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Der Staatsrat war auch in den Vormittagsstunden in Wien nicht zu erreichen. Es war klar, daß er die Mitverantwortung an den Waffenstillstandsbedingungen ablehnte. Der Chef des Generalstabes hatte endlich die Verständigung der Annahme in der zehnten Stunde an General Weber ergehen und aus Vorsicht, da die Verbindung durch Radio unsicher sein konnte, die Depesche noch am Mittag wiederholen lassen.
Bei den Truppen war sein nächtlicher Befehl, mit den Feindseligkeiten sofort aufzuhören, nicht überall zu gleicher Zeit eingetroffen. Zwei Stunden dreißig Minuten nach Mitternacht eilte der Generalstabsoffizier des Inspektionsdienstes im Hauptquartier der »Heeresgruppe Tirol« an den Hughesapparat: die dünnen Streifen begannen den Befehl abzuspielen. Mitten im Satz brach der Ferndrucker ab. Kurz darauf wurde der Generalstabsoffizier abermals gerufen. Die dünnen Streifen widerriefen den Befehl. Kaum eine Viertelstunde schwieg der Apparat. Dann kam der Generalstabsoffizier zum dritten Male: der erste Befehl wurde wiederholt. Noch ehe das Heeresgruppenkommando die Möglichkeit hatte, überhaupt einen der empfangenen Befehle an die Armeen seines Befehlsbereiches weiterzugeben, meldete ohne Zwischenstelle der Generalstabschef der XI. Armee an das »Armeeoberkommando«:
»Befehl kann nicht zurückgezogen werden, wurde schon an die Truppen ausgegeben.«
Die Gespräche und Weisungen für den Generalstabsoberst Schneller waren vom »Armeeoberkommando« alle über das Kommando der XI. Armee vermittelt worden. Der Oberst hatte die Anordnung zur Einstellung der Feindseligkeiten noch früher erhalten als die Befehlshaber der Heeresgruppen, denn er sollte mit ihr vor allem schleunigst nach Villa Giusti zurückkehren. Offenbar hatte das Kommando der XI. Armee, in deren Hauptquartier der Oberst sich befunden hatte, eine besondere Verständigung durch das Heeresgruppenkommando oder durch das »Armeeoberkommando« gar nicht erst abgewartet. Es hatte Kenntnis von den ersten Weisungen an den Oberst. Ihr Inhalt wurde den Truppen sofort vermittelt. Der Widerruf des »Armeeoberkommandos« kam so zu spät: die einmal geschaffene Situation konnte nicht mehr zurückgedreht werden. Und nun erst hatte das »Armeeoberkommando« sich entschlossen, da nicht eine einzelne Armee allein mit dem Feuern aufhören konnte, auch den Widerruf zu widerrufen: allen Armeen wurde endgültig befohlen – 3 Uhr 35 früh – die Feindseligkeiten einzustellen.
Marschall Krobatin weilte im Hauptquartier der X. Armee. Der Befehl des »Armeeoberkommandos« wurde ihm dort in der neunten Morgenstunde gemeldet. Um die gleiche Stunde empfing ihn das Kommando des 16. Korps. Anderthalb Stunden vorher die 10. Division, zwei Stunden nach ihr die 44. Schützendivision. Das Hauptquartier der VI. Armee erreichte er in der fünften Morgenstunde. Fast überall sonst traf er zwischen der achten und zehnten Morgenstunde ein. Fast überall verstrichen vier und sechs Stunden, bevor die Weisung, seit das »Armeeoberkommando« sie verfügt hatte, selbst die höheren Befehlsstellen erreichte.
