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Um den runden Tisch wie vordem der Kreis der ernsten Gelehrten. Sorgenvoller noch und gespannter die Mienen, gealtert scheinen sie in den wenigen Tagen. Der wie ein Erzvater aussieht im wallenden Weißbart, hat sich erhoben, die Hände am Tischrand, reckt er sich mühsam auf.
»Noch einmal habe ich Sie bitten müssen, verehrte Freunde, trotz der Erschwernisse des Kommens, auf Wunsch der Regierung. Mit Genugtuung darf ich sagen, daß niemand fehlt – ich danke Ihnen. – Meine Herren, die Vorkommnisse der letzten Tage haben leider den Schwarzsehern unter uns recht gegeben: unser Volk – und soweit wir noch Kunde aus anderen Ländern haben – anscheinend die gesamte Menschheit hat nicht, wie wir anderen hofften, die sittliche Höhe erreicht, auf die ein drohendes Schicksal von solcher Größe sie heben sollte. Man benutzt die Voraussage, die wir nach bestem Wissen gegeben, zu hitzigen Kämpfen um Dinge, deren Geringwertigkeit uns so ergreifend vor Augen steht. Und was mich das Beschämendste dünkt: auf beiden Seiten der Kämpfenden mißtraut man uns, bezweifelt die Redlichkeit der Wissenschaft. Man entblödet sich nicht zu behaupten, wir Diener der Wahrheit stünden im Solde irgendeiner Partei, frönten gemeiner Selbstsucht. Ich denke, wir haben nichts anderes darauf zu erwidern, als daß wir fortfahren, das sicher Erkannte zu sagen ... Meine Herren, der Kanzler rief mich in aller Frühe an; angesichts der furchtbaren Lage des Staates fordert er menschenmögliche Klarheit. Er soll sie haben.«
Müde läßt sich der greise Sprecher in den Sessel zurücksinken; mit einem Kopfnicken zur Seite wendet er sich an Archibald.
Der macht den Eindruck eines Kranken. Ohne sich aufzurichten, mit eingefallenen Wangen und blassen Lippen, spricht er langsam, matt: »Vieles ist nicht zu sagen, doch viel genug. Die Berechnungen liegen vor Ihnen, Sie haben sie durchgeprüft. Mehrere haben sich an der Beobachtungsstelle von dem Augenschein überzeugt. Die Verbindungen mit den übrigen Sternwarten versagen zumeist, eine Umfrage ist nicht mehr möglich, aber wohl auch nicht nötig. Meines Erachtens ist der Befund kaum zweifelhaft. Wenn nicht ein Wunder geschieht – ich betone das noch einmal ausdrücklich und bekenne mich zu der Möglichkeit des ›Unmöglichen‹ ...«
Er stockt, eine leise Bewegung rauscht durch den Kreis und erstirbt.
»Es ist nicht undenkbar, daß der Stern X nach einem unbekannten Körper gravitierte, dessen Anziehungskraft stärker wäre als die der Sonne – eine Ellipsenbahn ist unverkennbar – aber diese Unwahrscheinlichkeit beiseitegesetzt – also: wenn nicht dies oder sonst ein Wunder geschieht, so steht die Katastrophe unmittelbar bevor – unmittelbar, das heißt, in zwei bis drei Tagen ...«
Nach diesen schwerfällig vorgebrachten Worten tritt zunächst Stille ein.
»Haben die Herren nichts zu bemerken?«
Der mit der Adlernase und dem tiefhängenden Haar sagt in seiner leidenschaftlichen Sprechweise: »Daß ich mit meiner niedrigen Einschätzung der Menschenmehrheit recht behalten habe, gibt mir wohl auch das Recht, meinen neulichen Antrag zu wiederholen. Es war ein Fehler, dem Herrn Jedermann die volle Wahrheit zu sagen, er verträgt sie nicht. Reine Wissenschaft lebt in einer so dünnen Luft, daß dem Dutzendmenschen der Atem ausgeht. Er will nicht denken, er will leben. Selbst unsereiner – ich gestehe das ehrlich – hat in solchem Falle entgegenwirkende Triebe zu überwinden. Also verschleiere man der Welt die Wahrheit, um ihr die letzten Stunden zu erleichtern. Unser verehrter Vorsitzender wird zwar aufs neue erwidern, es sei nicht unsres Amtes, zum Volke zu sprechen. Der Regierung müsse es überlassen bleiben, ihren Kundmachungen die geeignete Form zu geben. Indessen hat die Erfahrung gezeigt, wohin das führt. Der Kanzler hat in seinem Erlasse eine höchst unglückliche Hand gehabt. Machen wir auch ihm seine Aufgabe leicht, indem wir ihn als Laien behandeln, dem die volle Wahrheit nicht frommt. Unser verehrter jüngster Kollege« – er neigt sich leicht gegen Archibald – »ich darf ihn wohl in unser aller Namen unsre hohe Bewunderung aussprechen für die geistige Arbeit, die er in diesen Tagen geleistet hat, und wie er sie geleistet – meine Herren, das ist Heldentum im Dienste der Wissenschaft.«
Gemurmel des Beifalls.
