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Die Luft war mild, die Sonne lockte ins Freie. Alle Welt schien auf den Beinen zu sein. Und im dichtesten Gewühl der Menge schritt ich einsam dahin. Mit dem vollen Bewußtsein: hier kennt dich niemand.
Es ist ein eigenes, nur dem Großstädter bekanntes Gefühl, das Alleinsein unter Menschen. Da hasten tausende, zehntausende Mitbewohner desselben Gemeinwesens an dir vorüber und du weißt von keinem etwas anderes, als was du siehst. Sie gehen auf zwei Beinen aufrecht und tragen die Larven von Menschen. Alles andere liegt im Dunkeln. Woher sie kommen, wohin sie gehen, was sie denken, hoffen, wünschen, leiden, das alles deckt ein dichter, undurchsichtiger Schleier. Und du willst ihn auch gar nicht heben.
Da sprüht auf einmal ein Funke aus diesem Dunkel hervor, es blitzen zwei Augen in die meinen.
Vorüber.
Nach einigen Schritten wende ich mich um. Sie tut dasselbe. Doch jedes geht seinen Weg weiter. Und wieder ist es dunkel in der Menge, die auf der unabsehbar langen Vorortestraße hinausstrebt aus Wien. Da winkt ein Park mit Musik, dort tun sich Heurigenschenken auf, drüben liegt ein vielbesuchter Friedhof. Hinter ihm der Wienerwald. Die Menge strahlt nach allen Richtungen aneinander und ich kenne niemanden aus ihrer Mitte. Es ist ein eigenes Gefühl.
Auch sie kenne ich eigentlich nicht. Nur ihre seltsamen Augen. Vor langen, langen Jahren habe ich sie manchmal gesehen, in einer fernen Stadt, wenn ich mittags aus dem Gymnasium ging, diese eigentümlich braunen Augen mit den hellen Ringen um die Pupille, mit jenem Leuchten und Flimmern . . . So stellte ich mir damals die Sirenenaugen vor. Und jetzt sah ich sie wieder. Wie wunderbar, daß ihr Blitz noch traf so wie einst, und daß eine ganze Lebensstrecke, die weit hinter mir liegt, auf einmal hell wurde unter dem Fünkchen, das da so unverhofft aufsprühte. Wie eine vulkanische Insel plötzlich aus dem Meer emporsteigt, so tauchte aus dem Unbewußten in mir alles auf, was zu diesen Augen einst in Beziehung stand.
Sie war nicht allein an mir vorübergegangen. Neben ihrer stattlichen, runden Gestalt trippelte ein hagerer Alter einher. Und auch ihn glaubte ich zu kennen. Ja, er war es ganz bestimmt. Aber wie hatte der Mann sich verändert . . . Ach, es ist lange her!
Die liebe, freundliche Provinzstadt L. mit ihren hellen Gassen und großen Plätzen, ihrer hügeligen Landschaft und dem Strom, der mitten hindurch fließt, ersteht vor meinem geistigen Auge. Und ich sehe das Haus, in dem wir wohnten. Hell und sauber getüncht, mit grauen, gesprisselten Fensterläden, zwei Stock hoch. Dicke, bombenfeste Mauern. Wenn man die schmale, einflügelige Haustür, die ein dickes, mit schönen Eisenbeschlägen verziertes Eichenbrett aus einem Stück war, öffnete und in den Hof blickte, sah man ein Gärtchen, aus dem einem die bunten, spiegelnden Glaskugeln auf hohen Staketen entgegenleuchteten. Fuchsien, Pelargonien, Pfingstrosen und Asternstauden schlossen sich zu dem freundlichen Gesamtbild eines philiströsen Geschmackes zusammen und darüber wiegten sich ein paar Rosenstöcke. Ein Springbrunnen von dünnster Strahlung belebte das Ganze.
