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Im letzten Dorf des Tals rastete er und aß zu Mittag. Dann kaufte er seine Rüstung: Rucksack, festes Schuhwerk, lange Samthose in Gelb, Umhang in Schwarz, Wäsche und Proviant, Seife, Schere, Messer, Stock. Im Hotel war er der letzte Gast, im Bazar der letzte Käufer. Es war ein Almdorf, das im Winter leer stand. Die Saison war zu Ende, Hotel und Bazar wurden geschlossen, das Vieh wurde abgetrieben. Man schaute ihm mißtrauisch nach, als er weiterstapfte, bergwärts. Die Zeit des Alpinismus war vorbei, die Zeit des Ski war noch nicht da: wohin im Neuschnee?
Er hatte aber unterwegs gehört, daß aus dem letzten Winkel des Tals noch Vieh erwartet wurde. Dort weideten noch Schafe und Ziegen, härtere Kreaturen als die abgetriebenen Kühe und Kälber, die konnten auch noch unterm Neuschnee die letzten Gräser des Jahres finden, wo das entartete Rinderzeug nur hilflos glotzte oder hungrig brüllte oder Kolik kriegte. Dort war noch eine bewohnte Alm, dort wollte er schlafen. Schlafen und ein paar Tage ruhn und sich wiederfinden! Denn er hatte sich verloren, das war klar. Verloren das männliche Ziel des Lebens, verloren seine männliche Seele. Und er hatte Vertraun in dieses tiefe Tal. Die dünne Schneedecke war am Schmelzen, das gab ein starkes Gerausche von allen Seiten. Die Gründe und Kessel lagen im ziehenden Nebel, das gab dem Nachmittag ein unerbittliches Licht.
Am Abend kam er zur Alm der letzten weidenden Schafe und Ziegen. Zum Schluß der Wanderung war der Nebel auch über ihn und seinen Pfad geweht, so schritt er blind auf sein Ziel los. Der Pfad war naß, überwuchert von Huflattich, bedeckt von den Fladen der abgetriebenen Herden. Zuerst kam eine Wegtafel, wo der Talboden zu Ende war und der Steig zum Kees, zur Gletscherscharte, ablief. Dann kam ein riesiger Christus, an einem roten Holzkreuz hing der gepeinigte nackte Mann und starrte in den ziehenden Nebel, sein Reich war nicht von dieser Welt, jedoch von welcher war es dann? Es kam ein kleines Gasthaus, das schon längst geschlossen und verlassen war, verrammelte Türen, verrammelte Fenster, Winterschlaf. Und gleich nach diesem toten steinernen Haus kam die lebendige hölzerne Alm und eine kleine Rauchfahne stieg aus dem wackligen Kamin.
Er klopfte ein paarmal an die geschwärzte Vortür und trat, als kein Herein kam, ungerufen ein.
An der offenen Feuerstelle saß ein junges Weib und starrte mit entsetzten Augen auf ihn. Kein Zweifel, sie war entsetzt über den unerwarteten Besuch. Warum hatte sie nicht Herein gerufen? Warum starrte sie ihn an wie ein Gespenst?
»Guten Tag«, sagte er freundlich und hielt ihr die Hand hin.
Sie übersah seine Hand, er mußte sie schnell zurückziehn, um sich nicht zu demütigen.
»Haben Sie Angst vor mir?«, frug er so sanft wie möglich.
»Ich fresse Sie nicht.«
»Was wollen Sie hier«, frug sie schroff.
»Übernachten.«
»Geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Das Gasthaus ist geschlossen.«
»Und hier, in der Alm, im Heu?«
»Geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil's nicht geht.«
Sie stand auf und schob den großen Kupferkessel, der überm Feuer hing, aus dem Gestänge. Sie ächzte ein wenig dazu, der Kessel war schwer und sie war schwanger, das sah man, wenn sie stand. Sie war schwarzhaarig, grobknochig, groß, dreißig Jahre alt vielleicht, im letzten oder vorletzten Monat der Schwangerschaft. Sie stellte den Kessel mit dem warmen Abendtrank fürs Jungvieh auf den Boden und verschnaufte ein wenig. Dann hob sie ihn mit letzter Kraft wieder hoch, um ihn in den Stall zu schleppen.
»Kann ich helfen«, frug Benno Terek.
»Mein Gott«, sagte sie verächtlich, stieß die Stalltür mit dem Fuß zurück, verschwand und ließ ihn stehn, wo er stand.
Schlechte Aussichten! Höchst verächtlich hatte sie sein Angebot zurückgewiesen. »Mein Gott«! In dem gezwungenen Hochdeutsch aus ihrer Schulzeit hatte sie es klingen lassen wie: »Schwächling, geh wieder fort, geh wieder fort, Schwächling!« Mit welchem Recht hielt sie einen fremden Städter ohne weiteres für einen Schwächling, der ihren Kessel nicht tragen konnte? Hatte sie nicht gesehn, daß er breitschultrig und trainiert war, obwohl er aus der Stadt kam? Warum war sie entsetzt gewesen über sein Kommen? Warum war sie erpicht auf sein Wieder-Gehn?
Er warf mit einem trotzigen Ruck seinen nassen Umhang und sein schweres Pack zu Boden. Er setzte sich in den kleinen Sessel, der noch die Wärme ihres gesegneten Leibes barg, und wartete. Es war unmenschlich, ihn kurz vor der Nacht abweisen zu wollen, unmenschlich und frech. Nur nicht so eilig, wildes Fräulein!
Daß mir niemands hold ist,
Des freu ich mich gar sehr;
Was die Leut verdreußet,
Das treib ich desto mehr.
Mir und Dir ist niemands hold,
Das ist unser beider Schold.
Ho ho, Lieber, –
Tu so wol und friß mich nit,
Hab mich lieb und acht mein nit.
Eine Zeitlang hörte er sie im Stall ihr Werk tun. Es waren die Geräusche aus Abrahams Stall: das dumpfe Stoßen an die Raufen, das monotone Zischen in den Melkkübel, das tiefe Mutterblöken und der kleine Lämmerschrei, dazwischen jene alten biblischen Rufe: »Zuruck, Scheißhammel, hoi, hoi hoi, ruck zu, du Stinkerbock«.
Dann hörte er sie aus dem hintern Stalltor ins Freie treten und die Nachtbalken vorschieben, dann war Stille. Jetzt kam wohl noch ein kleiner Rundgang ums Haus, ob alles dicht war, die Fensterläden, die heuverstopften Ritzen im Gebälk, dann war das Schiffchen klar zur Ausfahrt in die Nebelnacht und konnte ziehn. Er sah gespannt auf die geschwärzte Vortür, durch die sie jetzt gleich eintreten mußte, um den Kampf mit ihr wieder aufzunehmen.
Aber sie kam nicht. Er wartete eine halbe Stunde und sie kam nicht. Er wurde allmählich nervös, es dunkelte stark, der Nebel brachte eine frühe Nacht, das Feuer brannte nieder und verglomm, sie kam nicht.
Wo war sie geblieben? In der Hütte war sie nicht, das war gewiß. Es war eine Alm nach der alten Form, das große verräucherte Zimmer war der einzige Wohnraum, in der Ecke stand ihr Schrank und ihr Bett, eine Leiter führte zum offenen Heuboden überm Stall. Im Stall war nichts mehr zu hören, nur das verschlafene Geläut, wenn die beglockten Tiere sich im Traume rührten.
Was war?
Er trat vor die Tür. Dichter kam der Nebel, näher rückte die Nacht, Tropfen fielen vom Dach, zuweilen war das verrammelte Steinhaus gegenüber durch die ziehenden Schwaden zu erkennen. Wenn das wilde Fräulein nicht zurückkam, schlief er entweder ohne große Einladung auf dem Heuboden oder in ihrem geblümten Bett. Oder er brach in das tote Gasthaus gegenüber ein. Ganz gewiß war dort irgend ein Fensterbalken aufzusprengen, was war dabei. Ein gesprengter Balken, ein zerklirrtes Fenster, ein paar eingetretene Türen, und er konnte zwischen zwanzig weißen Betten wählen. Bange machen gilt nicht, wildes Fräulein! Komm nur zurück aus deinem Versteck, wildes Fräulein!
