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Unruhiger ist die große Stadt als gestern. Die Massen der Untätigen durchziehen in endloser Folge die wagenleeren Straßen, über den Köpfen schweben die Fahnen und die Schilder mit der großen Kampfansage. Dort vor den Maueranschlägen staut sich lesendes Volk. Da steht etwas wie: »Volksbetrug« ... »Deckmantel der Wissenschaft« ... »Laßt euch nicht irremachen« ... »Jüngstes Gericht über die ›Mammonsdiener‹« ... »Unblutiger Weltkrieg« ... »Endlicher Friede auf Erden« ... Dicht daneben der Aufruf der Regierung: ... »Die Konstellation am Himmel den Berechnungen gemäß« ... »Sichere Voraussage nicht möglich« ... »Gefahr unvermindert« ... »Es ist tief beklagenswert, daß ein großer Teil der arbeitenden Menschheit aus grundlosem Mißtrauen gegen den Ernst der Wissenschaft und das Verantwortungsgefühl der Regierungen den vermutlichen Rest unsres Erdendaseins mit Feindseligkeiten erfüllen wird. Vor solcher Aussicht sollte vielmehr alles, was Mensch heißt, sich in stiller Sammlung vereinen. Wir hoffen zur Ehre der Menschheit, daß die vom Zaune gebrochene Kriegserklärung kein Gehör finden werde; daß auch diejenigen, die unsre Sorge nicht teilen, wenigstens den Verlauf der nächsten Tage abwarten werden, bevor sie einen Kampf eröffnen, der andernfalls keinen Sinn hätte. Laßt uns insgesamt denken und handeln, als ob das Ende nahte!«
»Sehr gut!« ruft einer aus der vordersten Reihe und fährt mit dem Finger unter die letzten, in Sperrdruck gesetzten Worte. »Der Kanzler hat recht! Leute! Nun denkt und handelt! Steht nicht und gafft! Lauft nicht länger spazieren! Zankt nicht um Mein und Dein!«
Und weithin gellt die Stimme, wie die eines Befehlshabers, daß in dem vorübertrottenden Zuge alle Köpfe sich wenden, die Schilder und Fahnen haltmachen: »Die Welt geht unter! Mein und Dein ist abgetan! Da in den Banken liegt das Gold! Was, Gold? Da sind die Kaufhäuser voll von oben bis unten! Was besinnt ihr euch? Da sind die Gasthäuser – warum setzt ihr euch nicht an den Tisch? Dort in den reichen Wohnungen liegt alles für euch da – wollt ihr erst schüchtern anklopfen? Alles euer! Alles euer!«
Der Menschenhaufe, aus dem die Stimme schallt, ist in Bewegung geraten; man drängt sich, den kecken Rufer zu sehen, aber der kleine Mann wühlt sich rasch wie ein Schwimmer durch das Gewoge und ist verschwunden. – Aus dem stockenden Zuge ruft's: »Laßt euch von dem Lumpen nicht irremachen! Vorwärts für Freiheit und Recht!«
Wieder dröhnt das Pflaster vom Takt der Schritte, rot weht es über den unabsehbaren Linien, rauhe Männerstimmen singen ...
Die Menge vor der Mauer liest noch immer: ... »Unausdenkliches Elend droht uns allen, wenn ihr den Verkehr unterbindet, die Ernährung hemmt. So kurz die Zeit sein mag, die uns noch beschieden ist, diese selbstgeschaffene Not wird schneller hereinbrechen und die Erde zur Hölle machen ...«
*
Flieger kreisen in allen Richtungen über dem Lande, von der Regierung gesendet, auf besorgniserregende Nachrichten. In der Tat zeigt sich dem Beobachter ein seltsames Bild. Überall kriechen langgestreckte Eisenbahnzüge durchs Land, augenscheinlich überfüllt; man sieht Leute auf den Dächern der Wagen sitzen. Und als reichten auch diese nicht zu, wimmelt es auf den Landstraßen von Gefährten und Fußgängern – eine kreuz und quer sich bewegende, tausendfältige Wanderung.