Über der Haustür im ersten Stock befand sich ein breites Fenster, das einen Erker vorstellen sollte. Ein großer, weißer Glaskasten, der wie ein Balkon gestützt war, schob sich ziemlich weit in das Straßenbild hinaus. Und in diesem Lugaus sah ich, wenn ich mittags heimkam, immer dasselbe Familienbild: die gestrenge Hausfrau mit ihren drei Hunden. Sie lag mit dem Bauche auf dem Fensterbrett. Links hockte ein weißer Spitz, rechts ein schwarzer, vor ihr ein kleiner Rattler. Und alle vier, die Herrin und die Hunde, blickten gespannt nach derselben Richtung. Es läutete zwölf. Die Hälse der Wartenden wurden länger und länger. Noch nicht? Plötzlich wurden die Hunde unruhig, der Rattler bellte und hob sich mit den Vorderfüßen an der Fensterscheibe empor. Das breite, fette Gesicht der Frau Windischbauer verzog sich zu einem Grinsen und sie begann mit einer Lebhaftigkeit zu nicken, daß das Häubchen auf ihrem Kopfe zu wackeln begann. Unten aber war ein großer, auffallend nett gekleideter, jüngerer Herr erschienen, der den Zylinder flüchtig lüftete oder mit der Hand winkte und lächelnd in das Haus eintrat. Der Glaskasten oben leerte sich, die Frau begab sich mit ihren Hunden auf den Gang hinaus und der Ankömmling wurde laut und lärmend begrüßt. Die drei Hunde bellten, Frau Windischbauer rief: »Grüß dich Gott, Franzl!« und küßte den Ankömmling schnalzend auf den Mund. »Die Suppe steht schon auf dem Tisch«, sagte sie.
Als ich zum erstenmal Zeuge dieser Szene geworden war, glaubte ich, die Hausfrau habe da einen heimkehrenden verlorenen Sohn begrüßt. Ich erfuhr aber bald, daß der Mann mit dem stattlichen Schnurrbart und den lebhaften Augen ihr Mann war. Nicht der Hausherr, bloß ihr Gatte. Denn das Haus gehörte ihr, und es fiel niemandem ein, die Würde dieses Besitzes auch auf ihn zu übertragen.
Die Hausfrau war eine Respektsperson für die Jugend. Ganz im stillen nannten wir sie aber auch die »Hundsmutter«. Wie sie zu dem offenbar viel jüngeren Gemahl gekommen war, wußte ich nicht. Ich sah nur, daß sie ihn fest an der Leine hielt, denn so wie mittags, so wachte sie auch abends über sein pünktliches Erscheinen. Und wenn man ihren Schlüsselbund rasseln und die Hunde bellen hörte, dann wußte das ganze Haus, daß jetzt der Herr von Windischbauer heimkommt. Selten ging das ungleiche Ehepaar spazieren. Ob sie nicht wollte oder er nicht mochte, weiß ich nicht. Das Salettl in dem kleinen Hausgarten genügte dem Ehepaar. Am Sonntag ging die Hausfrau allein in die Halbzwölfuhrmesse und am Arm des Gemahls kam sie wieder. Er ging ihr nach dem Geschäftsschluß zur Domkirche entgegen und geleitete sie heim.
Das blieb jahrelang so. Ein Tag war wie der andere. Die Hunde bellten, der Schlüsselbund rasselte, ein Kuß schnalzte, die Suppe stand schon auf dem Tische.
Auf einmal klappte etwas nicht. Der Mann fing an, sich zu verspäten. Mittags ein wenig, abends oft recht ausgiebig. Türen wurden aufgerissen und flogen wieder zu, die Hunde stürmten zu wiederholten Malen auf den Gang hinaus, aber es war immer blinder Lärm, stets tauchte ein anderer Hausgenosse aus dem Halbdunkel der Stiege empor, nicht aber der Ersehnte, dem sie mit der Lampe entgegenleuchtete. Die Züge der Frau verzerrten sich jedesmal, wenn ihr eine neue Enttäuschung beschieden war, und sie wurde langsam zum Gespötte des Hauses. Manchmal setzte sie sich auf den obersten Treppenabsatz und wartete. Die Begrüßung, wenn der Mann dann endlich kam, war noch lauter als sonst. Nur das Schnalzen hörte auf. Man würde sich gar nicht gewundert haben, wenn es anstatt dessen manchmal geklatscht hätte.
Es wurde gebrummt, gezankt, gestritten, gegrollt und geschmollt. Er hatte so viel Arbeit, er war so sehr überbürdet. Wenn das Geschäft geschlossen sei, habe er erst recht zu tun. Jahresabschluß! Bilanz! Solche und ähnliche Worte drangen durch den Lärm. Dann wieder sie: »Du wirst die Stell' aufgeben. Mein Mann hat's nicht nötig, sich so zu rackern . . . Ach so, du willst nicht? O, o, ich werd' dir schon hinter deine Schliche kommen.« Türen flogen und es war wieder still.
