Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Teil


 

Erstes Kapitel

Eines Tages sagte Lea Herse zu Benno Terek: »Sie können Milch haben und Sie können Brot haben, Geld gibt's nicht.« Benno Terek zog die Mütze ab und sagte: »Ein Stück Brot und ein Krug Wasser, das genügt.« Im selben Augenblick kam ein Begleiter, der grünäugige Alexander Selke, durch das Gatter geschlenkert. Der hatte den Krallenhof und den Sennenhof abgeklopft, während Benno Terek sein Glück im Hersehof versucht hatte. Beim Krallen hatte es drei Kupferpfennige abgesetzt, beim Sennen war verriegelt gewesen, Leut und Kind beim Heuen auf dem Feld. Alexander Selke war giftiger Laune. Als Lea im Hausflur verschwunden war, um einen Imbiß zu richten, äffte er Benno Tereks höfliche Tonart nach: »Ein Stühück Brohot, das genühügt! Merkste nich, daß dat ne Bessere is? Hier kannste doch glatt nen Funszger holen!« Er zog eine kleine Spieldose aus der Hosentasche und drehte sie an. Es schnurrte ein wenig, dann kam »Stille Nacht, heilige Nacht« und zirpte über die Wiesen, die in der Würze des Juni standen.

Benno Terek hatte einen Glotzer. Er hielt noch immer die Mütze in der Hand und glotzte in den Staudengarten, der sich zwischen Haus und Hang auftat. Zwei Meter hoch und dicht wie eine gepferchte Herde stand in dem Garten dieser Dame die Delphiniumblüte und wiegte sich, obwohl kein Wind zu spüren war.

Inzwischen jammerte sein Kamerad: »Mensch, wo solln wir denn unser Bierjeld for heut Nacht scheffeln, wenn de dich so dämlich anstellst, dämlicher Hund, dämlicher!«

Benno Terek setzte sich auf die Hausbank, ohne auf das Gezeter des grünäugigen Schuften und auf das Gezirp der heiligen Nacht zu hören. Seit drei Tagen tippelte er mit dem preußischen Schustergesellen, das genügte. Je eher der Krach und die Trennung kam, desto besser. Zum Schwindel über die Grenze war der Freiheitskämpfer mit dem scharfen Armeleutegeruch grad gut genug gewesen: der war schon sechsmal zwischen Bayern und Tirol hin und her gewalzt und hatte die Sache mit den Grenzern und mit den Gendarmen los, das mußte man ihm lassen; aber jetzt waren sie in Deutschland angelangt, schon seit dem Morgengrauen waren sie außerhalb der gefährlichen Zone, jetzt war Schluß mit dem muffigen Kompagnon. Lea kam zurück und stellte zwei Schalen Milch und zwei Butterbrote mit Brunnenkresse auf die Hausbank. Alexander Selke plazierte seine Dose daneben, und plötzlich klang es sehr laut durch die mittägliche Stille der Glonn: »Holder Knabe im lockigen Haar«, das alte Holz der Herseschen Hausbank schwang mit.

»Sehr schön«, sagte Lea kühl.

»Nich wahr?«, sagte Alexander Selke stolz und tat, als führte er einen Trupp dressierter Königstiger aus Bengalen vor.

Sie musterte mit einem eisblauen Blick die Dose und die zwei Stromer, dann trat sie wieder ins Haus, ohne das Ende der Serenade abzuwarten.

Alexander Selke stellte das Spielwerk ab und hockte sich neben Benno Terek auf die Bank. »Haste wiedermal nich jenug jehumpelt, Mensch? Haste ihr nich verkohlt, daß De Deine Zehen im Weltkriege verloren hast?« Er beschnüffelte den Imbiß und schnitt eine mißtrauische Grimasse.

»Bist ein übler Tropf,« sagte Benno Terek, »ich hab die Nasenlöcher voll von Dir, Du alter Stinker.« Er aß und trank. Dicker Rahm schwamm auf der Milch, die Kresse schmeckte nach den Wurzeln des Waldes.

»Mensch, hier muß ik schon mal jewesen sein«, sagte Alexander Selke und stierte zum Hersewald empor. »Vor zwo Jahren hab ik schon mal hier durchjemacht, dat möchte ik beschwören.«

»Mag schon sein.«

»Ik kann mir auch janz jenau auf dat süße Fräulein erinnern.«

»Möglich.«

»Aber damals jing ik nich mit Musike, Mensch, damals warn anre Zeiten, damals jing ik noch mit Fliejenfängern und Schleifsteinen.«

»Gutes Geschäft?«

»Prima. Hauptsächlich mit Fliejenfängern. Prima.«

»Leichtes Gewicht, was?«

»Primissima. Aber wenn de schwarz verkoofst, is det doch immer mies, ob dat nu Fliejenfänger oder Heilijenbilder sind.«

»Auch schon mit Heiligenbildern gegangen?«

»Nö, Mensch, dat jibts bei mir nich, lieber mit Hurenbildern.« Benno Terek trank seine Schale leer und wischte sich den Mund ab.

Alexander Selke kratzte sich mit seinem rostigen Käsmesser die Kresse vom Brot. »Bin ik ne Kuh, wat Grünzeug frißt?«

»Gib her!« Benno Terek nahm die abgekratzte Kresse zwischen zwei Finger und ließ sie sich in den Mund gleiten.

Alexander Selke brach in Gelächter aus. »Mensch, Dir haben sie ja auch schwer ins Jehirn jekakt! Frißte ooch Ratten, wenn die kleene Kapitalistin dir'n paar Ratten vorsetzt? Na, Mensch, ik bin tatsächlich mal drei Wochen lang mit nem Sachsen jetippelt, der hat for ne Mark ne tote Ratte jefressen, allens schon dajewesen. Pah! Die meisten von uns Brüdern fressen ja dem Kapitalissimus aus der Hand, janz ejal wat dat is. Aber det jibts bei Alexander Selke nich, der macht die Leuteschinderei nich mit, det kannste versichert sein. Ik bin konservativ, ik bin Demokrat, ik bin Sozialist, ik bin Kommunist, ik halte uff die Menschenwürde, det haste wohl schon jespannt.«

»Det hab ik jespannt«, äffte Benno Terek lachend.

