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XXI.

Als die Nachricht ins Gässel kam, der Kaplan Michlbach sei abgereist und ein neuer gucke bereits aus seinem Fenster, war die Liszka schier umgefallen vor Schreck. Ihre Bestürzung und ihr Schmerz waren namenlos. Sie konnte und wollte es nicht glauben. Am Morgen noch, als sie zur Messe ging, stand er dort und lächelte.

Sie lief zum Jellinek hinauf. Und als sie wieder kam, da mußte sie wohl daran glauben. Höhnischen und mitleidigen Blicken nur war sie begegnet. Jedes prach davon; alle wußten es, nur sie nicht, gerade sie es zuletzt erfahren.

Warum? Sie konnte es nicht fassen.

Seit der schrecklichen Winternacht, da ihm der Wütende die Laterne aus der Hand schlug, die er, in einen Mantel gehüllt, ihr vorantrug aus der Spinnreih', hatte sie ihn nicht mehr sprechen können, hörte sie seine liebe Stimme nicht mehr. Mit dem Knüttel schlug der Michel drein, fluchend und gotteslätterliche Reden führend. »Verdammter Phaff!« hin und »Geiler Bock!« her. »Ich wer' der gäwe, wallfahrte gein mit am annern seiner Braut … Wallfahrt' du mit deiner Graußmotter!« So polterte er, und immer schlug er in der Dunkelheit darauf los. Sie wollte schreien, um Hilfe rufen; aber Istvan bat sie um Gotteswillen zu schweigen.

Sie durfte ihm dann nur bis zur Tür des Pfarrhauses helfen, denn er konnte kaum kriechen; dort hieß er sie heimgehen. Sie möge schweigen, bat er, und keinem Menschen ein Wort davon sagen. Sonst sei er verloren. Das tat sie, aber bekannt wurde es doch. Sie ging in keine Spinnreih' mehr und verzehrte sich in der Angst um ihn und seine Zukunft. Als sie ihn zum erstenmal wieder am Fenster sah, war sie glücklich und schöpfte neuen Mut. Schon beruhigten sich die bösen Mäuler, am Ende würde die Sache ganz einschlafen und vergessen werden. Und wenn nicht? Mußte er denn Geistlicher sein? Der Gedanke erschreckte sie, aber sie spann und spann daran.

Und jetzt war er fort? Auf einmal fort aus dem Dorfe, fort aus ihrem Leben? Und er zürnte ihr wohl gar, warf alle Schuld auf sie? Und es sollte nichts werden aus all den Luftschlössern, die sie gebaut? Er konnte jetzt wohl niemals Pfarrer werden, und sie mußte hier sitzen bleiben mit ihrer Schande und ihrem Kinde, das sie nie so recht lieben konnte wie andere Mütter. Und wieder sagte sie sich: Er muß ja nicht Pfarrer werden.

Sie ging kaum noch auf die Gasse hinaus, weinte Nächte hindurch.

Es war nicht zu fassen, wie das Schicksal sie heimsuchte in den letzten zwei Jahren. Hatte sie sich denn so sehr versündigt? So inbrünstig wie sie betete niemand in der ganzen Gemeinde, die Kirche hatte keine frömmere Tochter als sie. Und alles mißglückte ihr, alles verschwor sich gegen sie.

Daß jetzt auch sie fort mußte aus dem Dorfe, stand fest bei ihr. Und wäre es in die Seidenfabrik nach Pancsova oder Neusatz. Alles verachtete sie, auch die gütige Frau Oberlehrer schaute sie nicht mehr an. Nur die Männer waren hinter ihr her. Auch der Gergely. Rief der nicht neulich die Mutter dringend zu seiner Frau und blieb dann da bei der Liszka und wurde frech? Na, sie hat ihm gezeigt, wo der Zimmermann das Loch gelassen. Und wie er sie einzufädeln versuchte! Mit dem Kaplan wollte er über sie gesprochen haben vor dessen Abreise. Förmlich gebeten habe er ihn um einen Gruß für die Liszka. Der aber sei hart gewesen und verschlossen; er wollte nichts mehr wissen von ihr, die ihn ins Unglück gestürzt hätte.

