Adam Müller-Guttenbrunn
Die schöne Lotti und andere Damen
Adam Müller-Guttenbrunn

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Alte Photographien

Zutiefst in meinem Schreibtische liegt ein Bündel alter Photographien. Bescheidene Bilder in Visitkartenformat, wie sie noch vor einem Vierteljahrhundert üblich waren. An die Stelle des Stammbuches war damals das Album getreten, die Photographie, was als ein ungeheurer Fortschritt galt. Man gab sein Bild gern an Freunde und Bekannte, behielt aber die Sitte des Stammbuchverses bei und schmückte damit die Rückseite. Schon als Student begann für jeden die Sammlung seines Bekanntenkreises in Bildern, und es gibt wohl kein Haus, in dem sich nicht eine solche Sammlung findet. In dem einen wird sie mehr, in dem anderen weniger in Ehren gehalten, und von Zeit zu Zeit wird wohl auch ausgemustert.

Als ich einmal eine solche Musterung hielt unter den alten, ausgeblaßten Bildern und mit dem Zerreißen der weniger wichtigen begann, hielt ich plötzlich inne. Reue erfaßte mich und ich schnürte die schon zerrissenen Bilder mit anderen Photographien zusammen in ein Bündel und hob sie gut auf. So gut, daß ich sie fast nie mehr unter die Augen bekam. Nur in Zwischenräumen von Jahren stoße ich einmal darauf. So oft man umzieht und den Ballast, den man durch das Leben mitschleppt, kritisch überprüft, kommt man auf so gut aufgehobene Dinge. Es kostet dann nur einen resoluten Entschluß und man ist von so mancher Last befreit.

So erging es mir auch kürzlich wieder mit jenem Bündel alter Bilder. Ich war unverhofft auf sie gestoßen und öffnete den Bindfaden, der ein Jahrzehnt nicht mehr aufgeknüpft worden war. Es quollen mir die Kopfe und Füße der einst zerrissenen Bekannten aus der Jugendzeit zuerst entgegen. Eine melancholische Sammlung. So recht geeignet, stille Zwiesprache zu halten mit jenen goldenen Jugendtagen, deren Hoffnungen sich nicht erfüllt haben. Da lagen sie alle vor mir, die einst mitgeschwärmt und mitgehofft hatten. Was war aus ihnen geworden? Welcher von ihnen hat jene Ziele, die er sich damals gesteckt, wirklich auch erreicht? Der und jener ist zwar höher gestiegen, als wir alle vorausgesehen, als er selbst zu hoffen gewagt. Aber die anderen? Diese zwei schönen Krausköpfe waren immer unsere Vorzugsschüler, sie machten sich den Primus immer streitig, und da es doch nur einer von ihnen werden konnte, hatten wir unsere liebe Not mit der Feindschaft, die zwischen ihnen herrschte. Beim Einsagen brauchten wir beide, wir durften es sich also mit keinem verderben. Was ist aus ihnen geworden? Sie haben beide die Matura mit Auszeichnung gemacht, der eine ist sogar sub auspiciis imperatoris zum Doktor Juris promoviert worden. Was ist ans ihnen geworden? Einer starb als bescheidener Landarzt in ziemlich traurigen Verhältnissen, der andere, der Jurist, wurde Advokat und man hat nie etwas Besonderes von ihm gehört. Seit zwanzig Jahren habe ich ihn aus den Augen verloren. Sie waren einst der Stolz eines ganzen Gymnasiums. Und das war ihr Lebensweg?

Ein anderer Vorzugsschüler wurde Offizier. Als Oberleutnant begegnete ich ihm wieder und er war in diesem reifen Alter zum lyrischen Dichter geworden. Niemand war sicher vor ihm und seinen Gedichten. So oft eine Pause im Gespräche entstand, zog er sein Notizbuch aus der Tasche und las einem etwas vor. Er war der Schrecken seines ganzen Regiments und wurde bald nicht mehr ernst genommen von den Kameraden. Daß er einem recht lästig werden konnte, das wußte ich aus eigener Erfahrung. Als Hauptmann schon ging er in Pension, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen, aber man hat nie etwas von ihm gehört. Ein vierter aus jenem Kreise war mit hochfliegenden Plänen Schauspieler geworden. Er lebt als geachteter kleiner Provinzdirektor in Deutschland und spielt längst nicht mehr selbst. Ein fünfter wurde Professor und ist jetzt Gymnasialdirektor. Die am höchsten stiegen – man soll so etwas, namentlich wenn man Söhne hat, eigentlich nicht sagen – die waren nicht gerade die besten Schüler. Gerade die Ach-und-Krach-Studenten bewährten sich später im praktischen Leben, wurden Hofräte und Sektionschefs in den Ministerien.

