. Sie war sie-selbst, allein. Chinesische Mauer und Kartoffelacker. Dazu ein Greisenkuß aus Wurzelwerk und Rauch. Mehr gab's nicht unterm männerlosen Mond der städternen Zeit.
Sie ging ans Werk, freudlos. Die Minni-Minni kam von ihrem zweimonatlichen Jagdzug aus dem Bergwald zurück, verhungert und zerschunden, und trank fünf Schalen Milch auf einen Sitz. Doch, was sie aus der Jagd an Leben und an Tod geschaut, behielt sie bis in Ewigkeit für sich. Am Morgen sprang sie von ihrem Lager im Tennenheu herunter und dehnte sich und schlich zu Leas Frühstückstisch. Wenn Lea dann an ihre Arbeit ging, strich sie durch den Kartoffelacker und wärmte an der letzten Sonnenkraft des Herbstes den Pelz, damit die Winterhaare besser wüchsen. Zuweilen tanzte sie nach einer späten Wespe, zuweilen rieb sie ihren Hals an Leas Bein, zuweilen schleckte sie die wunden Zehenballen aus. Doch meistens lag sie drei vier Meter von Leas Arbeitsplatz ganz still im Kraut und blinzelte für sich selbst und lauschte in ihr eignes Ich hinein.