Mußte sie das nicht glauben? Aber sie wollte nicht. Sie konnte nicht. Auf ihren guten Stern wollte sie vertrauen und hoffen. Und wenn sie auch fort mußte aus dem Dorfe, er würde sie schon finden, wenn er sie eines Tages dennoch haben wollte. Und das konnte nicht anders kommen. Davon war sie überzeugt. Dem Kind zuliebe mußte sie noch bleiben. Die Großmutter war vernarrt in das Mäderl, und sie wird es gern pflegen und erziehen, bis es reif ist für das Szegediner Kloster. Solange es der Mutterbrust noch bedarf, will sie aushalten, nicht einen Tag länger.

Es waren endlich schöne Frühlingstage gekommen; die Aprilsonne stach wie mit Nadeln, und die Wasser in den Auen und hinter den Deichen verdampften wie in einem unterheizten Kessel. Die Bäume schlugen aus, und die Herbstsaaten standen schöner als je. Sie waren unter der warmen Schneedecke des langen Winters besser gediehen als sonst in Frost und Regen. Weithin leuchtete der grüne Mantel, den die Erde trug, und wieder jubilierte und tirilierte es in der ganzen Natur. Während sie droben, am oberen Lauf der Donau, wie man hörte, eine gar rauhe Zeit hatten und in den Bergen der Schnee des Nachwinters noch hoch lag, war hier mit einemmal ein italienischer Frühling eingezogen.

Auch der Samen für die Seidenzucht war wieder eingelangt, und der Oberlehrer Heckmüller und der Straubmichel hatten alle Hände voll zu tun. Immer mehr Leute im Dorf meldeten sich zur Teilnahme; die Liszka aber war abgefallen; sie hatte die Annahme des Samens, den man ihr wie eine selbstverständliche Sache zuwies, verweigert.

Im Pfarrgarten und im Schulgarten wurde wieder gearbeitet, aber keine Juliska sang, kein Kaplan ging Raupen putzen. Und über den Zaun hin wurden nur wenige Worte gewechselt. Man grüßte sich, sonst aber hatte man sich wenig zu sagen.

Drei Wochen hatten dem neuen Kaplan genügt, im Bunde mit Halmos den Boden zu unterwühlen, auf dem Heckmüller stand. Petrovics machte sich sogleich an das Studium der Ortsverhältnisse, und die Taufmatrikel der Pfarre schon bot ihm eine Offenbarung. Was war doch da plötzlich geschehen? In dem Matrikelfolianten lag das vom ungarischen Kultusministerium herausgegebene Verzeichnis all jener deutschen Taufnamen, deren Übersetzung ins Madjarische möglich war. Und jeder Pfarrer wußte, daß er dahin zu wirken habe, daß nur diese Namen von der Bevölkerung gewählt würden.

Nun fand Kaplan Petrovics, daß man sich wohl auch hier jahrelang daran hielt; aber ganz plötzlich, in den allerletzten Monaten schien eine neue Mode aufgekommen zu sein. Liebhilde, Dietrich, Gottfried, Hildegard waren da auf einmal Kinder getauft worden. Und so ging das in diesem offenbar sehr gesegneten Frühjahr dann weiter; man verlangte nur Namen wie Hellmut, Herbert, Otto, Eberhard, Ulrike, Klotilde, Mathilde. Einfache Bauern verlangten solche Namen? Und dem verehrten Herrn Pfarrer war das nicht aufgefallen? Er mußte ihn erst darauf aufmerksam machen? Er tat es und verlangte eine Untersuchung. Bei der nächsten Taufe aber, wo man wieder einen Alwin in die Matrikel einschmuggeln wollte, verweigerte er das. Es sei ungewiß, ob es solch' einen Heiligen gab. Wilhelm oder Adalbert seien doch auch schöne Namen. Die Leute wollten es nicht auf eine Verschiebung der Zeremonie ankommen lassen, da doch daheim schon der Kindtaufschmaus wartete; sie ließen sich einschüchtern und wählten Adalbert. Der Kaplan aber trug in die Matrikel ein: Eisele Béla. Und dieses Verfahren setzte er fort; er hatte noch keinen Paten gefunden, der auf seinem Recht bestanden wäre ihm gegenüber und sich ernstlich widersetzt hätte.