Vom Paß Tonale berichtete, kurz nachdem die Anordnung auch dort endlich eingetroffen war, der Frontkommandeur:
»Die Italiener marschieren auf der Straße vor. Soll ich schießen?«
Erzherzog Peter, der Befehlshaber der X. Armee, antwortete aus Landeck:
»Es ist ja Waffenstillstand!«
Verwirrt war die Lage, unsicher die Entscheidung über das eigene Verhalten bei allen Armeen. Bei allen Korps und allen Divisionen. Die Nachricht vom Eintritt des Waffenstillstandes war unzweideutig gewesen. Überall glaubten die Truppen an ihn. Für sie war der Krieg plötzlich zu Ende. An das Armeeoberkommando hatte – am 3. November um 5 Uhr morgens – der Generalstabschef der XI. Armee depeschiert:
»Oberst Schneller hat beim Armeekommando beantragt, daß folgender Befehl an die Truppen ausgegeben werden könnte:
›Da die Feindseligkeiten zu Land und in der Luft eingestellt sind, ist einem Vormarsch von Abteilungen des italienischen Heeres oder seiner Verbündeten über unsere Front hinaus und der Besetzung von Ortschaften selbst weit hinter der Front kein Widerstand zu leisten.‹«
Die Truppen in Tirol ließen den Durchmarsch des Gegners zu. Italienische Panzerautomobile rasten, seit die österreichisch-ungarischen Geschütze schwiegen, seit die Truppen die Tore öffneten, überall dort, wo die Tore offen standen, auf den Straßen vorwärts. Ihre Maschinengewehre knatterten, indes die Autos an den nicht mehr fechtenden Soldaten vorbeiflogen. Die Italiener beriefen sich darauf, daß der Waffenstillstand für sie erst am 4. November mit der vierten Nachmittagsstunde beginne. Was bis dahin hinter der Verbindungslinie ihrer nordwärts getragenen Vorhuten sich befand, erklärten sie für kriegsgefangen. Nach dem Gang der Verhandlungen von Villa Giusti war ihr Recht unbestreitbar, daß die Vorhuten sich bis zur festgesetzten Stunde im Kampfe vorwärts schlugen. Oder daß sie, wenn der Gegner nicht mehr kämpfte, nordwärts vorfuhren.
Korps um Korps geriet freilich so mit einem Schlage, fast alles, was an Truppen im Tiroler Kampfraum stand, in Kriegsgefangenschaft. In wilden, buntgemischten Haufen drängte die vom Waffenstillstand verständigte, nicht mehr fechtende Armee sofort nach Norden. Die Truppen wurden überholt und abgeschnitten. Bisweilen griffen, da sie die Gefahr der drohenden Gefangenschaft erkannten, einzelne Einheiten in Selbsthilfe noch einmal zu den Gewehren: sie schlugen sich durch. Seit überhaupt die Schlacht gegangen war, zählten die Italiener – noch bis zur Mittagsstunde des 3. November – nur 100 000 Gefangene. Schon hier rechneten die vielen Gefangenschaftserklärungen seit Bekanntgabe des Oberkommandobefehles mit. Aber innerhalb von vierundzwanzig Stunden stieg jetzt die Zahl derer, die ohne einen Schuß in die Gefangenschaft wanderten, ins Riesenhafte: 427 000 Mann.
Mit den Heerscharen der Meuternden, seit Tagen in Bewegung, stauten sich die Reste der Entkommenen indes vor den Bergwänden von Bozen und Meran. Die Rückflut der Massen, die vom Tonalepaß heraufdrängten, verwirrte und verwickelte sich am Südhang des Brenners mit den Strömen von Marschierenden und Trains, die aus dem Pustertal unablässig bei Franzensfeste hervorquollen. Bis in den Bozener Raum hatten die Mannschaften ihren Offizieren noch Gehorsam geleistet, denn sie begriffen, daß die Offiziere noch am besten die Schnelligkeit und die Sicherung des Rückmarsches ordneten. Knapp südlich Bozens lief die Linie, innerhalb der alle Truppen kriegsgefangen bleiben sollten, die bis zum 4. November von der vierten Nachmittagsstunde an dort standen. Kaum der Gefahrzone entronnen, verweigerten die Mannschaften jeden Gehorsam. Sie hatten Soldatenräte schon am 3. November gebildet. Selbst innerhalb der Gefahrzone waren die Märsche durch die Räte verzögert worden. Durch die vorjagenden Autos der Italiener, die möglichst weit vorfuhren, um die Zahl der Gefangenen immer noch zu erhöhen, war die Benutzung der Straße stark erschwert. Die Soldatenräte hielten obendrein Beratung auf Beratung in den Straßengräben ab, die mehr ein Spiel mit neuer Macht oder Wichtigkeit als Sinn oder Zweck