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Die Lehren des Mong Dsï sind keine anderen als die seines Meisters Kung. Er will gar nichts anderes, als diese Wahrheiten, die von den Heiligen des Altertums, den Herrschern Yau und Schun, dem König Tang, dem König Wen und zuletzt dem ungekrönten Herrscher Kung von Generation zu Generation überliefert und nun auf ihn gekommen sind, weiterbringen auf die Nachwelt. Er nimmt dabei eine Weiterwirkung des Geistes über die Jahrhunderte hinweg an, durch die auch er, ohne den Meister Kung gesehen zu haben, doch dessen Lehren empfangen habe.
Diese Lehren beschäftigen sich für ihn in erster Linie mit der Ordnung der Welt. Hierin stimmt er durchaus mit Kung überein. Nur daß entsprechend dem fortgeschrittenen Verfall die Lehre von der Ordnung der Welt eine andere Tonart erhält. Für Kung hatte es sich noch darum gehandelt, das Bestehende zu erhalten. Er ist sozusagen konservativ-legitimistisch gesinnt. Dennoch hatte er den Verfall nicht aufhalten können. Er hat auch unter den Fürsten seiner Zeit keinen gefunden, der dem sinkenden Königshause der Dschou beigesprungen wäre und so die Welt gerettet hätte. Statt dessen war die Welt aus den Fugen gegangen. Der Stern des alten Königshauses war verblaßt. Ihm war nicht mehr zu helfen. An seine Stelle war – ähnlich wie in Europa an die Stelle des Heiligen römischen Reichs deutscher Nation die modernen Großmächte – eine Reihe von Militärstaaten getreten, die im gegenseitigen Kampfe lagen. Mong Dsï hat diese Situation insofern anerkannt, als er die Fürsten, die ihn um Rat fragten, ermahnte, die Weltherrschaft an sich zu bringen. Nur blieb er dabei, daß dieser Erfolg einzig und allein durch moralische Mittel, durch ein mildes und weises Regiment zu erreichen sei. Er wird nicht müde, auf die Vorbilder der alten Heiligen zu verweisen, die ebenfalls aus kleinen Anfängen heraus die Weltherrschaft gewonnen hätten.
Ebenso wie Mong Dsï dem alten Königshause, dessen schwacher Schatten noch in der Luft schwebte, durchaus gleichgültig gegenüberstand, bereit, einen neuen Anfang, wo sich die Möglichkeit bot, zu unterstützen, so stand er auch den Landesfürsten seiner Zeit mit sehr demokratischen Gesinnungen gegenüber. Bald genug hatte er erkannt, daß auf den Thronen seiner Zeit kein Heiliger war, sondern daß es sich zwischen ihnen nur um relative Unterschiede handelte. So hat er denn ihnen gegenüber aus seiner Geringschätzung kein Hehl gemacht. Während Kung den Fürsten seiner Zeit, auch wenn sie weit vom Ideal entfernt waren, doch stets den ihrem Stand gebührenden Respekt zu zollen bereit war, hat es Mong Dsï offen ausgesprochen, daß, wer den Großen raten wolle, sie erst tüchtig verachten lernen müsse. Und auch in der Theorie hat er die Unwichtigkeit der Person des Herrschers gegenüber von Land und Volk mehr als einmal ausgesprochen, was ihm von seifen mancher Fürsten der späteren Zeit Abneigung und Tadel eingetragen hat. Wenn umgekehrt in neuester Zeit dem Mong Dsï ein Lob aus diesen seinen radikalen Äußerungen entsprang, so ist das gänzlich unverdient. Denn niemals kam ihm der Gedanke an den Staat als Republik in den Sinn. Gegen die Auflösung des monarchischen Prinzips, wie sie aus den Lehren eines Yang Dschu als Konsequenz hervorzugehen schien, hat er ebenso kräftig Front gemacht, wie gegen die Auflösung der Familienbande durch den Philanthropen Mo Di. Nicht gegen die Monarchie als Institution hat er polemisiert – die galt ihm als sakrosankt –, sondern nur gegen unwürdige Träger der Krone.
