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Auf dem weißen Sande des Kasernenhofes flimmert blendend die Morgensonne. So heiß ist der Boden, daß man es durch die Schuhe hindurch fühlt. Ausgerichtet stehen die langen Reihen der Bewaffneten, doch sieht das scharfe Auge des berittenen alten Befehlshabers hie und da lässige Haltung. Er rügt sie diesmal nicht. Fast väterlich klingt seine Anrede: »Kameraden! Uns ruft eine Pflicht ohnegleichen – nicht mehr und nicht weniger als die Rettung des Staates. Unglaubliches ist in dieser Nacht geschehn. Trunkene Rotten haben die Stadt beunruhigt, sind ungestraft in die Häuser gedrungen, haben sich an fremdem Eigentum, an Menschenehre vergriffen – alles im Schutz einer Dunkelheit, deren Ursache noch nicht geklärt ist. Kameraden! Die Regierung vertraut uns, daß wir die öffentliche Ordnung wahren. Mehr noch: wir sind die Hüter der Sittlichkeit, die einzigen und letzten, da alle anderen zu versagen scheinen. Mit unseren Waffen schützen wir den Rest von Menschlichkeit, der in höchster Gefahr steht. Kameraden! Nie ist einer Schutzmannschaft so große, dringende Aufgabe geworden. Halten wir unser beschworenes Manneswort, treu bis ans Ende! Aufgeschlossen! Marsch!«

Kein Glied regt sich, alles starrt geradeaus, als sei kein Befehl ergangen. Dem Alten rötet sich das Gesicht in Zorn und Scham. Er dreht den langen, grauen Schnurrbart und stellt sich wartend. Endlich tritt ein bejahrter Wachtmeister vor: »Herr Oberst, wir haben's uns überlegt, Offiziere und Mannschaften: es hat keinen Sinn mehr. Nachdem sich gestern abend das Reichsheer aufgelöst hat – wir sind zu schwach gegen das ganze Volk. Außerdem – wofür kämpfen wir denn? Übermorgen ist ja doch alles vorbei. Herr Oberst – wir wollen jeder nach Hause gehn.«

»Ich nicht!« Er knirscht es zwischen den Zähnen hervor. »Ich stehe auf meinem Posten, und wenn die Welt verbrennt! ... Wer kommt mit und verteidigt mit mir den Regierungspalast, das letzte Bollwerk des Staates? Niemand?«

Er wendet das Pferd und reitet langsam zum Tor hinaus. Da laufen etliche hinter ihm drein, noch einer und noch einer, bis es ein Häuflein ist, das da marschiert, schleppenden Schrittes, in der kaum noch erträglichen Hitze.

*

Als hätte ein feindliches Heer die Stadt erstürmt und brandschatze sie, so sieht es überall aus. Die Straßen bedeckt mit Waren, die man aus den Läden geholt und zu beliebigem Gebrauche hingestreut. Wo die Besitzer den Einlaß verweigert, hat man die Schaufenster eingeschlagen, Hügel von Glasscherben da und dort. Hier ist man dabei, ein großes Kaufhaus zu leeren. Eine wilde Jagd tobt die Treppen hinauf und hinunter, Männer, Frauen, Kinder. Aus den Fenstern wirft man Stoffballen, Teppiche auf die Straße, die mit Gejohl begrüßt werden; Bronzen und Marmorstatuetten, die unten zerschellen; Würste, Geflügel, Fische, um die man sich auf dem Pflaster balgt. – In den Verkaufsräumen sieht man Weiber sich vom Kopf bis zu den Füßen umziehen, die prächtigsten Kleider anlegen; da greift ein dürftiges Mütterchen mit zitternden Händen in die Juwelen hinein, hängt sich eine Perlenkette um, steckt sich die dürren Finger voll blitzender Ringe. Kinder raffen Süßigkeiten zusammen, schlingen, spielen Fangball damit, tanzen und tollen.

Und plötzlich eine Rauchwolke im Dachgeschoß – Feuer! Haben Übermütige es angelegt? Hat man mit Brennstoffen gespielt? Feuer! Alles stürmt zu den Fahrstühlen, jagt die Treppen hinunter – schon züngelt es aus den oberen Fenstern. Hurra! schreit man draußen und klatscht in die Hände. Feuerwehr gibt's nicht mehr, Wasserleitung versiegt. – Laßt brennen! Was tut's? Laßt brennen! Kein Wasser! Aber Durst hat man von all der Arbeit. Auf dem großen Marktplatz, um das Denkmal des alten Königs herum, der so triumphierend in die Welt hineinreitet, ist ein freier Festraum entstanden. Da sitzen Tausende auf Polsterstühlen und Sofas, geschnitzten Sesseln, die man überallher aus Gasthäusern und geräumten Wohnungen zusammengeschleppt, und zechen. Die Pfropfen knallen. Ununterbrochen wandern Reihen von Flaschen in die Runde. »Mehr Wein! Der taugt nichts« – es klirrt auf den Boden. – »Dein Wohl, Brüderlein! Gesundheit, schöne Schwester! ... Du hast feine Hände, was warst du früher?« »Ei was, ein Mensch wie du!« ... »Grüß Gott, Großmutter Sonne! Auf gute Verrichtung!« »Donner, die meint's noch einmal liebevoll!« ... »Musik, Kinder! Wo bleibt die Musik?«