zeigten. Im Räume des Brenners aber war die Macht der Offiziere völlig zu Ende, ohne daß die Soldatenräte ihre neue Herrschaft zu nützen wußten. Vorbei an den abgerissenen, abgehetzten Menschen, die die Niederbrechenden am Wege ließen und jede Roheit übten, die ihnen vorwärts half, vorbei an den verstrickten hordenhaften Knäueln, die sich über die Landstraße, über den Schienendamm der Brennerbahn nordwärts rollten, die nordwärts keuchten und sich nordwärts stießen, dampfte im Ablauf des Tages nur ein einziger Zug. Die Lokomotiven fehlten. Auf der Brennerhöhe brach der Schienenstrang ab. Bayerische Truppen, die zur Sicherung ihrer Heimat bis hierher vorgeschoben waren, hatten die Stränge aufgerissen. Die Soldatenhaufen zogen zu Fuß weiter, nach Landeck und nach Matrei, dort lagerten sie, bis die ihnen entgegengeschickten Lastenzüge sie aufnahmen. Dann fuhren sie davon mit den Verpflegungsvorräten jener wenigen Magazine, die nicht in Flammen aufgegangen waren, mit Gröhlen und Schreien in Viehwagen, selbst tierisch wie das Vieh. An den Bahnhöfen stürzten die ungarischen Truppen aus den Wagen, plünderten und zerschlugen, was der Mitnahme nicht wert schien. Noch nach Bozen hatte der »Tiroler Nationalrat«, schnell gebildet in den Tagen der allgemeinen Wirrnis, dem Heeresgruppenkommando depeschiert, daß er selbst die oberste Befehlsgewalt im Lande Tirol für sich in Anspruch nehme. Er hatte die sofortige Abreise eines Generalstabsobersten und eines Oberstleutnants von Bozen nach Innsbruck gefordert, damit sie ihn bei allen Maßnahmen unterstützten. Inzwischen war das Heeresgruppenkommando selbst in Innsbruck eingetroffen, mit halbem Gepäck, mit einem Rest seiner Akten, von den Stabsoffizieren in Eile gepackt. Seine Mannschaften waren in alle Winde zerstreut. Feindselig sah die Innsbrucker Bevölkerung die Ankunft der Offiziere. Ihre Anordnungen unterband oder erschwerte der Nationalrat. Oder er ordnete selbst das Gegenteil des Verordneten an. Die Ausschreitungen der Ungarn ließen ihn mit dem Heeresgruppenkommando wieder gemeinsam beraten: die ungarischen Truppen sollten fortan nicht weiter über Innsbruck, sondern durch das Pustertal über Jugoslawien zurückgeführt werden. Aber die Jugoslawen gestatteten die Durchfahrt nicht. Der Strom der Ungarn ging weiter über Tirol.
Der Rückmarsch aller Trains führte über Matrei und Imst nach Hall. Dort drängten sich in der Breite des Inntales, unmittelbar hinter Innsbruck, Tausende von Wagen, Tausende von Pferden. Der »Tiroler Nationalrat« befahl, daß sämtliche Truppen, die nicht Tiroler Herkunft wären, das Land sofort zu verlassen hätten. Die Pferde wären abzugeben. Er wollte sie für Tirol. Die Mannschaften ließen Wagen und Pferde stehen, sie kletterten auf die Dächer der fortrollenden Züge, auf die Lastautos der Kraftwagentruppen, die nach Innerösterreich wollten, und fuhren davon. Das Futter für die Tiere hatten sie auf dem Brenner zurückgelassen, sie hatten es fortgeworfen oder angezündet. Die Tiere waren ohne Unterkunft, ohne Wartung, ohne Nahrung: Massensterben setzte ein. Der »Tiroler Nationalrat« hatte sich das Zurücklassen der Pferde freilich anders gedacht. Jetzt erließ er einen Aufruf an die Landbevölkerung, daß jeder sich Pferde holen könne, so viel er wolle, wenn er die Tiere nur verpflege. Im Anfang war noch ein Handel mit ihnen versucht worden, aber da ein Lastautomobil schon für dreihundert österreichische Kronen zu erwerben war, fanden die Käufer den Preis von drei oder fünf Kronen für einen abgemagerten, mißhandelten Klepper zu hoch. Die Tiere starben weiter oder sie wurden fortgeschleppt. Sie irrten herrenlos in die Nebentäler und verendeten dort. Viele Innsbrucker aber begannen den zurückströmenden Truppen jetzt entgegenzuziehen. Sie belagerten die Straße im Süden der Stadt, sie pilgerten dem Brenner zu. Sie wollten nicht warten, bis die Ankunft der Truppen, die vier Jahre lang ihr Land verteidigt hatten, im Weichbilde der Stadt die Preise für Heeresgut hochtrieb. Sie handelten und stahlen, nicht anders als die Soldaten, schon vor den Toren der Stadt.