Auch hatte er bald herausgebracht, daß die Bewegung gegen die madjarischen Taufnamen vom Oberlehrer ausgegangen war.

Halmos und Petrovics rieben sich die Hände vor Vergnügen, als sie das entdeckten. Das hatte dem Alten gerade noch gefehlt! Zuerst wollte der Kaplan ihn zur Rede stellen, ihm diese Einmischung in eine kirchliche Sache untersagen; aber nach reiflicher Überlegung fand er, daß es jedem unbenommen bleiben müsse, sein Kind zu nennen, wie es ihm beliebe. Und einen guten Rat zu geben, könne man einem Oberlehrer nicht gut verwehren. Direkt war da nichts auszurichten, man hätte die Leute nur gereizt und sie aufmerksam gemacht, daß es ihr Recht war, neben dem madjarischen Namen auch die Eintragung der Übersetzung ins Deutsche zu fordern. Also lieber nicht daran rühren. Das Hochverräterische und Pangermanische dieses Verfahrens ließ sich im stillen viel besser beweisen. Otto hieß Bismarck, Hellmut hieß Moltke, Herbert war der Sohn Bismarcks genannt. Das genügte doch!

Und es genügte. Das heißt, es reichte hin, den schon genügend angeschwärzten Oberlehrer vollends in Ungnade zu stürzen bei denen, die hinter Halmos, Petrovics und dem Dorfnotär standen, und denen dieser Mann im Wege war.

Die Frühjahrsprüfungen in den Dorfschulen gelten immer als ein großes Ereignis. Auch wenn nur der Pfarrer den Vorsitz führt, sind sie feierlich genug. Und sie sind öffentlich. Alle Eltern, alle Honoratioren des Dorf es haben Zutritt, und sie machen auch Gebrauch von dieser Freiheit, sie kommen.

Heuer aber kam wieder einmal der königliche Schulinspektor zur Prüfung. Und auf den flachen Bänken, die rings an den Wänden herumliefen, saßen die Gäste und überzeugten sich bei diesem öffentlichen Verfahren von den Fortschritten ihrer Kinder. Der Klugsbaltzer mit den Gemeindevertretern war da, der Haffnerslippl stand im Kreise von Vätern, der Postmeister war zum Trotz gekommen, der Bindersmichel und selbst der alte Wichnersepp fehlten nicht. Aber auch Herr Jellenik saß bei den Herrischen, die spärlicher vertreten waren als die Bauern. Sein Enkel Géza gehörte auch zur Klasse.

Warum war der gestrenge Schulinspektor, der hinter dem Prüfungstisch saß, gekommen? Er war da, um sich zu überzeugen, ob die Schüler der letzten Volksschulklasse fähig waren, in allen Gegenständen madjarisch zu antworten. Sie besaßen diese Fähigkeit aber nicht. Der Oberlehrer Heckmüller, der ein wenig bleich war und nervös, ging im Mittelgang zwischen den Bänken hin und her und half seinen Lieblingen, so gut er konnte. Ihm schien es genügend, was sie in der schweren fremden Sprache leisteten; der Schulinspektor aber tat sehr befremdet. Er approbierte einzig und allein den Haffnersfülöp und den kleinen Jellinek und empfahl sie der Jugend und den versammelten Eltern als Muster. Er tat, als ob er nichts wüßte von der Szegediner Episode mit dem Fülöp.

Vergeblich suchte Heckmüller auch eine Überprüfung seiner Schüler in deutscher Sprache durchzusetzen. Das interessierte den Herrn Schulinspektor nicht, und er erkundigte sich zum Schlusse ganz auffällig darnach, wer der nächstälteste Lehrer der Gemeinde wäre. Auch dessen Klasse wollte er prüfen …

»Halmos!« rief der Kaplan Petrovics.

Es gab ein lautes Murren unter den Gästen; die Bauern führten erregte Gespräche, und der Dorfrichter machte den Pfarrer, der schweigend neben dem Inspektor saß, mit einem Wink aufmerksam, daß er sprechen wolle.