»Na, vielleich nich?«

»Zeit is, dat wir uns trennen, det hab ik jespannt.«

»Wat is los?«

»Höchste Eisenbahn zum Auseinandergehn, je schneller, desto besser.«

»Na, leb wohl, Du blöder Hund, ik drängle mir niemand uff. Dat ik Dir ohne Papiere über die Grenze jeschubbst habe, det war Dir wohl recht? Und nu möchste wohl Arbeit suchen, dem Kapitalissimus hintenrin kriegen, ik kenne ja solche Brüder wie Dich! Auf den ersten Blick hab ik dat jesehn, wat Du bist.«

»Was bin ich denn?«

»Erstmal haste in Tirol wat ausjefressen, und wat Schlimmes noch dazu, sonste wärste nich jar so verkakt an der Grenze jewesen – stimmts oder hab ik Recht? Und zweitens biste so'n richtiger Knecht vom Kapitalissimus, willst jar nischt lieber tun als feste Arbeit schieben – stimmts oder hab ik Recht?«

»Na, freu Dich über Deine großartige Menschenkenntnis und leb wohl – wir können uns gleich verabschieden.«

»Mit Vergnügen, auf der Stelle, sofort! Frag doch gleich mal nach bei der hübschen kleenen Kapitalistin hier, ob se nich Arbeit for Dich hat?«

»Möglich.«

»Wahrhaftig, Bruderherz,« er fiel in gönnerischen Ton, »vielleicht hat se ne Arbeit for Dich. Die Leute sind ja mittenmang in der Heu-Saisong, die können so'n paar dumme Schweinehunde wie Dich gerade brauchen.«

»Nicht ausgeschlossen.«

»Verreck, Mensch, jeh zum Kapitalissimus und verreck!« Er stand auf und reckte sich, stolz. »Nö, Mensch! Ik bin for die Freiheit und for die Menschenwürde.«

Benno Terek lachte. Seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus besaß er dieses neue Lachen, das ihm selber ausgezeichnet gefiel.

Alexander Selke äugte in den Hausflur. Nichts zu sehn. Das Haus lag wie ausgestorben. »Besten Dank«, rief er heiser in den leeren Flur. Es kam keine Antwort. »Hier könnte man ooch so'n bisken ausräumen, wat?« Er warf einen prüfenden Blick auf Benno Terek. »So'n bisken wat mitnehmen von die kleene Kapitalistenhure, wat, die frißt doch sicher von goldenen Tellern?« Da Benno Terek keine Antwort gab, ließ er seine goldnen Ideen wieder schwimmen und trat zur Bank zurück. »Na leb wohl, Bruder.« Er blähte seine Brust. »Bist doch nur'n Hemmschuh for mein Geschäft, 'n richtiger Hemmschuh bist Du for mich jewesen.« Er streckte ihm die rissige alte Stromerpfote hin. »Ik bin for die Freiheit, Mensch, adio.«

»Adio.«

Benno Terek gab ihm die Hand, ohne aufzustehn. Der Abschied ging schmerzloser, als er gedacht hatte. Der Grünäugige spürte wohl selber die Kluft. Er war wohl auf seinen jämmerlichen Fahrten schlau genug geworden, um verkehrte Kompagnie-Geschäfte zu vermeiden. Außerdem war er feige, hatte bei aller Großmäuligkeit Angst, sobald in entschiedenen Tönen mit ihm geredet wurde.

So stolperte er dahin, der würdige Feind des Kapitalissimus. So stolperte er dahin, der romantische Tramp, von dem die Dichter an ihren Nußbaum-, Mahagoni- und Aluminiumschreibtischen träumten. Was für ein Schwindel, die Würze des Lebens auf der Landstraße zu suchen! Es gab gar keine Landstraße mehr, es gab nur noch Autostraßen. Die Straßen aller fünf Erdteile waren mit Blechkästen verstopft. Über die ganze Menschenwelt hatte die Großstadt ihre Fangarme ausgestreckt, es gab nur noch Großstädte und Vorstädte, dazwischen Autostraßen, und wo Menschen waren, war auch Stadt. »Gute Reise«, rief er lachend, als der Stromer am Krallenhof sich wandte und Winki-Winki machte. Da äugte der Stromer scharf nach allen Seiten. Da fand er sich allein auf weiter Flur, kein Mensch zu sehn. Da knüpfte er die Hose ab und knickste ihm den Abschiedsgruß mit dem blanken Hintern zu. Dann knüpfte er die Hose wieder hoch und schlenkerte mit fröhlichem Gepfeif seine Straße.

Benno Terek blieb noch eine kleine Weile vor dem ausgestorbenen Hause sitzen, schleckte die letzten Tropfen aus den beiden Milchschalen und schaute in den Staudengarten zwischen Haus und Hang.

Er war am Ende seiner Reise. Vor einem Jahr hatte er seine Stellung gekündigt, seinen Sieben-Millimeter-Bart wachsen lassen, seine Mitte-des-Lebens-Krankheit zuerst gespürt. Jetzt ging die Fahrt zu Ende. Sobald das Reisegeld zusammengeschnorrt oder zusammengeschuftet war, fuhr er wieder nach Hause. Nach Hause! Zurück in den wirtschaftlich-technischen Großbetrieb, zurück zu Beton und Blech, das war sein Nachhause. Gab es ein anderes Nachhause für einen Menschen seiner Zeit? Es gab kein anderes Nachhause. … Er konnte sich auch das Reisegeld von seiner alten Mama senden lassen. Ein Telegramm von dem verschollenen Sohn, und das Reisegeld war da. Doch das wäre ein jämmerlicher Abschluß der großen Fahrt gewesen. »Geh zu den Müttern, Faust«, brummelte er vor sich hin. Nein, er wollte aus eigener Kraft »nach Hause« finden.

Seit drei Tagen konnte er wenigstens wieder seinen eigenen Namen tragen, das war Gewinn genug. Mühsam war es gewesen, im fremden Land seinen Namen zu verlieren und sich ein halbes Jahr lang unter falschem Namen durch die chirurgischen Hörsäle schleppen zu lassen. Aber es hatte geklappt und jetzt war's vorüber. Seit drei Tagen wußte er aus einem kleinen zagen Kritzelbrief der Sanni Gundisch, daß Hadrawa tatsächlich mit seinem Paß nach Kanada gelangt war. So versuchte der Mann Hadrawa als Mann Terek sein Glück in Kanada, how do you do, what is the price, I love you, lady; so konnte auch der Mann Terek wieder Benno Terek heißen, ohne Gefahr, geschnappt zu werden; so ging die Fahrt zu Ende.

Was war gewonnen und was war verloren auf der dumpfen Fahrt? Verloren allerlei. Verloren die Stellung in Berlin, die Wohnung, die Möbel, die Bücher, der Frack, der Smoking, die Beziehungen zur Industrie und die Beziehungen zur Bibberwäsche, verloren die zehn Zehen, die im chirurgischen Archiv von Innsbruck lagen, im Spiritus, ein schöner Schulfall, daran die Medizinstudenten lernen sollten, daß man auch ohne Zehen tanzen konnte. Verloren allerlei. Und der Gewinn? Der Schaden war sehr schnell benannt, wie stand's mit dem Gewinn?