Auf moralischem Gebiet geht er ebenfalls mehr ins einzelne als Kung. Während für den Meister das Ideal in der sittlichen Menschenliebe, der Humanität als solcher befaßt war, kennt Mong Dsï ein doppeltes Ideal: Liebe und Pflicht. Inwieweit er dazu durch die doppelte Front der Anhänger des Mo Di, deren Lehren ihm wider die Liebe zu gehen schienen, und der des Yang Dschu, dessen Lehren die Pflicht aufhoben, bestimmt war, mag dahingestellt bleiben. Genauer definiert ist ihm die Liebe mehr eine ruhende Charaktereigenschaft – das weite Haus der Welt – während die Pflicht der Inbegriff der Normen des Handelns – der große Weg der Welt – ist. An die Seite dieser beiden Begriffe treten dann gelegentlich Ordnung des Ausdrucks und Weisheit als die beiden übrigen Grundtugenden des Menschen. Die Pflege dieser Tugenden wird dadurch erleichtert, daß sie als allgemeine Richtungen bzw. Tendenzen jedem Menschen angeboren sind. Insofern ist der Mensch wesentlich gut, da das eigentliche Wesen des Menschen von Gott stammt. Berühmt sind die Gespräche, in denen Mong Dsï die Güte des ursprünglichen Menschenwesens verteidigt hat. Bekanntlich ist in diesem Stück auch die orthodoxe konfuzianische Richtung zum Teil andere Wege gegangen. Ein Sün King lehrte die wesentliche Unvollkommenheit der menschlichen Natur, die erst durch Kultur vervollkommnet werden müsse, was er in den tendenziös zugespitzten Satz: »Der Mensch ist von Natur bös« zusammengefaßt hat, während Han Yü zur Zeit der Tang-Dynastie (vielleicht beeinflußt durch persische Gedanken?) drei Arten von menschlichen Naturen – die den Pneumatikern, Psychikern und Hylikern entsprechen – angenommen hat, die dann später noch weiter detailliert wurden. Erst in der Sung-Zeit kam die Lehre des Mong Dsï, wenn auch modifiziert durch psychologische Erwägungen, wieder zu Ehren, um bis auf die neueste Zeit ihren Platz behalten zu haben.
Man würde Mong Dsï unrecht tun, wenn man an seine Anschauung mit dem Begriffsapparat des Pelagianischen Streites oder mit den christlichen Lehren vom Sündenfall herantreten wollte. Die Lehre von dem Sündenfall und der Unfreiheit der menschlichen Natur, wie sie in der christlichen Kirche ausgebildet wurde, ist wesentlich religiös orientiert. Mong Dsï dagegen bereitet durch seine Auffassung den Boden für ein mutiges Vorwärtsschreiten auf der Bahn ethischer Entwicklung. Es gibt für ihn keinen wesentlichen Unterschied unter den Menschen. Was ein Heiliger wie Schun erreicht hat, kann jeder erreichen, wenn er nur so handelt, wie Schun gehandelt hat. Daß, empirisch betrachtet, die Menschen im allgemeinen weit entfernt von sittlicher Vollkommenheit sind, hat Mong Dsï sehr wohl gewußt und hat auch nach Gründen dafür gesucht. Denn er war weit entfernt von den naturalistischen Theorien seiner Zeit, daß die Natur eben einfach ausgelebt werden müsse, unbeeinflußt von den Erwägungen von Gut und Böse. Vielmehr war für ihn das Gute ein Ideal, das im Kampf gewonnen werden muß. Dieser Kampf ist eine Rückkehr des verloren gegangenen Herzens. Wieso dieses Herz verloren gehen kann, obwohl es doch in jedem Kind als gut vorhanden ist, darüber hat er sich nicht eindeutig ausgesprochen. Es finden sich Andeutungen, daß die sinnliche Natur des Menschen es ist, die durch ihre Begehrungen vom Weg des Ideals abführt. Darum muß auch die sinnliche Seite in Kultur genommen werden. Nicht durch strenge Askese, sondern durch vernunftgemäße harmonische Leitung, die jedem Teil die seiner Bedeutung entsprechende Berücksichtigung zukommen läßt Diese Seite der Lehre, die an sich schon eine Fortbildung der Kungschen Anschauungen bedeutet, fand dann namentlich zur Sung-Zeit eine weitere Ausbildung im einzelnen. Die Paulinischen Kämpfe zwischen Gesetz und Gnade haben Mong Dsï keine Schwierigkeiten bereitet. Da seine Ethik, trotz Anerkennung einer höchsten göttlichen Vorsehung im wesentlichen immanent orientiert ist, so hat er für die Forderung einer Gerechtigkeit im absoluten Sinn gar kein Verständnis. Wenn ein Mensch schlecht ist, und Fehler hat, so braucht er sich einfach zu bessern, und alles ist wieder gut. Ein gebesserter Fehler bedingt keine Schuld. Bessern kann sich aber jeder, der will. Darum ist Mong Dsï entschiedener Optimist. Er will keinem Menschen den Weg zum Guten verbaut wissen.
Ein Vergleich dieser Punkte mit den Aussprüchen des Kung Dsï zeigt eine Weiterbildung der Gedankenarbeit, eine Ausführung ins Detail und psychologische Unterbauung, während grundsätzlich Mong Dsï durchaus auf dem Boden des Meisters steht. Höchstens, daß durch Verschiedenheit des Temperaments gelegentlich verschiedene Betonungen auf einzelne Seiten der Lehre fallen, was aber nur dazu dient, das Bild zu beleben.