»Unser Kollege hat sich auch heute angesichts der Gewißheit des nahen Untergangs zum Wunderglauben bekannt. Ich für meinen Teil lehne den ab –«
»Auch ich!« ruft die scharfe Stimme des Spitzbärtigen mit den spiegelnden Brillengläsern. »Mit aller Entschiedenheit! Wunder darf nimmermehr unser letztes Wort sein – sondern: Gesetz!«
»Sehr wahr! Sehr wahr!«
»Hier« – er hebt die vor ihm liegenden Blätter – »haben Sie selbst, Herr Kollege, es aufgestellt in Zahl und Maß, unwidersprechlich, und der Naturlauf hat es bestätigt. Sucht man in dem Wirrsal dieser Tage eine Beruhigung, ich finde sie darin, daß wir einer allgemeinen Notwendigkeit erliegen.«
Archibald antwortet nicht, wie ein Todmüder lehnt er mit halb geschlossenen Augen im Sessel.
»Lassen Sie mich ausreden, meine Herren!« nimmt der erste wieder das Wort. »Trotz alledem meine ich: wir lassen dem Volke den Trost der Unwissenheit, dessen es bedarf. Mag es an ein Wunder der Rettung glauben. Mag der Kanzler es glauben, damit er guten Gewissens das Volk über das Ende hinwegtäusche. Wehren wir der wachsenden Verzweiflung und sagen: die Gefahr ist vorübergegangen! Was dann zuletzt kommt, ist ein kaum bewußter, schnell überstandener Augenblick.«
Über die unruhige Welle des Widerspruchs hebt sich klar und besänftigend das Wort des Mannes mit dem schmalen Priestergesicht: »Auch ich muß bei meiner früheren Meinung bleiben, an der mich die Ereignisse der letzten Tage nicht im mindesten irregemacht: volle, unbedingte Wahrhaftigkeit! Es war unser Fehler, daß wir der ersten Ansage eine Einschränkung beifügten. Nicht aus Bescheidenheit, sondern aus Sorge. Wozu dies? ›Nach menschlicher Voraussicht‹ ...? Es versteht sich von selbst und besagte doch mehr als es sollte. An dieses Fragezeichen haben sich unbegründete Hoffnungen geknüpft und die Öffentlichkeit in ein Meer von Unruhe verwandelt. Sagen wir kurz und einfach, wie der junge Kollege unwiderruflich dargetan: wir sind verloren, in spätestens drei Tagen ist das Ende da – so wird eintreten, was man von Verurteilten weiß, denen die Stunde des letzten Ganges verkündet wird: sie sind aus aller Qual des Hoffens und Harrens erlöst, das Unvermeidliche steht gebieterisch vor ihnen und gibt auch dem Leichtfertigen Ruhe und Würde. Noch einmal: Trauen wir unsrer Gattung, wie uns selber, Menschlichkeit zu! Lassen wir sie nicht im Wahne dahingehen!«
»Das ist es!« »Treffend!« »Jedes Wort unterschreibe ich! ...« Viele sind aufgestanden, umringen den Redner, schütteln ihm die Hände. Der greise Vorsitzende: »So scheint es auch mir. Ist noch gegenteilige Meinung vorhanden? Wie ich sehe, nur eine Stimme. So werde ich den Kanzler unterrichten.«
Archibald sitzt anscheinend teilnahmlos, wie betäubt. Nur schattenhaft zieht das Folgende an ihm vorüber: wie die Versammlung sich auflöst, einer nach dem andern verschwindet, wie irgend jemand ihm behutsam über die Stirn streicht – bis alles still ist. Jetzt beugt es sich über ihn mit weißlichem Schimmer, er hört seines alten Lehrers teilnehmenden Ton: »Nun gehen Sie aber endlich auch, liebster Freund. Ihr Werk ist getan. Was noch übrig sein könnte, erledige ich allein. Sie haben Übermenschliches vollbracht, Sie können mit reinem Gewissen scheiden. Gehen Sie ...«
Archibald, die Hand über die Augen gelegt, sucht im Halbdunkel der Erinnerung nach einem Spruche, aus Schulzeiten dämmernd, von einem, der die Werke dessen wirkte, der ihn gesandt hatte ... bis zu der Nacht, da niemand ...«
Er schüttelt leise den Kopf: »Ich muß wirken ...«
»Rechnen Sie noch mit dem Wunder?«
»Ich rechne nicht – aber ...«
»Gehen Sie zu der lieben Braut! Sie verrieten mir's, sie wartet sehnsüchtig auf Sie.«
»Sie wartet, bis ich sie rufe.«
»So rufen Sie. Jetzt ist noch Verbindung, in einer Stunde vielleicht nicht mehr.«
»Noch nicht.« Mit einem Male hat er die Seitenlehnen gepackt und sich zu voller Höhe erhoben. Festen Schrittes geht er davon und die Treppen hinauf zum Fernrohr.
*
Gluthitze liegt auf dem Lande. Im dörrenden Windhauch welken die Blüten hin, fallen die Blätter herbsttrocken von den Bäumen. Über den verödeten Straßen brütet die Sonne mit unerhörter Kraft, daß der Fuß des Schreitenden sich in den erweichten Asphalt eindrückt. Ihr sengender Atem dringt durch allen Fensterschutz in den verdunkelten Sitzungssaal des Kanzlers, legt sich lähmend auf die Versammlung der Höchstverantwortlichen des Reiches.