Er erhob sich von der Hausbank und dehnte sich und streckte sich mit Lust. Er brach in Lachen aus, als er sich plötzlich bei seiner kaufmännischen Überlegung ertappte. Hielt er hier Inventur-Aufnahme und Saison-Ausverkauf? War sein neues Lachen nicht Gewinn genug? Seit seiner Entlassung aus der Klinik besaß er dieses neue Lachen, ein freies Lachen, kein Gekicher von Welt, zum Lachen war Alexander Selke und die vom Auto verschluckte Landstraße, zum Lachen war die ganze Menschenwelt, wenn sie täglich tiefer heruntersackte, dem Nullpunkt zu, wo der letzte Nest der lebenspendenden Urhülle der Natur von ihr gewichen sein würde, zum Lachen war er selbst, wenn er die Mitte-des-Lebens-Fahrt nach Soll und Haben abtaxierte, nach Schaden und Gewinn. War die Bilanz nicht einfach genug? Beim Weib hieß die Rechnung:

Gewinn
– Verlust
———————
== Kind.

Beim Manne hieß die Rechnung:

Gewinn
– Verlust
———————
== Lachen

Alexander Selke war außer Sicht, so konnte auch er marschieren, allein. So äugte auch er in den leeren Flur, so rief auch er sein heiseres Dankeschön ins ausgestorbene Haus, so trabte auch er mit fröhlichem Gepfeif zur Straße. Noch humpelte er ein wenig, noch waren die zehn Amputationsstümpfe nicht verhärtet, noch drückten die orthopädischen Stiefel, die letzte milde Gabe aus der frommen Klinik von Tirol: doch das ging an, das ging vorüber, das war zum Lachen.

Als er schon am Gatter war, trat die junge Dame vom Kapitalissimus aus dem Haus und schaute ihm nach. Ganz gut, so konnte er ihr nochmals Dankschön für den würzigen Imbiß sagen – er trat zu ihr zurück.

»Besten Dank, gnädiges Fräulein.«

»Sie haben sich mit ihrem Kameraden verkracht?«, frug sie in kühlem Ton und ohne viel Neugier.

»Woher wissen Sie?«

»Ich hab zufällig vom ersten Stock aus Euer Geschwätz gehört.«

»Da haben Sie was Schönes gehört.«

»Man mußte es ja hören, Euer unanständiges Geschrei, ob man wollte oder nicht.«

»Bitte vielmals um Verzeihung.«

»Ich hab nicht viel davon verstanden.«

»Gottseidank«!

»Sie haben sich mit Ihrem Freund verkracht?«

»Nicht schade um diese Freundschaft.«

»Nein?«

»Nein.«

»Um so besser, Adieu.«

»Adieu. Nochmals besten Dank für die grüne Kresse.«

»Bitte. Geld gibt's bei mir für Tippelbrüder nicht.«

»Kann ich verstehn«, sagte er und lachte.

»Jeden Tag kommen zehn Stück von Eurer Sorte hier vorbei, jetzt mitten in der Erntezeit, und wir können um alles Geld der Welt keinen Sommerknecht für unsere Heuarbeit auftreiben: da soll man nicht wütig sein auf Euresgleichen.«

»Kann ich verstehn«, sagte er und lachte.

»Warum lachen Sie so blöd?«

»Warum soll ich nicht so blöd lachen?«

»Ich seh keinen Grund für Ihr blödes Lachen.«

»Ich lache sehr gern ohne Grund.«

»Warum gehn Sie krumm?«

»Die Zehen sind abgefroren.«

»O weh!«

Er lachte über ihr sanftes »Oweh« hellauf.

»Aber das ist doch wirklich nicht zum Lachen?«

»Doch, das ist zum Lachen, alles ist zum Lachen, auch Sie sind zum Lachen, gnädiges Fräulein, wenn ich mir diese dreckige Bemerkung erlauben darf.«

»Machen Sie, daß Sie weiterkommen, Sie, wenn Sie mich hier veräppeln wollen!«

»Am Gottes willen, ich will Sie wirklich nicht veräppeln, ich lache wie gesagt sehr oft ohne Grund, das ist eine schlechte Angewohnheit von mir.«

»Allerdings. Adieu.«

»Adieu. Nochmals Dank für die Kresse.«

»Bitte, Adieu.«

»In meinem Leben habe ich noch nicht so schöne Delphiniumblüten gesehn wie hier.«

»Woher wissen Sie, daß das Delphinium ist?«

»Warum soll ich es nicht wissen?«

»Sind Sie Gärtner?«

»Gärtner? Nein.«

»Was sind Sie denn?«

»Was ich bin? Nichts.«

»Das ist wenig.«

»Mir genügt's.«

»Das ist die Hauptsache.«

»Was sind denn Sie, gnädiges Fräulein, wenn ich fragen darf?«

»Auch nichts«, sagte sie und lachte plötzlich hellauf.

»Das ist wenig«, äffte er.

»Mir genügt's«, sagte sie schroff, nahm ihr Lachen wieder zurück, steckte es in die innere Herztasche zurück und schloß die Tasche wieder ab. »Adieu.« Sie drehte ihm den Rücken zu und schritt zur Haustür.

»Soll ich Ihnen bei der Heuarbeit helfen?«, rief er ihr nach.

Sie wandte sich ihm wieder zu, mißtrauisch.

»Sagten Sie nicht, Sie brauchen einen Sommerknecht für ein paar Wochen?«

»Natürlich brauche ich einen Knecht«, sagte sie zögernd.

»Dann kann ich ja ein paar Wochen aushelfen? Für Butterbrot und grüne Kresse.«

»Wenn ich Sie einstelle, zahle ich meinen Tarif, freie Station und zehn Mark pro Woche.«

»Um so besser! Großartig! Ich benötige sowieso gerade fünfzig Mark zur Heimreise. Darf ich also fünf Wochen hier arbeiten?«

»Haben Sie Zeugnisse?«

»Zeugnisse? Nein.«

»Sonstige Papiere?«

»Sonstige Papiere? Nein. Die sind in Kanada.«

»Dann kann ich Sie auch nicht einstellen.«

»O weh! Ohne Zeugnisse geht es nicht?«

»Nein. Ganz gewiß nicht auf fünf Wochen.«

»Aber zur Probe vielleicht? Ein paar Tage zur Probe?«

»Probieren kann ich es ja.«

»Bitte ja. Probieren Sie es mit mir. Erstmal auf eine Woche vielleicht?«

»Nein. Erstmal zwei Tage. Ich muß erst sehn, was Sie können.«

»Gut. Abgemacht.«

»Meinetwegen … Können Sie mähn?«

»Selbstverständlich kann ich mähn«, sagte er und lachte, diesmal nicht ohne Grund: er hatte in seinem ganzen Leben noch keine Sense in der Hand gehabt.

