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Die Politik im Heer

Mit niederschmetternder Schnelligkeit hatte Kaiser Karl an einem einzigen Tage, in einer einzigen Stunde die Verhältnisse an der Kampffront sich zur Hoffnungslosigkeit wenden sehen, als am 29. Oktober 1918 die von Marschall Boroevic zum Gegenangriff auf die Engländer herangeführten Truppen die Durchführung verweigerten. Der Gegenangriff selbst wäre wohl unzweifelhaft im Ausgang gewesen. Aber seine Vereitelung hatte nicht nur Abbruch und Ende einer unverlorenen Schlacht bedeutet, die damit dem Gegner zufiel. Abbruch und Ende waren hier zugleich Ende und besiegelter Zusammenbruch des Reiches.

Drei tschechische Regimenter hatten sich geweigert, den Angriff vorzutragen. Sie wollten überhaupt nicht mehr standhalten. Das Schwere Feldartillerie-Regiment Nr. 26 hatte seinem Kommandanten den Gehorsam bereits aufgekündigt, als es seine Feuerstellungen beziehen sollte. Die Artilleristen hatten Gerüchte darüber, daß auch die 44. Schützendivision den Angriff nicht mehr mitmachen wolle. In die Stellungen wurden sie schließlich durch Eskorte nordböhmischer Infanterie gebracht. Aber das Armeekommando wagte unter solchen Umständen den Gegenstoß nicht mehr. Selbst der Heeresgruppenkommandant Marschall Boroevic vertrat endlich die Auffassung, daß mit Gewalt bei den Truppen nichts mehr, vielleicht noch etwas durch Güte zu erzielen sei. Der Aufruhr war zu weit gediehen. Er saß in der Tiroler Front. Er war bei den Truppen in Venetien. Er saß eigentlich jetzt schon in der ganzen Armee.

Die Armeegruppe Belluno hatte vier Tage lang – vom 24. bis zum 28. Oktober – in ausgezeichneter Haltung gefochten. Die Tschechen des gefährlichen Prager Hausregiments Nr. 28 hatten sich in diesen Kämpfen vor allem hervorgetan. Aber nunmehr meldete der Feldzeugmeister Goglia, daß plötzlich zwölf Infanterieregimenter zwar nicht an der Front, doch unmittelbar hinter den Kampflinien den Gehorsam verweigerten. Zwei tschechische Schützenregimenter, die Ungarn, Kroaten und Serben des Regiments Nr. 105, die Tschechen des 8., 14. und 28. Schützenregiments, die Regimenter Nr. 119 und Nr. 25, in denen Tschechen mit Deutschen und Polen vermischt waren, die Serbokroaten der Honvedinfanterieregimenter Nr. 25 und Nr. 26, die bosnisch-herzegowinischen Regimenter Nr. 4 und Nr. 5, das 4. bosnische Jägerbataillon: sie alle wollten plötzlich nicht mehr kämpfen. Am Abend des 28. Oktober hatte Marschall Boroevic an die Truppenführer befohlen, daß Auflehnung fortan nicht mehr nach Militärgesetz, vielmehr durch Zuspruch zu behandeln sei. Wenn die Truppen sich nicht besannen, schieden sie aus. Fast war schon der Einlenkungsbefehl eine Kapitulation des glanzvollsten, schlachtengehärteten Feldgenerals der kaiserlichen und königlichen Armee. Was er hatte kommen sehen, was er oft genug an die Wand gemalt: das Manifest, die vollkommene Nachgiebigkeit, die der Staatsakt bedingte, hatte das Armeegefüge vollkommen gelockert.

Noch vor zwei Tagen hatte das Kommando der »Isonzoarmee« einen verzweifelten Notruf nach Baden gesandt:

»An A.O.K.
Op.-Abt. durch Gen. Stbsoff. dechiffrieren.
27. 10. 1918.

In letzter Zeit sind vom Hinterlande in dem Etappenbereich und Armeebereich die zersetzenden Gerüchte eingedrungen. Besonders befürchte ich, daß böswillige und demoralisierende Erfindungen über Flucht seiner K. u. k. Apostol. Majestät mit Familie und Familienschatz nach Ungarn, des Erzherzogs Leopold Salvator in die Schweiz von bedauerlichsten Folgen sein können. Diese Gerüchte können durch Befehle dementiert, nicht zum Schweigen gebracht werden. Meine heiligste Überzeugung, die zweifellos auch die des ganzen Offizierskorps sein wird, ist, daß die Stunde gekommen ist, wo der a. h. Oberbefehlshaber in unsere Mitte gehört. Nur durch längeren Aufenthalt des allerh. Herrn im Armeebereich, durch Besuch aller Reserven und Marschformationen erwarte ich eine Wiederbelebung der Geister, denn die Zersetzung kann nur mehr durch ein Wunder ferngehalten werden.