Das ging nun auch lange so fort. Bald loderte die Zwietracht offen empor, bald fraß sie leise weiter. Manchmal schnalzte es wieder ein paar Tage bei der Begrüßung. Aber die Rückfälle wurden immer heftiger und das ganze Haus lachte über die eifersüchtige »Hundsmutter«, die so dumm gewesen, sich einen jüngeren Mann zu nehmen.
In jenen Tagen sah ich die seltsamen braunen Augen mit den hellen, flimmernden Ringen zum erstenmal. Hinter den Spiegelscheiben des Konfektionsgeschäftes auf dem Hauptplatze leuchteten sie plötzlich auf. Eine neue Verkäuferin oder Probiermamsell war da offenbar eingetreten. Eine biegsame, geschmeidige, jugendliche Gestalt, das Gesicht nicht gerade hübsch. Aber diese Augen, diese Augen! Wir Jungen versammelten uns stets vor dem Schaufenster und starrten das Mädchen an. Sie lächelte, kokettierte wohl gar mit uns. Und nicht selten verscheuchte uns der Buchhalter, der Herr Windischbauer, in eigener Person. Wir sollten den Kunden nicht den Platz verstellen. Als er sah, daß er nichts ausrichtete, erhielt das Mädchen einen anderen Sitzplatz. Um sie zu sehen, warteten wir dann oft den Geschäftsschluß ab. Und da merkte ich gar bald, daß die Sirene – wir nannten sie nicht anders – an der nächsten Ecke zögerte, bis der Herr Windischbauer sie eingeholt hatte. Er begleitete sie. Da konnte er freilich nicht mehr so pünktlich heimkommen wie ehedem.
Die Sirene veränderte sich binnen Jahresfrist vollständig. Aus dem schlanken, biegsamen Mädchen war eine mollige, runde, frauliche Erscheinung geworden. Nur ihre Augen waren dieselben geblieben. Die flimmerten und lockten wie Irrlichter.
Der eheliche Zwist im Hause Windischbauer aber flammte immer wilder empor. Der Mann wollte die Scheidung, sie drohte mit Polizei und Gericht. »Nie, nie, nie!« schrie sie jeden Abend mit gellender Stimme, und die drei Hunde sekundierten ihr so lange, bis einer seinen Fußtritt hatte und laut aufheulte.
Auf einmal wurde es ganz still in dem Hause. Frau Windischbauer saß, umringt von den Fuchsien, Pelargonien und Astern, tagelang allein unter den Glaskugeln ihres Hausgartens und strickte. Auf drei Kissen räkelten sich die Hunde in der Sonne. War schlechtes Wetter, lag sie mit ihren Lieblingen droben im Glaskasten des Fensters wie ehedem. Aber alle vier schauten jetzt trutzig nach der anderen Richtung, sie warteten nicht mehr auf ihren Herrn. Der hatte seine Frau verlassen, so erzählte man, und war nach Wien gegangen, sich eine Stelle zu suchen. Und bald darauf verschwand auch die Sirene aus L. Es war dringend nötig geworden, daß sie sich zurückzog.
Nie wieder habe ich etwas von ihr gehört. Ein Vierteljahrhundert und mehr ging dahin. Und auf einmal leuchtete ihr seltsames Augenpaar vor mir auf. Doch nur für den Moment einer flüchtigen Begegnung: sogleich versank sie mitsamt ihrem Schicksalsgenossen wieder in der Flut der Großstadt, die hinter ihnen zusammenschlug. Denn er war es gewiß, der da mit kleinen Greisenschritten neben ihr hertrippelte. Sie ist ihm also treu geblieben, sie hat ihm vielleicht Kinder geboren und ein Heim bereitet nach jenem Irrtum seiner jungen Jahre. Ob sie aber jemals Mann und Frau werden konnten? Das: »Nie, nie, nie!« gellt mir noch in den Ohren. Und die Frau war boshaft genug, beide zu überleben.
Wie wunderlich, daß die altgewordene »Sirene« den Kopf nach mir wandte. Sie konnte unmöglich wissen, daß da unter Hunderten ein Mann an ihr vorüberschritt, der ihr einst in L., als junger Grünschnabel, so oft zu Gefallen ging und nach einem Blick von ihr lechzte. Und doch muß so etwas in ihr aufgedämmert sein wie eine unbewußte Erinnerung, wie ein Lichtstrahl aus fernen Jugendtagen.