Da liegt so einer mit einem halben Kopfe vor mir, der nach dem Untergymnasium Kaufmann geworden. Er erwarb sich ein großes Vermögen und spielte auch im öffentlichen Leben eine Rolle. Ohne Matura. Ein anderer, der zwei Klassen wiederholen mußte, weil er zu viel Indianergeschichten las, hat sich als Reiseschriftsteller und Forscher einen Namen gemacht; er ist gegenwärtig in Uganda oder irgendwo Minister einer schwarzen Majestät.

Es sind aber auch andere, Gescheiterte, in der Sammlung. Der eine heiratete als Beamter eine allzu schöne Frau und ging zugrunde in der Bestreitung ihres Putzes, dann, als seine Mittel nicht mehr ausreichten, betrog sie ihn, und als er fremde Gelder angriff, war es schon zu spät – sie ging ihm durch. Er endete im Irrenhause. Und noch zwei endeten ähnlich . . . Der Begabteste aus dem ganzen Jugendkreise aber war mit zweiundzwanzig Jahren an Lungenschwindsucht gestorben. Sein Bild liegt vor mir und – welche Ironie! – er hat kolorierte Wangen. Um dem blassen Jungen eine Freude zu machen, hatte seine Mutter die Bilder einst kolorieren lassen. Er ist seit achtundzwanzig Jahren tot und lebt frisch in meinem Gedächtnisse. Ich höre seine Stimme, ich fühle den Druck seiner Hand, wenn ich sein Bild betrachte. Und doch sind auch einige Photographien da, von denen ich nicht mehr weiß, wen sie vorstellen. Sie sind bis auf den Namen verblaßt. Man trinkt bei einer Kneipe Bruderschaft mit einem Altersgenossen, tauscht Kuß und Bild, und in einiger Zeit weiß man nichts mehr von einander. Verschollen und vergessen.

Da liegen aber auch einige eigene Jugendbildnisse. Wie seltsam sich doch der Mensch verändert. Ich würde mich nicht wieder erkennen in dem Jüngling mit den gesträubten Haaren, wenn ich mir irgendwo begegnen würde. Auch junge Ehepaare sind unter den Photographien, Leute, bei denen ich wohlgelitten war als junger Mensch, deren Vertrauter ich gewesen. Sie enthüllte mir seine Fehler, er mir ihre Schwächen. Bei so jungen Paaren, die sich noch nicht ineinandergefunden, die noch im Stadium der Kriegsjahre sind, kann ein ehrlicher Freund oft wohltätig wirken. Aber es ist doch so mancher Ehe zuträglicher, wenn die Kriegsjahre ohne fremde Einmischung vorübergehen, wenn die Freunde erst nach dem Friedensschlusse der Temperamente im Hause Einzug halten.

Eine dieser Frauen, ihr Bild ist auch einzeln in dem Bündel vorhanden, fühlte sich so unglücklich, sie war so viel allein. Ihr Mann, ein Freund, der um zehn Jahre älter war als ich, stak den ganzen Tag im Geschäfte und sie war jung und hübsch und hatte zwei liebe Kinder. Doch diese füllten sie nicht aus, ihr Sinn stand nach der Welt. So oft ich konnte, besuchte ich sie, denn Frau Therese wollte es. Sie hatte glänzendes rotes Haar, blaue Augen und einen durchsichtigen, weißen Teint. Sie war wie transparent, wenn sie redete, alles leuchtete an ihr von innen heraus. Und ihre molligen, frauenhaften Formen und ihre liebe, tiefe Stimme hatten es mir angetan. Ich war wahnsinnig verliebt in sie, aber ich blieb stumm wie das Grab. Denn ihr Mann war mein Freund. Und das galt damals, namentlich bei einem Zweiundzwanzigjährigen, noch als ein Grund . . . Doch ich kam immer öfter und auch sie brannte lichterloh. Wenn wir uns die Hände reichten, zitterten wir. Da geschah es eines Tages, daß wir erst um Mitternacht von einem Ausfluge heimkamen. Als ich mich vor dem Haustore verabschieden wollte, um in meine entlegene Vorstadtwohnung zu pilgern, beredete mich ihr Mann, bei ihnen zu schlafen. Therese sagte kein Wort. Ich sträubte mich anfangs, aber schließlich gab ich nach. »Er kann doch im Kabinett, auf der Ottomane, schlafen«, sagte Karl, und sie stimmte zu. Am frühen Morgen weckte mich Frau Therese mit einem Kusse. »Sie müssen mit meinem Mann fort,« sagte sie rasch; »man redet schon über uns.« Und so eilig, wie sie gekommen, war sie verschwunden. Ihr erster Kuß brannte noch auf meinen jungen Lippen, als ich mich erhob, und ich zögerte einen Augenblick, ihn mit kaltem Wasser wegzuwaschen.