 

Die Herseleute hatten zwanzig Tagwerk doppeltmähdige Wiesen, sechs Tagwerk Wald, acht Tagwerk Bergheu, einmalmähdig, dünn und steil. Das gab vom Juni bis September Hochbetrieb. Das Doppeltmähdige lag mit sechzehn Tagwerk im ebenen Tal, dort konnte man mit der Maschine mähen. Dazu vier Tagwerk Doppeltmähdiges am Hang, dort mußte man die alten Sensen schwingen. Und schweres Sensenwerk gab auch die Mahd im Berg, acht Tagwerk Einmalmähdiges, dünn und steil.

Frau Daniela hatte sich nicht viel ums Heu geschert: Nana die Milchwirtschaft und Hausarbeit, der Krallenpeter Mahd und Dung und alle Grobarbeit, sie selbst die Pferde und die Hühner und den Garten. Bei Lea hatte das Programm gewechselt: Nana zur Hausarbeit das Hühnerzeug, der Krallenpeter alle Stallarbeit, sie selbst die Mahd, mit der Maschine und am Hang. Natürlich half man ihr, wenn es drauf ankam, die alte Nana und der alte Krallenpeter, wenn gelbe Hagelwolken oder schwarze Donnerwolken über das Gebreit zu kommen drohten, beim Rechen und beim Häufeln und beim Laden, zuweilen wider ihren Willen auch beim Sensenwerk: jedoch im großen Ganzen hatte sie in diesem Jahr die erste Mahd allein geschafft.

So standen ihre Schlüsselbeine unter der gebräunten Haut ein wenig stärker vor als letztes Jahr. So freute sie sich auf die kleinen Ferien zwischen erster Mahd und zweiter Mahd. So war der neue Sommerknecht willkommen.

Drei Tagwerk von dem Bergheu standen noch, am Grünen Tümpel, weitab vom Haus, das war sein erster Dienst. Dann konnte er den zweiten Schnitt beginnen. Dazwischen gab es Gartendienst für ihn. Durch ihren Staudengarten sollte er drei steinerne Wege legen, das war schon längst ihr Plan und grad das Richtige für den muskulösen Stromer, Steinwege, Zufuhr und Behau und Ineinanderfügen. Jedoch das Erste war die Mahd am Grünen Tümpel; um drei Uhr morgens Abmarsch, sie und er, mit den gedengelten Sensen, mit den Gabeln, mit dem Schleifstein, mit Proviant.

Am Abend klopfte noch die alte Nana bei ihr an und warnte sie. Sie sollte doch um Gotteswillen nicht mit diesem fremden Kerl zum Grünen Tümpel gehn. Beim Abendessen in der Küche war er stumm gewesen wie ein Stein. Zuweilen hatte er vor sich hin gelacht wie ein Besoffener. Jetzt war er gerad' mit einem Kübel Wasser hintern Stall gezogen, um sich zu waschen, nackt, von Kopf zu Fuß. Ein zweifelhafter Kerl, besoffen, stumm und nackt. Und wenn sie mit ihm zog an den entlegenen Platz, dann wenigstens nicht ohne ihren alten Militärrevolver in der Tasche … Zum Lachen, Nana, keine Angst, gute Nacht, und weck den frischgewaschenen Stromer und weck mich zur rechten Zeit, gute Nacht.

Guten Morgen. Er stand schon mit den beiden Sensen und den Gabeln und dem Rucksack bei den dämmernden Stauden, als sie vors Haus trat. Sie trug die blaue Leinenhose und die wollne Sommerweste, darüber eine lodene Kotze für die kühle Stunde. Er schulterte die Sensen, sie schulterte die Gabeln, der Marsch begann, es fiel kein Wort, in einer halben Stunde waren sie am kleinen Glonner Teich, den man den Grünen Tümpel nannte.

 

»Vom Wald zum Teich hinunter, das ist unser erstes Stück. Wir mahn bis es zu heiß wird, dann ist Rast.«

»Sehr schön.«

»Dann breiten wir, dann essen wir zu Mittag, dann wenden wir.«

»Sehr schön.«

»Im Stadel sind noch ein paar alte Rechen.«

»Sehr schön.«

»Am Abend häufeln wir, das Wetter hält, bis morgen abend ist der ganze Stadel voll.«

»Sehr schön.«

Er blickte fachmännisch auf die geschwärzte Bretterhütte, die er am linken Teichrand sah. Das war ja wohl der Stadel? Dort wurde das Heu gesammelt, bis es im Winter mit dem Schlitten abgefahren werden konnte? Das hatte er begriffen! Und was war Wenden, Breiten, Häufeln? Das war ihm polnisch. Doch das kam später, der Teufel steckte vorerst in der Mäherei.

Sie nahm die Sense, näßte sie im Tau und wetzte sie. »Mähn Sie voraus?«

Er äugte scharf auf alles, was sie tat, und äffte es nach. »Vielleicht mähn Sie voraus?«

»Warum?« Sie steckte ihren nassen Schleifstein in die Hosentasche. »Warum nicht Sie?«

»Ich habe lange nicht gemäht,« sagte er bescheiden, »zuletzt im Krieg, in Polen, dort hat man andre Sensen.«

»In Polen hat man andre Sensen«, frug sie erstaunt, »gibt es auch andre Sensen auf der Welt?«

»Ganz andre!« Er steckte seinen nassen Schleifstein in die Hosentasche. »Sind Sie nicht bös, wenn ich zuerst ein wenig blöde bin; es wird schon gehn.«

Sie mähte an. Die Polen hatten andre Sensen? Möglich. Im Krieg in Polen hatte er zuletzt gemäht? Möglich. Sie schwang im Takt dahin, und alle Gräser fielen. Schad' um die blauen Glocken und den blauen Enzian! Schad' um die violetten Kissen Thymian! Schad' um das zarte Grünzeug und den weißen Schierling! Die städternen Menschen sagten: Tempo-Tempo-Tempo. Die Christenmenschen sagten: Unser Reich ist nicht von dieser Welt. Der siebzigjährige Krallenpeter sagte: Wer eine Wiese nicht mit eigner Hand gemäht hat, der weiß sein ganzes Leben nicht, wie breit sie ist. Wer hatte Recht? Die Sense flitschte durch das nasse Gras, und rauschend ging es Schritt um Schritt bergab.

Er mähte hinterher. Das Mädchen schwang die Sense hin und her mit Hüftenschwung, da fiel die Mahd. Er schwang die Sense ebenso mit Hüftenschwung, da duckten sich die hinterlistigen Gräser und standen nach dem Schlag gemächlich wieder auf. Wenn er die Klinge schärfer stellte, ging's in den Humus, ratsch! Wenn er die Klinge wieder hob, blieb alles Gras am Platz, päng! Wenn ihm ein halber Schlag gelang, war hinterher der heilige Boden dieser Erde wie eine halbrasierte und verschnittene Backe anzusehn. Er hatte einen wundervollen Tennisschlag und einen guten Bogenstrich auf seiner Geige, jetzt sollte er sich abgrundtief blamieren an diesem kindischen alten Sensenschlag? Verzweifelt hieb er los und würgte sich bergab, dem Mädchen nach, dem schwingenden Mädchen nach.

