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Das war ein gesegneter Frühsommer. Ein Tag lachte so heiter und so warm wie der andere auf die weite Ebene hernieder, die grenzenlos erschienen wäre, wenn sich nicht wie hinter duftigen Schleiern jenseits der Donau die slawonischen Hügel und Berge erhoben hätten. Es war ein Gären und Kochen in der feuchten Luft; man empfand das Werden und Reifen der Saaten und aller Früchte, die sich am Busen der Mutter Erde nährten. Der Duft von Milliarden Akazienblüten und Wiesenblumen erfüllte die Landschaft, die Bienen summten wie berauscht von Glückseligkeit um jeden einzelnen Baum. Die Käferwelt, reich und mannigfaltig wie nirgends, lebte auf allen Wegen, krabbelte auf jedem Strauch; Schmetterlinge von tropischer Farbenpracht gaukelten von Blume zu Blume; von Hecke zu Hecke. Niemand machte Jagd auf sie, nirgends harrten spitze Nadeln auf ihre zarten Leiber. Und in den Häusern schwelgten die Seidenraupen im Genuß der saftigsten, süßesten Maulbeerblätter.
Der Oberlehrer Heckmüller, der vom Landesinspektorat zum Revisor der Seidenzucht für Karlsdorf und Umgebung ernannt worden war, hatte seine Freude an dem Gedeihen seiner Schützlinge. Und der Straubmichl begleitete ihn vergnügt, wenn er manchmal die Runde machte im Dorfe, um nachzusehen, ob überall das nötige Verständnis vorhanden wäre für die Pflege der Tiere. Es galt immer noch, Belehrung zu erteilen.
Als besonders gelehrig hatte sich heute der alte Wichnersepp erwiesen. Der Mann war in seinem zweiundneunzigsten Jahr noch unter die Seidenzüchter gegangen, weil er sich seine »Totentrugl«, seine »Leich« noch selbst verdienen wollte, ehe er starb. Aber er wollte es anfangs durchaus nicht glauben, daß die Raupen nicht auch Linden- und Eichenblätter fressen. Seine ganze Zucht war in Gefahr, nur seine Urenkel, Heckmüllers Schüler, retteten sie. Und jetzt fing auch der Alte langsam zu begreifen an. So klein waren die Räupchen, erzählte er dem Oberlehrer, daß er sie in den ersten Tagen gar nicht sah. Dann merkte er kleine schwarze Strichelchen auf den grünen Blättern, die sich immer gegen den Rand hin bewegten. Er schüttelte sie zurück; er glaubte, sie wollten ihm davonlaufen. Erst wie er merkte, wie sie Lücken und Löcher in die Ränder der Blätter nagten, ließ er sie unbehelligt wandern. Und jetzt seien sie schon schneeweiß, die »Luedersch«, und jeden Tag wüchsen sie erstaunlich, fast sichtbar.
Heckmüller schärfte ihm ein, daß die Raupen sechsmal im Tag gefüttert und immer umgebettet werden müßten, weil sie die Blätter verunreinigen.
»Freilich, freilich. Wie die klana Kinner. Die trinka die schönscht Milich und mache grien. Die Wärm' fressa nar Grien's und mache schwarz. Mer muß immer Putzweg mit ehna schpeela,« sagte der Alte.
Lachend ging der Oberlehrer seines Weges, und der Straubmichl hatte versprochen, ihm eine Musterzucht zu zeigen, wie es keine zweite gab.
