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Die Kopal-Mizzi war das schönste Mädchen in der Burggasse und am ganzen Neubau, das war längst ausgemacht. Aber ihr Ruf war nicht der beste. Man munkelte schon lange allerlei über sie im Hause, sie war den Frauen viel zu elegant gekleidet und wenn sie sich auch die Hüte und Kleider angeblich selber machte, es blieb doch noch immer unverständlich, woher sie alles hatte. Ein kleiner Flickschuster war der Vater und die Mutter wusch die Wäsche von drei Parteien des Hauses. Woher also die Eleganz? Und die Hübschheit überhaupt? Benahm sie sich wie die Tochter solcher Eltern? Sie war bei einer Modistin in der Inneren Stadt tätig (was das hieß, wußte man ja) und sah auf die braven Töchter der Postoffiziale und Rechnungsräte, die im selben Hause wohnten, sehr von oben herab. Sie schätzte sich viel höher ein als diese armen Hascherl, die ihren Müttern am Morgen das Stubenmädchen ersetzten und nachmittags auf dem Klavier paukten, um sich standesgemäß auszubilden. Gelernt hatte die Mizzi nichts und daheim tat sie auch nichts. Sie machte sich morgens schön und ging aus, kam mittags zum Essen und ging dann wieder fort, hatte aber womöglich einen anderen Hut auf als vormittags. Und wenn sie abends wiederkam, begleitete sie immer ein eleganter junger Herr bis zum Haustor. Die Frau Rechnungsrätin im ersten Stock behauptete, es wäre jedesmal ein anderer. Und so weit ihre Beobachtungen reichten, kam die Schustermamsell sehr oft gar nicht heim. Aber es war aus dem Hausmeister nichts herauszubringen. Wahrscheinlich erhielt er an den Tagen, wo die Mizzi spät – oder früh? – nach Hause kam, ein gutes Trinkgeld von ihr. Oder von ihm? Aber sie wird es schon noch herausbringen, die Frau Rechnungsrätin. Und wenn sie auch eine ganze Nacht opfern müßte.
Man wird sich vielleicht wundern, warum die Dame, die die beste Gassenwohnung des Hauses innehatte, sich so sehr für das Schustermädel aus der letzten Parterrewohnung des Hoftraktes interessierte. Denn ganz hinten, neben dem kleinen Hausgärtchen, wo die Hausfrau ihre große Hühnersteige hatte und die Düngergrube des Pferdestalles war, lag die Wohnung des Schusters Kopal, die man mehr als eine Höhle hätte bezeichnen können als eine menschliche Behausung. Aber wenn die goldblonde Mizzi aus jener dunklen Ecke des Morgens hervorkam, war es immer, als ob erst jetzt die Sonne über den Hof schritte. Der Kutscher der Hausfrau rief ihr die erste Schmeichelei zu und hinter allen Fenstern des langen Hoftraktes reckten sich die Hälse nach ihr. Nicht nur die der Frauen. Das war es eben. Alle Männer des Hauses blickten der Mizzi nach und einige, die ihr Beruf zur selben Stunde fortrief, beeilten sich immer, ihr nach- oder zuvorzukommen, um sie dann auf der Gasse zu grüßen und ein freundliches Lächeln von ihr zu erhaschen. Denn daheim, im Hofe selbst, trauten sich nicht alle, dies zu tun. Das hätte in mancher Ehe einen Skandal gegeben. Und neuestens lief auch der pensionierte Gutsinspektor aus dem zweiten Stock, der Herr von Zierl, jeden Morgen hinter ihr her. Der hatte doch gewiß nichts Dringendes zu tun zur selben Stunde. Seinen Morgenspaziergang hätte er ja auch früher oder später unternehmen können. Aber nein, punkt halb acht lief er davon, knapp vor der Mizzi, und immer kam er lächelnd zurück wie ein Beglückter. Daß er dieses Schustermädel genau so höflich grüßte wie ihre Olgerl, hatte die Rätin mit Verdruß schon früher bemerkt. War der Witwer denn blind? War er taub? Da mußte etwas geschehen, diesem Provinzler mußte man aus dem Traum helfen. Wenn er wieder zum Kaffee kommt, wird man deutlicher sein müssen. Er zählte einundfünfzig, ihr Olgerl einunddreißig. Das wär gerade der richtige Altersunterschied. Was wollte er mit dem Flitscherl aus dem Hinterhaus? Die Rechnungsrätin zitterte für ihren Feldzugsplan. Denn daß der Herr von Zierl wieder heiraten wollte, hatte er offen gesagt. Es war nicht anzunehmen, daß er jetzt nur auf ein galantes Abenteuer spekulierte. Der mußte gerettet werden, denn er war vielleicht im Begriffe, in eine Falle zu gehen.