Soeben spricht der Minister für Volksernährung. Müde, mit langen Pausen fallen die Sätze aus dem Munde des blassen, würdevollen Mannes: ... »Drohende Hungersnot ... Seit zwei Tagen keine Lebensmittelzüge mehr ... Gerüchte, daß auf dem Lande die Vorräte geplündert werden ... Wasserversorgung nur durch freiwillige Kräfte ermöglicht ... Kohlenbestände nahezu erschöpft ... Im Stadtwalde wilder Holzraub ... Bäckereien versagen trotz polizeilichen Schutzes den Betrieb ... Morgen oder übermorgen allgemeiner Zusammenbruch ... Kurzer Aufschub nur möglich, wenn die staatlichen Speicher geöffnet werden – aber dann? Ich bin am Ende ...«
Kein Laut umher. Der Kanzler, der mit geschlossenen Augen zugehört, könnte meinen, in dunkler, heißer Wüste verlassen zu sitzen.
Halblaut sagt jemand: »Ein Dann gibt es nicht mehr.«
Da rafft er sich auf: »Doch, meine Herren, gibt es ein Dann. Wir haben die Pflicht, es anzunehmen – wir, der letzte Halt eines ratlosen Volkes. Solange ich lebend an dieser Stelle sitze, werde ich nicht aufhören, die Zügel festzuhalten, auch wenn es nach Menschenermessen dem Abgrunde entgegengeht!«
Die vorige Stimme sagt: »Das ist leere Form. Ein Wagenlenker in solcher Lage regiert nicht mehr, er wird regiert.«
»Nein, meine Herren!« Der Kanzler schlägt mit flacher Hand auf den Tisch. »Sondern jeder regiert, der da handelt! Ich fordre Sie auf, mit mir eine Tat zu tun. In dieser höllischen Nacht ist mir das eine, was not tut, aufgegangen. Und zwar: Wir bewilligen unverzüglich alle Forderungen der Arbeiterschaft. Wir nehmen die Umwälzung der Gesellschaft an. Ohne zu verhandeln und ohne Vorbehalt. Wir erklären uns bereit, noch heute abzudanken; aber wir geben den Rat, der Ordnung wegen die Geschäfte drei Tage lang weiterführen zu dürfen. Sodann rufen wir zu sofortiger Arbeit in allen Betrieben auf. Einige Beamte der Staatsdruckerei sind willig, den Anschlag herzustellen. Die nächste Arbeit soll sein, daß er aufs schnellste verbreitet wird ...«
Drückendes Schweigen wie vorher.
Einer der jüngeren Räte, weltmännisch gekleidet, mit dem übergeschlagenen Beine wippend, daß der Lackstiefel glänzt: »Gestatten der Herr Reichskanzler – Sie wollen vor den wahnsinnigen Ansprüchen des Proletariats kapitulieren?«
»Bedingungslos.«
»Diese Ansprüche, deren Erfüllung alle unsre sittlichen Werte auf den Kopf stellt und eine vieltausendjährige Gesittung vernichtet?«
»Danach frage ich nicht.«
»Nach uns die Sintflut!« ruft einer dazwischen.
Der Kanzler, erregt: »Wenn das ein Ausdruck verzweifelten Leichtsinns sein soll, so lehne ich ihn ab. Aber ich lasse ihn gelten in dem Sinne, daß es uns Staatslenkern heute nicht ziemt, auf weite Sicht zu sorgen. Die nächsten Tage müssen bestanden werden – nichts mehr.«
Noch tiefer ergraut als jüngst, erhebt sich der Minister des Innern: »Ich bewundere die Kühnheit unseres verehrten Kanzlers, die für den Fall des Fortbestehens der Menschheit unausdenkliche und für mich unannehmbare Folgen hätte. Ich bitte daher, vor einer Beschlußfassung uns das letzte Wort der Sternwarte mitzuteilen.«
Alle Blicke wenden sich zu dem Kanzler, man hört keinen Atemzug.
»Es lautet dahin, daß in spätesten drei Tagen das Ende da ist.«
Dumpfe Stille. Einer fragt: »Ist eine andere Möglichkeit offengelassen?«
»Diesmal nicht ...«
Der Minister läßt sich langsam in den Sessel gleiten und deckt das Gesicht mit den Händen ... »Dann allerdings ziehe ich meine Bedenken zurück – dann ist ja alles ganz gleichgültig.«
»Doch nicht, meine Herren! Dieser Rest unsrer Tage stellt an uns die allerhöchsten Anforderungen. Zu welcher Weltansicht wir uns auch bekennen, welche Deutung wir dem kosmischen Zufall geben mögen, dessen Opfer wir sind – darin, denke ich, sind wir eins, daß wir uns dem Besten, was in uns ist, verpflichtet fühlen. Ich sage: verpflichtet, der uns anvertrauten Menschengemeinschaft zu dem zu verhelfen, was die Griechen Euthanasie nannten, ein würdiges Sterben. Und das verlangt Ordnung und Tätigkeit bis zuletzt, also: volle Befriedigung der Arbeiterschaft.«
Lebhaft der Minister für Volksbildung: »Und – so darf ich wieder einmal hinzufügen – volle Aufklärung über die Unentrinnbarkeit des Geschickes!«
»Dies zweite hebt die Wirkung des ersten auf«, seufzt kopfschüttelnd der Minister des Innern. »Es bringt das Chaos.«
»Nein, sondern es glättet die Wogen. Eben darum, weil es kein Wenn und Aber mehr gibt, strömt alles Empfinden nur noch in einer gefaßten Richtung!«
Der Kanzler hat sich von neuem gestrafft: »Meine Herren, verlieren wir uns nicht in die Frage möglicher Seelenstimmungen des Volkes. Ich habe es aufgegeben, sie vorauszuberechnen, und meines Teils dieser Sorge entsagt. Denken wir an Tatsachen. Unterlassen wir alles Prophezeien. Bringen wir das Räderwerk der Arbeit wieder in Gang – nichts weiter!«
»Also kein Wort von dem, was kommt?«
Die dumpfe Schwüle scheint alle Gedankenarbeit zu ersticken. Hier und da fährt ein Taschentuch über die schweißperlende Stirn.