Er erhob sich und richtete eine hochdeutsche Ansprache an den Vorsitzenden. Er dankte im Namen des Schulstuhles und in dem der Gemeinde für die Ehre dieser Schulvisitation und sagte dann:

Es mag sein, daß der Herr Schulinspektor an bessere Ergebnisse im Ungarischen gewohnt ist, als er sie hier erlebt hat. Das möge ihn aber nicht irre machen. Alle Männer, die hier sitzen, haben ihr Wissen in dieser Schule und von diesem verehrten Lehrer, der ein Dorfkind ist, empfangen. Diese Schule sei eine gute. Fünfundneunzig von hundert Kindern bleiben im Dorf und werden Bauern. Daß sie gut lesen, schreiben und rechnen können, sei das wichtigste. Das alles in zwei Sprachen zu können, wäre sehr schwer. Nur Ausnahmskinder lernen das. Die meisten verdummen dabei. Was in die höheren Schulen gehört, soll man nicht schon von der bäuerlichen Dorfschule verlangen. »Wir sind dreitausend Schwaben in Karlsdorf, und unter uns leben nur sieben Familien, die ungarisch sprechen. Von wem sollen unsere Kinder also die Staatssprache lernen?« fragte er.

»Von der Schule!« rief der Inspektor dazwischen.

»Des geiht amol nitt!« rief der Klugsbaltzer ‚ der sich bis dahin zu dem gespreiztesten Hochdeutsch gezwungen hatte. »Sau g'scheit is ka Lehrer, und sau hell sin amol unsere Schwobeschädel nitt. Alle Achtung vor unserm Herrn Schulinschpekter. Was er heunt erfahre hot bei unsre Kinner, des könnt' valleicht a Vermahnung sein, nit meihner mehr zu verlange, als galeischt geleistet werde konn. Nix für ungut! Kinner,« wandte er sich an die Klasse, »rufts Eljen der Herr Schulinschpekter!«

Und die ganze Klasse brüllte: »Eijen!« Die Bauern aber stießen sich gegenseitig mit den Ellenbogen und schmunzelten.

Der Schulinspektor verneigte sich ein wenig betroffen und erwiderte:

»Ich danke sehr für die Begrüßung durch den Herrn Dorfrichter. Mit seinen Ausführungen aber kann ich mich nicht ganz einverstanden erklären, und es war nicht hier der Ort, das alles zu sagen. Die Neuschule hat höhere Ziele, als die alte sie gehabt hat. Die Völkerschaften Ungarns, die alle zusammen die ungarische Nation bilden, sollen in einer fernen Zukunft eine einheitliche Sprache reden, und nur, wer dieses Ziel zu fördern versteht, darf heute auf die Anerkennung seiner Oberbehörde rechnen. Man kann ein ganz vortrefflicher alter Lehrer sein und doch diesen neuen Zielen nicht mehr mit Erfolg dienen können. Die madjarische Nation wünscht es heiß, daß ihre Gastvölker endlich das volle Heimatsrecht hier erwerben, daß sie sich ihr assimilieren. Ich will also durchaus nicht sagen, daß diese Klasse nichts gelernt hat, Gott bewahre; ich bin nur der Meinung, daß sie keine genügende Reife in der Staatssprache bewiesen hat. Damit schließe ich meinerseits diese Prüfung.«

Bleich, am ganzen Körper bebend, stand Heckmüller im Mittelgang seiner Klasse, und alle Augen waren auf ihn gerichtet. Er war keines Wortes mächtig und sah nur wie durch einen Schleier, daß die Eltern und die anderen Gäste der Prüfung jetzt die Kinder beschenkten, wie es die Sitte erheischte. Bei denen, die die besten Antworten gegeben hatten, regnete es Zehn- und Zwanzighellermünzen. Selbst Kronen gab es. Besonders der Fülöp hatte die Faust voll Geld. Jeder zeichnete ihn aus.