Sie traten in das Haus der Witwe Wieland, der weisen Frau des Dorfes. Es stand nicht in der Reihe der Bauernhäuser auf der Hauptstraße, sondern im »Gässel« hinter der Kirche, wo die kleinen Leute wohnten, die Schneider, Balbierer, Kürschner, Schuster und Klempner, die nicht viel Grund und Boden brauchten für den Betrieb ihres Gewerbes. Mitten unter ihnen saß die Wielandin, ganz nahe dem Mittelpunkt, für jeden gleich weit, bei dem der Storch ans Fenster pochte. Sie wohnte ganz allein mit ihrer Tochter Liszka, seitdem ihr Mann, der ehrsame Dorfschneider gestorben, und ihr Sohn gar Stadtschreiber in Pancsova geworden war. Sie war eine Bauerntochter und blieb für alle die Bas' Anmerich Anna Maria; der Mann aber wollte hoch hinaus, er zählte sich zu den Herrischen und sein Sohn mußte Lajos, die Tochter Liszka heißen. Die beiden Frauen hatten viel Platz in ihrem Häuschen; sie konnten die einstige Werkstatt des Vaters und noch eine kleine Kammer für die Seidenzucht einrichten. Die Gestelle hatte der Straubmichl gemacht für die Liszka, und er beschaffte ihr auch das Laub durch seine vielen Dorfbuben. Alles andere machte die Liszka selbst. Sie wollte sich keinen Sarg, sondern ein Seidenkleid oder gar eine Ausstattung verdienen. Sie bereitete den Raupen aus Reisig und Weidengeflecht schöne schwebende Flächen, die in den Gestellen befestigt und mit Laub bedeckt wurden. Sie hielt auf gleichmäßige Wärme, sorgte für gute frische Luft, wenn dies nottat, und mit dem Schlag der Uhr begann sie ihre Fütterung. Sie brauchte einer Raupe nur ein frisches Blatt zu zeigen, so kroch sie darauf und ließ sich weiter tragen. War das Blatt groß, krochen wohl auch mehr als eine darauf. Ohne je eine Raupe mit der Hand zu berühren, vollführte sie ihr Werk.
»Guten Tag, schöne Liszka,« sagte der Oberlehrer, als er in den Hof trat. Der Straubmichl aber grinste nur, als er das üppige blonde Mädel am Brunnen sah. Sie wußte schon, was das bedeutete; der Worte bedurfte es bei ihm nicht.
»Jo reggel Guten Morgen, Herr Oberlehrer,« rief Liska, »Sie wollen meine Raupen sehen? Tessék, bitte herein zu spazieren.«
Und sie ging voraus über die dreistufige Steintreppe, die zu dem schön ausgemalten Gang emporführte, der im Hof, an der Längsfront des Hauses, hinlief. Alles war spiegelblank in dem Hause; jede Türklinke erglänzte wie eitel Gold; der mit gebrannten Mauerziegeln belegte Boden des Ganges schimmerte in frischem Rot.
»Ich hab' gehört, Liszka, daß du wieder die schönste Zucht hast im ganzen Dorf. Da kann vielleicht sogar der Revisor was lernen.«
»Und der Ausbrüter aa,« meinte mit einem schämigen Lächeln der Straubmichl.
»Ja, Herr Oberlehrer, ich war nit umsonst in der Seidenspinnerei in Pancsova zu B'such. Dart hat mich der Lajos abrichte lasse.«
»Freilich, freilich, das habe ich vergessen gehabt. Und du hast dort mit dem französischen Pächter gesprochen? Was ist das für ein Herr?«
Die Liszka wurde rot. »Ich hätt' ehm recht gut g'falle, dem Mußjö,« sagte sie, »äwer ich bin doch lieber d'rhaam als wie in der Fabrik.«
»Da hast du recht. Die Bas' Anmerich kann doch nicht ganz allein bleiben. Und ein so frommes Mädel wie du gehört in keine Fabrik.«
Sie standen in dem Raum, in dem der Vater der Liszka einst mit drei Gesellen gearbeitet hatte. Kein Möbelstück war da, nur die Gestelle für die Seidenzucht, und Heckmüller hatte seine Freude an dem Anblick der Stellagen und sonstigen Vorrichtungen ringsum. Die Fenster waren mit zarten Netzen geschlossen, die den Fliegen den Zutritt wehrten; ein eiserner geheizter Ofen, der in der Ecke stand, war mit einer losen Mauer aufgeschichteter Ziegel umgeben, die eine sanfte Wärme ausstrahlten und Tag und Nacht das Gleichmaß der Temperatur im Zimmer bewahrten. In der Mitte des Raumes schwebten frei, an Drähten, die von der Decke herabkamen, einige leichte, aus Reisig geflochtene Betten für besonders schöne Raupen, die Kokons erster Klasse versprachen. Die Liszka wußte genau, wie gut diese von den Franzosen, die alle ungarischen Seidenspinnereien im Lande gepachtet haben, bezahlt wurden. Es war immer ihr Stolz, wenn sie nach Pancsova oder Neusatz liefern ging, daß ihre Kokons unter die allerschönsten zählten. Sie habe nie eine kranke Raupe, sagte sie, sie wisse genau jede Häutungsperiode der Tiere und störe sie nie in ihrem langen Schlaf. Und wenn die Lust zum Einspinnen in ihnen erwache, da schaffe sie ihnen Raum und Gelegenheit. Einen Wald von Zweigen für richtige Spinnhütten schleppe sie herbei, ganze Bäumchen stelle sie auf, und wenn dann die goldigen Kokons drauf hingen, könnte man meinen, das seien lauter Aprikosenzweige mit goldigen Früchten. Der Herr Oberlehrer möge sich das nur einmal ansehen, wenn es soweit wäre.