Aus allen Weltgegenden wird dasselbe gemeldet. In den Bahnhöfen drängt man sich zu reisen, man zwingt die unwilligen Beamten mit Gewalt, ihren Dienst zu tun, bisweilen steigen Unbefugte auf die Maschinen, setzen die Züge in Bewegung – schon hört man von allerhand Unglücksfällen. In den Hafenorten werden die ausfahrenden Schiffe bestürmt, ohne Paß und Fahrgeld zwängt sich eine Überzahl hinein und nötigt die Führer zur äußersten Eile. Flugzeuge sogar steuern gewagten Laufes über das Weltmeer, wie heimatsuchende Vögel ... Und all die Teilnehmer dieser unerhörten Wanderzüge, die sich in tausend Rinnsalen ergießen, gerufen oder ungerufen, ohne Rücksicht auf Obdach oder Unterhalt, notdürftig ausgerüstet wie auf kurzen Besuch ... Gatten, die Beruf oder seelische Entfremdung trennte; Mütter, die ihr fernes Kind noch einmal umarmen möchten – wenn man sie alle fragte, was sie in ruheloser Hast dahintreibt, in Sorge und Sehnsucht, würden sie nichts zu sagen wissen als: Nach Hause!
*
Leer ist der weite Fabrikhof. Rauchlos starren die Schlote in den blauen Himmel, hinter den Bogenfenstern der Maschinenhallen regt sich nichts. Nur in einer sonnenheißen Ecke zittert und schwirrt etwas. Da glotzen zwei gelbglänzende Riesenaugen ungeblendet nach oben, spiegelnde Schalen, in denen die Sonne gleißt. Ein Schleier zarter Drähte liegt darüber, verknotet sich rückwärts, verläuft in Maste, auf denen sich Lufträder in huschender Schnelle drehen. – Daneben sitzt einsam der Ingenieur. Sein Blick prüft den Kraftmesser. So hoch stand der Zeiger noch nie ... Als wenn die Strahlenquelle da oben verdoppelt wäre. Ein bitteres Lächeln – dann senkt er den Kopf, und ferne, bildhafte Weiten tun sich vor ihm auf. Kein Rauch mehr über den Städten, keine unförmigen Schornsteine, keine schmutzigen Kohlen, nach denen Menschenhände in die Tiefe wühlen. Überall Kraft und Licht und Wärme in reinlichen Häusern; die Straßen, die Landwege selbst des Nachts von mildem Glanz überstrahlt. Die Qual des Winters gebannt; aus dem Pflaster der Stadt, aus dem Acker draußen strömt heimliche Sommerluft, macht Eis und Schnee zerrinnen, kettet unmittelbar an den Herbst den Frühling, ununterbrochenes, blühendes Leben. Nun erst ist die Erde ganz der Sonne Kind, von ihr ohne Unterlaß gehegt und gespeist mit ihrer aufgespeicherten Fülle. Und da sie unerschöpflich spendet, in tausend Schalen zu gießen bereit – wie spart sie Menschenmühe, erleichtert Menschenlos! Wieviel weniger Grund fortan zu Mißgunst und Streit, wenn allen diese Quelle fließt, leicht gewonnen und leicht verteilt! Ja, sonniger wird die Erde. Was jene Massen fordern, die da draußen mit grimmigen Mienen und feindseligen Bannern die Stadt durchziehen – hier ist es auf einmal geschenkt! Geschenkt in urtiefem Sinne von oben her!
Freilich nicht mühelos in den Schoß gefallen ... Vor den Augen des Sinnenden wandeln schwere Jahre wie mit schleppenden Füßen vorüber, durcharbeitete Nächte dunkeln und schwinden ohne Erfüllung, endlich blitzt der Gedanke auf, der die Bahn bis zum Ziele erhellt. Und er der Finder! Sein Hirn dazu erwählt, den Lichtstrahl auszusenden, der neue Menschenzeit ankündet, aus Erdenfron entbindet zur Sonnenfreiheit! Späteste Geschlechter werden ihn segnen – nein, nicht mit elendem Golde soll das bezahlt sein, obwohl er, der arme Schlosserlehrling von einst, bitter um ihn gedarbt. Durch den gesenkten, leise ergrauten Kopf summen die Verse eines anderen Begnadeten: »Von des Lebens Gütern allen ist der Ruhm das höchste doch ...« Oder – wäre etwas noch größerer Lohn? Da ist eine sonnige Stube, am Fenster ein junges Mädchen, das die Straße hinunterspäht ... Er hört noch ihre bittende Stimme: »Vater, du kommst bald wieder? Mir ist so angst ...« Und er sieht sich selber eintreten, sie in seine Arme fliegen. »Kind, ich hab' es, ich hab' es! Seit heute weiß ich's gewiß! Und dir soll alles gehören – weil du mich liebst! Name und Ehre, Gold und Macht ... Eine Königin sollst du sein! Aus deinem Schoße sollen Sonnenkinder blühen!« – Plötzlich reißt es den träumenden Mann in die Höhe, wild blickt er um sich, höhnisch lachen die blitzenden Kessel ihn an, wie zum Spotte schwingen die spielenden Räder ... Alles Wahn! Alles umsonst! Er macht eine Bewegung nach dem Gebäude hin, über dessen Tür »Laboratorium« steht. Er weiß, wo die Sprengstoffe lagern, niemand ist da, den er zu fragen hätte. Wenige Gramm, hier in den Boden gelegt, und all das Gedankenbauwerk zerstiebt mit Donnergetöse – nur ein paar Tage früher.