Die blonde Kopal-Mizzi ging unbekümmert ihres Weges, all der Neid und all das Gezischel im Hause berührte sie nicht. Dazu war sie zu lustig und hatte einen zu leichten Sinn. Und eine Heilige war sie wirklich nicht. Sie mußte verdienen, mußte etwas ins Haus bringen und durfte keinen Heller kosten. Seit ihrem sechzehnten Jahre ging sie zur Marchand-Modes und erhielt sich selbst. Ja, sie kleidete sogar ihre jüngeren Geschwister und gab dem Vater noch immer etwas auf den Zins. Niemand fragte, woher sie es hatte. Als der erste Mann sich ihr näherte und allerlei Ungebührliches von ihr verlangte, da war sie noch so naiv, ihre Mutter zu fragen, was sie tun solle. »Wann er was hat, geh mit ihm«, sagte die Brave. »Wer waaß, zu was 's guat is. Gib aber acht! Kumm m'r mit nix . . . Du verstehst mi schon!« Und sie kam mit nichts. Nach einem halben Jahre ließ der Max sie sitzen und ging andere Wege. Aber es kam bald ein zweiter und den hielt sie fest. Schon drei Jahre ging sie mit dem Huber Franzl, dem Hausherrnsohn aus der Siebensterngasse. Sie hatte ihn närrisch gern. Und er wollte auch Ernst machen, sagte er, wenn sein Alter einmal nicht mehr lebte. Früher durfte er nicht daran denken. Der wäre imstande, nicht ihm, dem Ältesten, das Geschäft zu übergeben, sondern dem Bruder. Da wär' er ruiniert, der Franz. Also nur g'scheit sein, predigte er der Mizzi, wenn sie ihn wieder einmal mahnte. Und auf jede Träne, die sie gelegentlich weinte, legte er einen Zehner.
Das ging seit mehr als drei Jahren so fort, sie sah ihre Blütezeit unter seinen Händen hinweggleiten. Und es war ihr jetzt zum zweitenmal etwas passiert. Beim erstenmal wurde ja geholfen, aber sie wäre beinahe daran gestorben. Und sie erschrak nicht wenig bei dem Gedanken, so etwas noch einmal durchzumachen. Aber sie merkte auch, wie sehr es den Franz verstimmte. Einen Riß hatte es ihm gegeben und groß sah er sie an, als sie es endlich sagen mußte. Seit jenem Augenblicke ist er verändert. Sie fühlt, er möchte los von ihr. Immer gibt es jetzt Szenen zwischen ihnen und Vorwürfe. Auf jeder Landpartie zerzanken sie sich. Sie können sich nicht einigen über das, was zu geschehen hätte . . . Er ist entsetzt vor dem Gedanken, hinter dem Rücken seines Vaters eine Familie zu gründen. Und offen reden? Sein Alter würde ihn »derschlag'n«. Sie aber ist sich zu gut dafür, ihr Leben und ihre Gesundheit ein zweitesmal in die Schanze zu schlagen. Sie will nicht. Und sie tut es nicht.
So gehen sie neuestens immer auseinander.