Der Straubmichl nickte lächelnd. »Ja, so isch's', wie die Liszka versteiht's kaans im Darf.«
»Wirscht dei' Peif' auslösche?« fuhr Liszka jetzt den Straubmichl an, der seine Pfeife in der Hand hielt und nicht darauf achtete, daß von ihr noch immer ein feiner Rauch ausging.
»Jessas, naa, sau haaklich bischt du?« sprach er und drückte den Daumen seiner Rechten fest in die Glut der Pfeife.
»Des will ich maane!« rief die Liszka.
Der Oberlehrer gab ihr lachend recht. Auch er betrete nie mit seiner Pfeife das Zimmer, in dem seine Raupen wohnen. Und er belobte die Liszka, fuhr ihr mit der Hand streichelnd über die runden Wangen und hielt sie ein wenig beim Kinn, um ihr in die hellen grauen Augen zu blicken. Sie ließ sich's gefallen, war es doch ihr alter Lehrer. Aber als er jetzt leise fragte: »Na, und was sagt der Matz? Wird er Ernst machen?«
Da entzog sie sich durch eine rasche Wendung des Kopfes seiner Neugierde und sagte mit einer gewissen Erbitterung: »Zeit wär's.« Dann zeigte sie den beiden auch das kleinere Zimmer, dessen Tür offen stand und das genau so für die Zucht eingerichtet war. Den Straubmichl aber bat sie plötzlich, er möge ihr doch den Korb Maulbeerblätter aus dem Vorkeller holen. Er wisse schon, wo. Und der Michl ging. Er schien glücklich zu sein, ihr dienen zu können.
Die Liszka sah ihm gespannt nach. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugezogen, trat sie mit gefalteten Händen auf Heckmüller zu. Ihr Gesicht war blaß, ihre Augen standen voll Wasser, und es war, als schüttle ein Frost ihren weichen, molligen Oberkörper.. »Ich bitt' Euch, Herr Oberlehrer, laßt den Matz kommen, red't ihm ins G'wissen. Er bringt mich in die Schand!«
»Was?! Ist's so weit?« fragte bestürzt Heckmüller. »O, du arm's Mädl!«
»Seit drei Jahren laaft er m'r nooch, den Kirweistrauß heb ich ehm mache müsse … Und endlich hot er mich halt drankriegt … Aber seitdem sei' Vater wieder Dorfrichter is, bin ich ihm nit mei gut genung. Er will a Reichere.«
»Hat er dir's gesagt?«
»Fuchsteufelswild is er, daß mir was passiert is. Warum sei er denn g'rad mit mir gange? hot er g'saat. Weil er sich uf meiner Mutter ihr Kunscht verlosse hat. Sie soll m'r halt helfe. Sie sei doch sonst nit so haaklich.«
»So ein Kerl ist der Matz?« sprach erstaunt Heckmüller. »Liebe Liszka, da wird sich nicht viel ausrichten lassen. Ich will ja reden mit ihm, aber daß es solche Bursche bei uns gibt, hätte ich nie geglaubt.«
Die schweren Tritte des Straubmichl näherten sich, und die Liszka verschwand rasch in dem Nebenraum, um die Augen zu trocknen und sich zu fassen. Der Oberlehrer hielt den Michl zurück und besichtigte das gebrachte Laub. Es war kühl und frisch. Von wo es wäre? fragte er. Alles von der Komitatsstraße. Und nur von Bäumen mit weißen Früchten, berichtete Michl. Die anderen lasse er nur in der größten Not verwenden. Die Bauern seien heuer sehr zufrieden, daß die Bäume draußen zuerst entlaubt werden und immer weniger Schatten geben. Und er habe ihnen versprochen, daß es künftig auch keine Früchte mehr geben soll auf den Maulbeerbäumen neben den Feldstraßen. Er habe jetzt genaue Erfahrungen. Wenn man die Bäume jedes dritte Jahr stutze, bringen sie nur Laub und keine Beeren. Es gebe dann nichts zu naschen für die Buben und die Vögel auf solchen Bäumen.