Er schloß die Tür und trat zu einer letzten Überlegung an die erloschene Feuerstelle. Er hielt eine Generalversammlung seiner Gedanken und Triebe ab. Die weiblichen Aktionäre seiner Seele forderten sanftes Warten und christliche Milde. Die männlichen Aktionäre forderten Krach und heidnische Selbstherrlichkeit. Jedoch das Weibtum war in Übermacht in jener Zeit. Es war in Übermacht zu Gottes Schand und Spott und zu der Männer Schand und Spott. Es war in Übermacht auch zu der Weiber Schand und Spott, da sie sich nach dem unterlegnen Manntum sehnten und verzehrten. So sank er als ein richtiger Bubi seiner männerlosen Zeit in den erkalteten Sessel, zu warten und zu warten und es zu erdulden.
Es war Nacht, als sie kam. Sie stieß die Tür auf und rief: »Sind Sie noch da, Herr?« Er antwortete mit einem kleinen Grunzen. Sie schloß die Tür und streifte an ihm vorbei zur Nische, wo die Kerze stand.
Als die Kerze brannte, beleuchtete sie sein Gesicht und beguckte ihn mit gerunzelter Stirn. »Also Sie können auf dem Heuboden schlafen«, sagte sie in ihrem gezwungenen Schuldeutsch. Dann stellte sie die Kerze wieder in die Nische und trat zur Feuerstelle. Im Nu hatte sie ein großes Feuer angefacht. »Warum läßt Du das Feuer ausgehn,« brummte sie, »kannst Du nicht Holz nachlegen, Du?«
Er antwortete nicht. Er blieb in seinem Sessel sitzen und sah zu, wie sie ihren Kochkessel mit Wasser füllte und ins Gestänge schob. Wo war sie gewesen? Warum war sie jetzt plötzlich einverstanden mit seinem Bleiben? Ihr Ton war freundlicher als zuvor, aber es war keine natürliche Freundlichkeit, man hatte das bestimmte Gefühl, daß sie sich in der Zwischenzeit mit irgendeinem Menschen besprochen hatte.
»Sind Sie allein hier«, frug er nach einer kleinen Weile.
»Wer soll denn sonst da sein?«
»Keine Hilfe?«
»Der Hüterbub ist krank.«
»Wo ist er?«
»Im Tal«.
»Der ist mit den Kühen abgetrieben. Ist ja nur noch Kleinvieh da.«
»Ganz allein?«
»Wer soll denn da sein?«
»Ist das Gasthaus drüben ganz leer?«
»Wer soll denn drüben sein?«
Er schwieg.
Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Na, wer soll denn drüben sein, im Gasthaus drüben, Du?«
»Niemand«, sagte er gehorsam.
Er fühlte jetzt ganz deutlich, daß sie in dem verrammelten Gasthaus gewesen war und sich mit irgendwem besprochen hatte, mit einem Mann. Sie war viel zu wild, um ihn täuschen zu können. Wen hielt sie dort drüben versteckt? Ihren Liebhaber, den Vater ihrer Frucht? Aber warum mußte sie den vor einem fremden Städter verstecken?
Einen Augenblick lang dachte er an Überfall, Raubmord, Totschlag, jäh fuhr er aus dem Schlaf, ein wilder Mann stand neben dem wilden Fräulein, ein Schrei und da stak schon das Messer in seinem Bauch, und das alles für siebenhundert Mark und zehn Pfund und just auf der Expedition nach dem verlorenen Manntum. Aber das waren höchst lächerliche Stadtgedanken. Mochte doch der Teufel in dem verrammelten Gasthaus stecken, es war ihm gleichgültig!
Er nahm seinen Proviantbeutel aus dem Rucksack und breitete sein Abendessen aus. Sie schob ihm Ziegenmilch und Schafkäse hin, er gab ihr Tee und Speck und Schokolade. Zuerst wollte sie nichts annehmen, dann wurde sie von dem Schwangerschaftsgelüst überwältigt und ließ sich überreden, drei Tafeln Schokolade auf einen Sitz aufzufressen. Er hatte ihr den Sessel wieder überlassen und saß auf der Feuermauer. Gerührt schaute er zu, wie sie Stück für Stück von der alten dicken Ladenhüter-Kochschokolade in den Mund schob.
»Wie heißen Sie eigentlich, Fräulein?«
»Sanni.«
»Und?«
»Gundisch.«
»Sanni Gundisch. Schöner Name. Ich heiße Benno Terek.«
»Da kann man nichts machen«, sagte sie spöttisch und brach die dritte Tafel an. Das Kind in ihrem Leib schien seit Monaten nach bejahrter Kochschokolade zu schrein.
»Ich lasse Ihnen meine ganze Schokolade hier, ich habe noch fünf Block davon.«
Sie sagte nicht ja und nicht nein.
»Sind Sie verheiratet?«
Sie schüttelte den Kopf und kaute weiter.
Beziehungslos saß sie da, ganz sie selbst, ein Weib. Ein schwangeres Tier glotzte ins Feuer und kaute Schokolade. Zuweilen konnte man unter der gespannten blauen Leinenhose die Kindsbewegungen sehn. Dann brummte sie: »Gübst ka Ruh ita?« Mit dem Kind sprach sie nicht im Schuldeutsch des Herrn Lehrer und des Herrn Pfarrer. »Sprüngt der Bankart wiara Teifisbock!« Das Embryo hatte seinen Tanztag. »Gübst ka Ruh ita?«
»Dann wird's ein Bub«, sagte Benno Terek.
»In der Stadt vielleicht«, sagte sie patzig. »Bei uns tanzen die Mädchen, die Buben sind viel geruhsamer im Bauch.«
»Mag schon sein«, sagte Benno Terek. Er hatte keine Erfahrungen in dieser Sache. Er begann von der Stadt zu erzählen, von seinem Beruf, ein wenig Prahlerei mit den abgetanen Dingen. Vielleicht konnte er mit ihr ein kleines Tauschgeschäft machen? Sie schenkte ihm ihre zehntausendjährige Erfahrung, wie man tränkte und molk und ob die Buben geruhsamer waren im Mutterbauch oder die Mädchen; er schenkte ihr die letzten Neuigkeiten der Saison und die letzten Rekordzahlen aus Sport und Mechanik.
Aber sie schien wenig Interesse für dieses Tauschgeschäft zu haben. Als die Schokolade zu Ende war, erhob sie sich mitten in seiner Erzählung von der letzten Damenmode, um zu Bett zu gehn. »Schlafen Sie wohl, Herr«. Es klang eher wie ein Seufzer als wie ein Wunsch. Sie gab ihm zwei wollene Decken und zeigte ihm, wo das Heu auf dem Boden am trockensten war. »Gutnacht.«
Sein Schlafplatz war dicht neben der Leiter, dicht über ihrem Bett. Er konnte sie zu Bett gehn sehn. Sie tat die blaue Joppe und die blaue Hose ab, zog eine rosaverblichene Nachtjacke übers Hemd, schlug am Weihwasserkessel ein flüchtiges Kreuz und wälzte sich mit einem kleinen Ächzer in die geblümten Kissen. Dann war Dunkel und Stille.
Er lauschte noch ein wenig: die Tropfen vom Schindeldach, der schwere Atem der Schwangeren, das verschlafene Geläut, wenn die beglockten Tiere unter ihm sich rührten. Er dachte noch ein wenig an allerlei: das verrammelte Steinhaus, der versteckte Liebhaber, seine städtischen Ängste, das verlorene Manntum. Dann schlief er ein auf dem treibenden Nebelschiff seiner Wahl.