Trompeten vom Söller des Rathauses ... »Was die Welt morgen bringt ...« Hundertfältig bricht sich der brausende Sang an den Häuserreihen rundum, hinter deren Fenster hie und da verstohlen blasse Gesichter lugen. – Da Paukenschlag – von der Hauptstraße her naht es in dichtem Getümmel. Vorweg Pfeifer, Flötenbläser, ein Schwarm von Gitarren und Mandolinen, deren wirres Getön von den dumpfen Schlägen durchbrochen wird. Reiter zu Pferde, mit Leopardenfellen gesattelt, andere auf Eseln, Maultieren, Zebras, am Zaume geführt. Dahinter Löwen und Tiger, mit Ketten aneinandergeschlossen, begleitet von Geharnischten in altritterlicher Wehr. Bekränzte Wagen, mit mächtigen Fässern beladen, auf denen junges Volk in bunten Kleidern rittlings sitzt, Kristallschalen schwenkend. Und nun eine offene Staatskarosse, sechsspännig, von kecken Burschen in Phantasietrachten kutschiert, darin, lässig hingestreckt, ein junges, nacktes Weib, nur einen Kranz im lang flutenden Blondhaar. Und um ihren Wagen her nackte Jünglinge und Mädchen, die sich im Tanzschritt bewegen. Endlich inmitten lärmender Masse ein riesiger Elefant, mit goldstrotzenden Decken behängt; darauf hockt eine abenteuerliche Erscheinung: die alte Königskrone funkelt über dem mageren Vogelgesicht! Um den nackten, mißbildeten Körper fließt der hermelinverbrämte Purpur, aus dem die überlangen, dünnen Arme hervorwinken. »Der Menschenaffe aus dem Tiergarten!« brüllt einer auf dem Markte, und löst tosendes Gelächter. Da fällt ein Schuß, der Zug hält, die Musik verstummt, und in der plötzlich entstandenen Stille schnellt Philander auf dem Rücken des Tieres empor und schreit: »Ich bin der Herr der Erde! Der König der letzten Menschen! Aller befreiten Sklaven! Ich gebiete Jubel und Trubel bis ans Ende! Frei ist alles unter dem Himmel! Frei ist die Liebe! Frei ist jeglicher Wille! Ich verkünde den nackten Menschen! Wie wir aus Mutterleibe kamen, so fahren wir dahin! Uns wärmt die heißliebende Sonne! Freuet euch allewege, und abermals sage ich: freuet euch! Läutet's, ihr Brüder, auf allen Türmen: ich verkünde das Paradies!!«

Er schlägt den roten Samt zurück und steht da in seiner abgezehrten Häßlichkeit, auf der Krone flimmert das Kreuz. Wieder ein Schuß, und vom nahen Dome dröhnt die tiefste Glocke, hüben und drüben antwortet eherner Klang. Während der Zug sich mit Paukenschlag und gellenden Flöten weiterbewegt, entsteht unter den Zuschauern wilde Bewegung. Einer nach dem anderen, Mann und Frau, reißt sich die Kleider herunter, ein nacktes Gewimmel springt ausgelassen durcheinander, läuft hinter den Elefanten her.

Alle Fenster sind mit Neugierigen besetzt, doch hinter geschlossenen Scheiben, auch die Haustüren scheinen verriegelt. »Fahnen heraus!« ruft es von unten, und nochmals drohenden Tones. Wo man nicht Folge leistet, werden Türen gesprengt, man stürmt in die Wohnungen hinauf – bald wehen sie da und dort von den Dächern. »Fahnen heraus!« Immer mehr bedeckt sich die Stadt mit dem farbenfrohen Geflatter. Einmal muß der Zug in eine Nebenstraße ausweichen, denn mächtige Rauchschwaden wälzen sich entgegen. Da schlägt die helle Lohe aus ganzen Häuserreihen, immer weiter zündet der Funkenregen des Kaufhauses – bald wird ein Stadtteil in Flammen stehn. »Ob auch die ganze Welt morgen in Schutt zerfällt ...!« stimmt ein Witzbold an. Man lacht und zieht weiter. »Laßt brennen! Laßt brennen!«

Da liegt das Regierungsgebäude, wie leblos, verrammelt Fenster und Türen, ohne Fahnenschmuck. Auf der Rampe eine Kette von Schutzleuten, Gewehr bei Fuß. »Fahne heraus!« schreit jemand. Nichts rührt sich da oben. »Kanzler heraus! Kanzler heraus!« Der Zug stockt. Philander hat sich aufgerichtet und gewinkt, tiefe Stille auf dem weiten Platz, nur die Glocken läuten von ferne.