Endlich sagt der Minister für Volksernährung mit leise bebender Stimme: »Staatsmännisch gedacht, scheint mir das in der Tat der einzige Weg ...«
»Wenn niemand das Wort wünscht« – der Kanzler sieht sich um – »es ist nicht der Fall – so werde ich auf der Stelle die Arbeiterführer zu mir rufen. Meine Herren – auf Wiedersehn!«
*
Wie ein Wüstengespenst in gleißendem Dunst lagert die Hitze über dem Land, kein Luftzug mehr. Senkrecht steigt der Rauch aus dem kahlen Walde der Schlote: die Stadt arbeitet wieder. Aber träge schleicht das Leben durch ihre Adern. Müde klingen die Glocken der Straßenbahn, langsam bewegen sich die Menschen, viele mit Schirmen sich gegen die glühenden Pfeile des Himmels schützend. Und wo zwei sich mit müdem Ernste grüßen oder wenige Worte tauschen, scheint eine Frage in jedem Gesicht zu stehen, die Frage, auf die man auf dem Regierungsanschlag vergebens Antwort sucht: Ist dies der Anfang des Weltbrandes? Eine Hitzwelle, hört man sagen, wie sie jedes Jahr einmal über See kommt ... Nein, die Erdachse soll sich verschoben haben ... beginnende Unordnung im Sonnensystem ... jedenfalls erinnern sich die ältesten Leute nicht ... ach was, das hat man tausendmal gesagt – es gibt nichts Neues unter der Sonne ... Ja, unter der Sonne – solange sie in der Bahn bleibt ... Sie ist pünktlich aufgegangen, ich habe an der Uhr gemessen ... Du? An deiner Uhr? Das ist zum Lachen – das weiß nur ein Kenner ... Man erfährt eben nichts ...
Man erfährt nichts! Wie ein Rauchknäuel ballt sich das Wort zusammen – da und dort wirbelt es auf – durch die Straßen läuft es, in die Häuser hinein – als eine große Unruhe wühlt es die matten Gemüter auf.
Vor der Auffahrt des Regierungspalastes sammeln sich Menschengruppen, sehen hinauf zu den Fenstern, die im grellen Licht wie mit geschlossenen Lidern Geheimnisse zu hüten scheinen. Die Posten, mit geschulterten Gewehren, lassen niemanden ein. Besucher, die herauskommen, werden von der Menge angehalten: »Schläft der Kanzler? Weiß er nichts Neues? Was wird denn?«
»Schert euch an die Arbeit!« ruft einer der Gefragten barsch. »Das ist das Neuste!« – –
Spät nachmittags, als die Arbeitsstätten sich leeren, wird es lebendiger auf dem weiten Platze. Von allen Seiten strömt es heran, wie Bienen zum Stocke schwärmen. Von gemeinsam dunklem Triebe gezogen, drängen sie zu der Rampe hinauf, hängen sich an das Geländer, klammern sich an die Laternenmaste, aller Augen erwartungsvoll zu dem säulengetragenen Altan gerichtet, als solle von dort eine Botschaft ergehen. Dann einen Augenblick tiefe Stille. Plötzlich ruft es irgendwo aus der Masse: »Der Kanzler soll kommen!«
Und tausendstimmig hallt es wider: »Der Kanzler! Der Kanzler! Er hat gesagt, daß wir arbeiten sollen! Wir wissen nicht, wozu wir arbeiten sollen! Wir wissen nicht, ob wir morgen noch leben! Er soll uns sagen, was er weiß!«
»Sagen, was er weiß! Der Kanzler! Der Kanzler!« braust es empor.
Da öffnet sich zwischen den Säulen das Portal. Der junge, hochgewachsene Regierungsrat im weltmännischen Rock und Hut tritt auf die Rampe. Hell, im Befehlshaberton, schmettert er über die Köpfe hin: »Der Kanzler hat zu arbeiten, wie wir alle! Mehr als wir alle! Er dankt denen, die ihre Pflicht tun! Was die Himmelserscheinung betrifft –« er stockt und holt Atem – »so ist nichts Neues zu melden!« Damit wendet er sich und kehrt in das Haus zurück.
Eine kurze Weile enttäuschtes Schweigen. Dann ruft es: »Wir gehen auf die Sternwarte! Da weiß man's besser!«
Wie ein Felsblock ins Meer geworfen, schlägt das Wort in das Volk ein. »Nach der Sternwarte! Alle! Alle!«
Und nun setzt sich der Strom in Bewegung: Männer, Frauen, Kinder. Alles, was unterwegs ist, wird mit fortgerissen, schließt sich an. Wagen werden gestürmt; in langer Kette, gezwungen, schwimmen sie zwischen der Flut der Fußgänger. Aus allen Nebenstraßen ergießen sich Zuflüsse Neugieriger, erhitzter Mitwanderer. Wie ein Hochwasser von Menschenleibern zieht es unabsehbar dahin in der Glut des sinkenden Tages, in allen Hirnen der einzige Gedanke: Wir wollen wissen, ob wir morgen noch leben!