Kaaternik, Obstlt.

Zusatz des Armee-Gen.-Stabschefs:

Einverstanden. Durch das Manifest, die Unabhängigkeitserklärung Ungarns, die Reden Weckerles wegen Abberufung der Ungarn ist bereits Zersetzung eingetreten, die sich in Meutereien aller Nationen bis jetzt außer Deutschen und Kroaten äußert.

Körner, Obst.

Dech. Orig. verbrannt.
präs. 27. 10. 1918.
Unterschrift.

Op. Nr. 142 704, 1 Uhr vorm.
Op. Nr. 5327/7.«

Jetzt brachen die Eiterherde von Stunde zu Stunde im Rücken der fechtenden Front auf. Vor dem Feldzeugmeister Goglia riefen die tschechischen Sprecher der aufrührerischen Regimenter:

»Klofaè ruft uns!«

Verworren, dennoch beharrlich beriefen sie sich auf den volkstümlichsten ihrer Heimatführer. Sie steckten nur Nationalkokarden an ihre Mützen. Denn sie hatten noch keine Fahnen mit dem tschechischen Löwen, mit denen nicht weit von ihnen Aufrührer der 44. Division in Sacile umherzogen.

Politik trieben, noch verworrener als die Tschechen, selbst die Bosniaken:

»Von Bosnien ist im Manifest nicht die Rede. Wir wollen kämpfen. Aber gegen Engländer und Franzosen. Nachrichten sind zu uns gekommen. Die Engländer wollen in unsere Heimat einbrechen.«

Die Kroaten beriefen sich auf Beispiele. Von Graben zu Graben, von der Assaschlucht bis ans Meer, waren in einer Nacht die Ereignisse bei den beiden Tiroler Divisionen über die weite Front gerufen worden. Auch die Kroaten wollten es nicht anders:

»Die Ungarn sind nach Hause geschickt worden. Wir wollen nach Kroatien. Auch wir müssen unsere Heimat schützen!«

Der Kommandant der VI. Armee hatte am 28. Oktober die Zurücknahme des zweiten Korps auf die Randhöhen der Ebene befohlen. Feldzeugmeister Goglia mußte seinen Flügel weit dehnen, um mit seinem 15. Korps den Anschluß zu behalten. Auch daran hatte er gedacht, mit einem Entlastungsstoß in den Raum der Nachbararmee ihre Situation ganz wiederherzustellen, zumal sie an sich nur wenig gefährdet war. Aber den Entlastungsstoß vereitelten jetzt die zwölf meuternden Regimenter. Sie fehlten. Marschall Boroevic ließ sie in Divisionen ordnen. Drei Divisionen fuhren nach Hause. Und die Verbindungslinie zum Nachbarkorps mußte der Feldzeugmeister ohne sie so überweit dehnen, daß seine Schwarmlinien nur mehr ein dünner, fadenscheiniger Schleier wurden. Dort zwängten sich zum ersten Male italienische Truppen vorsichtig in die sich bewegende Front. Und blieben stecken.

Auch die britischen Truppen am Monticana machten Halt, in dessen zweite Stellung Marschall Boroevic die Truppen des 16. Korps am Tage des nicht zustande gekommenen Gegenangriffes den Rückmarsch befohlen hatte. Wieder griffen die Engländer an; kleine Einbrüche glückten; wieder beschieden sie sich mit dem Erreichten. Aber das »Armeeoberkommando« hatte sich nun entschlossen, das ganze, in jahrelangen Kämpfen besetzte feindliche Gebiet zu räumen.

An die Reichsgrenzen sollten die Armeen zurück. Den Truppen und vor aller Welt war der Beschluß, bekanntzugeben. Und vom Gegner sollte endlich Waffenstillstand erbeten werden.

Aus Udine befahl Marschall Boroevic den großen Rückzug seiner eigenen Front. Die letzte Schlacht war jetzt zu Ende. Bis heute sah der Marschall seine Heere undurchbrochen. Bis heute liefen ihre Linien einheitlich bis ans Meer. Militärisch hatten die Engländer wenig, die Italiener nichts erreicht. Im Feuer hatten sich die Kampftruppen – wenn man nur von den Honveds der 7. Division absah – wie immer gewehrt, geschlagen und behauptet. Aber unmittelbar hinter der Feuerlinie hatten die Regimenter der Reserve die Gewehre fortgeworfen, sie waren fortgelaufen, wenn sie Entsatz bringen sollten, weil Kameraden in Bedrängnis geraten waren. Vorn war die Abwehr so, daß dem Feldmarschalleutnant Berndt vier gefangene englische Offiziere die Verluste härter nannten als in Westfrontschlachten. Im Rücken der Abwehr war Meuterei und Desertion. Die marodierende Etappe nahm sie auf.