»Nachdem ich den Thron der Erde bestiegen habe, erkläre ich die Regierung dieses Landes für abgesetzt! Als Führer aller freien Erdbewohner fordere ich sie auf, sich uns anzuschließen. Auch die Wächter des Gesetzes dort, da kein Gesetz mehr gilt! Kommet her zu mir! Folget mir nach! Ich bin das Leben!«

Keine Antwort. Die Posten stehen unbeweglich.

Da schwingt sich ein Hochgewachsener auf das Geländer der Rampe. Die Künstlerlocken hängen ihm wirr ins Gesicht. Bis zu den fernsten Hörern dringt seine dröhnende Stimme: »Ihr wollt die letzten Menschen sein? Ihr wollt den Ton angeben zu dem Finale des Lebens? Mordbrenner seid ihr und Narren! Ihr wollt erlösen? Euer Rausch ist Trunkenheit, eure Nacktheit ist Fratze! Tiere seid ihr, nicht geistiger als das Raubzeug, das ihr zur Schau führt! Und ein Affe ist euer König!«

Aufwogender Lärm. »Stopft dem Lästerer den Mund!« schreit Philander.

»Kriecht in eure Höhlen und befleckt nicht das Antlitz der heiligen Erde! Her zu mir, wer in Schönheit dahingehen will! ...«

Horch, aus der Höhe ein stürmisches Klatschen. Es läuft die Paläste entlang, die den Platz umrahmen. Dort haben sich Fenster geöffnet, mit Tüchern weht man dem Sprecher zu ...

Aber alles erstickt die brüllende Brandung, die aus der Tiefe emporschäumt, über der Philanders gellende Stimme schwebt: »Nieder! Nieder!« Der Riese droben wehrt sich kräftig; einen nach dem anderen, der aufklimmend die Hand nach ihm streckt, stößt er mit Fußtritten hinunter.

Da – ein Schuß, kopfüber stürzt er in die Masse hinein.

Jetzt rührt sich der alte Oberst, der da in der Mitte der Posten wie ein Standbild verharrt hat. »Feuer!«

Eine Salve knattert, und noch eine. Aufschreiend ebbt die Menge zurück, etliche taumeln, überschlagen sich. Aus nackten Leibern fließt Blut. »Feuer!« Da neigt sich der plumpe Bau des Elefanten, er bricht zusammen. Philander ist verschwunden, die Krone kollert über die Steine, man reißt sich johlend darum. Ungeheurer Aufruhr. Die Raubtiere haben sich losgerissen, jagen verkettet durch das auseinanderstiebende Volk die Straße hinunter ...

Inzwischen wildes Handgemenge auf der Rampe. Von zwei Seiten ist man die Auffahrt hinaufgestürmt. Schüsse hin und her. – Dann wirft man den toten Oberst und seine Leute über das Geländer auf den Platz zu den übrigen, die da verstreut liegen. »Den Kanzler! Den Kanzler!« Schon kracht das Portal auf, es braust hinein, über Treppen und Flure – das Haus ist leer.

Die Glocken läuten noch immer ...

*

Ist es ein Mißverständnis, oder wäre es auch ohne das Läuten geschehen? In allen Straßen, die der lärmende Zug verlassen, öffnen sich hüben und drüben die Haustüren, man späht prüfend hinaus. – Bald drücken sich Reihen von Menschen in ehrbarer Kleidung im Schatten der Häuser dahin, Zustrom von allen Seiten, immer mehr, immer schneller, zuletzt ein Hasten, je näher dem Dome, von dem es dumpf wie Ruf des Todes hallt. – Da stehen die Harrenden schon vor den offnen Portalen, die Freitreppen besetzt – man ruft sich andere Kirchennamen zu. – Scharen setzen sich dahin und dorthin in Bewegung, ein Suchen und Fragen straßauf und straßab, wo irgend von ferne Glocken klingen ...

Der junge Domprediger sitzt am Schreibtische, den dunkelhaarigen Kopf auf die gekreuzten Arme gelegt, als ob er schliefe, inmitten des ehernen Gedröhns, das von außen hereinschallt. Über ihm an der Wand auf breitem Sockel thront Michelangelos Moses. Der mächtige Leib des Propheten wie zum zornigen Aufsprung bereit, überwallt von dem übermenschlichen Barte, in dem seine Rechte wühlt, während die Linke den Schoß drückt, wie um den Schmerz der Eingeweide zu dämpfen. Auf dem ingrimmigen Haupte drohen die heiligen Hörner ...