Indes plauderte der Herr Schulinspektor mit den Gemeindevertretern, dem Pfarrer und dem Kaplan. Und Heckmüller sah, daß von ihm die Rede war … Hatte der Mann dort nicht wieder von den »Gastvölkern« Ungarns gesprochen und von Assimilierung? Irgendeine Antwort sollte man ihm doch geben. Und als jetzt eine kleine Pause eintrat in dem Gesurre, faßte Heckmüller rasch einen Entschluß. Er wußte, es war vielleicht die letzte Handlung, die er in dieser Schule unternahm. Nun denn – so sollte sie es sein.

Er hob beide Arme hoch, und die Klasse verstummte. »Kinder, das Schwabenlied. Vierte Strophe,« sprach er.

Und schmetternd erhoben sich die Knabenstimmen:

»Wer mag den Schwaben fremd in Ungarn schelten?
Hier saß vor ihm der Türke, der Tatar.
Er will als Herr auf seiner Scholle gelten,
Ist Bürger hier und nicht dein Gast, Madjar!

Sprachlos schaute der Schulinspektor den Pfarrer an, und auch dieser war höchlich betroffen. Nur der Kaplan Petrovics lächelte dämonisch.

»Er hat geblutet in Prinz Eugens Heeren,
Vertrieb den Feind, der hier im Land gehaust.
Dein eigner König rief ihn einst in Ehren:
»Pflüg' mir den Boden, wackre Schwabenfaust!

Aus einer Wüste ward ein blühend Eden,
Aus Sümpfen hob sich eine neue Welt.
Von diesem Land laßt deutsch und treu uns reden,
Verachten den, der's nicht in Ehren hält.

Und mit einem Ruck erhoben sich jetzt die Buben zur letzten Strophe, die sie feierlich wie ein Kirchenlied vortrugen:

»O Heimat, deutschen Schweißes stolze Blüte,
Du Zeugin mancher herben Väternot –
Wir segnen dich, auf daß dich Gott behüte,
Wir stehn getreu zu dir in Not und Tod.«

Ein Andachtsschauer war den Versammelten, die alle das Lied zum erstenmal gehört hatten, durch die Adern gelaufen.

Der Schulinspektor aber schrie jetzt auf wie ein Rasender, und seine Stimme kippte um: »D as ist Ihre Schule! Das treiben Sie hier! Herr Oberlehrer – ich suspendiere Sie vom Dienste!«

Eine große, peinliche Pause.

Man erwartete, daß der so jäh seines Amtes entsetzte Oberlehrer, der diese Schule dreißig Jahre lang geleitet hatte, etwas erwidere. Er tat es nicht. Ihm war so eigen … Als hörte er ein fernes, wunderschönes Glockengeläute … So war ihm schon während des Gesanges … Ja, in diesen Knabenstimmen läuteten sie, und immer lauter und heller werden sie erklingen, die Glocken der deutschen Heimat.

Und während Heckmüller so träumte, trat der Kaplan vor seine Klasse und machte mit großer Gebärde das Zeichen des Kreuzes für das Schlußgebet – das madjarische Vaterunser.

* * *

Nikolaus Heckmüller fühlte sich nur als einen bescheidenen Mitarbeiter an der nationalen Erweckung seines Volkes, und er besaß nicht die Veranlagung zu einem Märtyrer. Er sah ein, daß er, so wie hundert andere alte Schulleiter, der neuen Lehrergeneration weichen mußte. Die Janitscharen rückten vor, da gab es keinen Widerstand. Die Ungläubigen müssen durch Ungläubige vernichtet werden, heißt es im Koran; die Deutschen müssen durch ihre übergelaufenen Söhne madjarisiert werden, lautet ein ungeschriebenes Gesetz dieses Landes.

Um zu kämpfen, war er zu alt geworden. Aber ganz unterkriegen sollten sie ihn doch nicht. Er wird noch manches anregen und ausführen können in der Gemeinde, wenn er im Ruhestand ist. Dann erst recht. Nur sein Altenteil soll man ihm lassen – die Seidenzucht. Ohne die würde er sich sehr arm vorkommen und einsam.