Nach dem würzigen Nichts eines traumlosen Schlafs war das Erste ein monotones Geräusche. Es regnete in Strömen. Dicht neben seiner Schlafstelle klatschte Tropfen auf Tropfen durch eine schadhafte Stelle im Dach. Die Schindeln waren alt und dürr, zuweilen spritzte es bis an sein Gesicht.
Plötzlich wurde ihm bewußt, was schon seit einer halben Stunde in seinen Schlaf eingedrungen war: Männerstimmen, mehrere fremde Stimmen, ein aufgeregtes Hin und Her, die Almstube unter ihm war voller Menschen, ein seltsames feindseliges Durcheinander. Er wälzte sich auf die Seite und sah in die Stube hinab.
Es war Tag, die Fensterläden waren offen, graues Regenlicht beleuchtete den Raum. Was das schwache Licht des Tags nicht durchdrang, war im Schein eines großen Feuers zu sehn. Das wilde Fräulein stand an der Feuerstelle und rührte in ihrem Kessel. An der Stalltür stand ein uniformierter Mann und an der Vortür stand ein uniformierter Mann. Es waren Soldaten oder Gendarmen. In dem Sessel neben der Feuerstelle saß ein Mann im städtischen Anzug, ein älterer Herr mit hohem Kragen und verschwitztem Beamtengesicht. Neben ihm stand ein junger Mann mit einem Schreibblock in der Hand, sein Schreiber oder sein Sekretär. Das wilde Fräulein schob ihren Kessel hin und her und schien ganz mit ihrer eigenen Arbeit beschäftigt, obwohl sie ganz offenbar im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stand.
»Es wäre besser, Sie lassen das jetzt,« sagte der Herr im Sessel in Schriftdeutsch, »das hat wohl Zeit, bis wir fertig sind?«
»Mei Viach ka ita verhungara!« Sie schien ihr Schuldeutsch von gestern Abend völlig vergessen zu haben. Nicht die geringste Mühe gab sie sich, mit diesen fremden Männern zu einer Verständigung zu gelangen.
Benno Terek spitzte die Ohren und rührte sich nicht. Es handelte sich um den Vater des Kindes, dessen Bewegungen er gestern Abend unter der gespannten blauen Leinenhose gesehn hatte. Es handelte sich darum, wann die Sanni Gundisch einen Mann, der Stefan Hadrawa hieß, zuletzt gesehn hätte, zuletzt gesprochen hätte, was sie von seinen Plänen wüßte, was sie von seinem Versteck wüßte, was sie überhaupt von ihm wüßte. Es war ein schweres Kreuzverhör und es ging hart auf hart, das war schnell zu erkennen.
Der Untersuchungsrichter war ein schlauer Fuchs und stellte eine Falle nach der andern. Manchmal brüllte er sie an, manchmal sprach er wie ein milder Vater auf sie ein. Und immer wieder sagte er, daß er ganz genau wüßte, wo der Mann Stefan Hadrawa zu finden wäre, und daß es sich jetzt nur um Sanni Gundischs Schuld oder Unschuld handelte. Aber es war ganz klar, daß es nicht um Sanni Gundischs Schuld oder Unschuld ging, sondern einzig allein um das Versteck des Mannes Stefan Hadrawa.
Die Sanni Gundisch war nicht dumm. Das fühlte der Untersuchungsrichter so gut wie Benno Terek. Daß sie ihre Antworten in wüstem Dialekt statt in Schuldeutsch gab, war kein schlechter Trick. Und daß sie ihr ganzes Interesse dem Feuer und dem Viehtrank zuwandte, war auch kein schlechter Trick. Immer wieder wurde sie ermahnt, ihre Arbeit stehn zu lassen, aber sie hörte auf keine Mahnung, die Gendarmen hätten sie mit Gewalt verhindern müssen, ihre Kessel hin und her zu stoßen wie in einem Wettbewerb für schnellstes und lautestes Viehtrank-Rühren.
Aber ihr bester Trick war, daß sie sich zur Feindin der ganzen Welt machte und über die Störung in ihrer Arbeit genau so wütig war wie über den Mann Stefan Hadrawa selbst. Sie hatte mit ihm gebrochen, sie wollte nichts mehr von ihm wissen, ihretwegen konnte er geschnappt werden oder nicht, sie war fertig mit ihm, so oder so.
»Aber gestern Mittag ist er doch noch hier gewesen?«, sagte der Richter immer wieder.
Eine halbe Stunde war er hier gewesen, wollte Mittagessen haben, wollte Geld und Käse haben, wollte sie in die Geschichte hineinziehn. Aber sie hatte weder mit einem Mörder noch mit dessen Richter etwas zu tun, das war für sie eins und das gleiche. Wohin er dann gegangen war, wußte sie nicht und wollte sie nicht wissen.
»Haben Sie ihm Mittagessen gegeben?«
»Das ist wohl keine Sünde?«
»Gewiß nicht.«
»Also.«
»Haben Sie ihm auch Geld und Käse gegeben?«
Sie besann sich kurz, dann rollten ein paar Tränen über ihr knochiges Gesicht und sie sagte: »Ja«.
»Wieviel Geld?«
»Zwanzig Schilling.«
»Wieviel Käse?«
Sie nahm einen Laib Schafkäse vom Tisch und zeigte, wieviel sie dem Vater ihres Kindes auf den Weg gegeben hatte. Und Schluß! Mehr war nicht aus ihr herauszuholen. Man konnte nicht erkennen, ob sie bei den Beamten Glauben fand oder nicht.
Es gab eine kleine Pause. Der Richter und seine Gehilfen wollten für gutes Geld ein paar Liter Ziegenmilch kaufen. Es war großartig anzusehn, wie das wilde Fräulein den Beamten Milch und Käse vorsetzte und das Geld zurückschob. Feindin aller Welt! Richter, Gendarmen, Mörder, es war eins in ihren Augen. Sie nahm den Kessel und schleppte ihn in den Stall. Da wälzte sich Benno Terek aus seinen Decken und stieg zu der Kommission hinab.
Er hatte seinen festen Plan. An der Art, wie man ihm entgegensah, merkte er, daß bereits von ihm gesprochen worden war. Schade, daß er die Aussage der Sanni Gundisch, soweit sie ihn selbst betraf, nicht mehr gehört hatte. Aber das würde sich schon finden.
Der Richter begrüßte ihn wie einen Verbündeten aus der gleichen Gesellschaftsklasse.
Er selbst war ebenfalls erfreut, in dieser vernebelten und verregneten Wildnis plötzlich einen gebildeten Menschen anzutreffen, und stellte sich mit seinem ganzen Titel vor.
Der Richter erzählte ihm von dem Holzknecht und Bergführer Stefan Hadrawa, dem Liebhaber der Sanni Gundisch und dem Mörder des Bauernsohns Matthias Loofer.
Er war aufs äußerste betroffen, er war völlig schlaftrunken, es war natürlich das erste Wort, was er von dieser Sache hörte.
Der Richter entschuldigte sich, daß er über alles, was Benno Terek zu dieser Sache wußte, ein kleines Protokoll aufnehmen mußte.
Aber selbstverständlich, sehr gern, vielleicht durfte er vorher noch schnell ein Glas Milch hinunterschütten, er war noch ganz flau, vielleicht gab's im Stall schon frischgemolkene Milch? Selbstverständlich erst ein Glas Milch, aber bitte nicht im Stall, das Verhör sollte stattfinden, bevor er mit der Sennerin sprach, das war eine reine Formsache.
Aber selbstverständlich, er konnte ja auch aus dem Topf der Beamten einen Schluck trinken, wenn sie gestatten wollten, nur einen Schluck?
Aber selbstverständlich, bitte sehr.