Dort war indes der Generaloberst Krafft von Delmensingen mit seinen bayerischen Soldaten eingezogen. Nach dem Brenner waren Abteilungen schon vorausgeeilt, der General richtete sich in der Hauptstadt ein. Das Heeresgruppenkommando erfuhr sein Eintreffen durch einen Maueranschlag: der Generaloberst rief die Loyalität der Tiroler an und drohte mit Gewalt, wenn Widerstand sich erhebe. Je eine deutsche Division fuhr in den Raum von Landeck-Reschenscheidegg-Innsbruck-Brenner und in den Raum von Gastein, um den Übergang über die Tauern zu decken. Ihre Kolonnen arbeiteten sich durch den Rückmarsch vor. Da sie auf dem Brenner ankamen, meuterte eine Kompagnie Pfälzer. Sie wurde wieder zurückgebracht. Gegen den Einmarsch der bayerischen Soldaten mußte das Heeresgruppenkommando Einspruch erheben. Denn die Waffenstillstandsbedingungen verlangten den Abmarsch aller deutschen Truppen oder Offiziere aus Österreich-Ungarn binnen vierzehn Tagen. General Krafft von Delmensingen nahm den Einspruch zur Kenntnis, ohne daß er seine Befehle änderte. Er begriff die schwierige Lage der machtlos gewordenen Verbündeten von einst. Von seinen eigenen Truppen depeschierte das Heeresgruppenkommando am 5. November an das »Armeeoberkommando«:
»Es muß alles gemacht werden, daß Truppen südlich des Brenners stehen bleiben und von der Entente verpflegt werden. Selbst Gefangennahme ist ein milderes Los als Verhungern und Verheerung von ganz Nordtirol.«
Das Kommando nahm Generaloberst Krafft von Delmensingen in deutschen Schutz. Denn Geheimnachrichten von Vertrauensleuten meldeten die Absicht des »Tiroler Nationalrates«, das Heeresgruppenkommando zu verhaften.
Dem Befehlshaber der »Armeegruppe Belluno« war der Befehl, den Kampf abzubrechen, in den frühen Morgenstunden des 3. Novembers zugegangen. Feldzeugmeister Goglia hielt den Text für verstümmelt. Er wandte sich an Marschall Boroevic: was es denn heiße, daß die Fristansage zur Einstellung der Feindseligkeiten fehle. Er melde, daß die Italiener sich an den Waffenstillstand nicht hielten. Vom 1. Korps sei ein Parlamentär zu ihnen geschickt worden, damit er Aufklärung verlange. Die italienische Antwort hätte gelautet:
»Waffenstillstandsbeginn – 4. November, nachmittags 3 Uhr.«
Daraufhin hätte der Feldzeugmeister befohlen, den Kampf fortzusetzen. Noch am 30. und 31. Oktober hatten seine Truppen sich in glänzender Haltung geschlagen. Sie standen jetzt, erschöpft und kampfmüde, ohne Ablösung, in ihren neuen Bergstellungen. Noch immer abwehrbereit. Aber unmittelbar hinter ihrem Rücken hatte der Abmarsch der Reservetruppen, die Flucht der Etappe bereits begonnen. Von den Seilbahnen liefen – nicht anders als in den Tiroler Bergen – die Bedienungsmannschaften fort. Weder Munition noch Verpflegung erreichte mehr die Truppen an der Front. Auch hier erbrachen die Fliehenden die Verpflegungsmagazine am Wege, sie plünderten sie, sie zündeten sie an. An das »Armeeoberkommando« depeschierte der Feldzeugmeister am Vormittage des 3. Novembers:
»Auflösung im Rücken der Armee erfordert sofortiges energisches Einschreiten aller neuen Regierungen und Nationalräte. Ins Pustertal herausströmende Trains, meuternde Regimenter und Horden von Deserteuren und Kriegsgefangenen plündern alle Magazine und die Bauernhöfe, zu deren Sicherung nichts Verläßliches verfügbar ist. Bahnen scheinen gänzlich zu versagen. Infolge ausgebliebenen Benzinzuschubes sind alle Autokolonnen lahmgelegt. Verteilung der restlichen Verpflegungsvorräte daher unmöglich. Alle die braven Truppen, die am Feind waren, stecken noch tief im Gebirge, werden dort schon hungern und im Pustertal nichts mehr vorfinden.«