»Das ist wahr,« sagte der Oberlehrer, »das habe ich auch schon beobachtet.«
Unbefangen lächelnd trat die Liszka wieder ein, dankte dem Michl und begann damit, ihre Seidenraupen zu füttern und umzubetten.
»Wann besuchst du denn wieder einmal meine Frau, schöne Liszka?« fragte der Oberlehrer beim Abschied. »Du warst schon lange nicht bei uns.«
»Ich kumm gern, Herr Oberlehrer. Bitt', mein' schön' Gruß der Frau Oberlehrerin,« entgegnete die Liszka mit einem dankbaren Blick.
»Brauchscht mich noch?« fragte der Straubmichl.
»Naa, ich dank' d'r. Gell heunt Owet schickscht m'r halt wieder frisches Laab?« sprach Liszka und warf dem Michl einen ihrer freundlichsten Blicke zu.
»Jjoo!« grinste dieser. »Wann die Sunn' unne is, bring ich's selber.«
* * *
Es war Sonntag, Sonntag im Dorfe. Alle Arbeit stand still, kein Halter tutete des Morgens das Vieh heraus, kein Wagen rasselte durch die reingefegten Gassen, und vor jedem Hause standen plaudernde Gruppen im Festgewand. Zur Frühmesse gingen die Ältesten, der Wichnersepp und seine Generation, die Großväter und Urgroßmütter. Dann aber rief die Glocke zum Hochamt. Zum erstens, zum zweitenmal. Und immer mehr Menschen bewegten sich durch die Gassen der Kirche zu. Die Blüte der Gemeinde, das herrschende Geschlecht und die Jugend marschierten auf. Die Bauern in dunklen Tuchgewändern, hohen Glanzröhrenstiefeln und runden breiten Hüten, die noch nach alten deutschen Formen gebildet waren. Die Westen trugen sie mit runden kleinen Silberknöpfen besetzt. Die jüngeren Bauern hatten Schnurrbärte, die älteren gingen glattrasiert. Es erhielt sich bei diesen die Überlieferung, daß nur derjenige einen Schnurrbart tragen dürfe, der Ungarisch verstünde. Dieses Vorurteil war gefallen, die neue Generation trug Bärte, ob sie ein Wort Ungarisch verstand oder nicht.
Stolz rauschten die Frauen und Mädchen durch die Gassen. Nur selten ging ein Maun mit seiner Ehefrau; die Weiberleut liebten es, allein zu gehen. Es war auch zu wenig Platz auf dem Gehsteg neben einer Bäuerin, denn ihre vielen gestärkten Unterröcke bauschten sich auf, als ob sie alle Krinolinen trügen aus der Zeit der Maria Theresia. Die Mädchen gingen ohne Kopftuch, mit glatten Scheiteln; der Zopf war am Hinterkopf mit einem glänzenden Beinkamm aufgesteckt. Die hellfarbigen, hundertfach gefaltelten Röcke waren vorne mit einer breiten, duftigen weißen Schürze bis zur Hälfte bedeckt; über dem Schnürleibchen trugen sie ein buntes, gefranstes Seidentuch, dessen Enden von den Schultern herabliefen, vor der Brust sich kreuzten und rückwärts in der Taille gebunden wurden. Dazu schwarze Halbschuhe und weiße Strümpfe. Unter den Seidentüchern guckten die Hemdsärmel hervor, die den halben Oberarm umspannten, den unteren aber ganz freiließen. Die Hände ruhten vorn auf dem Leib und hielten ein Gebetbuch fest. So wandelte jede einzelne wie eine breite, kräftige Holzschnittfigur dahin. Die Bäuerinnen trugen nur schwere Seidenröcke, schwarz oder in gedämpften Farben, Seiden- oder Samtjacken und schwarze Seidenschürzen, auf dem Kopfe ein unter dem Kinn gebundenes mehrfarbiges Seidentuch, das über der Stirn einen spitzen, hohen Giebel bildete; Gebetbücher mit Silberbeschlägen, Rosenkränze mit Silberkreuzen. Außer dem einfachen goldenen Ohrring, der bei den Frauen auch einen Stein aufwies, keinen anderen Schmuck als den Ehering.