Militärisch konnte die Schlacht gewonnen sein. Vielleicht war sie es schon: ohne den Aufruhr. Denn keine einzige Karte stand verzweifelt. Aber nicht nur die Einheit der Befehlsgebung war in dem Augenblick zerstört, da der Marschall, weil der Aufruhr im Siege war, den Rückzug befahl. Mehr war besiegelt: ob er seine Armeen hinter die Livenza nahm, ob hinter den Tagliamento, ob er die Truppen an jenen Karst anlehnte, auf dessen Stein er zwölf ungeheuere Schlachten geschlagen hatte – eines wußte Marschall Boroevic jetzt: alles war, ob er auch nicht vor Waffen wich, dennoch verloren.

 

Truppen und Trains rückten vorerst in leidlicher Ordnung ab. Brücken wurden gesprengt, um eine Verfolgung zu lähmen, die der Gegner nicht einleitete. Munitionsdepots wurden vernichtet. Feldzeugmeister Goglia nahm seinen linken Flügel, das 15. Korps, auf Belluno zurück. Die sechste Armee zog nordwärts und ostwärts. Das Korps des Feldmarschalleutnants Berndt stand am 30. Oktober hinter der Livenza. Überall ruhte das Gefecht. Aber innerhalb der VI. Armee zerriß die Verbindung zwischen dem 2. und 24. Korps. Irgendwo im Norden schwebten, abgetrennt von rechts und links, Teile des 24. Korps. Was die Waffen nicht erzwungen hatten, brachte von selbst der Rückzug um des Zerfalls willen: den offenen Weg über Vittorio in die Monarchie.

Auch Marschall Krobatin mußte in Tirol den Rückzug befehlen. Am Monte Rover stauten sich die rebellierenden Bataillone in stets größerer Zahl. Sie wollten entweder nicht mehr vor, oder sie wollten zurück, sie verlegten die einzigen Straßen, die nach rückwärts führten. Zuletzt hatte auch noch eine deutschösterreichische Truppe den Gehorsam aufgekündigt: gerade Regimenter der »Edelweißdivision«, die als äußerste Zuflucht dem Heeresgruppenkommando gegolten hatte, hatten sich gegen den Befehl gewehrt, sie statt der abziehenden Ungarn einzusetzen. Jetzt wollte der Marschall die Reste der Treugebliebenen in die Linien sammeln, von denen, im Mai 1916, die Armee den Feldzug auf Asiago begonnen hatte. Bitter gab er den Befehl. Aber weder er, noch Marschall Boroevic wußte, welche Befehle sie tötlicher verwundeten: die sie nach vorn schickten oder die von rückwärts sie erreichten. Da der allgemeine Rückzug begann, im ersten Zurücknehmen der Truppen, hielten Marschall Boroevic und Marschall Krobatin zwei Depeschen in den Händen. Das »Armeeoberkommando« depeschierte am Spätnachmittag des 29. Oktober:

»Bestrebungen der Nationalräte gehen dahin, die republikanische Staatsform in den zu schaffenden Gebieten zu propagieren. Hierüber wird aber die Armee im Felde nicht befragt, die alle Männer vom 18. bis 50. Lebensjahr umfaßt und eigentlich die Völker repräsentiert.

Telegraphische Kundgebungen von Truppen und Formationen aller Nationalitäten erwünscht, die ohne Zwang durch Offiziere für Monarchie und Dynastie sich aussprechen. Solche sofort an das A.O.K, leiten, das sofort für Weiterbeförderung sorgen wird.

Sehr dringend sind solche deutscher Nationalität, da am 30., mittags, entscheidende Sitzung des deutschen Nationalrates in Wien stattfindet.«

Teilnahmslos hörten den Befehl die Truppen. Nicht alle erreichte er. Und nur vereinzelt antworteten sie. Die meisten begriffen nicht, warum der Kaiser selbst sie fragte, ob sie lieber Republikaner würden.

Die zweite Depesche trug, achtundvierzig Stunden später, die Unterschrift des ungarischen Kriegsministers Béla Linder. Unverzüglich seien die ungarischen Truppen heimzusenden. Ungarn befinde sich nicht mehr im Kriegszustande mit der Entente. Der Befehl war nicht aus Baden, nicht über das »Armeeoberkommando«, vielmehr aus Budapest gekommen. Marschälle und Generale verstanden die Zusammenhänge nicht. Bisher hatte es einen »ungarischen Kriegsminister« nicht gegeben. Jetzt befahl von Budapest her ein neuer Mann, den sie nicht kannten, über den Kopf der Heeresleitung hinweg. Oder versuchte zu befehlen.