In ziemlich plumper Weise hatte die Frau Rechnungsrätin dem Herrn von Zierl gegenüber die Sprache auf die Mizzi gebracht, die »Schustermamsell«. Die Olga wurde eigens hinausgeschickt, zu fragen, ob denn auch richtig das Schlagobers gekommen wäre für den Herrn Gutsinspektor. Denn ohne solches mochte er keinen Kaffee, das hatte sie bald aus ihm herausgebracht. Er war so verwöhnt worden auf den großen Herrschaften, wo er als Inspektor lebte, und seit seiner seligen Amelie (er betonte das Wort auf der ersten Silbe) verstand es niemand mehr, ihm einen so guten Kaffee zu bereiten, wie das Fräulein Olga. Er war ein guter Bekannter des verstorbenen Rechnungsrates, und als es der Zufall wollte, daß er einen Winter im selben Hause wohnte, verabsäumte er nicht, der Witwe seine Aufwartung zu machen. Und er nahm gern die Einladung an, wöchentlich einmal bei den Damen zu jausen. Dafür revanchierte er sich manchmal mit zwei Theaterkarten, die er ihnen brachte. Zur dritten Karte, die für ihn selbst gewesen wäre, konnte er sich nicht entschließen. So weit wollte er es doch nicht treiben, daß konnte mißdeutet werden. Und als jetzt die Olga draußen war, sagte die Rechnungsrätin geradezu: »Mir scheint, mir scheint, Herr von Zierl, Sie gehen jeden Morgen jemand zu Gefallen.« Er wurde ein wenig verlegen. »Wieso? Wieso?« Sie drohte ihm neckisch mit dem Finger. »Geben Sie acht, Herr von Zierl, geben Sie acht . . . Die beobachte ich seit Jahren. Mir scheint, sie ist gegenwärtig wieder einmal ohne. Es hat sie wieder einmal einer sitzen lassen.«
»Ich verstehe Sie nicht, Frau Rätin,« entgegnete der Herr von Zierl, »wen meinen Sie?«
»Aber geh'n Sie doch, Herr Inspektor. Ich hab' Sie doch neulich bei St. Ulrich mit ihr sprechen gesehen. Sie macht Ihnen doch den Hof. So wie allen Männern.«
»Ach so, das Fräulein Kopal meinen Sie? Ist ein fesches Mädel, nicht wahr? Ich seh' sie sehr gern, die Mizzi. Ein echtes Wienerblut.«
Die Rätin machte ein langes Gesicht. Dann lachte sie nervös auf. »Hahaha . . . Hahaha . . . Ja so!« Und da kam auch schon die Olgerl und hinter ihr erschien das Mädchen mit dem Jausenkaffee und einer großen Kristallschale voll köstlichem Schlagobers. Olga tänzelte geschäftig um den Gast herum und bediente ihn wie einen verhätschelten Liebling, aber es wollte keine rechte Stimmung aufkommen heute. Und früher als sonst empfahl sich der Herr von Zierl.
Der Tag war herrlich schön und der Duft des Frühlings lag über allen Dächern, als die Mizzi am nächsten Morgen durch den Hof heraufkam. Das ärmliche kleine Großstadtgärtchen, in dem die Hausfrau unter einer Kastanie ihr Salettl hatte (in das niemand sonst einen Fuß setzen durfte), war auch schon in Bereitschaft, den Frühling zu empfangen. Mizzi merkte es heute zum erstenmal. Ihr war recht weh ums Herz. Dieser Frühlingsduft machte sie müde. Aber Kopf hoch, hieß es, wenn sie durch diesen Hof schritt, wo hundert Augen sie umlauerten. Und ein Liedchen geträllert. Einen Schmarren sollten sie merken, wie ihr war.
Bei St. Ulrich grüßte sie das freundliche Gesicht eines alten Herrn und ein kleiner Veilchenstrauß duftete ihr entgegen. »O danke! Danke!« Sie nahm die Blumen gern. Und sie hatte nichts mehr gegen die Begleitung des Herrn Inspektors, so wie in der ersten Zeit. Wenn er nur so rasch mitkonnte, sie hatte es heute schon eilig. Aber er konnte. Er hielt sich stramm an ihren elastischen Schritt. Doch sie verlangsamte ihr Tempo gar bald, denn der Begleiter sprach von sehr ernsten Dingen. Und als sie beim Weghuber-Park waren, lenkten sie ihren Schritt dort hinein, sie fand, daß sie heute auch eine Stunde später ins Geschäft kommen könne. Zierl war dringend. Er wollte mit ihren Eltern sprechen, wenn sie es erlaube. Es sollte aber kein Aufsehen im Hause geben, er mußte ganz sicher sein. Und dann wollte er im Mai Hochzeit machen. Nicht ein Tag sollte ihm verloren gehen von dem Glücke, das er sich an ihrer Seite erwarte.