Ins Pustertal drängten nicht nur die Truppen des Feldzeugmeisters. Ein abgesprengtes Korps der VI. Armee suchte den gleichen Weg. Aber jenseits des Risses, den der allgemeine Rückzug im Norden von Vittorio geschaffen, stand der Ostflügel der Südwestfront, da der Waffenstillstandsbefehl eintraf, am Tagliamento in geschlossener Reihe. Dort kämpften die Truppen fast aller Abschnitte nicht mehr seit der neunten Morgenstunde. Auch die Mannschaften des 24. Korps, das sich fechtend von der VI. Armee zu dem Südflügel herübergeschlagen, hatte aufgehört zu feuern. Leer dehnte sich der Raum hinter den Fronttruppen in der Venetianischen Ebene, vom Tagliamento bis an die Randberge von Alpen und Karst. Hier war seit Tagen schon niedergebrochen, was im Rücken der Kampflinien lag. Seit Tagen befanden die Truppen der Etappe, Reserven und Meuterer, Mannschaften und Offiziere, sich nordwärts in voller Flucht. Sie alle hatte ein wildes Fieber ergriffen, um jeden Preis so schnell wie möglich in die Heimat zu kommen, vor allem wenigstens den Rand der Berge zu erreichen, von dem sie sich in Panikstimmung eine Art Schutz versprachen. In den nächtlichen Städten auf dem Rückzuge, in denen allmählich die italienischen Einwohner auf sie schossen, glaubten sich die abmarschierenden Meuterer verraten und angegriffen, sie lieferten sich schließlich selbst Gefechte, wie in Codroipo und Pordenone, wo die Straßen rot waren vom Blute eines aufrührerischen Regiments, dessen Bataillone sich selbst im Dunkel mit Maschinengewehren beschossen. Auf den Straßen blieben die Geschütze der Abmarschierenden liegen, die Artilleristen hetzten auf den Pferden fort, sie ritten durch den Brandgeruch, der die weite Ebene durchzog, an den Pferdekadavern, Waffen und Lastautomobilen vorbei, die umgestürzt in den Gräben lagen.
Marschall Boroevic hatte sein Hauptquartier Udine, im Zusammenhang mit dem anbefohlenen Rückzug, am letzten Oktobertage verlassen. In dem großen Schulgebäude, darin er mit seinem Stabe gearbeitet hatte, war er gelassen, mit fatalistischem Gesichtsausdruck von Raum zu Raum geschritten: stumm, ohne Unruhe, mit den letzten Befehlen für seine Offiziere in der Hand, von denen er nicht wußte, ob sie noch befolgt wurden. Das Automobil hatte ihn nach Laibach gebracht, dort war dem Befehlshaber von den neuen jugoslawischen Behörden das Verbleiben verwehrt worden. Der Marschall hatte sich nach Velden gewandt.
Udine lag still, fast menschenleer und friedlich. Alle Besatzungstruppen waren seit dem ersten Novembertage schon fort, die Fronttruppen noch fern. Die wenigen Einwohner kamen aus ihren Häusern wie aus Verstecken, noch gingen ihre Gespräche leise. Artilleristische Nachzügler packten am Kastell ihre Flugabwehrgeschütze, die abmontiert auf dem Boden lagen, neben den weißen Betonunterbettungen mit Eisenschienen und Kreismaßeinteilung – dann ließen sie alles liegen und zogen davon. Eine Abteilung Dragoner ritt durch die Stadt, in blauen Pelzen und Marschausrüstung, in gelassenem Schritt, den Karabiner quer umgehängt, wie sie durch Serbien geritten waren und durch die Städte Polens. Vor dem Hauptquartiersgebäude verglommen die schwarzen Papierhaufen, zu denen die Offiziere die Akten aufgeschichtet hatten, um sie zu vernichten. Weit draußen in der Ebene loderten, im Osten vor der Alpenkette, hundert Brände: Magazine brannten, von Marodeuren angezündet.