Er steht, überlegt ... wenn aber nicht? Wenn doch ...?
Schwerfälligen Schrittes geht der breitschultrige Mann, man sieht's, aus Handarbeiterblut, über den sonnenbeglänzten Hof davon. Aus der Pförtnerstube grüßt ihn ein Alter vertraulich. »Immer der Erste und der Letzte, Herr Weiland!«
»Nun können Sie auch nach Hause gehn.«
»Es wird alles zugeschlossen. Und morgen bin ich wieder da.«
»Morgen ...?«
»Meine Frau quälte mich schon heute früh. ›Du bist doch kein Hofhund, den sie an die Kette gelegt haben.‹ ›Nein‹, sagte ich, ›aber ein alter Soldat. Ich denke immer, es paßt da oben einer auf, ob wir treu sind bis in den Tod‹.«
Der Ingenieur reicht ihm die Hand in die Tür hinein und drückt sie kräftig.
»Herr Weiland, soll das da hinten nicht abgestellt werden?«
»Lassen Sie es laufen.«
»Denken Sie, gestern abend hat es sich noch in der Dunkelheit gedreht. Wie das nur menschenmöglich ist?«
»Lieber Freund, es ist vieles möglich, was die Welt nicht ahnt. Warten Sie nur.«
»Ja – warten, worauf? Herr Weiland, Sie sind doch schlauer als unsereiner – was wird denn werden?«
»Ich weiß nicht mehr als Sie. Niemand weiß etwas.«
Und nun sitzt er im Lehnstuhl, ganz wie er sich's vorgestellt hatte, das schlanke Mädchen im Schoß, das zärtlich seine Arme um seinen Hals geschlungen hat, ihn dabei mit zarter Hand übers Haar streichelnd, ihn gefangenzuhalten, wie sie schmeichelnd sagt.
»Nicht wahr? Du gehst nie mehr in die Fabrik?«
»Das kann ich nicht versprechen.«
»Nie mehr, bis wir wissen, ob wir am Leben bleiben.«
»Das verspreche ich.«
Sie drückt ihren Mund an seine bärtige Wange, bis ihr der Atem ausgeht.
»Du, ich hab' auch gebetet den ganzen Tag, daß nichts passierte, bis du wiederkämest. Und dann hab' ich den richtigen Spruch gefunden, den wir in der Schule gelernt haben: ›Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht‹ ... Siehst du – und das hat Gott gesagt.«
Er nickt und denkt, sein Kind im Arme, an andere Götter. An den grausamen, dessen göttliche Mutter des Menschenweibes Glück beneidete, und der mit unentrinnbaren Pfeilen die Kinder der Wehrlosen niederschoß ... im Geiste sieht er die Geängstete, ihr Mägdlein mit ihrem Leibe deckend, wie sie aus schmerzhaften Augen sprachlosen Vorwurf hinaufsendet zu den Unmenschlichen ...
»Vater, mach nicht ein so böses Gesicht.«
Er rückt sich zusammen, lächelt und erzählt von seinen Maschinen, so gut sie es verstehen kann: wie mächtig sie heute gelaufen seien, und was daraus folge. Ein wunderherrliches Märchen plaudert er ihr vor, und das mit der Wärme des Glaubenden ...
»Sieh, und wenn ich den Leuten das alles vorgezeichnet und überantwortet habe, dann brauch' ich nicht mehr ums Brot zu arbeiten. Dann baue ich mir ein Luftschiff, nicht eines mit dem häßlichen, qualmenden Getriebe – nur geladen mit Sonnenkraft. Und dann lassen wir die Erde unter uns und fliegen wie die Zugvögel bald dahin, bald dorthin, wo immer die Welt am schönsten ist, und lassen's uns wohl sein!«
Sie hat mit weit geöffneten Augen zugehört, nun hüpft sie auf: »Ja, ja! Aber nicht wahr? Wir zwei ganz allein?«
»Natürlich. Wer sonst?
Sie schmiegt sich wieder in ihn hinein und malt ihm vor, wohin sie fahren werden, kramt all ihr kleines Wissen aus ...