Und die Gemeinde wirkte dahin, daß ihm die Oberaufsicht, die er seit Jahren in Karlsdorf und Umgebung über die Seidenzucht führte, verblieb. Der Haffnerslippl aber lächelte zu alledem. Er hatte eine bessere Stelle für seinen Gevatter, den Oberlehrer. Übers Jahr wird er Konviktsdirektor in Szegedin sein. Und die Frau Rosa wird die Mutter aller Schwäbischen Knaben sein. Da wird dann keiner mehr heimkommen wie sein Bub …

Heckmüllers gutes Verhältnis zum Pfarrhause war in diesen Tagen auch getrübt worden. Nicht ein Wort der Verteidigung fand der Pfarrer für ihn vor dem Schulinspektor. Er schwieg, obwohl er im vorhinein wußte, daß diese Prüfung die letzte war, die er abhalten durfte. Heckmüller konnte dies nur auf den bösen Einfluß des neuen Kaplans zurückführen und auf die von ihm selbst entfachte Bewegung zugunsten der deutschen Namen. Sei's drum! Davon wollte er auch künftig nicht lassen. Bis an sein Lebensende wird er Buße tun für seinen verlorenen Gyuri. Noch wußte niemand im Dorfe, daß er, der alte »Pangermane«, der Vater eines Sohnes war, der sich György Molnár nannte. Vieles hätten seine Gegner ihm verziehen, wenn er das einbekannt haben würde. Aber er schämte sich. Und sein Schwabenlied hätten sie ihm ja doch nicht vergeben.

Während Heckmüller in seinem Garten noch ein paar wilde Setzlinge veredelte und sich an dem Gedanken ironisch ergötzte, wie diese Äpfel und Birnen einst den Kindern des Halmos schmecken würden, kam eilig Frau Rosa aus dem Hause herbei. Auch sie trug die Schicksalswendung nicht ohne Humor. Ein paar Jahre früher oder später – was lag daran? Es kam nur etwas plötzlich, und man war noch nicht im reinen darüber, ob man den Rest seiner Tage hier im Dorfe oder vielleicht doch in einer kleinen Stadt verleben sollte. Um Heckmüller zu dem letzten Plan zu bekehren, hätte sie mehr Zeit gebraucht.

Aber nicht solche Gedanken beschäftigten sie in diesem Augenblick. Es brannte ihr etwas ganz anderes auf der Zunge, und sie warf zuerst einen Blick nach dem Pfarrgarten, ehe sie redete. Dort war es ganz still. Als ob gar nicht Frühling wäre und die Welt von Jubelgesängen widerhallte. Mit rotem Kopf wandelte der Pfarrer auf und nieder, seine Pfeife schien kalt geworden zu sein, und er disputierte im stillen mit sich selbst. Man merkte es an den Gebärden, die er ab und zu von sich schlenkerte. Focht auch er einen Kampf aus in der eigenen Brust, bei dem ihm niemand helfen konnte?

Frau Rosa brachte die Nachricht, daß morgen der Tag wäre, an dem die Juliska in Temesvar die Bühne betrete. Alle Herrischen des Dorfes fuhren hin, und sie wäre für ihr Leben gern mit dabei gewesen.

Ob er denn nichts gemerkt hätte da drüben? Vor einer Stunde wäre der berühmte Schauspieler Pálkay Vidor dagewesen, den Pfarrer einzuladen. Beim Jellinek hat man es ihr erzählt. Herr Pálkay habe aber sehr unzufrieden ausgesehen, als er wieder fortfuhr.

Heckmüller hatte nichts gesehen und nichts gehört. War ihm auch höchst gleichgültig. »Ärgert sich der Pfarrer? Kränkt er sich?« fragte er und schielte über den Zaun. Seine Vermutung schien sich zu bestätigen. »Um so besser!«

»Du bist ein guter Nachbar,« lächelte Frau Rosa.

»Wird ihn sehr viel Geld kosten, die Geschichte,« brummte Heckmüller. »Vergönn' ich ihm auch. Und das Mädel wird durchfallen. Wo soll denn auf einmal die große Kunst herkommen?«

»Da täte sie mir aber sehr, sehr leid ‚« sprach Frau Rosa.

»Wirklich?« Er sah seine »Alte« zärtlich an. »Na, dann soll sie triumphieren. Ich hab' nichts gegen sie. Sie ist ja unschuldig an den vielen Steinen, die uns von da drüben in den Garten geworfen worden sind.«


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