Es war eine Lust. Er gab seine Personalien an und zeigte seinen Paß. Er prahlte geschickt mit seiner Berliner Stellung im wirtschaftlich-technischen Großbetrieb und verschwieg, daß er seine Stellung gekündigt hatte. Im Gegenteil, er steckte mitten im Werk, er war nur für ein paar Wochen aus der Stadt geflohn, um eine wichtige physikalische Entdeckung in absoluter Einsamkeit durchzudenken und auszuarbeiten. Näheres über diese wissenschaftliche Arbeit brauchte er wohl nicht zu Protokoll zu gebn? Es handelte sich um eine Sache von umwälzender Bedeutung für die Elektrobranche, vorerst noch ganz geheim.
Aber selbstverständlich, tat gar nichts zur Sache, sehr interessant …
Es war eine Lust, die Beamten mit gesellschaftlichen und industriellen Mätzchen einzuwickeln. Als die Sanni Gundisch aus dem Stall zurückkam, war der Richter bereits bester Laune und übersah, daß sie sich Benno Terek gegenübersetzte und ihm hie und da in die Augen schaute. Sie schauten sich hie und da in die Augen, Benno Terek und das schwangere Weib des Mannes Stefan Hadrawa. Sie schauten sich in die Augen, das Weib, das ein wahres Weib war, und der Mann, der ausgezogen war, sein verlornes Manntum wiederzufinden. Und der Staat und sein Recht und seine Helfer und seine Helfershelfer, die fielen zwischen diesen heidnischen Menschenblicken ins Nichts.
»Seit wann sind Herr Doktor hier?«
»Seit gestern.«
»Seit welcher Stunde etwa?«
»Das kann ich nicht genau sagen. Kurz nach Mittag, früher Nachmittag.«
»Was nennen Herr Doktor frühen Nachmittag?«
»Es mag drei Uhr gewesen sein.«
Zu Protokoll: Doktor Benno Terek war um drei Uhr nachmittags auf der Alm der Sanni Gundisch einpassiert … Es war die gefährlichste Ecke der Verhandlung, das wußte Benno Terek ganz genau. Er war noch zur Mittagszeit im letzten Dorf gesehn worden. Aber da er langsam marschiert war und die Dörfler nicht nach dem Minutenzeiger lebten, konnte er diese zwei, drei Stunden zu schwindeln wagen. Das gehörte zu seinem Plan.
»Was ist Ihnen, Herr Doktor, aufgefallen, als Sie hier einpassierten?«
»Nichts.«
»Trafen Sie außer der Sanni Gundisch keinen Menschen hier an?«
»Nein.«
»Hatten auch nicht das Gefühl, daß ein andrer Mensch in der Nähe war?«
»Nein.«
»Sahen auch im Gasthaus drüben keinen Menschen?«
»Nein. Ich hatte das bestimmte Gefühl, das Gasthaus steht seit Wochen leer.«
»Hier hat Sie Ihr Gefühl getäuscht«, sagte der Richter mit liebenswürdiger Überlegenheit. »Der Stefan Hadrawa hat sich zwei Tage lang in dem Gasthaus versteckt gehalten. Bevor wir hier einbrachen, haben wir nämlich drüben eine Haussuchung gehalten und frische Spuren gefunden.«
»Ach?«, machte Benno Terek interessiert.
Und es war auch wirklich eine interessante Kunde, daß das Gasthaus bereits durchsucht war. Das warf mitten im Verhör seinen ganzen Plan über den Haufen. Bis vor einer Minute hätte er noch darauf geschworen, daß der Mann Stefan Hadrawa in dem verrammelten Steinhaus steckte. Aber der Mann Stefan Hadrawa war auch im ersten Morgengrauen dieses verregneten Gerichtstags auf der Lauer gelegen, er hatte die Beamten rechtzeitig gesichtet und sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Jetzt steckte er entweder in den Felsen über der Alm, abseits vom Pfad, und witterte durch den Nebel auf die Alm herunter; oder er marschierte über die Gletscherscharte, auf der Flucht ins Nachbartal, weiter, weiter, immer weiter fort von der Sanni Gundisch und seiner süßen und bitteren Heimat … Er warf einen schnellen Blick auf die Sanni Gundisch, um zu seinem Entschluß zu kommen. Sie mußte wissen, was der Mann Stefan Hadrawa in diesem Augenblick unternahm. War er auf der Flucht ins Nachbartal, zur Eisenbahnstation des Nachbartals? Oder hielt er sich in den Felsen über der Alm versteckt, um zurückzukehren, wenn die Luft wieder rein war? Wenn er beim Anblick der Beamten Hals über Kopf geflohn war, um nicht mehr zurückzukehren, dann stand es schlimm um ihn, dann wurde er sicher im Nachbartal geschnappt, spätestens auf der Eisenbahnstation, dann war der Städterplan zu seiner Rettung von Übel. War er aber besonnen genug, sich vorerst in der Gegend der Alm zu halten und für seine weitere Flucht die stilleren Tage des Lebens abzuwarten, dann war alles gut, dann konnte man den geplanten Trick ausspielen … Die Sanni Gundisch saß völlig unbeteiligt da. Aber ihr Mund war jetzt halb geöffnet, nicht mehr so verzweifelt zusammengepreßt die Lippen wie zuvor, das sah nicht nach irgendeiner Dummheit des Mannes Stefan Hadrawa aus. Das sah auch nicht nach ewiger Trennung aus. Er beschloß, dem guten Instinkt des Mannes Hadrawa zu vertraun und alles auf eine Karte zu setzen.
»Was für einen Eindruck«, frug der Richter, »hatten Sie bei Ihrer Ankunft von der Sanni Gundisch?«
»Sie war in gedrückter Stimmung.«
»Was sagte sie?«
»Nicht viel. Sie hatte geweint. Nach einiger Zeit, als wir wegen meiner Unterkunft einig geworden waren, fragte ich sie nach ihrem Schmerz. Es war ihr ja deutlich anzusehn, daß etwas nicht in Ordnung war. Sie sagte, sie hätte ihren Mann verloren. Ich fragte, ob er tot wäre? Nein, nein, sagte sie, fort, weit fort, ihr Mann wäre weit fortgereist. Ich konnte mir keinen rechten Vers darauf machen und wollte nicht weiter in sie dringen.«
Zu Protokoll: Er fragte die verweinte Sanni Gundisch nach dem Grund der Tränen, sie gab die Trennung von ihrem Liebhaber als den Grund ihrer Tränen an.
»Und was geschah dann?«
»Ich machte noch einen Spaziergang.«
»Wohin?«
»Aufwärts. Der Nebel lag gegen Abend nur im Tal, in der Höhe war klare Aussicht zu erhoffen.«
»Sie gingen aus dem Pfad zur Gletscherscharte?«
»Ganz richtig.«
»Selbstverständlich, nach einer Stunde, in einer Höhe von etwa zweitausendfünfhundert Meter war herrliche Aussicht.«
»Ist Ihnen dort oben irgend etwas Verdächtiges aufgestoßen?«
»Donnerwetter ja«, sagte er und schnalzte ein paarmal betroffen mit der Zunge an den Gaumen. »Donnerwetter ja.« Es fiel ihm erst jetzt wieder ein, was ihm dort aufgestoßen war, dicht unterhalb der Gletscherscharte, kurz vor den zerklüfteten Keesen, zwischen denen der Pfad ins Nachbartal zog. »Donnerwetter ja, ich Idiot, das war er natürlich.«
»Sie glauben, Sie haben Stefan Hadrawa gesehn?«
»Ich glaube bestimmt, bestimmt, ganz bestimmt. Vor lauter Begeisterung über den Sonnenuntergang habe ich gar nicht mehr dran gedacht.«
»Wo sahn Sie ihn?«
»Unterhalb der Scharte. Ich habe mit ihm gesprochen. Es kann natürlich auch ein ganz andrer Mensch sein, aber ich habe jetzt auf einmal das Gefühl, er ist es gewesen. Wenn Sie ein Photo von ihm hätten, könnte ich es Ihnen sofort sagen.«
»Langenegger!«
Der Schreiber hatte das Photo bereits gezückt und hielt es jetzt mit inquisitorischer Geste unter Benno Tereks Nase.