Es hat leise geklopft – noch einmal, der Versunkene hört es nicht.

Draußen Kinderweinen, beruhigendes Wort. Nun tut sich die Tür auf, die blasse, anmutige Frau kommt scheu herein, legt behutsam den Arm um ihn: »Gisbert – denke dir – wir haben Wasser.«

Er hebt den Kopf, hinter den großen Brillengläsern blicken müde Augen.

»Gut – für die Kinder.«

»Nein, genug für uns alle. Die treue Seele ist zweimal an den Fluß gelaufen – Tausende schöpfen dort. Natürlich ist es verunreinigt, von all dem nackten Volk, das da umhertobt – wir werden es klären, um nicht krank zu werden.«

Ein leises Lächeln um den bartlosen Mund. »Meinst du?« sagt er wie zerstreut. Dann erhebt er sich schnell und greift nach dem Hut, steht in Gedanken.

»Du willst fort?«

»Du hörst ja, ich bin gerufen.«

»Geh heute nicht – bitte.«

»Wenn heute nicht – wann sonst?«

Sie umhalst ihn. »Ich will bei dir sein, mit den Kindern – wenn es nun käme –«

»Ich sagte dir: in dem Augenblick sind unsre Seelen beisammen.«

»Geh nicht unter die schrecklichen Leute, in deinem schwarzen Rock!«

»Sie wollen mich, sie stehen bis auf den Domplatz hinaus.«

»Man wird dich wieder unterbrechen, die Andacht stören –«

Er lächelt von neuem. »Ach, Philander, der König – der ist gestürzt.«

»Nein, er reitet schon wieder auf einem Esel durch die Straße, befiehlt, alle Nahrungsmittel und Getränke aus den Häusern zu bringen, die Kleider abzulegen – heute nacht soll auf allen Plätzen ein großes Fest sein.«

»Der arme Tropf.«

»Er ist nicht arm, er ist ein Gottesfeind.«

»Ich glaube nicht, daß man das sagen darf.«

»Gisbert ...?«

Er hat sich an den Schreibtisch gelehnt, die Arme verschränkt und blickt ins Weite. »Ich habe festgestellt, wer dieser Mann ist, der sich Philander nennt. Er ist ein Kind des Elends gewesen vom Mutterleibe an. Ich kenne seine Mutter: der ärmsten und der besten eine in unsrer Gemeinde. Aber es ist viel an ihnen beiden gesündigt worden – auch von mir.«

»Von dir –?«

»Ich war gegen sie der reiche Mann, der in Freuden lebte. Sie haben auch vor meiner Tür gelegen.«

»Du kannst nicht alle Armen bedenken.«

»So entschuldigen wir uns. Aber wir sollten lieber die andern entschuldigen.«

Die kleine Frau redet sich immer mehr in Eifer hinein. »Er hätte sich bessern können, du hast's ihm neulich gesagt: er sollte sich eine Welt schaffen aus allen Sonnenkräften seines Wesens –«

»Streich diese Predigt durch, wie alle, die ich bis heute gehalten!«

Sie tritt entsetzt zurück, mit erhobenen Händen.

»Ich habe mich immer neben Gott gestellt und von da heruntergeschaut auf die Menschen. Ich hätte mich neben die Menschen stellen sollen und emporschauen zu ihm. Dann hätte ich ermessen, wie hoch er über uns ist. Dann hätte ich auch verstanden, daß ein Mensch Gott anklagen kann, ohne ihn zu lästern – nur, weil er ihn nicht begreift. Ich hätte verstanden, daß jetzt Millionen gen Himmel starren in ohnmächtigem Widerspruch, weil ihnen der Lebensfaden, den sie nicht angesponnen haben, mitten durchgerissen wird. Ich hätte dann nicht gedacht, daß Gott so unwissende Wesen verdammen könne, sondern gehofft, daß er sie erziehen wolle. Ich hätte an diesem jüngsten Tage kein Dies irae angestimmt, auch keine Miserere, sondern trotz allem ein Gloria.«

»Gisbert – du stößt mir mein Innerstes um.«

»Ich denke, daß ich es aufrichte.«

»Was hat dich so umgewandelt?«

»Philanders Narretei.«

»Und das willst du diesen Verrückten predigen?«

»Sie haben die Glocken geläutet, sie mögen kommen samt den Gläubigen. Alle sollen's hören, daß Gott zu scheuen ist, doch nicht zu fürchten.«

Während sie so noch ratlos zu ihm aufsieht, schrillt die Hausklingel.