Am aufgerissenen Fenster steht Sigrid und starrt auf das Getümmel. Sie preßt den Mund zusammen, um nicht hinunterzuschreien: Bleibt! Laßt ihn! Stört ihn nicht! ... Dann wieder durchdringt sie ein Stolz: Er ist ihre letzte Zuflucht! Er, der Alleinwissende! – Die beiden Kinder, rechts und links, schmiegen sich an sie an, wie oft in diesen Tagen, als suchten sie Halt an ihr, die so wenig spricht, aber immer weiß, was zu tun ist. Der Junge sieht fragend zu ihr auf, sie schüttelt leise den Kopf.
Da legt sich die magere, zerarbeitete Hand der Mutter ihr auf die Schulter: »Mein Kind« – ängstlich hilfebittend klingt es.
»Ja, Mutter, ich bleibe bei euch. Mit der Schreibstube ist es vorläufig auch nichts. Erlaube mir nur, daß ich heute nacht ins Krankenhaus gehe. Ich hörte, daß großer Mangel an Schwestern sei – etwas verstehe ich davon schon.«
»Aber du mußt Ruhe haben, du arbeitest den ganzen Tag.«
»Ich bin gar nicht müde.« Im stillen denkt sie: er arbeitet Tag und Nacht.
Der Vater tritt ein, unruhig, wie jetzt immer, mit flackernden Augen. »Ist das eine Hetze! Kaum durchzukommen. Die Welt ist verrückt geworden.« Er geht, die Hände reibend, auf und ab. »Die Börse ist wieder geöffnet. Natürlich totes Geschäft, alle Papiere Makulatur. Schadet nichts, desto besser. – Wo willst du hin?« fragt er Sigrid, die an ihm vorüberstreicht.
»Ins Krankenhaus, helfen.«
»Ach, du mit deinem bißchen Geldverdienen! Ich sage euch, Kinder: wenn da oben ein Fünkchen Vernunft regiert, haben wir's nicht mehr nötig! Ich nicht, hahaha –«
Sie sieht ihn groß an, daß sein Gelächter abbricht – und ist hinaus.
Draußen zieht der Menschenstrom noch immer, daß man nur an die Häuser gedrückt gegen ihn ankommen kann. Wie ein riesiger Heerwurm zieht er, summend, von einem dumpfen Verlangen beseelt, durch die heiße Stadt. Schon hat seine Spitze den Bahnhof erreicht. Alle Züge sind im Nu überfüllt, die Beamten überredet, nach der einen Richtung zu fahren. Wer nicht Platz findet, wandert, fährt hinaus, alle Landstraßen sind überschwemmt von der ungeheuren Karawane schwitzender, keuchender Menschen, die dorthin streben, wo die wolkenlose Sonne samt ihrem unheimlichen Doppelgänger hinter den Wäldern verglüht, wo auf fernem Hügel die kleine Kuppel sich zeichnet.
*
Archibald hat sich auf das Bett geworfen, den schmerzenden Kopf für eine Stunde auszuruhen. Aus der Kuppelöffnung über ihm fließt das graue Licht des hinsterbenden Tages. Er sieht weit offenen Auges in das Farbengeflimmer hinauf, nicht spähend, wie durchs Fernrohr, still wartend auf das, was sich da oben enthüllen will. Und nun lösen sich aus der grundlosen Tiefe zarte Gesichter, von Fittichen getragen, eins ans andre gedrängt, ein Meer von kindlichen Köpfen, die mit wissendem Lächeln herniederschauen auf die todgeweihte Erde. Und plötzlich überfliegt sie alle ein feierlicher Ernst, in der Mitte weichen sie auseinander, eine Lichtung strudelt auf, und aus dem abgründigen Nichts, im Kranze der lebenden Himmelsblüten, tritt ein jungfräuliches Wesen mit wohlbekannten Zügen, steht, deutet rückwärts, und verschwindet. Da, ganz hinten in der Ferne, leuchtet es auf, ein goldener Stuhl, und darauf einer, dessen gestirnter Mantel herabwogt in unübersehbare Tiefen, in jeder Hand einen gleißenden Stern. Er hebt die beiden empor, daß sie sich fast berühren, und wirft sie dahin und dorthin in den unermeßlichen Raum, daß sie dahinfliegen wie Meteore, bald nur noch winzige Pünktlein. Ein Brausen umher, alle Flügel schlagen aneinander, alle Kindermünder sind geöffnet, und ein Chor erhebt sich, ein jubelnder Chor –
Was ist das? Wer faßt mich da an? ... Ach so, der Pförtner. Der alte Mann zittert am ganzen Leibe: »Herr Doktor, stehen Sie auf! Sie kommen immer näher! Sie lassen sich nicht halten!«
»Was denn? Wer denn?«
»Die ganze Stadt ist da – sie stürmen uns die Warte! Sie haben die Posten umgerannt, der Herr Professor weiß sich keinen Rat! Kommen Sie doch!«
Jetzt hört er das dumpf hallende Stimmengewirr, das draußen brandet. In wenigen Sätzen ist er die Wendeltreppe hinunter, durch die Säle hindurch und weiter hinab zu der Außentür. Da steht es in der Dämmerung wie dunkle Mauern, eine hinter der anderen, Kopf an Kopf, auf dem Vorplatz, den ganzen Berg hinunter, zwischen den Bäumen, drunten auf den Wiesen – Menschen, so weit das Auge reicht in die aufsteigende Nacht hinaus, daß man meinen könnte, sie stünden bis an den Rand des Himmels. Vor der Tür der greise Gelehrte, dem die Last dieser Tage den Rücken gekrümmt hat, die Hände abwehrend vorgestreckt.