 

Schon seit einer Viertelstunde fühlte Lea, daß hinter ihrem Rücken irgendwas nicht klappte. Jedoch sie mähte weiter, ohne sich zu wenden. Schon dreimal hatte sie die Klinge nachgewetzt und sich nicht umgedreht, damit der neue Knecht sie nicht für eine Kontrolleurin seiner Arbeit hielte.

Sie zog den Schleifstein grad zum vierten Wetz aus ihrer Hosentasche, da kam von hinten ein Gekrach, ein Splittern, ein Gefluch aus Norddeutschland, und ihres Knechtes Sensenstock war auseinander. Die Klinge steckte tief im Boden, der Stock war ganz und gar zertrümmert, er selbst stand da und glotzte auf sein Werk, benebelt, schweißbedeckt, und als sie näher trat, den Schaden zu besehn, fing er zu lachen an.

»Sie, das ist aber wirklich nicht zum Lachen«, rief sie wütend. »Schaun Sie mal Ihre Mahd an! In Ihrem ganzen Leben haben Sie noch keine Sense in der Hand gehabt!«

»Hab' ich auch nicht –«

Sie stampfte wütend mit dem Fuß auf.

Er brach sein blödes Lachen ab und sammelte die Trümmer seines Sensenstockes auf einen Haufen. »Entschuldigen Sie bitte –«

»Entschuldigen Sie bitte! Das kann jeder sagen! Was machen wir denn jetzt?«

»Tja, ich weiß auch nicht. Ich weiß tatsächlich nicht, was da zu machen ist.«

»Aber ich weiß es ganz genau, ich schicke Sie zum Teufel, gehn Sie nach Polen oder sonstwohin.«

»Wie schade,« sagte er und sah ihr mit einem blanken Blick in die Augen, »ich hatte mich grad in Sie verliebt.«

Sie lachte auf. »Ein Grund mehr, Sie möglichst schnell zu entlassen, Herr Stromer.«

»Glauben Sie nicht, daß ich das Mähn noch lernen kann? Ich bin ein sehr gelehriger Schüler.«

»Ich bin nur leider keine Lehrerin.« Sie nahm ihre Sense auf und wetzte sie. »Auf Wiedersehn! Gute Reise! Adieu!« »Adieu, und nichts für ungut, ein Stromer ist's gewesen –« Sie stapfte zu ihrer Mahd zurück und mähte wieder an, im Hüftenschwung.

Da stand er da und war entlassen, schwer blamiert.

 

Er riß sich zusammen und stieg zu ihr hinab.

»Es tut mir wirklich leid, gnädiges Fräulein … Jetzt müssen Sie den ganzen Hang allein abmähn? Aber das geht doch nicht! Ach bitte, lassen Sie es doch! Ich werde schnell zum Haus hinunterlaufen und eine neue Sense holen, im Trab, ja, darf ich nicht? Ich war schon so schön im Schwung …«

Sie lachte trocken auf und mähte weiter.

Er blieb an ihrer Seite.

»Es war ja wirklich eine richtige Schufterei von mir, mich zu verdingen, Hochstapelei, tatsächlich, ich hatte mir die Sache leichter vorgestellt, verzeihn Sie bitte … Ich bin Wissenschaftler, Doktor der Physik, Industriemensch, Geigenspieler, Tennisspieler, Schifahrer, Wanderer-ohne-Zehen, Grüne Kresse-Fresser-ohne-Geld, alles Mögliche bin ich, nur gerade mähen kann ich nicht …«

Sie mähte weiter, Schritt für Schritt, und schien ihn nicht zu hören.

Er stapfte eigensinnig neben ihr bergab, Schritt um Schritt. »Muß denn der Hang gemäht sein und gerade heut? Ach bitte, lassen Sie es doch! Ich schwöre Ihnen, morgen mäh ich diesen ganzen Hang allein. Ich nehme heute mittag Unterricht bei Ihrem alten Knecht, wenn Sie gestatten, Mäh-Unterricht, bis morgen kann ich's, dann schaffe ich den ganzen Hang allein. … Blamieren Sie mich doch nicht so und lassen Sie es jetzt! Vergönnen Sie sich einen Ferientag, bitte, ich komme für den Schaden auf, ich hole alles wieder nach, ich werde wie ein Stier schuften, um den Schaden quitt zu machen … Man darf doch auch mal Ferien machen, oder nicht? Kann man nicht schwimmen in dem kleinen Teich, zum Beispiel? Kann man sich nicht etwas erzählen, irgendwas, wie alles kam, zum Beispiel? Es ist eine alte Geschichte und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute, zum Beispiel? Wir leben doch noch, Sie und ich, was, oder nicht? Man weiß zwar heutzutage nicht mehr ganz genau, was noch am Leben ist und was bereits gestorben ist, es laufen ja sehr viele Leichen heutzutage auf der Straße rum – trotzdem gestatten Sie doch wohl daß ich Sie noch als lebend nehme, gnädiges Fräulein? Was? Wie? Na gut … Nichts für ungut, ein Stromer ist's gewesen …«

Sie kümmerte sich nicht darum, daß er sich verabschiedet hatte und hinter ihr zurückblieb.

Er hockte sich ins Gras und schaute auf ihren Rücken. Nach einer kleinen Weile stapfte er wieder an ihrer Seite und versuchte sein Glück zum letztenmal.

»Bitte, sind Sie doch nicht so gemein zu mir! Ist eine Wiese eigentlich nur zum Mähen und zum Blamieren auf der Welt? Was? Sind Sie taub? Das ist wirklich nicht nett von Ihnen … Eine Wiese ist doch sicher nicht nur zum Mähen auf der Welt. Man kann doch auch sehr gut drin liegen und sich was erzählen? Wie alles kam, zum Beispiel? Oder ganz still sein und die Viere von sich strecken? Was? Ich meine doch nicht Unsere-Viere, meine Dame, ich meine Meine-Viere-Ihre-Viere-ganzgetrennt. Was?«

Sie schien ihn nicht zu hören, die Sense rauschte und die Gräser fielen.

»Sie Biest! Sie sind ein Biest! Ich kann doch nicht mehr tun, als um Verzeihung bitten?«

»Doch –« Sie stoppte, nahm die Sense hoch und schaute auf ihn. »Sie können, statt zu quatschen, das gemähte Heu mit einer Gabel breiten. Oder soll ich das auch allein tun, Herr Doktor? Oder sind Sie dazu auch zu dumm, Herr Wanderer-ohne-Zehen?«

»Bitte, sagen Sie mir doch, wie man das macht, ich will es furchtbar gern versuchen – ist es sehr schwer?«

»Das machen in der Glonn die kleinen Kinder, vielleicht gelingt es Ihnen. Man nimmt die Gabel, stößt sie in die Mahd und schwingt das Gras, daß es so dünn wie möglich liegt und trocknen kann.