Aber die Kampffront am Tagliamento stand noch. Sie feuerte nur nicht mehr. Die Nachricht von der Annahme des Waffenstillstandes war auch ihr bekanntgegeben worden. Indes auch vor dem Ostflügel in Venetien schien ihn der Gegner nirgends achten zu wollen. Am späten Vormittag des 3. Novembers überschritten italienische Patrouillen im Süden von San Odorico den Fluß. Unmittelbar darauf überquerten ihn italienische Reiter auch bei Bonzicco. Niemand verstand, wie eigentlich die Lage in Wirklichkeit war, niemand, woher solche Verwirrung eigentlich rührte.
Bei Bonzicco hielt der Generalleutnant Graf Barattieri, der Befehlshaber der 3. italienischen Kavalleriedivision, mit seinen Schwadronen dicht vor den vorderen Artilleriestellungen der 44. österreichisch-ungarischen Division. Ihren Kommandanten, Feldmarschalleutnant Schönauer, ließ er bitten, zu ihm zu kommen, wenn er der Jüngere sei. Sonst wolle er selbst ihn aufsuchen. Der Feldmarschalleutnant erschien mit einem Brigadier und einem Generalstabsoffizier um die Mittagsstunde vor dem italienischen General. Er teilte mit, daß er die Verständigung abgeschlossenen Waffenstillstandes hätte: vielleicht wisse der Generalleutnant nur noch nichts davon. Seine Behauptung bestätige auch die Tatsache, daß seit heute – dem 3. November – keine Fliegertätigkeit mehr wahrzunehmen sei.
Die Aufschlüsse des Feldmarschalleutnants, warum seine Truppen nicht mehr kämpften und die Kampfeinstellung auch von den Italienern verlangten, schienen dem italienischen General durchaus glaubwürdig. Er nahm seine Schwadronen bis an das Ostufer des Flusses zurück, so daß der Fluß selbst noch italienisch blieb. Er bat den Feldmarschalleutnant, ihm an seinen eigenen Befehlsort zu folgen, damit er dort die Entscheidung des höheren italienischen Kommandos abwarten könne, die er sogleich anrufen wolle. Divisionär und Brigadier fuhren mit Generalleutnant Graf Barattieri über die italienischen Linien.
Seinen Generalstabschef ließ der Generalleutnant bei dem vorgesetzten Kommando Auskunft einholen. Vom italienischen Korpskommando erwiderte Graf Turin, daß die Behauptungen über eingetretenen Waffenstillstand irrig seien. Inzwischen waren im Standort des Generalleutnants Barattieri noch Befehlshaber anderer österreichisch-ungarischer Truppenteile eingetroffen. Auch vor der Front der 19. Infanteriebrigade hatten die Italiener den Weitermarsch versucht. Von Parlamentären war ihnen eine italienische Übersetzung der Meldung des »Armeeoberkommandos« überbracht worden. Als die Italiener den Waffenstillstand immer noch nicht anzuerkennen schienen, hatte das österreichisch-ungarische Korpskommando dem Brigadier Widerstand mit den Waffen befohlen, ihn aber schließlich beauftragt, gleichfalls in den Standort des Generalleutnants Barattieri zu fahren, um die Situation endlich klarzustellen. Mit ihm, mit seinem Generalstabshauptmann, waren noch die Kommandanten der 86. und 87. Schützenbrigaden eingetroffen – ihnen allen machte, unterstützt von dem ebenfalls anwesenden Befehlshaber der 3. italienischen Kavalleriedivision Generalleutnant Conte Giucardi, der Graf Barattieri die Mitteilung über die Auskünfte des Grafen Turin. Er forderte von den Versammelten für alle ihre Truppen:
1. Niederlegung der Waffen.
2. Sammlung aller Mannschaften und Offiziere – noch am 3. November – am rechten Tagliamentoufer.
3. Sofortiges Durchschneiden aller Drähte für Telephon und Telegraph.
4. Ablegen der Waffen an bestimmten Punkten.
5. Sofortigen Vormarsch der italienischen Kavallerie.
Feldmarschalleutnant Schönauer lehnte ab. Er sei nicht ermächtigt, ohne Einvernehmen mit seinen Vorgesetzten solche Vereinbarungen zu treffen. Mit dem Befehlshaber der 19. Infanteriebrigade schlug er vor, daß sich die österreichisch-ungarischen Truppen so weit zurückzögen, bis die Italiener das Ziel eines Tagesmarsches erreichten. Sie sollten in vereinbarter Entfernung den Abziehenden folgen. Aber Generalleutnant Barattieri weigerte sich. Wenn seine Forderungen nicht angenommen würden, so bedeute dies, daß die Italiener verraten worden seien. Auch Generalleutnant Giucardi nannte sich überlistet. Der Feldmarschalleutnant brauste auf. Graf Barattieri begann sich zu entschuldigen. Der Dolmetsch hätte falsch übertragen. Graf Giucardi rief aus:
»Dann hat Sie Ihr Oberkommando verraten!«
Den österreichisch-ungarischen Offizieren war, ehe sie die italienischen Linien überschritten, die Gewähr unbedingter Rückkehr gegeben worden. Jetzt machte der Feldmarschalleutnant darauf aufmerksam, daß unliebsame Ereignisse bei sofortigem Vorrücken der Italiener sich ergeben könnten, daß nur die Befehlshaber persönlich bei ihren Befehlsstellen und Truppen alles regeln könnten. Generalleutnant Barattieri wußte einen Ausweg: die Befehlshaber sollten einzeln, jeder mit einer vorrückenden italienischen Kolonne, über den Tagliamento marschieren, um »Zusammenstöße durch Zurufe zu vermeiden«. Aber der Feldmarschalleutnant blieb bei seiner Auffassung, daß nur die Befehlshaber selbst an Ort und Stelle die merkwürdige Lage regeln könnten. Indes der Generalstabschef des Grafen Barattieri immer wieder lebhaft auf den Antritt des Vormarsches drängte, gegen ihn aber besonders der Kommandant der 87. Schützenbrigade scharfen Einspruch erhob, kam zwischen beiden Parteien eine »Konvention« zustande:
1. Die 44. Schützendivision und 19. Infanteriebrigade legen ihre Waffen (die Verschlüsse der Geschütze) gesammelt an Orten nieder, die von italienischen Offizieren bestimmt werden.
2. Die Truppen werden konzentriert, und die Offiziere bürgen für die Aufrechterhaltung der Disziplin.
3. Um 10 Uhr nachmittags tritt die italienische Kavallerie über die österreichisch-ungarischen Linien hinaus den Vormarsch an.
4. Wenn der Waffenstillstandsabschluß sich als richtig erweist, erhalten die Truppen ihre Waffen zurück.
Von dem Generalstabsoffizier des Feldmarschalleutnants wurde noch ein Zusatz beantragt: »daß diese Vereinbarungen nur darum getroffen wurden, weil wir Waffenstillstandsbefehl haben, während die Italiener davon noch nichts wissen.« Der gleich den übrigen Befehlshabern als Parlamentär herübergekommene Kommandant der 19. Infanteriebrigade wurde als Geisel zurückbehalten. Ihm teilte Generalleutnant Graf Barattieri mit, daß er sofort erschossen werde, sofern einem Italiener etwas zustieße. Der Feldmarschalleutnant, sein Generalstabsoffizier, die Befehlshaber der beiden Schützenbrigaden kehrten zu ihren Truppen zurück. Zu der Infanteriebrigade begaben sich statt des zurückbehaltenen Kommandanten sein Generalstabsoffizier und zwei italienische Stabsoffiziere. Die Stabsoffiziere hatten die Geschützverschlüsse zu übernehmen, der Generalstabsoffizier die Truppen zu unterweisen. Dann baten die Italiener um Rückbegleitung in der Dunkelheit. Der Generalstabsoffizier verlangte die Zusicherung seiner unbedingten Rückkehr. Sie wurde gegeben, dann fuhr er. Bei seiner Ankunft im italienischen Divisionskommando erklärten die Italiener ihn als kriegsgefangen. Er wurde zu dem als Geisel zurückbehaltenen General gebracht. Unmittelbar darauf traf der Feldmarschalleutnant mit seinem Generalstabshauptmann ein; der Divisionär war, nachdem er bei seinen Truppen alles Vereinbarte geordnet und die geschlossene »Konvention« an sein Korpskommando weitergeleitet hatte, von dem ihm gegenüberliegenden Brigadier ersucht worden, noch einmal zu Generalleutnant Grafen Barattieri herüberzukommen. Die Rückkehr hatte der italienische Brigadier auch ihm zugesichert. Jetzt hatte auch er sich als »kriegsgefangen« zu betrachten.