So eifrig sind sie im Sprechen, daß sie ein leises Anklopfen überhören. Da steht in der Tür eine Frau im Mantel, eine Tasche in der Hand.
»Heinrich ...«
Das Kind ist von seinem Schoß gesprungen, scheu vor der Unbekannten.
»Du –?«
»Ich mußte dich noch einmal sehen.«
Er erhebt sich langsam, führt das Kind aus der Stube, schiebt das zögernde hinaus.
Da kniet sie schon vor ihm.
Er heißt sie aufstehen. Sie sitzen sich in Entfernung gegenüber.
»Du kommst – über See?«
»Ich fand gleich ein Schiff und an Land den letzten Zug.«
»Aber warum? – Du lebst in guter Ehe – hast Kinder –«
»Ja.«
»Nun also –«
»Als die schreckliche Ankündigung kam – bin ich heimlich geflohen. Ich kann nur mit dir sterben.«
»Leben konntest du nicht mit mir.«
Er sieht erst jetzt, da sie mit zitternd gefalteten Händen vor ihm sitzt, wie verfallen sie ist, zerzaust vom Winde das Haar, verstaubt das Kleid – als hätte sie während der Hetzjagd nicht geruht. Mit gebrochener Stimme sagt sie: »Ich wußte damals nicht, was Leben ist. Ich dachte, man hätte ein Recht aufs Leben, jeder auf seines. Und die Welt wäre für uns geschaffen ... aber das ist ja alles ganz anders. Als drüben das – bekannt wurde – man blies es auf den Plätzen mit Posaunen aus, überall läuteten die Glocken – da war mir's, wie wenn man einen Schlafenden mit einem Faustschlag weckt, ich wußte mit einmal, daß ich in einem Wahne gelegen hatte, daß ich dir unrecht getan, daß ich mit einem Unrecht nicht aus der Welt gehen kann –«
»Und begehst ein neues, indem du den anderen verläßt.«
»Nicht aus Begierde, nicht aus Eigensucht – um meiner Seele willen. Nimm mir die Last ab, ehe wir untergehn –«
Sie kniet schon wieder, er sieht auf ihren zerknitterten Hut, die mitgenommene Gestalt.
»Du weißt, ich war immer geradeheraus mit dem Wort, wie so das Volk ist, das du nicht leiden mochtest. Ich kann nicht lügen, am wenigsten in solcher Stunde. Du hättest dir keine Sorgen zu machen brauchen – ich hatte dich fast vergessen. Ich habe mein Kind, ich hab' meine Arbeit, ich habe ein großes Werk –« er unterbricht sich und geht ans Fenster. Draußen gleißt das schon gewohnte Zwielicht auf den Dächern. Man sieht deutlich die sich kreuzenden Schatten.
Sie erhebt sich langsam, mühselig; er hört nur hinter seinem Rücken die leise Bewegung.
»Darf ich – das Kind sprechen?«
»Ich habe ihr gesagt, der Wahrheit gemäß, daß ihre Mutter tot sei. Lassen wir es dabei.« Kein Laut in dem niedrigen Zimmer, das so nüchtern, lieblos von nichts als geistiger Arbeit zeugt. Die Köpfe der großen Naturforscher an den Wänden blicken gleichgültig aus ihren Rahmen.
Er sagt: »Nachdem wir dies erörtert haben, kehrst du wohl auf dem schnellsten Wege zurück?«
»Es geht kein Zug mehr und kein Schiff ...«
»Und wenn die Welt bestehen bliebe – was dann? Wohin würdest du dich wenden?« –
Eine kurze Stille. Dann rauscht es hinter ihm wie ein niederfallender Baum, ein harter Aufschlag, sie liegt am Boden.
*
»Die zwanzigste seit heute morgen«, sagt das junge Mädchen im Schaukelstuhl, und läßt sein Buch in den Schoß sinken.