»Donnerwetter ja«, sagte der und nahm das Photo vorsichtig in die Hand. »Stimmt.« Er war sehr erschrocken. Er hatte mit einem Mörder gesprochen. Auf dem einsamen Pfad zwischen den abendlichen Keesen hatte er mit einem Mörder gesprochen. »Donnerwetter ja, verdammt nochmal, natürlich habe ich ihn gesprochen, kein Zweifel.«
Zu Protokoll: Er machte noch einen Aufstieg zur Gletscherscharte, um den Sonnenuntergang zu genießen, und traf dort, auf einer Höhe von zweitausendfünfhundert Meter über dem Meeresspiegel etwa, einen Mann, den er nach dem Photo mit Bestimmtheit als den gesuchten Stefan Hadrawa erkannte … Benno Terek starrte auf das Photo. Es war ein schlechtes Bauernphoto. Vor einem Vorhang, auf den ein paar krumme Bergzinnen und ein paar kletternde Gemsen geschmiert waren, stand ein zäher kleiner Mann, kurzer dunkler Bart, harte helle Augen, schwarzer Kirchenanzug, steife Haltung, nicht viel zu sehn. Aber die gefährliche Personalbeschreibung war vermieden und von jetzt ab vermied er auch, die Sanni Gundisch anzusehn. Sie saß totenstill und starrte wie gebannt auf ihn, das fühlte er.
»Bitte versuchen Herr Doktor, sich genau zu erinnern: was sprach jener Mann? Es ist sehr wichtig.«
»Er saß neben einem kleinen Steinmann und wartete, bis ich neben ihm stand. Ich war mir zuerst nicht klar, ob ich einen Eingeborenen oder einen Handwerksburschen vor mir hatte. Aber als ich ihn nach den Namen der Berge frug, wußte er genau Bescheid, so daß ich den Eindruck gewann, es mit einem Bergführer oder Träger zu tun zu haben. Natürlich bin ich nicht auf den Gedanken gekommen, es mit einem Mörder zu tun zu haben, Donnerwetter ja.«
Der Richter und seine Gehilfen waren ein wenig belustigt über seine plötzliche Erregung. Für sie war es nichts Neues, mit einem Mörder zu sprechen. Es war ein hübsches Überlegenheitsgefühlchen, einen nicht beamteten Menschen zu sehn, der sich über solche Dinge aufregte.
»Dann bettelte er mich an. Ich gab ihm zwei Schilling in kleiner Münze. Als er merkte, daß ich durch die schöne Umgebung freigebig gestimmt war, bat er um mehr. Er erzählte mir eine sentimentale Geschichte von einer kranken Mutter und solches Zeug, ich merkte zwar, daß er schwindelte und daß es sich um die übliche Bettelei handelte, doch ich ließ mich erweichen und gab ihm schließlich noch zwanzig Schilling, der Teufel soll's holen, ich hatte keinen kleineren Schein bei mir.«
Zu Protokoll: Unterhielt sich mit Hadrawa und schenkte ihm schließlich zweiundzwanzig Schilling, zwei in kleiner Münze, zwanzig in einem Schein.
»Dann frug er mich nach einem Fahrplan. Zufällig trug ich einen kleinen Taschenfahrplan bei mir. Er konnte sich nicht zurechtfinden und ich mußte ihm helfen, seinen Zug zu finden. Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube mich bestimmt zu erinnern: es handelte sich um einen Zug, der noch vor der Nacht von der Endstation des Nachbartals abginge und Anschluß an die großen Züge nach Süden hätte –«
»Eine Minute, Herr Doktor, das ist äußerst wichtig –«
Zu Protokoll: Bat um Auskunft wegen der Züge aus dem Nachbartal, die noch vor Nacht zu erreichen wären und Anschluß an die großen Züge nach Süden hätten. In Klammern: Geldbestand mindestens zweiundvierzig Schilling, zwanzig von der Sanni Gundisch, zweiundzwanzig von Doktor Terek. Zweite Klammer: Proviantbestand mindestens ein Laib Schafkäse, Gewicht etwa zwei Kilo.
Benno Terek war dann zur Alm zurückgekehrt und hatte am Abend an seiner wissenschaftlichen Arbeit geschrieben. Den Bettler hatte er ganz vergessen. Auch mit der Sanni Gundisch hatte er nicht über diesen kleinen Zwischenfall gesprochen. Sie war am Abend sehr einsilbig gewesen und bald zu Bett gegangen.
Er mußte noch seine Berliner Adresse angeben, dann war das Verhör zu Ende. An Sanni Gundisch wurde eine Vermahnung abgegeben, dann mußte die Kommission schleunigst zu Tal steigen, zur nächsten Telephonstation, der Mann Stefan Hadrawa konnte mit seinen zweiundvierzig Schilling und seinem Laib Käse schon über der Grenze sein, wenn er wirklich den Zuganschluß erreicht hatte, ohne von den Gendarmen des Nachbartals geschnappt worden zu sein.
Es gab einen herzlichen Abschied von dem freundlichen Helfershelfer aus Berlin. Aber als der Richter in einer mitleidigen Anwandlung auch dem Weib des Mannes Stefan Hadrawa die Hand hinhielt, sah die ihn mit einem Blick an, der ihn schnell seine Patschhand wieder zurückziehn ließ. Sie verzichtete auf sein Mitleid. Und er hatte auch gar keinen Grund, sein Mitleid zu verschenken. Er brauchte all sein Mitleid für sich selbst, wie er mit seinen Gesellen wieder zu Tal stapfte, um als armer Diener einer männerlosen Gesellschaft seine Akten zu schreiben und zu verwesen bei lebendigem Leib.
Benno Terek trat vor die Tür und ließ die neue Freundin seines Lebens allein.
Der Nebel war wieder gesunken und hatte den Regen verschluckt. Das gab feuchte Schwaden, Regen und Schnee und Nebel in eins. Der Städter zog seinen neuen schwarzen Umhang fester um die Schultern und marschierte ein Stück zur Gletscherscharte empor.
Die nordischen Stammväter wußten wohl, warum sie das Taggestirn ein Weib sein ließen: Die Sonne! Und sie wußten wohl, warum sie die Gegengewalten der Sonne männlich benannten: Der Regen, der Nebel, der Schnee! Von allen Völkern der Erde sind sie beschimpft worden als sonnenfeindliche Gesellen, als verknaxte Nebelmenschen und Barbaren. Aber wären sie doch bei ihrem Urgefühl geblieben, daß die Sonne zu den Weibern gehört und der Nebel zum Mann! Hätten sie sich doch nicht irre machen lassen in der Verteilung des Feuers und des Wassers dieser Erde! Hätten sie sich doch nicht verlocken lassen von den Weiberreligionen aus Süd und Ost! Hätten sie es doch den Weibern überlassen, den nackten Bauch der Sonne entgegenzustrecken! Die zwei Grundfesten der menschlichen Welt wären an ihrem Ort geblieben, Weib und Mann hätten sich nicht zu widerlichem Mischmasch vermantscht, bei ihrer Begattung wäre noch das große Dunkel um sie – die gemeinsame Urhülle, darin Sonne und Nebel, Feuer und Wasser eins ist.
Doch der Weltgeist läßt sich nicht von ein paar süd-östlichen Ideen und von ein paar westlich-amerikanischen Gespenstertricks irre machen. Die Männer flohn zwar aus dem ziehenden Nebel und seinen heidnischen Geheimnissen, streckten den nackten Bauch der Sonne entgegen wie die Weiber und verloren ihr Manntum dabei, doch das verlorene Manntum der Männer war nicht ins Nichts versunken. Es kreiste weiter auf dem kreisenden Ball der Erde. Es kreiste weiter und senkte sich in die Weiber ein. Die mußten es aufnehmen, ob sie wollten oder nicht. So sind die Weiber halbe Männer geworden und die Männer halbe Weiber, und die Sonne hat Flecken bekommen vor Wut über diesen Weiberverrat, und der Nebel der Erde ist dichter geworden im verzweifelten Kampf um die verlorene Männergenossenschaft, so wird das Wetter jährlich schlechter und die Meteorologen sperren das Maul auf und die Wissenschaftler suchen wissenschaftliche Erklärungen und die ganze zivilisierte Welt dreckt in die Hose, immer mehr, immer mehr, immer mehr.