»Ich bitte Sie, liebster Freund,« stotterte er, »reden Sie zu diesen Rasenden. Sie drohen uns Gewalt an, wenn wir nicht Rede stehn. Mir fehlt die Stimme und klare Gedanken.«
Archibald hebt den Arm und steht so wie eine schlanke Bildsäule, bis langsam das Murren und Raunen, der Wellenschlag der ungeheuren Menschenhochflut verebbt; bis es so still wird, daß man die Nachtvögel im Walde singen hört.
Dann fliegt seine Stimme jugendhell über all die Köpfe hinweg: »Sagen Sie, was Sie hier wollen! Einer!«
Und aus der Mitte ruft es zurück, rauh und wild: »Wir wollen wissen, ob die Welt untergeht oder nicht!«
Und wieder abendliche Stille, als wären all die Zehntausende lautlose Schatten.
In Archibalds Hirn jagen sich schmerzhaft die Gedanken, die ungeheure Verantwortung steigt riesenhaft in ihm empor. Noch einmal schwebt das eben erschaute Traumgesicht vor ihm auf, er sieht die wägende Himmelsgestalt und ihre rettende Gebärde – aber mit unwillkürlicher Kopfbewegung scheucht er die Vorstellung von sich.
»Sie fragen einen Menschen! Ich kann irren.«
»Wo ist der Beobachter am Fernrohr?«
»Der bin ich.« Archibald hat inzwischen den Wortführer entdeckt. Er steht einige Reihen rückwärts, eines Hauptes länger als die übrigen, zerbeulten Hut auf dem gelockten Haar, künstlerhaft, anscheinend noch jung. Er spricht wie durchglüht von Leidenschaft.
»Sie fragen mich also, was ich für mein Teil festgestellt habe.«
»Sie sollen sagen, was Sie wissen.«
»Ich bin in diesem Augenblick überzeugt, daß die Erde in drei Tagen nicht mehr sein wird.«
Wie erstarrt stehen die Massen. Da reißt der junge Riese den Hut vom Kopfe: »Ein Hoch dem Leben! Solange die Welt steht!«
Nichts regt sich.
Er wendet sich um und ruft mit mächtiger Stimme: »Menschen! Die Welt geht unter!«
Das Wort wird nachgesprochen, hüpft wie ein flacher Stein auf ruhigem Wasser von Reihe zu Reihe, schon schallt es unter den finsteren Bäumen, weit hinten schreit man's über die Wiesen ... Da fegt es wie ein Nachtsturm über das Menschenfeld, brausend, aufbäumend – die Scharen lockern sich, machen kehrt – eine Flucht beginnt, schon sieht man, wie sich die Welle durchs Tor preßt, Hunderte überklettern die Zäune, brechen sie nieder, Fortgerissene taumeln, stürzen, raffen sich auf – weit drunten eilen die Fernsten voran – und überall flattert's wie eine Fahne des Schreckens, wie sausende Pfeile voraus – die unfaßbare Kunde!
*
»Schwester, ich möchte gern noch ein einziges Mal die Sonne sehn ...«
»Geduld, in drei Stunden wird es Tag.«
»Das meine ich nicht, daß sie dort durchs Fenster scheint – ich meine –« ein Husten erschüttert den jungen, abgezehrten Körper, sie muß ihm das Blut vom Munde wischen; dann flüstert er weiter: »Ich habe sie immer so gern untergehen sehn, dann ist sie am schönsten, ich bin ihr als Junge manchmal über die Heide nachgelaufen – ich dachte, man käme am Ende hin und liefe so in ein warmes, goldenes Schloß hinein – Schwester, glauben Sie, daß wir mal hinkommen?«
Sie muß in ihrer tiefen Not lächeln. »Ganz gewiß – und vielleicht sehr bald.«
»Und die zweite Sonne, die wir jetzt haben, die kleinere – der Verunglückte nebenan, der gestern gestorben ist, sagte, sie sähe wie ein ›Anhänger‹ aus – wenn die mit ihr zusammenstößt –, nicht wahr, sie kann ihr doch nichts anhaben?«
»Im Gegenteil. Sie macht sie noch größer und feuriger« – ihr fällt etwas aus einem Gespräche mit Archibald ein – »es ist, als wenn man in einen glühenden Ofen noch eine brennende Kohle hineinwirft.«
Der Kranke lächelt glücklich, die wachsbleichen Hände auf der Decke gefaltet. »Das ist schön. An der Erde liegt mir nichts – die müssen wir doch verlassen. Aber die Sonne – nicht wahr, da sind wir doch im Himmel?«
»Ja, Lieber.«
Er hustet von neuem, sie muß wieder das Tuch gebrauchen.