»Der Herr Bischof« – meldet das Mädchen.

Sie wechseln erstaunte Blicke – da tritt er schon ein, der nie gesehene Gast, weißhäuptig, würdevoll, das Kreuz auf der Brust. Die Frau weicht scheu hinaus ...

»Herr Amtsbruder –« die tiefe Stimme bebt leise – »mich treibt eine Not zu Ihnen. Unsere Hauptkirche ist von dem großen Brande ergriffen, unzugänglich. Viele von den Unseren haben im Dome Zuflucht gesucht. Ich habe ihnen Hoffnung gemacht, daß sie dort Trost und Erhebung finden. Sie wissen, daß dieses Gotteshaus einst das unsre war – am Ende, was tut das jetzt? Erlauben Sie mir, dort meines Amtes zu warten – vereint mit Ihnen?«

Wie sie so Aug in Auge voreinanderstehen – der Domprediger vergißt, den hohen Besuch zum Sitzen einzuladen – ist beiden die Röte ins Gesicht gestiegen. An ihrem Geiste ziehen blitzschnell Jahrhunderte vorüber. Bilder von wechselseitigem Haß und Verdammung; Urteile, die da schieden auf ewig zur Rechten und zur Linken – und nun? ... Eben setzt das Geläut aus, noch einige Pulse, dann Stille, als sei des Mahnens genug. Da hält der Prediger dem Bischof die Hand hin: »Kommen Sie, wir wirken zusammen.«

Vor dem Dome verstummt die summende Menge, als die zwei daherschreiten, vor dem unerhörten Anblick. Man stößt sich an, man flüstert es sich zu, man macht ihnen ehrfürchtig Platz – mit einem Male klatscht jemand in die Hände, und unter tobendem Beifall steigt das Paar die Treppen empor. Drinnen braust die Orgel jubelndes Willkommen, während sie Schritt für Schritt sich einen Weg durch das überfüllte Schiff bahnen, den allein im Dämmer glimmenden Altarkerzen entgegen. Und nun stehen sie oben nebeneinander, im schlichtschwarzen Rock unter den goldflimmernden Gewölben, wo das tausendjährige Marterbild, von der Decke schwebend, die Arme über sie breitet: der Alte und der Junge, gleich groß, gleich ernst, gleich ergriffen von der Weihe des Augenblicks. Die Orgel verhaucht, atemlose Spannung.

Der Bischof spricht. »Als der Glaube, den diese Steine predigen, noch im ersten Feuer stand; als er noch nicht durch Menschenmeinungen zerspalten war; als die Bekenner des Kreuzes sich noch mit junger Liebe liebten – da redeten sie täglich von den letzten Dingen. Daß Himmel und Erde in Kürze vergehen würden, war ihnen – nicht ein Schrecknis, sondern glühende Hoffnung. Sie ertrugen die Welt nur, weil sie das hofften. Sie haben sich in der Zeit menschlich geirrt, aber ihr Irrtum, den Gott verhängte, war ihre Kraft. Denn er löste ihre Seelen von dem vergänglichen Wesen. Jahrhunderte zogen herauf, die Erde kreiste, die Sonne schien weiter, und die Weltfremden lebten sich in die Welt ein. Das, liebe Freunde, war unsre schwerste Erprobung, daß wir das mußten. Sie übersteigt unsre Kraft. Vererdet sind wir, verengt im Räume, verknechtet der unerbittlichen Zeit. Selbst die in Klostermauern sich flüchteten, entgingen der Welt nicht, deren Luft sie umfloß. Nun endlich, wenn nicht alle Zeichen trügen, erfüllt der, dem tausend Jahre wie ein Tag sind, seine Verheißung. Er will uns von der leidigen Welt erlösen! Ist das ein Grund zum Klagen? Zum Jauchzen ist's! Nun stehen wir, die eine Hoffnung haben, aufs neue harrend in heiliger Vorfreude. Frühester Glaube flammt auf, die erste Liebe regt sich wieder! Seien wir nur eine Insel in einem Meere der Verzweiflung – seien wir ein Häuflein der Todesernsten inmitten all der Lachenden, die ihre Angst mit Wollust betäuben – Brüder und Schwestern im Geiste, wie ihr den Tempel auch nennt, in dem ihr den Einen gefunden: laßt uns den letzten Dank gemeinsam der ewigen Güte sagen, in die wir uns retten, so wie sie uns beten lehrte!«

Der Bischof wendet sich zum Altare, kniet nieder, der Prediger neben ihm; die Tausende rauschen zu Boden. Und langsam, in abgemessenem Gleichklang, in dumpfem Chore, steigt der Anruf zum Vater empor. Kaum ist er geendet, so steht auch schon der Domprediger aufrecht da.