Aber erst wenn die Hose der zivilisierten Menschheit ganz und gar vollgedreckt sein wird, werden die letzten Männer bereit sein, ihr Manntum wieder ganz und gar auf sich zu nehmen, ein neues Manntum, o heidnischer Nebel des männlichen Mannes, und wird das letzte Weibtum wieder ganz und gar es selber sein, o sonnenbestrahlter gewölbter reiner Frauenbauch, und wird der Nebel wieder geheimnisvoll uns umhüllen und wird die Sonne wieder ohne Flecken auf uns scheinen, dann wird das Wetter wieder schöner werden … Wer aber reinigt dann die ganz und gar verdreckte Hose der zivilisierten Welt? Wohin mit dem Zeug aus der vermantschten Halbe-Männer-Halbe-Weiber-Zeit? Ach, die Natur verschluckt wohl mit der Zeit auch diesen Kot. Sie blüht Thymian aus Kuhmist, sie blüht wohl eine neue Menschenblume auch aus diesem schweren Dünger. Vielleicht braucht sie ihn, wer kann es wissen.
Erst am Nachmittag kam Benno Terek von seinem Nebelgang zurück zur Nebelalm.
An der Feuerstelle saß der Mann, der auf dem Photo mit den verschmierten Felsen und den kletternden Gemsen zu sehn gewesen war. Er war in Hemdsärmeln und trug eine verschabte englischlederne Hose. Er war klein, das war schon an dem Photo zu erkennen gewesen, mindestens einen Kopf kleiner als Benno Terek und die Sanni Gundisch. Die stand gerade unter der Stalltür, als Benno Terek eintrat. Der Mann an der Feuerstelle warf ihr einen fragenden Blick zu, sie nickte schnell und ging in den Stall.
»Schlechtes Wetter«, sagte der Mann Stefan Hadrawa.
»Miserabel«, brummte Benno Terek, zog sich den nassen Umhang über den Kopf und hängte ihn übers obere Gestänge zum Trocknen auf.
»Haben Sie schon zu Mittag gegessen, Herr?« Der kleine Mann mit dem braunen Bart und den harten hellen Augen sprach reineres Schuldeutsch als die Sanni Gundisch. Man hörte sofort, daß er im Krieg oder sonstwo mit Städtern zusammengelebt hatte. Doch es klang noch guttural genug, man spürte noch unter seinem Schriftdeutsch deutlich genug, daß er zwischen Schroffen und Keesen beheimatet war.
»Ich esse irgendwas Kaltes von meinem Proviant«, sagte Benno Terek und stieg auf den Heuboden, wo sein Rucksack lag. Mit Speck und Sardinen kam er zur Feuerstelle zurück.
»Das ist nicht gut, Herr«, sagte Stefan Hadrawa. »Kalter Speck ist nicht gut, wenn man auf einer Alm ist. Und Fischlein in Büchsen sind auch nicht gut, wenn man auf einer Alm ist.«
»Nein?«
»Nein, o nein! Sie können das essen, wenn Sie in dem Kees sind, auf dem Glockner oder auf dem Bratschenkopf. Auf der Alm müssen Sie andres Essen essen.« Er schob einen Teller mit einem Käsgericht und einen Krug voll Milch neben Benno Tereks Speck und Sardinen. »Das müssen Sie essen, Herr.«
»Was ist das?«
Die Antwort klang wie: »Schaaf-Kaas-Nochka.«
»Besten Dank«, sagte Benno Terek und war so klug wie zuvor.
»Werden Sie es essen?«
»Gern, besten Dank.« Er begann die fremdartige Käsespeise zu essen, es schmeckte sehr scharf.
»Sie müssen Milch dreinschütten, Herr.«
»Besten Dank«. Er schüttete Milch drein.
»Sie müssen Butter daran tun, wenn's zu scharf ist.«
»Besten Dank.« Er nahm von der Butter, die der kleine Mann ihm hinschob.
»Das ist zu wenig, Herr, dreimal soviel Butter müssen Sie daran tun.«
Gehorsam nahm er dreimal soviel Butter und sein Wirt war beruhigt und schaute ihm schweigend beim Essen zu.
Er aß langsam und mit Appetit. Dennoch kam er nicht zum vollen Genuß der würzigen Speise, mit der einst Abraham die Engel des Herrn bewirtet hatte. Der kleine Mann gegenüber verbreitete, wenn er still war, eine stärkere Atmosphäre, als wenn er mit seiner hohen, ein wenig fisteligen Stimme sprach. Wenigstens schien es Benno Terek so, als säße er zum erstenmal in seinem Leben mit einem Menschen zusammen, der die ganze Stube mit seiner körperlichen Ausstrahlung erfüllte. Er war nicht der Mord, es war nicht Trauer oder Freude, was durch die verräucherte Hütte schwelte. Es war ein Teil der lebenspendenden Urhülle der Natur, was um dieses verdächtige Individuum lagerte. Und ganz gewiß ahnte der armselige Flüchtling Stefan Hadrawa nichts von der machtvollen Ausstrahlung, mit der der Mann Stefan Hadrawa durchs Leben zog.
»Warum tragen Sie einen Bart, Herr«, frug er nach einer kleinen Weile.
»Warum nicht«, frug Benno Terek zurück und lachte.
»Ist es ein Bart oder sind es nur die alten Stoppeln?«
»Es soll ein Bart sein.«
»Warum denn? In der Stadt trägt man doch keinen Bart?«
»Nein. Aber ich trage eben einen Bart.«
»Ich habe schon viele städtische Herren über die Keese geführt, weil ich Bergführer bin im Juli und August und September, aber die waren alle ohne Bart. Höchstens eine kleine Schnurre unter der Nase. Alle glattrasiert.«
»Bis vor kurzem war ich auch glattrasiert. Jetzt trage ich eben einen Bart. Ich hab die glatten Kinder-Hinterer-Gesichter satt. Glattrasiert ist gut für Schauspieler und Pfaffen und Sträflinge. Früher waren nur die Sklaven glattrasiert.«
»Ja früher! Aber jetzt gehn alle städtischen Herrn glattrasiert.« »Sind auch alle Sklaven, Sträflinge oder Pfaffen oder Schauspieler.«
»Aber durch den Bart wird man doch kein anderer Mensch?« Es war deutlich zu hören, daß er sich über den neuen Sieben-Millimeter-Bart lustig machte.
»Ich kann ihn ja wieder abnehmen«, sagte Benno Terek in bösem Ton. »Ich werde ihn natürlich sofort abschaben, wenn Sie es wünschen. Vermutlich haben Sie allein das Recht, einen Bart zu tragen?«
»Lassen Sie ihn stehn, den Bart«, sagte Hadrawa und lachte. »Es ist wahr, was Sie von den glatten Kinder-Hinterer-Gesichtern der städtischen Herrn sagen. Lassen Sie ihn stehn, den Bart, vielleicht bringt er Hilfe.«
Benno aß schweigend zu Ende. Er hatte das Gefühl, daß der Mann Stefan Hadrawa ein ganz verdammter Hund war. »Vielleicht bringt der Bart Hilfe!« Es hatte geklungen: »Vüllaicht brüngtdrrr Hülllfi«. Ohne eine Ahnung von seiner Mitte-des-Lebens-Krankheit zu haben, hatte der kleine Kerl seine städtischen Nöte am rechten Fleck aufgespürt. Deutlich war der Spott über das verlorene Manntum in den hellen harten Fuchsaugen zu lesen.