»Verbindlichsten Dank!«

Er nahm die Gabel, stieß sie in die Mahd und schwang das Gras, daß es so dünn wie möglich lag und trocknen konnte. So schwang der Schwungbursch hinter seiner Herrin her den Hang hinunter.

 

Die erste Mahd vom Waldrand bis zum Teich, die zweite Mahd vom Waldrand bis zum Teich. Dann kam die dritte Mahd, dann kam die vierte Mahd. Wer eine Wiese nicht mit eigener Hand gemäht hat und geschwungen hat, weiß nicht, wie breit sie ist. Dann kam die pralle Sonne auf den Hang, zur fünften Mahd, zur sechsten Mahd. Dann kamen aus dem Wald die Mücken und die Bremsen, die witterten den süßen Menschenschweiß und tanzten um die heiße Dame und tanzten um den heißen Kavalier. Dann kam die siebte Mahd.

»Schluß«, sagte Benno Terek, nachdem die siebte Mahd geschwungen war. »Bitte, pumpen Sie mir drei Mark, gnädiges Fräulein, ich will meiner Mutter telegraphieren.«

»Was wollen Sie?« Sie saß auf der Böschung überm Teich, um eine kleine Weile zu verschnaufen. »Was wollen Sie?«

»Meiner Mutter telegraphieren. Ich hab eine liebe alte Mama in Berlin sitzen, der will ich telegraphieren. Ich hab zwar ein Jahr lang nichts von ihr gehört, ich hoffe aber, daß sie noch am Leben ist. Sie soll mir zweitausend Mark Vorschuß auf mein Erbteil auszahlen, telegraphische Überweisung, geh zu den Müttern, Faust, wenn's brenzlig wird – können Sie mir nicht drei Mark für dieses Telegramm pumpen?«

Sie legte sich ins Gras zurück, faul. »Muß es gleich sein?«

»Natürlich, auf der Stelle, das ist ja der Witz. Ich muß sofort telegraphieren, ich muß sofort zweitausend Mark haben – ich will Ihnen nämlich diese Wiese abkaufen.«

Sie lachte vor sich hin, ohne ihn anzusehn. »Um zweitausend Mark?«

»Genügt das nicht? Meiner Schätzung nach ist diese Wiese mit zweitausend Mark gut bezahlt. Das ist doch kein Bauplatz? Das ist doch kein Spekulationsobjekt? Keine Zufuhrstraße, kein Weg, keine Wasserleitung, keine Elektrizität, hier kann man ja in Ewigkeit nichts andres tun wie Mähen und Schwingen?«

»Wollen Sie sie kaufen, um auf eignem Grund mähn zu lernen? Sensen-Kaputtschlagen auf eignem Grund?«

»Im Gegenteil, ich will diese Wiese kaufen, um zu verbieten, daß hier gemäht wird. Von der Minute ab, wo unser Kauf abgeschlossen ist, fällt hier kein Sensenschlag mehr bis in Ewigkeit.«

Sie wälzte sich auf die Seite, so daß er ihr Gesicht nicht mehr beobachten konnte. »Und wann wird der Kauf abgeschlossen«, frug sie in ernstem Ton.

Er ließ sich neben ihr im Gras nieder und streckte sich aus. »Sofort, wir schließen den Kauf sofort ab. Die Verbriefung aus dem Notariat kann später stattfinden, vorerst genügt ein Handschlag und der Kauf ist gemacht. Wenn Sie mir die paar Mark für das Telegramm pumpen, ist das Geld in drei vier Tagen spätestens hier. Wenn meine Mutter inzwischen gestorben ist, bekomme ich mein Erbteil ausbezahlt, dann ist das Geld erst recht in ein paar Tagen flüssig zu machen. Wenn meine Mutter noch lebt und mir nichts vorschießen will auf ihren Tod und streikt, dann kann ich das Geld woandersher bekommen. Ich hab noch eine gute alte Geige, die ist bei meiner Schwester deponiert, die kann ich jeden Tag versilbern, für dreitausend Mark mindestens. Außerdem besitze ich noch aus meinen besseren Tagen ein kleines Bild von Henri Rousseau, ebenfalls bei meiner Schwester deponiert, kann ich auch verkaufen – kennen Sie Rousseau, den Maler?«

Zu seinem Entzücken nickte sie.

»Was haben Sie von ihm?«

»Ein kleines Ölbild. Ein grüner Tümpel mit viel Schilf, da hocken zwei Gestalten an der Böschung, genau wie hier, ein wunderbar klares Bild. Das werde ich verkaufen, wenn alles andere versagt. Doch das verkaufe ich nur für diesen echten grünen Tümpel und für diese echte Wiese – also was ist, gehört die Wiese mir? Zweitausend? Handschlag?«

Er hielt ihr die Hand hin.

Sie besann sich einen Augenblick, dann wandte sie sich ihm zu und schlug ein, mit ernster Miene. »Abgemacht.«

»Allright.« Er drückte ihre Hand. Dann legte er sich zurück und streckte sich, besitzerisch. Er war der Herr des Tümpels und der Wiese. Wenn sie mit ihm zu spaßen glaubte, täuschte sie sich. Natürlich war's ein Spaß gewesen, doch jetzt war's Ernst geworden. Noch heute ging das Telegramm ab, in drei, vier Tagen war Verbriefung. Schon jetzt gehörte dieser Grund ihm, von Mähen war keine Rede mehr. So hatte er wenigstens die Tölpelei mit der zerbrochenen Sense quitt gemacht. Ein Mann mußte quitt sein mit der Welt, vor allem mußte er quitt sein mit einem solchen köstlichen Weiberding in Männerhosen. Da sie vom Mähen erhitzt war, spürte er ihr Weibtum stärker. Die süße Melancholie des keimenden Samens war in ihm und wandelte ihm den grünen Tümpel in einen anderen Garten Eden: da wohnte nicht der Gott der Rache, da wohnte auch der Gott des Mitleids nicht.

Sie setzte sich hoch, umfaßte ihre Knie mit beiden Händen und schaute vor sich hin. Wenn er mit ihr zu spaßen glaubte, täuschte er sich. Natürlich war's ein Spaß gewesen, doch jetzt war's Ernst geworden. Das nannte man wohl Flirt, was er hier mit ihr trieb? Sie ließ nicht mit sich flirten, sie haßte alles Drum-Herum, sie war keine amerikanische Jungfrau. Er sollte wieder gehn, wenn er zum Flirt gekommen war, der Wanderer-ohne-Zehen. Da er erhitzt war, spürte sie sein Manntum stärker. Die süße Melancholie der nahenden Nähe war in ihr und wandelte ihr den Stromergentleman in das gefährliche Purpurtier der Vollmondträume: das nahet sich auf samtenen Pfoten, das hemmt mit den elektrischen Pupillen jede Gegenwehr, bis man's an seinen Brüsten hängen hat und saugen lassen muß, gebannt.