»Mitfeiernde alle! Wie schön sagte unser Bischof, daß dies eine Freudenstunde sei! Wahrlich, zuerst für uns, die wir euch grüßen, nicht Gäste, noch Fremdlinge, sondern wiedergekehrte Hausgenossen! Aber weiter noch geht mein Gruß in die Welt hinaus – ja, in die Welt, die in Krämpfen liegt, in Fiebergluten des Todes. Sie war dennoch schön, ein Meisterwerk, das nur ein unerschöpflich Schaffender zerschlagen darf – zerschlagen, um Größeres aufzubaun. Ich grüße auch, die da draußen mit zerrütteten Sinnen rasen – glaubt mir, sie wissen nicht, was sie tun. Sie werden in zwölfter Stunde sich zu uns finden, Tag und Nacht sollen diese Türen allen offenstehen, und auch die sich nicht hereinwagen, auch die sich trotzig abzuwenden scheinen, sie sind uns näher, als wir meinen. Wir aber, die willig zurückkehren in den Schoß, der uns gebar, gewärtig unsrer Neugeburt – wir wollen den Seefahrern gleichen, die sich der Heimatküste nahen, und sie grüßen mit dem alten Lobgesang der triumphierenden Kirche: Te Deum laudamus!«

Einen Augenblick Stille, dann setzt die Orgel ein; an den hohen Gewölben, wo die aufschießenden Bögen sich flehentlich verschlingen, bricht sich der mächtige Schall, und stärker, immer stärker schwillt er von Satz zu Satz, nun schmettern Posaunen hinein, und endlich über all dem Menschenjubel wogt aus der Höhe noch einmal das Gewühl der preisenden Glocken ...

Draußen reitet Philander vorüber. Seltsamer noch als vorher, auf niedrigem Esel, den ein bekränzter Jüngling führt. Er selbst recht wie ein Cäsar zu schauen, im roten Faltenwurf, auf der schwarzen Perücke den Goldreif, den linken Arm in die Seite gestemmt, in der Rechten ein Zepter. Hüben und drüben je eine nackte Amazone. Hinter ihm ein Schwarm, wie aus dem Schauspiel gelaufen, in Trachten und Waffen aller Jahrhunderte. –

Auf der Domtreppe singen die Leute mit, was aus den offenen Portalen schallt: »Herrgott, dich loben wir! Herrgott, dir danken wir ...!« Da sagt er mit schiefgezogenem Mund zu den Mädchen: »Wofür?«

Und die drei lachen aus vollem Halse; er so breit, daß er all seine schlechten Zähne zeigt. Weiter geht's über den Regierungsplatz, wo noch immer der tote Elefant liegt, seines Schmuckes beraubt, in der Hitze verwesend. Endlich hält er vor einem düsteren Bauwerk mit vergitterten Fenstern.

»Geht und fragt, ob mein Befehl befolgt ist! Alle Insassen sind frei!«

Das Tor ist verschlossen. Axthiebe zertrümmern es, man dringt in den Hof. »Im Namen des Rechts!« Alte soldatische Beamte, die sich in den Weg stellen, werden überwältigt. Nicht lange, und aus allen Fenstern schallt Freudengeschrei. Da kommen sie schon im Wettlauf heraus, in Sträflingskleidern: »Was ist denn los? Warum denn?«

Vor dem Tor stehen sie, blinzeln ins grelle Licht, sehen verdutzt den unerklärlichen Aufzug.

»Meine Brüder,« sagt lächelnd der Eselreiter im Purpur, »ihr seid frei! Geht in den Dom und stattet euren Dank ab, die Hilfe kam in der Tat von oben.« Die nackten Reiterinnen und was sonst an wunderlichem Volk umhersteht, lachen; die Angeredeten stimmen verlegen ein. »Dann werft diese unanständigen Kleider ab, vergnügt euch, wo und wie ihr wollt. Zeigt, daß ihr tüchtig in eurem Handwerk seid, niemand wird euch stören.«

Er wendet sein Tier; die in den blaugestreiften Kitteln stürmen mit Hallo auseinander. »Nun gibt's noch eine Befreiung. Die ist eure Sache, liebe Schwestern. Zu den Benediktinerinnen!«

*

Schwester Afra, die junge, zarte, lehnt am offenen Fenster, durch das heißer Fliederduft einströmt. An die Eisenstäbe gedrückt, die sie mit schmalen Händen umklammert, sucht sie die Sonne, die so seltsame Schatten drüben in den Kreuzgang wirft – umsonst, der enge, blaue Winkel dort oben wird niemals von ihr durchwandert. Und unerbittlich sperrt das harte Gitter diesen Käfig zu ... Käfig? War das schon wieder Sünde, die gebeichtet, gebüßt werden muß? Mitleidig neigt der göttliche Geliebte an der Wand das dornenbekränzte Haupt ... Darf ich? ... Geh hin in Frieden!