Die Männer und die großen Buben des Dorfes hielten auf dem Wege zur Kirche und dann vor derselben Heerschau über die Schönen. Der Platz rings um die Kirche war wie der Festsaal des Dorfes. Vor dem Gotteshaus lief die Hauptstraße vorbei, und sein Gegenüber bildeten Pfarrhaus und Schulhaus. Links an der Ecke ein Kaufmann, rechts einer, und hinter der Kirche der dritte. Das Gemeindehaus auf der einen Seite, die neue Mädchenschule auf der anderen. Und von allen Richtungen mündeten die Dorfgassen in diesen Mittelpunkt, der an sich schon die größte Anziehungskraft besaß, denn durch ihn hindurch gelangte man auch zum großen Wirtshaus. Hier spürte man den Sonntag wie nirgends, hier ging sein festlicher Pulsschlag am stärksten. Und die Buben und Männer, die sich hier versammelten, betraten das Gotteshaus nicht früher, als bis sie nicht alle schönen Mädel und Frauen des Dorfes gesehen hatten.
Auch die Herrischen bildeten eine Gruppe. Der Doktor, der Notär, der Stromingenieur, die Lehrer und andere »Herren« fanden sich hier zusammen. Auch ihre Frauen und Töchter defilierten hier vor der Gemeinde, ebenso die Juliska, die mitten durch ihre Reihen mußte. Und Gergely, der Stromingenieur, war der schöne Mann in diesem Kreise, nach dem sich manches Auge wendete.
Der alte Jellinek stand auf den Vorstufen, die zu seinem Laden emporführten, und die älteren Bauern, die ein gescheites Gespräch über Krieg und Frieden, Wetter und Ernte dem Dorfklatsch vorzogen, versammelten sich um ihn. Die Bedienung im Geschäft überließ er der Familie, er machte nur größere Sachen, kaufte und verpachtete Felder, vermittelte Getreide und Slibowitz. Aber er lief keinem Geschäfte nach, ließ alles an sich herankommen und hatte einen guten Ruf. Sein behäbiges, spaßiges Wesen und seine Bereitwilligkeit, jedem gefällig zu sein, warben ihm Freunde. Sein schneeweißer Bart erweckte Zutrauen bei allen. Und er war namentlich der Ratgeber derer, die ihre zweiten und dritten Söhne studieren lassen wollten. Er wies manchem Jungen aus dem Dorfe den künftigen Lebensweg oder nahm doch Einfluß auf sein Fortkommen. Und wo er eine Intelligenz sah, war er hinterher mit seinen Ratschlägen. Nur fort aus dem weltentlegenen Dorfe! Nur etwas lernen lassen. So hielt er es auch mit seiner eigenen Kinderschar. Sie zerstob in alle Winde.
An Sonntagen erfuhr er alles, was im Dorfe vorging. Aber in dem Augenblick, da das Zusammenläuten die letzten Gläubigen in die Kirche rief, mußte er seinen Laden schließen und durfte ihn erst wieder öffnen, wenn das Hochamt vorbei war. Es war ein altes Gebot aus der Konkordatszeit, das nicht mehr respektiert zu werden brauchte, aber der kluge Jellinek hielt sich daran. Mit dem Pfarrer und der Klarinéni wollte er sich's nicht verderben.
Das lebhafte Getriebe vor und neben der Kirche bildete oft den Höhepunkt einer ganzen Woche. Hier gab es manchen angenehmen Sonntagsdiskurs, man hörte manches, sah und wurde gesehen. Verliebte Blicke, Grüße und Zurufe wurden ausgetauscht, aber auch Spott gab es und Mißgunst, Neid und Schadenfreude.
Die Lehrerinnen kamen, das Postfräulein, die dünnen, pariserisch frisierten Backfische des Doktors und des Notärs, die Bauerntöchter marschierten auf, und Gergely hatte für jede einen Kennerblick. Plötzlich wurden seine Augen starr und seine Nasenflügel flogen – wer war das? Stattlich in ihrer farbigen, halb bäuerlichen, halb herrischen Tracht, prall und voll, von dunkler, fremder Schönheit, wie ein Rätsel des Schwabendorfes, so war Susi erschienen. Man hatte sie ein wenig aus den Augen verloren seit ihren Zwillingen, die sie stark mitgenommen; jetzt aber war sie neu aufgeblüht, und mit dem ganzen Mutterstolz ihrer dreiundzwanzig Jahre schritt sie dahin. Die Herrischen, an denen sie vorbei mußte, reckten sich die Hälse aus nach ihr, einer stieß den andern an und alle pufften verstohlen Gergely. So etwas gab's im Dorfe, solch eine junge Bäuerin war da zu Hause, und gerade die mußte dem Feind des Gergely gehören, dem Haffnersjörgl? Er erkundigte sich beim Vizenotär, der neben ihm stand, wer sie wäre, und schüttelte dann den Kopf. Ihm war, als hätte er sie heute zum erstenmal gesehen. Und sein funkelnder, raubtierartiger Blick folgte ihr, bis sie in der Kirche verschwunden war.