Sie sprang aus. »Los! Arbeiten!«

Er trat dicht neben sie. »Wieso? Die Wiese gehört mir.«

»Blödsinn«, sagte sie, schulterte die Sense und schritt zum Waldrand, zur achten Mahd.

Er blieb an seinem Platz und sah ihr nach. Dann legte er sich wieder ins Gras, neben seiner Gabel, der Schwungbursch ohne Schwung, mit dem Rücken gegen die Herrin, ohne sich um die Arbeit zu kümmern.

Benommen mähte sie ihre achte Mahd. Was tat ein Weib, wenn ihr ein Mann gefiel? Einst ging keuchend die heidnische Hatz in den Wald hinein, mit nackten Sohlen übers alte Laub, mit breiten Schenkeln über das Gestämm vom Windbruch, tief und tief ins Gestrüpp, fort und fort von der Sonne, da kam näher der Mann, ohne Worte, ohne Ruf, da stieg Modergeruch auf um das Weib, da wurde matt ihr Lauf, matt ihr Herz und ihr Gedärm, da kam sie zu dem Moosfleck zwischen den verstrickten Latschen, da fiel sie mit gelösten Knien nieder, da fiel auch er zum feuchten Boden seiner Erde nieder, der Herr der Erde, der Mann. Dann waren die Priester gekommen und hatten sich über das Menschenpaar aufgeworfen und hatten in den Stuben ihrer unsichtbaren Götter ihre Schemel ausgestellt, damit sie höher stünden als das Menschenpaar, und ihre Rede war gewesen: »Du sollst und du sollst nicht!« Sollst auf deinem Bauche kriechen und Staub fressen, sollst im Schweiße deines Angesichts, sollst deine linke Backe hinhalten, sollst arm sein oder durch ein Nadelöhr gehn, und sollst deine Priester gut bezahlen, daß sie dir sagen können, was du sollst. Dann war der Staat gekommen über das verschüchterte Paar und seine Rede war gewesen: »Du darfst und du darfst nicht!« Darfst sterben für den Staat und Kinder zeugen, darfst schuften für den Staat und Steuern zahlen, doch darfst den grünen Rasen nicht betreten und darfst nicht arm sein oder wirst verhaftet, darfst nichts wie graue Aktenmappendinge tun und denken. Und sprechen Sie mit Mama? Ein Jahr lang lag sie in der steinigen Glonner Erde! Und sprechen Sie mit Papa? Mit Haut und Haaren aufgefressen von der städternen Stadt … Bis schließlich Freiheit über das verzweifelte Menschenpaar gekommen war und in den Zeitungen zu lesen stand: »Das Menschenpaar ist frei, halleluja!« Da stürzte sich das freigelassene Pärchen in Freiheit aus das neue Hochzeitsbett, genau wie es in seiner Zeitung vorgeschrieben stand. Doch andern Tags war's nur mit dem Verstand gewesen und sie bespien sich gegenseitig die gespenstigen Lüste und sie verfluchten ihre Totgeburten und sie erbrachen die papierne Freiheit, denn nur die Freiheit freigelassener Sklaven wars gewesen und nicht die Freiheit freigewachsener Menschen … Was also tat ein weibernes Weib, wenn ihr nach dem Bankrott von Staat und Kirche und Elternhaus und Zeitungsfreiheit ein männerner Mann gefiel?

Sie war auf halbem Hang mit ihrer zähen achten Mahd. Sie setzte schweißbedeckt die Sense ab und zog mechanisch ihren Schleifstein aus der Hosentasche. Was tat der männerne Mann dort unten? Er hatte dürres Holz gesammelt und ein kleines Feuer angezündet. Das war wohl gegen's Bremsenvieh? Ganz gut. Jetzt breitete er das große schottische Plaid von Tante Nüll, das auf dem Rucksack aufgeschnürt gewesen war, als Lagerdecke aus. Wozu? Fürs Prunkdiner nach ihrer achten Mahd? Ganz gut. Jetzt kochte er den Tee und hielt den Kessel mit der Gabelzinke übers Feuer. Der Tölpel! Gewiß verkohlte er den Gabelschaft, er hatte nicht genug an der kaputten Sense. Jetzt konstruierte er sich ein Gestänge, damit er nicht die Gabel halten mußte. Der Faulpelz … Und was war jetzt? Er ging zum Rand des Tümpels, was tat er dort? Ui, ui, die weißen Wasserrosen! Ui, ui, die gelben Demoisellen! Ui, ui, ein Sumpfbukett, ui, ui! Mit übervollem Herzen schritt Graf Egon am Rand des väterlichen Sumpfes entlang, mit übervoller Hose starrte er auf das Liebesgirren der Libellen, sie aber, die gebrechliche Trudsche in ihrer Bibberwäsche, die jetzt mit ihrem Caddie aus der Birke des Waldrandes trat, sie machte nur ein verächtliches keep-smiling und sagte nichts weiter wie: »180 PS!« Tatsächlich, da drapierte er das ganze Sumpfbukett auf Tante Nülls schottischen Schal! Jetzt drehte sich Tante Nülls Asche auf dem Büfett von Onkel Nüll um.

Sie warf die Sense ins Gras und lief zum Lagerfeuer, zu Graf Egon mit dem übervollen Herzen. »Sie Trottel, was machen Sie denn da?«

»Tee, Madame«, sagte er demütig.

»Wasserrosentee vielleicht?«

»Djawoll, Madame, Wasserrosentee.«

Sie nahm das Plaid hoch und schüttete das bunte Blütenzeug die Böschung hinunter.

»Schade, Madame!«

Sie breitete das Plaid nach ihrer eigenen Weise aus und ließ sich darauf nieder.

» Servi, madame.«

»Her damit!«

Er servierte den Tee, dann tanzte er wieder ans Feuer, zum Rucksack, zur Pantry. »Was darf ich geben, Madame, Schinken, Käse, Kresse?«

»Zuerst die Kresse!«

»Bitte sehr –«

Er servierte die Kresse, der Kellner vom Glonner Teich, er servierte mit einer kellnerischen Eleganz, vor welcher selbst die ausgebibbertste Bibberwäsche bibbern mußte. Danach servierte er mit gleicher Eleganz das ganze Prunkdiner.

Die alte Nana hatte den geräucherten Schinken in ordinären Riesentrümmern mitgegeben: er konstruierte eine leckere Schinkenplatte aus einem breiten buchenen Rindenstück vom Waldrand, schnitt Nanas Trümmer in sehr zierliche Würfelchen, garnierte sie mit Thymian und Blaubeerkraut, alsdann servierte er mit Ellenbogenruck und Steißbeinschwung. Den Käse wies Madame zurück: der Kellner warf ihn mit diskretem Lächeln hinter sich. Es war ein gutes Zeichen in der Kellnersprache, wenn Damen keinen Käse nahmen. Wenn Damen keinen Käse nahmen, dann wollten sie nach dem Diner sich küssen lassen. (Die Herren nahmen immer Käse.) Und dann servierte er Madame zum Nachtisch, indem er in gebührendem Abstand neben dem Service zu Boden sank, das Märchen von den beiden Männern auf der Alm am Bratschenkees.