Nach dem Frühstücke gingen wir, Karl und ich. Und als wir das Haus verließen, sagte die Hausmeisterin zur Greislerin laut und lachend: »Jetzt schlaft er gar schon da!« Ich sah meinen Freund erschrocken von der Seite an, aber er hatte es nicht gehört, er war blind und taub für das, was sich in seinem Hause vorbereitete. Und er war mir so dankbar dafür, daß ich seiner Frau oft gute Bücher brachte und zu ihrer Zerstreuung beitrug, so viel ich konnte.

Seit jenem Morgen aber betrat ich sein Haus nur noch zu solchen Stunden, wo ich wußte, daß er daheim war. Wir wurden uns scheinbar Fremde, Frau Therese und ich. Und sie schien verstimmt zu sein gegen mich. Aber als ich einmal erkrankte, besuchte sie mich ohne weiteres. Eine Stunde saß sie an meinem Bette, hielt meine fieberheiße Hand in der ihren und streichelte mir das Haar und die Wangen. Sie plauderte heiter und harmlos, und als sie ging, ließ sie, wie eine gute Fee, einen goldenen Schimmer zurück in meinem kahlen studentischen Heim.

Ich vergaß jene Stunde nie, aber ich ging nach meiner Genesung nicht mehr zu Frau Therese. Ich traute uns nicht. Und um meiner Gesundheit willen strebte ich fort von Wien.

Es gelang, ich erhielt auswärts eine Stelle und ich verabschiedete mich von Therese in einem überschwenglichen Dankbriefe, der manches Geständnis enthielt. Ein paar höhnische Zeilen über meine »Flucht« waren ihre Antwort . . . . Da liegt ihr Bild. Gelockte Haare umfließen den schönen Kopf. Ein leidender Zug liegt auf dem Gesichte und die halbbeschatteten, sentimentalen Augen verraten noch heute eine heimliche Glut. Ich habe Therese nie vergessen, eigentlich immer an sie gedacht. Und oft hatte ich den unwiderstehlichen Drang, nach Wien zu eilen und mich zu ihren Füßen zu werfen. Aber ich überwand mich immer wieder. Das Leben schob andere Gestalten an ihre Stelle und die junge Liebe verblaßte mehr und mehr. Ich kam später wieder nach Wien, nahm aber die alten Beziehungen zu meinem Freunde Karl nicht mehr auf. Nach langer, langer Zeit kam er einmal zu mir, um irgendeine Empfehlung. Er habe gehört, daß ich wieder hier sei und daß ich ihm in einer bestimmten Sache dienlich sein könne. Er war recht alt geworden. Wie mochte sie heute aussehen? Fast getraute ich mich nicht, nach ihr zu fragen, denn ich fürchtete eine Einladung. Beim Abschied tat ich es doch. »Meine Frau? Du meinst Therese? Ach, die ist ja schon dreizehn Jahre tot!«

Es traf mich wie ein Schlag. Therese lebte in meinem Geiste so frisch und jung und sinnlich, wie sie war. Ein Zauber ging von der Erinnerung an sie aus, der mir nach vielen Jahren noch alle Sinne belebte. So rein und unschuldig hatte ich sie geliebt und mich aufgeopfert für die Erhaltung ihrer Frauenehre. Denn ihr Mann war mein Freund, sie war die Mutter seiner Kinder. Und ich wollte sie auch jetzt nicht wiedersehen, um mir jenes lebendige Jugendbild von ihr zu bewahren. Aber der Mann hatte seit zehn Jahren ein anderes Weib im Hause, Therese war tot. So lange tot. Niemand hat es mir mitgeteilt, niemand ahnte, daß ich mich auch ein wenig dafür interessieren könnte.

Das Porträt liegt jetzt wieder bei den anderen, zutiefst in meinem Schreibpulte. Denn ich habe das Bündel auch bei meiner jüngsten Übersiedlung noch nicht ins Feuer geworfen, habe es wieder mitgenommen. Und auch die schon vor Jahren zerrissenen sind dabei geblieben. Sind sie so lange mit mir gewandert, warum sollte ich mich jetzt von ihnen trennen? Sie mahnen mich zwar deutlicher als alles andere daran, daß der Höhepunkt des Lebens überschritten, daß der Weg sich neigt, denn es sind zu viel Tote unter ihnen. Aber ich sehe sie ja so selten. Ich habe sie recht gut aufgehoben.


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