»Da ist nichts zu holen, lieber Vilmos,« flüsterte Halmos Árpad ihm zu, »da gibt's höchstens Prügel. Elsässer Blut. Bei ihrer Frau Ururgroßmutter muß einmal ein Marquis gastiert haben.«
»Bizony Sicher, so sieht sie aus,« antwortete Gergely.
Von der anderen Seite, wo die großen Buben des Dorfes ihr Hauptquartier hatten, die Vortänzer bei der Kirweih, die Führer der Jugend, kam die blonde Wielandsliszka. Vielleicht zu aufgedonnert für ein Mädchen, bildhübsch, aber ein wenig blaß. Auch sie war eine Überraschung, auch mit ihr mußte eine Veränderung vorgegangen sein. Die meisten Burschen verstummten, als sie erschien. So schön war sie noch nie, die Liszka. Der stämmige Klugsmatz, ein brauner, etwas hochmütiger Bursch, wurde von seinem Nachbar mit dem Ellenbogen in die Seite gestoßen, weil er die Liszka, sein Kirweihmensch vom vorigen Jahr, gar nicht zu bemerken schien. Er wechselte die Farbe. Mußte er ihr nicht einen Gruß bieten, ein heiteres Wort zurufen, wie dies üblich war? Und wie er es ja seit Jahren immer tat. Sie wartete darauf. Und jeder andere Bursche hätte sie gern begrüßt, aber sie galt ja in diesen Kreisen als die Seine. Nein, er wollte nicht. Er wollte, daß man merke, es wäre nichts mehr zwischen ihnen. Warum hat sie ihm gleich den alten Oberlehrer auf den Hals gehetzt? Wie der ihm die Leviten gelesen, wie der ihn heruntergeputzt hat, ihn, den Sohn des Dorfrichters. Das vergißt er der Liszka nicht. Und auch ihm nicht, dem alten Schulknecht. »Justament is's aus!« Ein freches, altes, schwäbisches Liedel hat er dem Oberlehrer zu Gehör gesungen, vor dem Fenster, als er ihn verließ:
»Ufs Gässel bin ich gange,
Ufs Gässel geih ich nit,
Die Feine möcht' mich fange
Und maant mer sin zu Dritt'.
Heidildei und Schnecke –
Soll ihre Motter wecke!«
Da und dort erschollen laute und leise Zurufe und Grüße für die Mädchen und Frauen, der Liszka galt heute keiner. Daß sie gefiel, daß mancher nach ihr lechzte, das fühlte sie. Aber sie schwiegen alle. Noch um einen Ton blasser, als sie gekommen, betrat sie die Kirche. Und sie schritt weit vor, weiter als es sich gebührte, beinahe bis zu der Schranke in der Nähe des Hochaltars. Es sollten sie nur alle sehen, alle … Wer weiß, wie lange sie noch dort erscheinen durfte …
Der Haffnerslippl war zum erstenmal mit seiner stillen Frau zur Kirche gekommen, und man bemerkte es allgemein. Die Bas' Bärbl war beliebt im Dorfe, und jedes hätte ihr gern ein Wort gesagt. Aber man wußte, daß dies am besten nicht geschehe. Und so geleitete der Bauer sein Weib bis zu ihrem Platz und ging dann zu dem seinigen auf der Männerseite. Er konnte sie von dort immer sehen und beobachten. Sein Sohn Jörgl stand auch vor der Kirche draußen bei den Männern. Und die Susi war ja auch hier.