Der Bruder entzündet gleichmütig die Zigarette, bläst den Rauch gegen die Fensterscheibe und sieht in den maigrünen Park hinaus. »Was soll man weiter tun? Rauch ist alles ird'sche Wesen.«
»Geh doch in deine Vorlesungen.«
»Mama wünscht nicht, daß einer das Haus verläßt. Zudem, was soll man da? Die wenigen Professoren, die noch ein paar Hörer haben, machen sich lächerlich. Mein Jurist unterhielt uns gestern mit dem Lehnsrecht der Langobarden und bemerkte des öfteren, indem er uns über die Brille anschielte: ›Sollte uns noch Zeit gegeben sein, so würde ich morgen ausführen ...‹« Ich lief am Ende hinaus, um nicht das bißchen Zeit auf diese Weise zu verlieren, und gesellte mich zu einem alten Philosophen, der berühmt sein soll und darum leidlichen Zuspruch hatte. Der versuchte uns klarzumachen, daß es eine wirkliche Welt und eine wahre Welt gäbe, daß die wirkliche Welt eigentlich unwirklich sei, und daß, wenn diese unterginge, es kaum schade wäre. Ich dachte bei mir: du hast gut reden, weil du nie in der wirklichen Welt gelebt hast – er soll nicht mal verheiratet sein – ärgerte mich und schlich davon. Geriet in ein sternkundliches Kolleg, natürlich vollbesetzt, zumal der Herr einer von den vielbeschrieenen Sachverständigen war. Er drückte sich aber an dieser Stelle merkwürdig gewunden aus, sprach von Irrtumsmöglichkeiten, behauptete aber schließlich doch eine neunzigprozentige Wahrscheinlichkeit für seine Annahme. Zuletzt, als wenn es schon sein Schwanenlied wäre, sang er das Lob der reinen Wissenschaft, das mit wildem Getrampel belohnt wurde. Aus dem dadurch aufgewirbelten Staube machte ich mich, ging noch an der Tür eines Theologen vorüber, der offenbar die Klagelieder Jeremiä vortrug, und nahm vorläufig für diese Welt Abschied von der erhabenen Mutter der Weisheit.«
Er schleudert die halbe Zigarette fort und wandert, die Hände in den Hosentaschen, durchs Zimmer.
»So nimm dir ein gutes Buch vor.«
»Die guten Bücher haben meistens die Eigenschaft, nicht wahr zu sein – oder nicht wirklich – ich muß mal den Professor fragen, wie man zu sagen hat. Weißt du: ich mag überhaupt nicht nachdenken und vordenken. Das ist unser Unglück, daß wir Menschen dies tun. Wäre die ganze Sache tausend Jahre früher gekommen, wir wären ahnungslos hineingestolpert und vergnügt dahingefahren ins ewige Nichtsein –«
»Erich!«
»Ja, was denn?«
»Erich! Meinst du das wirklich?!« Sie ist aufgeflogen und hat ihn umklammert.
»Aber, was sonst?«
»Ich fürchte mich so entsetzlich!«
»Es wird nicht weh tun. Es wird ganz schnell gehen, wie wenn man Krebse in kochendes Wasser wirft.«
Er fühlt, wie es sie am ganzen Leibe schüttelt. Ihr volles, weiches Haar zittert an seiner Wange. Das erinnert ihn an manche lustige Stunde seines leichtgenossenen Lebens. Er streicht ihr begütigend über die Schulter: »Sage, fürchtest du dich nicht auch des Abends einzuschlafen?«
»Ich wache doch wieder auf.«
»Das ist nicht unbedingt sicher. Und einmal würde es nicht geschehen, so oder so.«
Sie klagt: »Ich bin noch so jung!«
»Das teilst du mit Millionen. Aber es ist wahr, es ist unser eigenstes Pech die wir im Blütenalter stehn, daß es uns jetzt trifft. Sieh den Papa an: der ärgert sich nur, daß er sein Vermögen nicht noch verdreifachen kann, und Mama sorgt um ihr Seelenheil ... weißt du, was wir tun wollen, damit wir den Verstand nicht vorzeitig verlieren? Da uns die Dienstboten davongelaufen sind, werden wir Hausarbeiter. Du kochst und scheuerst, was du kannst; ich schleppe Kohlen, hacke Holz – probates Mittel, um nicht zu denken. Willst du?«
Sie nickt kaum merklich.
Und dann, wenn es zum Äußersten kommt – so habe ich mit guten Freunden ausgemacht – dann nimmt die Jugend sich ihr letztes Recht. Wir finden uns zusammen – jeder bringt mit, wen er liebt ... Was sind uns alte Leute – mögen sie sich trösten! Wir Jungen unter uns! ...« Er drängt sie von sich ab, faßt ihre Hände, tritt zurück, ihr ins Gesicht zu sehen.
»Auch er wird da sein! Hörst du?« Erglühend sieht sie zu Boden.
»Auf einer bleibenden Erde könnte er niemals dein sein, gebunden wie er ist. Auf einer vergehenden Erde gehört er dir ... kommst du dann mit?«
Sie hebt den Kopf, die Augen sprechen: Ja!
Es klingelt aus einem entfernten Raume. »Die Mama!« –
Sie eilen durch die Flucht der Zimmer in das Halbdunkel an das Bett der Kranken, über die eben der Arzt sich beugt, an ihrer schwer atmenden Brust durchs Hörrohr lauschend.