War es nicht eine riesige Dummheit gewesen, den Staat und seine Beamten auf die falsche Fährte zu hetzen? Wie konnte er diese blödsinnige Anwandlung verantworten? Wenn man den Flüchtling doch noch schnappte, konnte man ihm wegen Begünstigung eines gemeinen Verbrechens den Prozeß machen. Was sollte er dann zu seiner Entschuldigung angeben? Daß er Mitleid mit dem schwangeren Weib gehabt hatte? Daß er dem Vater des Kindes, dessen Bewegungen er unter der blauen Leinenhose gesehn hatte, keinen gemeinen Mord zutraute? Daß er in Opposition zu dem Staat stand und zu seinen Henkern? Das waren alles Gründe des Herzens, doch der Staat ging nach den verstandesmäßigen Gründen des Lebens und mußte auch nach den verstandesmäßigen Gründen des Lebens gehn. Es war ein irrsinniger Trieb gewesen, sich ohne Überlegung jenseits von Recht und Unrecht zu begeben.
Und was war der Dank? Er hatte zwar keine persönliche Erfahrung in diesen Dingen, aber nach allem, was er gehört und gelesen hatte, benahm sich ein Mensch, dem man das Leben gerettet hatte, anders wie Stefan Hadrawa. In den russischen Romanen knieten die geretteten Mörder vor ihrem Retter nieder und plumpsten dreimal mit dem Schädel auf dem Fußboden auf, dabei flüsterten sie: »Christus sei mit Dir, Väterchen«. In den amerikanischen Geschichten stürzten sie mehrere Gläser geschmuggelten Whisky hinunter und schüttelten dem Retter mit riesigem Druck die Hand. In der europäischen Literatur waren sie entweder unschuldig, weil alles ganz anders gewesen war, oder sie wandelten sich und schritten in ein neues Leben hinaus, entweder allein, vereinsamt, oder mit der ebenfalls gewandelten Bibbermadame. Dieser Kerl aber sagte in einem Ton, der voll gemeiner Ironie war: »Abrrr durch dön Baart hallein würd man doch kan andrrrer Mönsch«, und traf wie ein lauernder Jäger sein Wild ins Blatt, statt seinem Retter in Dankbarkeit die Hand zu küssen.
Als das biblische Gericht verzehrt war, kam die Sanni Gundisch aus dem Stall zurück. Sie setzte sich Benno Terek gegenüber in den Sessel und sah ihn forschend ins Gesicht. Hadrawa nahm schweigend den abgegessenen Teller vom Platz seines Gastes, nahm aus der Nische noch einen Pack schmutzigen Geschirrs dazu, legte behutsam Stück für Stück in einen Kübel voll warmem Wasser und trat vor die Hütte, um zu spülen.
»Er hat seinen eigenen Sinn«, sagte die Schwangere schlicht, als die Tür hinter ihrem Mann ins Schloß fiel.
Benno Terek rauchte eine Zigarette an und schwieg. Was sollten ihre Worte bedeuten? Eine Entschuldigung, weil sich ihr eigensinniger Liebhaber noch nicht bei ihm bedankt hatte? Oder eine Warnung vor dem wilden Mann des wilden Fräuleins? War es ein Lob oder ein Tadel, seinen eigenen Sinn zu haben?
»Er hat seinen eigenen Sinn«, wiederholte sie nach ein paar Minuten mit Anstrengung und jetzt war deutlich zu hören, was sie meinte. Es war eine Warnung. Er sollte sich nicht in die Geschäfte des Mannes Stefan Hadrawa mischen.
»Ich habe auch meinen eigenen Sinn«, erwiderte er scharf. »Aber ich bin jetzt in Eure Sache verwickelt, ob ich will oder nicht. Wir wollen uns doch nichts vormachen! Wenn er geschnappt wird, fliege ich wegen Begünstigung mit ihm in den Kerker«.
»Er ist unschuldig«, sagte sie zornig.
»Das kann ich nicht beurteilen. Umso besser für uns alle drei, wenn er unschuldig ist. Aber vor Gericht sehn ja die Dinge leider ganz anders aus wie in Wirklichkeit.«
»Gericht«, stieß sie keuchend hervor. »Es war eine alte Feindschaft zwischen dem Hadrawa und dem Loofer. Der Loofer hat den Hadrawa zehn Jahre lang mit tausend kleinen Nadeln gestochen und der Hadrawa hat eines Tages mit einem kurzen, festen Messerstich dagegen gestoßen: wo ist da Schuld?«
»Aber das ändert doch nichts an der Tatsache, daß er gerichtlich verfolgt wird und daß ich für ihn falsche Angaben gemacht habe. Oder?«
»Wer hat es Dich geheißen, Du«, erwiderte sie schroff.
So stand die Sache? Man war hier wütig auf ihn, weil er zugunsten des Flüchtlings in den Lauf der Dinge eingegriffen hatte? Man pfiff auf seine Hilfe? Aber bei dem Verhör war dieses Weib ihm dankbar gewesen, ganz gewiß. Deutlich hatte er vor den Beamten den geheimen Bund mit ihr gespürt. War es nur ein Trug seines kranken Stadtgehirns gewesen? Oder hatte der Mann das Weib umgestimmt, nachdem sie ihn über das Verhör und die fremde Hilfe berichtet hatte?
»Wir sind keine undankbaren Menschen«, sagte sie, als er sich erhob, in milderem Ton und legte die Hände mit gespreizten Fingern auf ihren riesigen Bauch. »Aber Du sollst nicht auf unserer Weide grasen, Herr.«
»Was ist«, frug er barsch.
»Du hast Deine Weide und wir haben unsere Weide, Du hast Dein Gras zu fressen und wir haben unser Gras zu fressen.«
»Ganz gewiß«, sagte er und lachte ein bösartiges städtisches Gemecker, das ihm selber peinlich in den Ohren widerklang. »Ich will nichts von Eurem Gras fressen, besten Dank, es war nur ein kleiner Nachbardienst und Schluß«.
Er stieg auf den Boden, um seinen Proviant wieder in seinem Rucksack zu verstauen.
Umso besser, wenn Hadrawa kein gemeiner Mörder war. Ein einziger fester Messerstich gegen »tüsend kliane Naddeln«, darüber ließ sich reden.
Er legte sich aufs Heu, um ein paar Minuten zu ruhn. Er war müde und verwirrt. Es war wohl am besten, noch vor Nacht zu Tal zu steigen und das spröde Paar sich selber zu überlassen. Sie wünschten keine fremde Hilfe. Sie hatten wohl schon ihre Erfahrungen gemacht und wußten, daß Hilfe zwischen den Menschen von Übel war.
Sie hatten Recht. Er konnte den Mann Hadrawa nicht nach Amerika transportieren und der Mann Hadrawa konnte ihm nicht die verlorene Würze des Lebens aufpäppeln.
Mir und dir ist niemands hold,
Das ist unser beider Schold,
Ho, ho, Lieber –
Er duselte ein wenig ein. Dann hörte er die zwei in der Almstube eindringlich schwatzen. Es war purer Dialekt, kein Wort zu verstehn. Er stieg die Leiter hinab, um nach dem Wetter und dem Licht des Tages zu sehn. Wenn die Stimmung noch immer feindlich war, dann wollte er sich auf der Stelle verabschieden und zu Tal steigen, wie auch das Wetter und das Licht des Tages stand.
»Gut geschlafen, Herr?«, begrüßte ihn Hadrawa. Deutlich war zu hören, daß eine neue Verhandlungsbasis versucht wurde. Es war der unterwürfige Ton des Bergführers, der auf ein gutes Trinkgeld angewiesen ist.
»Mal nach dem Wetter sehn«, sagte Benno Terek kühl und trat zur Tür.