Die Mizzi war beglückt und bestürzt zugleich von der seltsam dringlichen Werbung des Alten. Und sie sah ihn zum ersten Male prüfend an. Der war ja gar nicht alt. Sein Blick war feurig, er hatte alle Zähne und nicht einmal eine Glatze. Hübsch war er nicht. Etwas zu klein neben ihrer Figur. Aber ehrlich schien er zu sein, ein Herz schien er zu haben.
»Sein S' denn nicht gewarnt worden vor der Kopal-Mizzi?« fragte sie. »Das sollte mich recht sehr wundern.«
»Gerade darum!« erwiderte er. »Was diese bösen Zungen alles sagen, ist mir gleich. Sie sind eben jung und fesch. Ihr künftiger Mann wird Ihnen manches zu verzeihen haben.«
Sie senkte den Kopf. »Ja, es gibt Männer, die nicht wert sind, daß ein ehrliches Mädel sie gern hat.«
»Ich weiß es. Aber sie brauchen keinem von denen mehr in die Augen zu sehen. Sie geh'n mit mir nach Kärnten.«
»Fort von Wien? Jessas, na, bin ich erschrocken.«
»Ich hab' ein kleines Gütel. Dort wirtschaften wir miteinander und ich werde Sie sehr lieb haben, Mizzi.«
»Lassen S' mir Zeit, Herr von Zierl, ich kann heute nicht ja sagen«, sprach Mizzi warm und herzlich. »Und kommen S' mir nit weiter nach. Es fallt auf. Morgen! Morgen!«
Und fort war sie. Er folgte ihr ganz von ferne mit den Augen, bis sie hinter dem Volksgarten verschwunden war. Dann ging er heim. Mit strahlender Miene grüßte er hinauf zur Frau Rechnungsrat. Die erschrak über sein gerötetes Gesicht. »Den Mann wird einmal der Schlag treffen auf diesen Morgenspaziergängen«, sagte sie zur Olgerl.
Mizzi schrieb ihrem Franzl, der sich seit Tagen nicht sehen ließ, alles. Wenn er sich nicht besinne und nicht den Mut habe, sich zu ihr zu bekennen, so nehme sie den Gutsbesitzer aus Kärnten, obwohl sie nur ihn liebe, nur ihn und sonst niemand auf der Welt. In drei Tagen sei sie verlobt, wenn er sich nicht melde, ihr Brief sei dann ein Lebewohl für immer. Auch für die Wiener Stadt.
Es war der letzte Versuch, den Abscheulichen zu sich zurückzuführen, den sie heiß liebte und nicht lassen wollte. Und fort von Wien? Sie konnte es nicht ausdenken.
Am nächsten Morgen kam der Herr Inspektor sehr betrübt von seinem Spaziergang zurück. Die Mizzi konnte sich nicht entscheiden. Und sie hielt ihn auch am zweiten Tage hin. Am dritten aber packte er seine Koffer und reiste allein nach Kärnten. Die Mizzi hatte ihm ihre Verlobung mit Herrn Franz Huber, Gesellschafter der Firma Bartholomäus Huber und Komp. mitgeteilt und ihn zur Hochzeit im Mai eingeladen.
Ehe der Herr von Zierl abreiste, schickte er den Damen im ersten Stock noch zwei Billette als Revanche für die letzte Jause. »Zu was denn?« rief da Olgerl. Zum »Herbstmanöver«, antwortete die Rätin.
»So, so . . So, so . . Herbst . .«
Hinten im Hof aber sprach eine brave Mutter zur selben Stunde: »Na alsdann, Mizzerl, is 's halt doch gut ausgegangen, 's kommt halt immer auf's Madl an, das sich auf so was einlaßt. G'scheidt muaß mar sein.«