Die schwäbische Dorfkirche vollführt eine seltsame Scheidung unter den Gläubigen, sie trennt Stände, Geschlechter und Altersklassen. Die Herrischen saßen ganz geschieden von den Bauern. Vorne zu beiden Seiten der Tür, die aus der Sakristei in die Kirche führte, waren ihre Bänke. In dem breiten Mittelgang, zwischen den Bänken der Bauern und Bäuerinnen, stand Kopf an Kopf die weibliche Jugend, alles was der Schule schon entwachsen und noch nicht verheiratet war. In den beiden Seitengängen drängte sich die jüngere, verheiratete Männerwelt; auf dem Chor droben hatten die Buben ihren Platz. Links und rechts zur Seite der Orgel waren zwei große Galerien, eine für die kleinen, eine andere für die »großen« Buben, die schon mannbar waren und Kirweihsträuße tragen durften. Und unter dem Chor, im Dämmerschatten des tiefsten Hintergrundes, dort, wo die Beichtstühle standen und man nur an Einkehr und Buße denken konnte, gab es noch eine besondere Gruppe: Dort knieten die, die nicht Frauen und nicht Mädchen waren … Sie durften den Kopf nicht mehr bloßtragen wie die Jungfrauen, hatten keine weißen Schürzen mehr, durften nicht im Mittelgang der Kirche stehen, und auch die Kirchenbänke der Frauen waren ihnen verschlossen. Es waren die Gefallenen des Dorfes. Sie kamen am liebsten ganz zuletzt, nach dem »Z'sammläuten«, wenn die Gemeinde schon in der Kirche versammelt war, und sie verließen zuerst, manche von ihnen fluchtartig, das Gotteshaus. Niemand bot ihnen einen Gruß. Sie selbst hatten jedermann zuerst zu grüßen und mußten froh sein, wenn man ihnen dankte. Die Frauen sahen hochmütig über sie hinweg, die Mädchen wichen ihnen scheu aus. Viele verheiratete Männer lächelten und zwinkerten ihnen vertraulich zu, die ledigen aber glaubten sich jede Freiheit ihnen gegenüber gestatten zu dürfen. Auf keinem Tanzplatz durften sie mehr erscheinen, von jeder Spinnreih waren sie ausgeschlossen, und in der Kirche standen sie am Pranger. Ihre Kinder aber wurden nur in der Abenddämmerung getauft, und nie fand sich ein Pate oder eine Patin für ein solches. Die weiße Frau des Dorfes, die Wielandin, mußte alle aus der Taufe heben.
Tief zerknirscht kniete die Liszka, die von Natur fromm war und täglich die Messe besuchte, heute in der vordersten Reihe der Mädchen. Wie lange noch? Sie hob den Blick nicht während des Hochamtes, und die Predigt des Pfarrers ging an ihrem Ohr vorüber wie ein leeres Geräusch. Es fehlte ihr jedes Andachtsgefühl. Ihre Seele war erfüllt von wilden Gedanken, und sie hätte am liebsten aufgeschrien vor Angst und vor Zorn. Jeder Orgelton peitschte ihre Sorgen auf wie einen Bienenschwarm. O, warum hatte sie sich ihm anvertraut, dem Oberlehrer, der ihr ja doch nicht helfen konnte? Der teuflische Rat des Matz war vielleicht doch der bessere … Aber was konnte jetzt die Mutter noch helfen, wenn ein Dritter darum wußte? Vielleicht wußte es auch die Frau des Oberlehrers. Die Liszka blickte nach ihr hin. Dort saß sie, neben der hochmütigen Juliska … Mit keiner Miene, mit keinem Hauch bestätigte sich dieser bange Zweifel; die Frau Heckmüller sah wohlwollend und harmlos zu der schmucken Liszka herüber, die sie schon lange in der vordersten Reihe entdeckt hatte, wo nur die Jüngsten knieten. Ihre Blässe fiel ihr auf und ihre Zerknirschtheit. Sie war doch neulich so munter und frisch gewesen, als sie ihr den ersten Akazienhonig brachte und ein halbes Dutzend Luli ganz junge Gänse. Was ihr nur sein mochte? Liszka atmete auf, ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, daß die Frau nichts ahne. Der brave Alte, der die Orgel heute so herrlich spielte, hatte ihr entsetzliches Geheimnis also noch nicht ausgeplaudert. Vielleicht gab es doch noch Hilfe …
Lieber den Tod als die Schande. Lieber beizeiten weit fort, nach Amerika, als ausgestoßen und gebrandmarkt dort hinten knien, bei den anderen, denen die Dorfbuben abends ins Fenster singen dürfen:
's Kranzerle weg
Und 's Häuberle her –
Jungfer gewest
Und nimmermehr.