Der kleine Mann stellte sich vor die Tür und versperrte den Weg ins Freie. »Das Wetter wird gut, Herr«, sagte er eindringlich. »Morgen wirds kalt und klar sein. Will der Herr keinen Berggipfel machen? Ich kann Sie führen, um billiges Geld. Ich kann Sie führen auf den Hohen Dock, ich kann Sie führen auf den Bratschenkopf. Wohin wollen Sie steigen?«
»Ich wollte eigentlich ins Tal zurück.«
»Machen Sie einen Gipfel, Herr, Sie werden es nicht bereuen. In dem Kar unterm Bratschenkopf lebt seit zwei Jahren ein weißer Bock, das kommt alle hundert Jahre vor, daß ein Hirsch ein weißes Fell hat. Wenn wir Glück haben, können wir ihn erlugen. Am hohen Dock ist eine grüne Grotte im Kees, wo noch kein Fremder war, garantiert noch nicht. Sie werden dort der erste Herr sein, wenn ich Sie führe. Hier ist mein Führerbuch.«
Er zog aus einem verschwitzten Lederbeutel ein kleines Heft und reichte es Benno Terek mit devoter Geste. Herr Kaufmann Rohde, Wien, bescheinigte dem Bergführer-Aspiranten Stefan Hadrawa mit größter Zufriedenheit eine Glockner-Besteigung. Auch Herr Fabrikant Schneider, Köln, war mit Frau und Tochter von ihm auf den Glockner geführt worden und sehr begeistert gewesen. Ebenso Iltz, Apotheker, Gera, Glocknerhaus. Ebenso Reinhardt Steinle, Reisender, Hamburg, Glocknerhaus. Studenten und Studentinnen hatte er geführt, Hoteliers, Rabbiner, Witwen, Friseure, Beamte, Kaufleute, die mutigeren Herrschaften zum Glockner, die feigeren Herrschaften nur zum Glocknerhaus, aber keinen Menschen noch zum Bratschenkopf oder zum Hohen Dock.
»Auf dem Glockner ist es in diesen Tagen zu gefährlich für mich, Sie verstehn, Herr, dort könnten wir noch eine späte Partie von der andern Talseite treffen, Sie verstehn, Herr, wir müßten einen abgelegenen Gipfel nehmen, Sie verstehn, Herr.« Es war das erstemal, daß er seine schlimme Lage erwähnte.
»Sind wir mal ganz offen«, sagte Benno Terek und reichte ihm das Führerbuch zurück. »Warum wollen Sie mich auf den Bratschenkopf oder sonstwohin führen?«
»Ich brauche das Geld – aber nicht für mich, ganz gewiß nicht für mich.«
»Für Ihre Frau?«
»Das geht nicht hierher.«
»Das geht nicht hierher.«
»Für die Geburt?«
»Dreißig Schilling und ich führ Sie auf den Bratschenkopf, Herr«, sagte er in hartem Ton und brach das Gefrage nach dem Zweck des Geldes ab. »Es kostet nach dem Tarif über das Doppelte, Herr, Sie werden es nicht bereun.«
»Hier sind hundert Mark«, sagte Benno Terek und nahm einen von seinen sieben großen Scheinen aus der Brieftasche. »Ich kann es leicht entbehren.«
Hadrawa wehrte mit beiden Händen ab.
»Wenn wir einen Gipfel machen, werde ich Sie um den halben Preis führen, Herr, und Sie bitten, mir das Geld vorauszuzahlen. Weil nämlich morgen früh unsere Alm abgetrieben wird und die Sennerin das Geld mitbekommen soll. Wenn wir keinen Gipfel machen, nehm ich auch kein Geld.«
Er öffnete die Tür, um aus der Stube zu treten und das Gespräch, das ihm offenbar sehr schwer fiel, abzubrechen.
»Eine Minute!« Jetzt versperrte Benno Terek den Weg ins Freie. »Ich schlage Ihnen ein Geschäft vor, Herr Hadrawa. Ich stelle Sie für vierzehn Tage als meinen Führer ein und zahle Ihnen den Lohn voraus. Dann kann ich Ihnen sofort dreihundert Mark Vorschuß auszahlen, wenn wir pro Tag dreißig Schilling rechnen. Was sagen Sie dazu?«
Hadrawa sagte nichts. Er kniff die Augen zusammen und spähte scharf in das Gesicht des Städters, um den tieferen Sinn dieses Angebots zu erforschen.
»Es ist keine Falle, Herr Hadrawa, es ist auch kein Mitleid. Daß es keine Falle ist, sehn Sie daraus, daß ich dem Richter falsche Angaben zu Ihren Gunsten gemacht habe. Und daß es nicht aus Mitleid geschieht, sehn Sie daraus, daß ich hier bleiben werde, bis Sie das Geld abverdient haben werden.«
Hadrawa antwortete nicht. Er warf einen kurzen Blick auf die Sanni Gundisch. Die saß regungslos in ihrem Sessel und lauschte auf das Männergespräch, ohne sich einzumischen. Er wandte sich wieder dem Gesicht des Städters zu und sog die fremde Witterung ein.
»Ich will Ihnen erklären, wieso ich auf diesen Gedanken komme, Herr Hadrawa.« Er wollte den leichten Ton des konferenzgewandten jungen Industriellen anschlagen, aber es glückte nicht ganz, seine Worte kamen ein wenig mühsam und mit leichtem Beben heraus. »Sie müssen sich jetzt ein paar Wochen lang hier versteckt halten, darüber ist kein Wort zu verlieren, alles andere wäre Selbstmord. Und ich muß mich nämlich auch ein paar Wochen lang vor der Welt versteckt halten, wenn ich Ihnen dieses Geheimnis anvertraun darf. So können wir uns doch zusammen tun und uns zusammen versteckt halten? Ich habe Geld und Sie kennen die Gegend, das paßt doch glänzend und gleicht sich aus.«
»Warum müssen Sie sich versteckt halten, Herr?«
»Das geht nicht hierher,« sagte Benno Terek in dem gleichen Ton, mit dem zuvor das Gefrage nach dem Zweck des Gelds von Hadrawa abgebrochen worden war.
»Wird man Sie nicht hier suchen, Herr?«
»Kein Mensch der Welt weiß, daß ich hier bin.«
»Und der Richter?«, mischte sich jetzt das wilde Fräulein ins Gespräch. »Der Richter weiß, daß Du hier bist, Herr.«
»Ach was! Der Richter hat keine Ahnung, wer ich bin. Außerdem glaubt er, ich bin längst über die Scharte ins andre Tal gestiegen. Er wird mich ebensowenig hier suchen wie ihn. Eher wird er mich in Berlin suchen als hier. Auf der ganzen Welt werden sie uns zwei suchen, nur nicht hier. Das ist ja gerade unser Trick.«
Hadrawa und die Gundisch sahn sich fragend an. Benno Terek trat zur Tür.
»Ich habe keinen Grund, mich Ihnen aufzudrängen.« Diesmal gelang ihm der Ton des konferenzgewandten jungen Mannes. »Es ist ein klares Geschäft für uns beide. Wenn Ihr nicht wollt, ist es Eure Sache. Dann muß ich mir eben ein andres Versteck suchen und Ihr eine andre Geldquelle für Eure Kindsgeburt.« Er ging hinter die Alm und ließ das Paar zu einer Besprechung allein.
Das W.-C. dieser Alm lag ein paar Schritte abseits, eingesäumt von durchnäßten alten Fladen und verdörrtem Huflattich. Ein kleiner Verschlag mit freier Aussicht, ein tiefer Graben, ein junger Baumstamm als Sitz. Der Nebel stieg und gab dem Blick des Sitzenden einzelne Keese und Schründe frei. Der Neuschnee war zerschmolzen, der befeuchtete Boden der Erde duftete stärker als in den Tagen der Sonne. Würziger dufteten die nassen Steine und Pflanzen ringsum, würziger die nassen Krumen und Klumpen. Da fiel es nieder, hinter dem Sitz, ins Herz der Erde, was in den Städten in metallne Röhren fällt. Willkommen jeder neue Dung der Erde. Und immer noch war der Mensch der Herr der Erde. Er war das Erste und wird das Letzte sein.