 

Der Rückzug ging weiter. Nachhuten blieben überall gegen den Feind. Hinter ihnen marschierten die Korps. Ab und zu überschwirrten Flieger die Kolonnen, ab und zu gab es Geplänkel der Nachhuten. Am 1. November überschritten das 24. und 16. Korps den Tagliamento. Sie standen feuerbereit. Der Gegner, dem ein einziger glücklicher Vorstoß die Gefangenschaft des ganzen Südteiles der Front gebracht hätte, blieb still. Am gleichen Tage drangen englische und französische Detachements in die Gräben bei Asiago. Schwache deutschösterreichische Kräfte, in Wahrheit nicht mehr ein Schutz für ihr Land, vielmehr für die Meuterer in ihrem Rücken, kämpften dort auch nur noch als Nachhut. Denn die Tiroler Truppen waren gleichfalls schon im Rückzug. Zwischen dem Pasubiogipfel und dem Asticotal wich, vom Gegner nicht bemerkt, am nächsten Tage die Kaiserjägerdivision nach Norden. Italienische Patrouillen fielen, nachdem das Korps abgezogen war, in leere Gräben ein. Italienische Sturmtrupps besetzten – abermals vierundzwanzig Stunden später – auch noch die verlassenen Gefechtslinien am Monte Cimone. Deutschösterreichische Truppen waren von dort als letzte Nachhut abmarschiert.

Überall war der Rückmarsch in voller wogender Bewegung. Die im überwältigten Land lange erstarrte Front stand auf und marschierte. Vom Etschtale bis zum Meere sah die Nacht vom 2. zum 3. November hinter den Kampftruppen eine Auflösung ohnegleichen. Die Räume des Kriegsgebietes lagen weit überschwemmt von verwilderten, zuchtlosen, durcheinander geworfenen Massen und Trupps, die zwischen Diebstahl und entfesselter Roheit nur der Gedanke an die eigene Sicherheit und Bereicherung trieb. Tirol, Kärnten und Venetien waren auf allen Straßen, allen Feldern, in allen Pässen übersät mit Waffen und Kriegsgerät: vor den Kampftruppen, die immer noch sich im Kriege wußten, vor den Kampftruppen, die ihre letzte Schlacht ausgefochten hatten wie ihre erste, marschierten als Vortrab mit Brand und Verbrechen die Meuterer. Überall im Etappenraum versagte der Befehlsapparat. Die Behörden waren geflohen. Sie hatten Pflicht und Posten im Stich gelassen. Kroatische Marodeure der 6. Armee, die sich von den Gefechtstruppen losgelöst, mit bewaffneter Landbevölkerung und bewaffneten Kriegsgefangenen zusammengetan hatten, strebten vom Tagliamento, ohne daß sie Widerstand fanden, den Reichsgrenzen zu. Die ersten italienischen Granaten schlugen von den endlich erreichten Bergstellungen, nordwärts von Asiago, in die gestauten Trainstaffeln und in die Lastautomobile, auf denen über verstopfte Wege beutebeladene Chauffeure ins Reichinnere reisten. Die Artillerie hatten die meuternden Kanoniere liegen gelassen. Von Cra Larici über Levico bis Trient, auf der Hochfläche von Folgaria, loderten die Brände von hundert Magazinen, die die Ungarn angezündet hatten. Die Festung Trient aber war nur mehr der unübersichtlich gewordene Schauplatz herrenloser Soldateska. Sie rissen den Namenszug des Kaisers von den Kappen, den Offizieren die Rosetten herab. Auf hochbepackten Wagen flüchteten die weiblichen Hilfskräfte der Kommandos. Viele waren Dirnen. Die Soldaten stürmten den Bahnhof, die Züge, die sie nordwärts fahren sollten. Sie klammerten sich an die Lokomotiven, sie kletterten auf die Dächer der Waggons, um gleich zu fahren. Hunderte fielen herab, sie wurden in den Tunnels erschlagen, sie wurden erdrückt. Anarchie war in der Stadt, die drei Jahre lang der Feind nicht hatte antasten können. Jetzt hallten ihre Straßen von den Schüssen streifender, wahllos plündernder Banditen. Und aus ihren Schlupfwinkeln, bisher scheu darin verborgen, kamen immer zahlreicher, immer zuversichtlicher kühn gewordene Einwohner hervor. Denn der Einzug der Italiener stand bevor.

Den machtlos gewordenen österreichisch-ungarischen Führern aber brachte in dem beispiellosen Zerfall der nächste Morgen endlich die Erlösung. Das »Armeeoberkommando« befahl:

»Die Feindseligkeiten sind sofort einzustellen« – –

Wenigstens der Waffenstillstand war geschlossen.

*


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