In plötzlichem Entschlusse huscht sie aus der Zelle, eilt auf lautlosen Sohlen den langen, dumpfkühlen Gang hinunter und klopft an die Tür der Äbtissin.

»Es ist keine Sprechzeit, meine Tochter.«

»Hochwürdige, ich kann nicht länger ... ist es wahr, daß der jüngste Tag kommt?«

Strafend blickt die Gestrenge auf das kleine, zitternde Wesen hinab.

»Bist du so schlecht unterwiesen, das nicht zu wissen?«

»Ich meine – daß er nahe ist?«

»Er ist immer nahe denen, die sich mit Ernst auf ihn rüsten.«

»Ich meine – daß Anzeichen da sind?«

»Wer sagt dir das?«

»Die Schwester Pförtnerin.«

»Sie hat ihre Pflicht verletzt, von der Welt zu schweigen.«

»Hochwürdige, ist es wahr?«

»Niemand weiß Tag noch Stunde.«

»Lassen Sie mich frei!« Ein Aufschrei ist's, eine äußerste Kraftanstrengung, daß sie nach dem Betpulte greift, um nicht umzusinken.

Die Äbtissin steht wie die uralte, steinerne auf dem Grabmal im hohen Chor.

»Ich will noch einmal die Sonne sehn! Ich will noch einmal –!« die Stimme zerbricht. Lange Stille. Sie wagt nicht aufzusehen. Dann klingt es ruhig und gütig herab: »Du bist frei, mein Kind. Wenn es dein Wille ist, so geh. Nimm dein gebrochenes Gelübde auf dich und geh damit hinaus in die Freiheit, wie du das nennst, in die Welt, die du mehr liebst als Gott. Geh!«

»Ich will nichts Böses tun – ich will meine Eltern noch einmal sehn –«

»Du siehst sie im Himmel wieder, sie sind tot.«

Sie schwankt gegen das Pult und sinkt darauf. Nach einer Weile des Schweigens klagt sie: »Ich möchte noch einmal Menschen sehn, eine Wiese und einen Wald – ich möchte –« wieder ersticken die Worte.

»Und das alles um eine Todsünde? Und dafür das Paradies verscherzen, in dem du vielleicht noch heute sein darfst?«

Jetzt kann sie nur noch schluchzen. Die Äbtissin gönnt ihr Zeit ...

»Wissen noch andere Schwestern, was du hörtest?«

»Niemand, Hochwürdige. Strafen Sie, bitte, die Pförtnerin nicht. Ich fragte sie aus, ich zwang es ihr ab. Ich hatte in der Nacht von ferne Geräusche vernommen, einen Ruf, der wieder und wieder kam ...«

»Was vernahmst du?«

»Es rief: Die Welt geht unter« ...

»Bevor du gehst, mein Kind, begleite mich ins Refektorium. Ich habe mit euch allen zu sprechen.«

Im gotisch gewölbten Saal sind die Schwestern versammelt. Wie ein dunkler Taubenschwarm rauscht es, bis die Äbtissin naht und alles erstarrt. »Meine Schwestern, ich verkündige euch große Freude. Wenn nicht alle Zeichen trügen, hat der Herr unsere heißesten Gebete erhört. Heut oder morgen wird er erscheinen, die Welt zu richten, einem jeglichen zu geben nach seinen Werken. Er steht vor der Tür!«

Ein wortloses Erschauern geht durch den Raum, viele strecken die Hände empor, sinken in die Knie.

»Ihr klugen Jungfrauen, sind eure Lampen geschmückt? Seid ihr bereit, den Bräutigam zu empfangen? Antwortet!«

Ein gehauchtes, zitterndes Ja ...

»Freilich, noch müssen wir durch den Feuerofen der Trübsal schreiten. Alles erfüllt sich, was die Offenbarung verkündigt: Greuel der Verwüstung an heiliger Stätte, falsche Propheten, Antichriste stehen auf, viele werden verführt und beugen ihre Knie vor dem Baal. Das Tier aus dem Abgrunde steigt auf, das Maul voll Lästerungen, das babylonische Weib naht, die Mutter der Unzucht, trunken vom Blute der Heiligen! Und vor ihnen rasen die vier teuflischen Reiter, denen Macht gegeben ist, zu töten mit dem Schwert und Hunger und Pestilenz und Tod! Ihr Töchter des Himmels, seid ihr dagegen gewappnet?«

Wieder das leise Ja.