»Ihr geht doch nicht fort, Kinder?«
»Nein, Mama.«
»Wir trennen uns jetzt keine Stunde mehr – bis Gott uns ruft.«
Man hört keinen Laut, als ihr leises Stöhnen. Unbewegt wie ein schwarzweißes Heiligenbild steht am Fußende des Bettes die Nonne, den Rosenkranz in den blassen Fingern.
»Schwester – wann kommt der Hochwürdige?«
In sanfter Eintönigkeit klingt es zurück: »Ich sagte schon, gnädige Frau, daß Sie Geduld haben müssen. Er ist Tag und Nacht beschäftigt, verlangende Seelen vorzubereiten.«
Der Arzt richtet sich auf. »Es geht ausgezeichnet, meine Gnädigste. Noch ein paar Wochen Bettruhe, dann ein Aufenthalt im Süden, und alles ist wieder in Ordnung.«
»Doktor – wie können Sie so etwas sagen?«
»Aber gewiß« ...
»In einer Woche – kommt der Herr zum Gericht.«
»Ich bitte Sie, lassen wir uns doch nicht beunruhigen. Die ganze Sache ist eine Machenschaft des arbeitsscheuen Volkes. Es will nun einmal seine Umwälzung aller Dinge. Das Mittel zum Zweck ist der allgemeine Ausstand. Und dieser wird – lächerlich genug – durch ein recht zweifelhaftes Vorkommnis begründet. Nun ja, die Wissenschaftler – man weiß aber, daß sie keineswegs immer von reiner Vernunft, sondern oft von gefühlsmäßigen Rücksichten geleitet werden. Es hat einen verführerischen Reiz, sich als Orakel aufzuspielen. Dazu die schwachen Regierungen, die, wie mir scheint, bereits die kopflose Ankündigung bereuen – haben Sie das Neueste gelesen?«
Man verneint.
»Da keine Zeitungen erscheinen, habe ich mir den heutigen Anschlag abgeschrieben« ... Er liest: »... Weitere Annäherung des betreffenden Himmelskörpers nicht beobachtet« – er wirft den Umstehenden einen Blick zu – »trotz unsrer dringenden Warnung sind leider Arbeiten eingestellt, die zur Erhaltung unseres täglichen Daseins dienen ... wir werden strengste Maßregeln anwenden, um das wirtschaftliche Leben und die staatliche Ordnung aufrechtzuerhalten ...« Nun kommt das Merkwürdige – »Unsere vorige Kundgebung ist anscheinend da und dort mißverstanden worden. Wir sagten: Laßt uns insgesamt denken und handeln, als ob das Ende nahte« – groß gedruckt! – »Das sollte keineswegs bedeuten, daß wir mit müßigen Händen unser Schicksal erwarten oder gar zum gesetzlosen Urstande zurückkehrten. Das Gegenteil ist gemeint. Wer also nicht die Kraft in sich fühlt, den Lehren der Weisen und Frommen zu folgen, der lebe jetzt so« – er liest mit erhobener Stimme
– » als ob das Leben endlos weiterginge.«
Wieder hört man nur die zitternden Atemzüge der Kranken, die, den grauen Kopf in das Kissen gewühlt, mit flehenden Blicken nach oben stiert. Die beiden Jungen sehen sich geheimnisvoll lächelnd ins Auge, als sprächen sie: es gibt noch ein Drittes – das wollen wir!
»Doktor – es ist alles nicht wahr?«
»Sie hören ja, Gnädigste: Schwindel ist dieser ganze Weltuntergang. Kopf hoch, genießen Sie vergnügt Ihr Leben! Ihnen steht noch die Welt offen.«
»Schwester – was sagen Sie?«
»Wachet, denn ihr wisset nicht Tag noch Stunde.« Jetzt klingt die Stimme wie dumpfer Glockenton.