»Ich kann's gar nicht erwarten. Aber erleben möcht' ich's noch hier. Ich hab' mal als Kind ein Geheimnis gelernt: wir werden nicht alle entschlafen, wir werden verwandelt werden ... Wie lange dauert's denn noch?«
»Das weiß niemand. Aber nun sprechen Sie nicht mehr so viel.«
»Schwester Sigrid!« Der ältliche Arzt im weißen Kittel steht in der Tür und winkt ihr. Er nimmt sie beiseite: »Können Sie nicht tagsüber hierbleiben?«
»Ich sagte schon: ich habe noch andere Pflichten.«
»Die Sache wird immer schwieriger. Zwar operieren können wir kaum noch – wozu auch? Und die meisten Kranken sind auf und davon. Aber wir dürfen die Sterbenden nicht im Stiche lassen. Leider, ich bin fast allein. Pfleger und Pflegerinnen, Ärzte sogar sind von dem allgemeinen Taumel ergriffen, nach der Sternwarte hinaus – ja, wenn alle dächten wie Sie –«
Sterbende sind wir auch und bedürften der Hilfe, denkt Sigrid für sich und sagt: »Ich werde bleiben, solange ich kann.«
Während er noch ihre Hand hält, hört man fernher aus der Tiefe der nächtlichen Stadt ein dunkles Getön. Näher kommt es, schwillt und wächst – ist's Jauchzen? Ist's Jammer? Aus allerlei Lauten gemischt, wälzt es sich heran – jetzt unterscheidet man Schreien, Singen, grollendes Murren, Rauschen unzähliger Füße – plötzlich bricht's mit rasendem Lärmen vor – donnernde Rufe: »Die Welt geht unter! – die Welt –! unter! unter!« Gellendes Lachen – ein Chor jugendlicher Sänger:
Was die Welt morgen bringt,
Ob sie uns Sorgen bringt,
Freud oder Leid! ...
»Aufstehn! Aufstehn!« ruft's zu den Fenstern hinauf, die schon erleuchtet sind, mit Neugierigen gefüllt –
Heute ist auch ein Tag,
Heute ist heut!
»Kommt mit! Kommt mit!«
Und immer wieder, wie Welle auf Welle steigt: »Die Welt geht unter!« ...
Unruhig dehnen sich die Kranken auf ihren Lagern, stöhnen; nur der Junge hat sich aufgerichtet, rote Flecke auf den Wangen: »Schwester! Schwester!«
Schnell ist sie bei ihm.
»Jetzt kommt es – Auferstehung – die Sonne!«
»Es ist noch nicht soweit.«
»Ich will mit Ihnen zusammen – halten Sie fest –« Ein Blutstrom bricht ihm aus dem Munde, er sinkt zurück, starren Auges.
Sie löst ihre Hand aus seinen kalten Fingern.
Der Arzt steht neben ihr, hebt den Arm des Liegenden und läßt los, er fällt schlaff herunter. Drunten tobt es weiter, immer derselbe Massenschrei, der die Seelen aufpeitscht.
»Das ist also die Antwort der Sternwarte – meinen Sie nicht?«
»Man muß es annehmen.« Sie fühlt sich plötzlich so schwach, daß sie sich setzen muß.
»Eigentlich ist es ein Verbrechen, diesen Unmündigen die Wahrheit zu sagen. Freilich – welcher sterbliche Mensch findet in solch unerhörtem Fall das Richtige? Ich sage Ihnen, Schwester, hier im Vertrauen: wenn das Äußerste kommt, laufe ich auch davon, zu Frau und Kindern, und lasse die allein sterben.«
Sie preßt die Hand aufs Herz und nickt.
*
Unerhörtes begibt sich in dieser Nacht. Aufgescheucht aus leisem, sorgenbangem Schlafe, ist nun die ganze Stadt laut und lebendig. Durch die stickige Dunkelheit ergießt sich die lechzende Menge überall in die Wirtshäuser. Man bittet nicht, man holt sich selbst, was den brennenden Durst stillt; dringt in Küchen und Keller. Allerorten Musik, Tanz und schwärmende Reden.
Im größten Konzertsaale, der in Rot und Gold flimmert, wogt eine bunte Menge. Menschen aus allen Ständen, zusammengetrieben durch ein schnell erwachtes Gemeingefühl, drehen sich da im Tanze. Der Offizier mit der kleinen Ladnerin, der junge Arbeiter im schmutzigen Kittel, wie er aus der Fabrik gelaufen ist, mit der Weltdame. Alle in der durchglühten Luft überhitzt, schweißtriefend, doch von toller Lust besessen. Unter der hohen Muschel des Podiums die Schar freiwilliger Musikanten, darunter echte Künstlergestalten, die mit feurigem Schwung die Instrumente meistern. Und mit einem Male braust, den Tanz unterbrechend, die herrliche Orgel auf und stimmt das Lied an, das von der Sternwarte an bis in die Stadt immer wieder erklungen, über Nacht zur Hymne all der Tausende geworden ist – und alle stehen und jubeln es mit:
Ob auch die ganze Welt
Morgen in Schutt zerfällt,
Wenn sie nur heut noch hält!
Heute ist heut! ...