»Nun wohl, wir stärken uns untereinander. Wir sind wie ein einsames Schiff auf hoher See, abgeschnitten von aller menschlichen Hilfe. Uns erreicht kein Wort des Heiligen Vaters mehr, kein Befehl der Meister unsres Ordens, nicht einmal eines Priesters Segen. Alle irdischen Wege sind versperrt. In solcher Not bin ich eure Mittlerin, befugt, euch den letzten Trost zu spenden. Laßt uns in die Kapelle flüchten, an geweihtem Ort das Ende erharren, uns ablösen mit unaufhörlichen Gebeten –«

Es klopft an die Außentür – stärker – es rüttelt, mit mächtigen Schlägen.

»Der Herr! Der Herr!« schreit eine auf, gellt es wieder. Alles hat sich erhoben, umdrängt die ragende Gestalt der Äbtissin, die mit ausgebreiteten Armen erwartend dasteht. Ein heftiger Schlag gegen das Türschloß, es springt auf – und herein treten zwei Weiber in schleierdünnen Gewändern, die ihre Blöße kaum bedecken. In singendem Tonfall sprechen sie, wie aus einem Munde: »Schwestern, wir grüßen euch, uns sendet der König der Erde! Kommt zu uns in Licht und Leben, verlaßt diesen Kerker, werdet noch einmal Menschen! Alles ist euer, Sonne, Schönheit und Liebe!« Mit weit aufgerissenen Augen starren die Nonnen dem Paare entgegen, das sich Schritt um Schritt nähert, die Hände ausstreckt nach den angstvoll Zurückgebogenen. Und mit einem Male schrillt ein Gelächter der beiden auf, wie es in diesen Gewölben noch niemals widerhallte. Dann beginnen sie sich im lustigen Reigen zu drehen.

Eben hebt die Äbtissin die geballte Faust, sie hinaus zu weisen – da stockt ihr von neuem die Sprache. An der Spitze der eisenklirrenden Schar mit drohenden Lanzen und wallenden Federbüschen erscheint der kleine verwachsene Cäsar mit dem blassen Vogelgesicht, tritt vor und hebt das Zepter. »Gott zum Gruß, ihr heiligen Frauen! Erlaubt, euch eine Neuigkeit zu bringen, die in eure Mauern noch nicht gedrungen scheint. Die Welt geht unter! Wir haben nur noch einen Tag zu leben. Und das wollen wir denn. Im Einverständnis mit eurem Obersten, meinem geistlichen Stellvertreter in Rom, der im Begriff ist, sein Amt niederzulegen, erkläre ich alle Klöster für aufgehoben. Regel und Gelübde sind abgetan. Für alles, was ihr bis heute Sünde genannt, habt ihr im voraus Absolution. Mein Reich ist von dieser Welt. In meinem Reiche ist jedem jedes erlaubt, verpönt ist nur jeglicher Zwang. Ihr Armen, die man ums Leben betrogen hat, legt eure Trauerkleider ab! Verlebt diesen letzten Tag mit uns im Reich der freien Menschen!«

»Hebe dich weg von uns, Satan!« Die Äbtissin hat ihren Rosenkranz vom Gürtel gerissen und hält das kleine Kruzifix dem Eindringling entgegen.

»Ereifern Sie sich nicht, ehrwürdige Dame! Was Sie da zeigen, ist ein Beispiel dessen, was sich die Menschheit leider allzuviel hienieden gefallen lassen hat. Am Ende wollen wir auch einmal lustig sein. Wenn Ihre Jahre das nicht mehr gestatten, so gönnen Sie es Ihren jugendlichen Schwestern. Ihr jungen Burschen, ladet sie ein!«

Klirrend und rauschend treten sie vor, in bunten Wämsern, mit geöffneten Helmvisieren. Keck und freudig stehen sie herausfordernd da, mancher lachende Blick fliegt zu den Verschüchterten hinüber.

»Mir nach in die Kapelle!« ruft die Äbtissin.

»Halt, Verehrteste! Befohlen wird nicht mehr! In meinem Reiche hat jeder seinen Willen.«

Stolz reckt sie sich auf. »Ihr habt ihn. Gehe, wer gehen mag!«

Da geschieht das Unglaubliche: eine der jungen Nonnen löst sich leise aus der Schar, geht langsam, die Blicke zu Boden gesenkt, durch die Reihen der ritterlichen Jünglinge, die staunend eine Gasse bilden, davon. Eine zweite folgt, eine dritte, eine nach der anderen. Sobald sie sich der Tür nähern, werden die Schritte schneller, die Vordersten laufen schon ... nur wenige Bejahrte bleiben, Gram und Entsetzen in den Mienen ... zuletzt wankt Afra davon.

»Ihr geht ins ewige Feuer!« schreit die Äbtissin.

Da schlägt Afra auf den harten Fliesen nieder, gerade zu Füßen des spöttisch lächelnden Königs.

* * *

 


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