Er konnte nicht erkennen, ob sie auf ihn horchte. Sie lag auf ihrem Rücken, still wie eine Eingeschlafene. Übers Antlitz hatte sie sich ein kleines Spitzentaschentuch gelegt. Man sah kaum, ob ihr Atem ging. Die beiden Arme waren ausgestreckt und mit geballten Händen an die Flanken angepreßt. So lagen die ägyptischen Königsmumien und ließen die Jahrhunderte vorüberziehn … Er wagte nicht, sie zu berühren. Es lag nichts Lockendes in ihrer Haltung. Was tat ein Mann, wenn ihm ein Weib gefiel? Die alte Liebestechnik war verbraucht, die alten Liebesworte stanken. Die alte Technik lag im amerikanischen Ausverkauf, die alten Worte stanken nach der städternen Stadt. So sagte er, nachdem der Schnee vom Bratschenkees zerschmolzen war und eine lange Pause seine angespannten Nerven äffte: »Ich liebe Sie, ich liebe Sie, ich liebe Sie …«

In Regungslosigkeit blieb die ägyptische Königsmumie. Still lag sie da, auf ihrem Platz zwischen dem Mittelpunkt der Erde und dem Mittelpunkt des Sonnenballs, und rührte sich nicht. Hatte sie nichts gehört? Nichts vom Mann Hadrawa, nichts vom Mann Terek? Nichts von der neuen heidnischen Welt und von der Einsamkeit der neuen Heiden und daß sie sich zu Paaren finden mußten, damit ihr neues Lachen mehr als ein Verzweiflungsschrei sein könnte, damit ihr Samen sprießen könnte? Sie hatte nichts gehört, die Gans! Blöde Gans … Er nahm seine Gabel und stapfte zum Waldrand, zur achten Mahd. Der elegante Kellnerfrack war abgelegt, das Märchen vom Bratschenkees war in den Sumpf gefallen, zu den quakenden Fröschen, quak, quak. Einsam schwang der Schwungbursch seine Mahd.

Auf halbem Hang war die Mahd zu Ende. Er setzte sich ins Gras und rauchte eine Zigarette. Die war noch aus Tirol, die Zigarette, von Alexander Selke selig aufgetrieben, ein schwer verkrümpeltes Hosentaschenzigarettchen. Da unten lag die Mumie einer Gans und schlief. Sie hatte nicht einmal bemerkt, daß er gegangen war. Und wenn er sie gestreichelt hätte? Und wenn er sie vergewaltigt hätte? Wer weiß, vielleicht war's das, worauf sie wartete? Vielleicht war dies das ganze Alphabet der Liebe, die Überrumpelung? Ach, diese männernen Männer! Sie zoteten und sangen Minnelieder, sie schrieben und sie lasen tausend Liebesbücher, und keiner von den hoffnungslosen Trauerkerlen war bisher noch darauf gekommen, wie es in Wahrheit mit den Weibern stand. Was tat sie jetzt? Sie lümmelte sich hoch und dehnte sich und reckte sich. Sie schaute nach dem Feuer. Das Feuer war ausgebrannt, djawoll, Madame. Sie ging zum andern Ufer des Teichs … Was wollte sie dort? Wasserrosen pflücken? Dort drüben gab es keine Wasserrosen, dort war das Wasser tief … Jetzt war sie hinterm Uferbusch verschwunden. Jetzt kam sie wieder vor. Jetzt ging sie ans Wasser. Dort war kein Sumpf, dort war das Wasser tief, dort hätte man schwimmen können. So schwimm doch, Gans, die Gans muß schwimmen, vielleicht wird noch ein Schwan daraus … Tatsächlich zog sie sich die Schuhe und die Strümpfe ab und stippte mit den Zehenspitzen in das Wasser. Dann saß sie eine Weile still am Uferrand, die Hose hochgezogen, und ließ die Füße in das Wasser baumeln. Ach süße Gans meiner Seele, wie köstlich hockst du da … Auf, einmal gab sie sich einen Ruck und sprang auf die Wiese zurück. Sie nestelte an ihrem Ledergurt und stieg aus ihrer blauen Leinenhose. Darunter war ein weißes Hemd und eine weiße Hose bis ans Knie. Sie streifte auch die weiße Hose ab und zog das weiße Hemd über den Kopf. Ihr nackter Körper stand für einen Augenblick im Licht und schien zu frösteln. Dann klatschte sie ins Wasser, mit einem Satz.

Drei Minuten später sprang er von der anderen Seite her in den Teich.

»Wunderbares Wasser hier«, rief er, als er nach ein paar Quatschschritten ins Tiefe kam.

»Nur auf dieser Seite kann man schwimmen«, rief sie herüber. »Bei Ihnen drüben ist Sumpf. Hier, hier, hier ist das Wasser tausendmal besser!«

Er schwamm zu ihr hinüber.

»Aber hier ist's ja wirklich tief!« Er tauchte unter und kam prustend wieder hoch. »Ich war auf dem Grund, drei Meter mindestens.«

Sie tauchte ebenfalls.

»Können Sie die Augen unter Wasser aufmachen«, frug sie, als sie wiederkam.

»Selbstverständlich.«

Er tauchte neben ihr, sie tauchte mit, sie blinzelten sich unter Wasser mit verrutschten grünen Froschgesichtern an. Sie nickte ihm zu, er nickte wider. Dann kamen sie atemlos wieder hoch.

Sie schwamm ans Ufer.

Er schwamm hinterher.

Sie lief zum Lagerplatz und warf sich das Plaid über die Schulter.

Er lief zu ihr.

Sie lief zum Waldrand hinauf, am Waldrand verlor sie das Plaid und ließ es liegen und lief weiter.

Er lief hinter ihr her, die Narben seiner Füße brannten auf der Stoppelwiese, doch es ging, er kam ihr näher.

Keuchend ging die Hatz in den Wald hinein, mit nackten Sohlen übers alte Laub, mit angespannten Schenkeln über das Gestämm vom letzten Windbruch, tief und tief ins Gestrüpp, fort und fort von der Sonne, da kam nahe der Mann, da stieg Modergeruch auf ringsum, da wurde matt ihr Lauf, matt ihr Herz und ihr Gedärm, da kam sie zu dem Moosfleck zwischen den verstrickten Latschen, da fiel sie mit gelösten Knien nieder, da fiel auch er zum feuchten Boden seiner Erde nieder, der Mann.


 << zurück weiter >>