Kaum ist es verhallt, da reckt sich von der Orgelbank der junge Hüne auf, der heute der Mund der Unzähligen gewesen. Mit wirren Locken stürmt er an den Rand des Podiums vor, reißt ein Mädchen an seine Seite, das seiner zu warten scheint, und indem er die Erglühende an sich drückt, ruft er gewaltig in die Riesenversammlung hinein:
»Mitmenschen! Junge und Alte! Arbeiter des Kopfes oder der Hand! Viel- oder Wenigwissende! Mitmenschen, es geht mit uns zu Ende! Aber ein Tor ist, wer darum jammert. Hier ist keine Hilfe, nach der man schreien könnte – hier ist nur Übergewalt, auswirkende Kraft. Und wir dürfen den Zufall nicht einmal dumm schelten – vielleicht ist er weise, wahrscheinlich ist er blind. Und gäbe es einen Urheber, der uns vernähme – ich würde ihn nicht um Schonung betteln. Und wäre es ein Dämon, der uns Erdenkinder haßte – ich würde ihm ins Angesicht hinein lachen und sprechen: Du kommst zu spät, denn wir waren! Und das Leben! –« er wirft die Arme empor – »das Leben war doch schön!«
»Nein! Nein!« ruft es schneidend aus dem Hintergrunde.
»Mag es da und dort einen Elenden geben, dem das Dasein leid ist – so ist er ein Ausgestoßener der Natur. Und auch er darf heute lachen – wir laden ihn an die Tafel des Lebens, alle die von den Hecken und Zäunen, zu der Schlußfeier des großen Ringes, der sich nun schließen will! Seht mich an: Ich habe an den Tischen der Götter gesessen, denn sie schenkten mir die heilige Lust der Kunst! Heute steht sie euch allen frei, die ungefesselte Kunst des Lebens! Solange die Erde in starrem Gleichmaß rollte, schnürte man uns das Menschliche in Form und Sitte ein – nun sie sich anschickt, in den glühenden Schoß der Mutter zurückzutaumeln, ehe Chronos, der Unersättliche, die eigenen Kinder verschlingt, befreit sich das Leben zur reinen Natur. Fort mit alltäglicher Satzung, schwächlicher Scham! Todgeweihte, schlürfen wir ungescheut von der süßesten Kost der Erde! Tut es mir nach!«
Er beugt sich zu dem ärmlich gekleideten Mädchen nieder, das sich an seine Schulter geschmiegt, und umfängt sie im Kuß. Ein Rauschen geht heißzitternd durch die Versammelten, während Tausende sich umarmen. Dort stehen die beiden Kinder des reichsten Mannes, Erich, der Student, mit der Schwester, umringt von jungem Volk. Sie zögert – da winkt er dem Freunde, an den die Gattin sich ängstlich klammert – der reißt sich los und umschlingt die Geliebte, sie widersteht nicht mehr.
Ein Schrei zerreißt jähe den Liebesrausch. Ganz hinten im Saale ist einer auf den Tisch gestiegen, ein kleiner Verwachsener, der mit heftigen Armbewegungen losbricht: »Im Namen derer, die nichts gehabt, der Stiefkinder der Natur – wir nehmen die Einladung an! 's ist freilich nur der Nachtisch, aber immer besser als Brosamen, die von eurer Tafel fallen. Also, wir lachen und sind vergnügt. Mit der Liebe bleibt uns vom Leibe, die ist für die Jungen und Hübschen – wir halten's lieber mit anderen Gerichten, als da sind: Gut Essen und Trinken, einmal in Samt und Seide gehen! Im Federbett schlafen! Spazierenfahren! Mit Goldstücken klimpern! Nun denn, liebe Brüder und Schwestern von der Straße, und wer sonst auf dem Pflaster gelegen hat – lassen wir's uns nicht zweimal sagen! Nehmen wir, was übrig ist von der Schmauserei! In guter, alter Zeit nannte man's stehlen und plündern – heute ist's Lebenskunst. Und das zum Zeichen, daß der Spaß beginnt – hallo!«
Er schwingt eine Sektflasche und schleudert sie gegen den hohen Wandspiegel gegenüber, daß er krachend zersplittert, vom Wein überschäumt. Gekreisch und Gelächter. Kräftige Hände haben Philander samt dem Tische gehoben und wollen ihn im Triumph durch die Mitte tragen – da ist der Riese vom Podium gesprungen, wühlt sich durch das Gedränge, schon hat er den Kleinen gepackt, heruntergerissen und schüttelt ihn: »Halunke, das wagst du mir anzudichten? Anführer wäre ich von Dieben und Räubern, he?!«
In diesem Augenblicke erlischt alles Licht, stockfinstere Nacht. Ungeheurer Tumult, Hilferufe, Stoßen und Drängen der Menschenflut, die nach Ausgängen sucht, Fluchen und wildes Lachen. Die endlich die Türen gewonnen haben, werden in gleiches Dunkel hinausgestoßen. Auf den Straßen irren sie wie durch lichtlose, gluterfüllte Höhlen. – Kein Schimmer in den Häusern, kein Stern am Himmel ... was ist das? Legt sich Mutter Erde zum Sterben hin und versagt ihren Kindern den letzten Trost zu sehen? Bricht so das Urdunkel der Vorwelt wieder herein? ... Unsinn! rufen die Nüchternen. Die letzten Arbeiter haben das Lichtwerk verlassen. Oder nichts als ein Schachzug der Regierung, die der nächtlichen Lust ein Ziel setzen will.
Niemand weiß etwas. Man hört nur das Toben, von dem die Straßen widerhallen. Was da im Verborgenen schutzlos, zügellos sich ergeht – wer mag das ausmalen?
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