»Na ja, man kann über einen Kirschkern den Hals brechen, man muß sich ein bißchen in acht nehmen. Deswegen scheint die liebe Sonne doch weiter.«
Wiederum sehen sich Bruder und Schwester an, es scheint: nicht eben froh, daß alles beim alten bliebe. Erich schüttelt leise den Kopf. Der Arzt sieht es und legt den Finger auf den Mund. Herein tritt rasch, ohne anzuklopfen, der Hausherr, stattlich, im erhitzten Gesicht mit dem rötlichen Haupthaar und Bart die Miene des Befehlsgewohnten. Er wechselt schnell einen Blick mit dem Arzte, dann beugt er sich über das Bett und küßt die Stirn der Frau. »Sieh an, wieviel frischer du schon bist.«
»Gott sei Dank, es geht besser.«
»Denkt euch, eine große Sache ist im Gange. Mein erster Ingenieur ist wahrhaftig ein Teufelskerl, man darf es ihm natürlich nicht vorreden, aber er hat das Ei des Kolumbus zum Stehen gebracht. Der Sonnenmotor ist da. Die Kosten, die ich an die Versuche gewagt habe, werden sich tausendfach lohnen. Ich war eben bei ihm, habe das Alleinrecht an der Erfindung erworben – ich muß sagen, er war mit seinem Anteil erfreulich bescheiden. Ich habe sofort ein großes Gelände erworben – übrigens lächerlich billig – um ein Weltunternehmen aufzubauen.« Er geht, leise in die Hände klatschend, auf und nieder ... »Der Erfolg muß das Fabelhafteste werden, was jemals aus einem menschlichen Einfall herausgeholt worden ist. Denkt euch, bitte, James Watt hätte seine Entdeckung einem einzigen Maschinenbauer verkauft – und das besagt noch nichts, denn hier ist mehr als Watt. Hier ist eine Umwälzung unsrer gesamten Kultur. Natürlich werden viele Nachtreter und Nutznießer kommen, aber den Vorsprung habe ich und werde ihn halten bis aufs äußerste.« Er schlägt Erich auf die Schulter: »Junge, deine Zukunft! Laß deine Juristerei – hier winkt Größeres! Mädel, dich sollen Prinzessinnen beneiden!«
Er tritt an das Krankenbett: »Nun steh bald auf, Lina, du wirst Augen machen. Wir bleiben nicht in dieser erbärmlichen Bude. Ich stehe bereits in Unterhandlungen wegen des alten Königsschlosses am See – man kauft ja heute alles für ein Butterbrot. – Mein lieber Doktor, strengen Sie Ihre Kunst an, es soll Ihr Schade nicht sein. Und Sie, Schwester Barbara – ich mache eine Stiftung an die Kirche, daß Ihnen die Augen übergehn. So, jetzt gehen wir auf die Terrasse und trinken ein Glas.« – Er faßt den Arzt unter den Arm.
»Albert, wenn nun aber doch die Welt –«
»Aber gewiß geht die Welt unter, hahaha ... und eine neue entsteht, die wir uns zu Füßen legen, hahaha ...«
Ein Zimmer nach dem anderen durchschreiten schweigend die vier, dann schließt er die Tür, Miene und Sprache verändern sich. »Doktor, ist das nicht eine verfluchte Geschichte? Ein Riesenglück halte ich in der Hand – da stirbt mir das arme Weib. Und wäre das auch nicht – da baut man im Geist einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht – jawohl, prost Mahlzeit! man hat nicht mit dem großen X da oben gerechnet. Ein Hohn ist das – ein Hohn! Was meinen Sie? Es ist ja verrückt, daß man immer wieder Menschen fragt, die genau so dumm sind wie man selber – aber man fragt eben.«
Der zieht die Schultern hoch. »Ich meine, wir sind jetzt alle in gewissem Sinne Kranke, bei denen letaler Ausgang zu befürchten steht. Da redet man sich und anderen ein, daß alles gut wird. Leichtes Leben, leichtes Sterben – das ist die Kunst.«
»Arme Kinder, mit euch geht das Schicksal am grausamsten um.«
»Wir beide denken so, Papa: tun wir, als hätte die Zeit kein Ende; freuen wir uns, als wäre die letzte Stunde.«
Erich hat die Schwester an der Hand gefaßt, in stolzer Schönheit stehen die beiden da.
»Junge, das ist eine gute Lehre.«
»War das vorhin mit dem Weintrinken dein Ernst?«
»Ich machte Scherz, um Mamas willen.«
»Machen wir Ernst damit und stoßen an – auf unser Glück!«
*
Auf rundem Stein, der aus weißem Sande ragt, sitzt Johannsen, der Alte, breitbeinig die plumpen Wasserstiefel gesetzt, und knüpft mit den tiefbraunen, wetterharten Händen am zerrissenen Netz. In kurzen Pausen rollt es dumpf heran, schlägt zischend auf, leckt mit weißgetigerter Zunge bis dicht vor seine Füße und zieht sich knirschend zurück. Aus unendlicher Ferne scheint es zu kommen, dorther, wo die graue Wasserwüste in die Wolkendämmerung verschwimmt. Keine Rauchfahne irgendwo, kein Segel, keines Menschen Laut. Sterbensmüde liegt das schwarze Boot vor der Brandung, aus Teer und Tang steigt fauliger Geruch verwesenden Lebens. Hoch oben aus Wolkenlichtung glänzt es fahl hernieder auf des Greises weiße Haarsträhnen, mit denen die weiche Brise spielt.
Hat er es nicht gehört, daß hinter seinem Rücken über die Düne Männer und Frauen heruntergestiegen sind, wohl zwanzig, durch den rieselnden Sand? Jetzt lassen sie sich im Halbkreis um ihn nieder, hocken und schweigen. Er achtet es nicht.
»Vater Johannsen,« sagt endlich einer mit bloßer, mächtiger Brust, auf deren bronzefarbiger Haut bläuliche Zeichen gemalt sind ... »wir wollten dich etwas fragen.«
Der Alte sieht nicht einmal auf.
»Wir wollten dich fragen: Warum flickst du dein Netz?«
»Damit die Schollen nicht durchgehen.«
»Aber wir werden doch nie wieder fischen – nie wieder.«
»Wir wissen es nicht, aber du. Darum suchen wir dich. Schon mein Vater sagte: ›Johannsen hat andre Augen als unsereiner. Er sieht im Traume, und er sieht im Wachen, wie man eine Böe übers Meer kommen sieht – man kann nicht ausweichen, aber man weiß doch, in zwei Minuten ist sie da, und kann die Segel reffen. So sieht er das Zukünftige. Denn er stammt aus den Steilküsten des Nordens – der Sprecher deutet über die nebelfernen Wasser – wo die Leute helläugiger sind als wir ... ‹ Vater Johannsen, wir wollten dich fragen: Ist das wahr, was die in den großen Städten ausschreien, daß über acht Tage Himmel und Erde vergehen?«
In langer Flucht jagt es, sich aufbäumend, heran. Von dem ferndunstigen Vorgebirge zur Linken bis zu der weiten Flachküste zur Rechten sieht man den einzigen, ungeheuren Schwung, mit dem die unruhig atmende Flut sich hebt und ihre weißen Säume breitet. Unfern den Sitzenden rauscht der Gischt, läßt zitternde Flocken zurück, die im Winde zerwehen.
»Warum wollt ihr das wissen?«
»Seit drei Tagen sind wir nicht ausgefahren, unsre Frauen ließen uns nicht. Das Mehl zum Backen geht aus, niemand will über Land und einkaufen. Was soll das werden?«
Der Alte läßt das Netz sinken. Unter den weißbuschigen Brauen blickt er vorgeneigt auf die See, über sie hinaus in die Wolkenländer, aus denen die Nacht heraufsteigt ... Träumt er jetzt oder ist er bei sich? ...
Nun faltet er die runzligen Hände. »Es werden Tage der Prüfung kommen. Eine große Trübsal, als nicht gewesen ist von Anfang der Welt her. Der Sohn wird sich empören wider den Vater, die Tochter wider die Mutter. Des Menschen Feinde werden seine Hausgenossen sein. Man wird zu den Bergen sagen: Fallt über uns! Und zu den Hügeln: Decket uns! Es wird auch sein wie in den Tagen vor der Sintflut: sie essen, sie trinken, sie freien und lassen sich freien und achten's nicht ...«
Wiederum Stille. Rückwärts ebben die gierigen Wasser und holen zu neuem Anlauf aus. Da und dort verstohlenes Raunen in der Runde.
»Und dann, Vater Johannsen?«
»Ich sehe eine große Versammlung. Hüben fallen sie, und drüben stehen sie auf. Selig, die wachend erfunden werden« ...
»Und dann?«
»Ich sehe einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr.«
»Wann wird das sein?«
»Das weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht.«
Plötzlich huscht es zu ihren Häuptern, weißbeschwingt, schießt in die Wellen nieder, wiegt sich furchtlos auf der unheimlichen Tiefe. Hebt sich wieder und entschwebt gleich Boten des Lichtes. Die neben dem Breitbrüstigen sitzende Frau stößt ihn in die Seite und flüstert:
»Frag ihn doch!«
»Was sollen wir also tun?«
»Fahret auf die Höhe und werfet eure Netze aus!«
»Fährst du mit, Vater Johannsen?«
Da reißt sich ein Junger, den der Mutter Hand gefaßt hält, los, kniet vor dem Alten und sieht ihm bittend ins Auge. Der betrachtet ihn lange, dann legt er den Arm um ihn. »Ich fahre heut nacht mit dem.«
Die Mutter schreit auf: »Bringst du ihn wieder?«
»Ich bringe ihn wieder, morgen – und noch mehr als einmal.«
* * *