Unmittelbar darauf wurde der italienische Vormarsch angetreten. Division, Brigade und Schützendivision gerieten in Gefangenschaft.
Überall im Bette des Tagliamento rückten am dritten Novembertage die Schwarmlinien des Gegners vor. Sie taten es nur zögernd. Sie blieben im Flußschotter liegen, wenn man sie anrief, der Vormarsch brach ab, wenn Widerstand sich zu erheben schien. Aber fast alle österreichisch-ungarischen Offiziere glaubten sich schuldig zu machen, wenn sie gegen den Befehl des »Armeeoberkommandos« neuerlich den Kampf befahlen. Dem Kommandanten des 16. Korps schien die Verwirrung endlich unleidlich. Er befahl, zu feuern, wenn der Gegner weiter vordringen sollte. Aber zu diesem Zeitpunkte kämpften die Italiener nicht mehr. In sein Tagebuch notierte Feldmarschalleutnant Berndt:
»Am 3. November das erstemal, daß Amerikaner da.
Gekämpft haben Engländer und Franzosen.
Im Laufe des Tages näherten sich kleine Abteilungen, behutsam, vom Tagliamento. Immer wieder von uns Offiziere entgegengeschickt, zur Aufklärung. Darauf blieben Italiener in der Regel stehen. Während man mit den einen parlamentierte, hörte man schon, daß nebenan vorgerückt wurde. Jetzt waren es ausschließlich Italiener.«
Die Truppen aller österreichisch-ungarischen Korps setzten am 4. November, morgens, den Rückmarsch vom Tagliamento fort. Hinter ihnen erweiterten, ohne feuernde Panzerwagen, die Italiener gemessen wieder den Vormarsch.
Ein einziges Durchschreiten war an der ganzen geschlossenen Frontlinie des Ostflügels dem Gegner bisher geglückt: die Verhandlungen von Bonzicco hatten dem Generalleutnant Grafen Barattieri ein Tor nach Osten geöffnet. Von Feldmarschalleutnant Berndt wurde, als man ihm die Gefangennahme der ihm benachbarten 44. Schützendivision meldete, sofort die Gefahr erkannt, in die seine eigenen Truppen durch die entstandene Lücke gerieten. Bei Santa Caterina war, sobald die ganze Division nach den Vereinbarungen der »Konvention« entwaffnet war, in der Nacht zum 4. November die italienische Kavallerie in der Richtung auf Udine vorgerückt. Gleich nach der Meldung über ihr Vorrücken wurde sie in Udine selbst festgestellt. Der Feldmarschalleutnant, der seine Flanke gesichert wissen wollte, entsandte einen Parlamentär mit zwei Ulanen. In Udine stand in der Tat ein italienisches Reiterregiment unter dem Befehle eines Oberstleutnants. Ihm ließ der Feldmarschalleutnant sagen, daß Waffenstillstand abgeschlossen sei. Wenn er weiter vorrücke, so werde er die Stadt von der 29. Artilleriebrigade im gleichen Augenblick beschießen lassen. Er setzte Beobachter auf die Kirchtürme. Die Artillerie fuhr auf. Die Mannschaft gehorchte. Sie hatte noch hundert Schüsse für jedes Geschütz. Der Oberstleutnant erwiderte aus Udine, daß er sich den Umständen beuge. Er werde nichts weiter unternehmen.
Der Zwischenfall von Bonzicco war zu Ende. Nachmittags traf die Nachricht ein, daß auch Teile der 7. Honveddivision gefangen worden seien. Auch bei ihnen war kein Schuß gefallen. Die freien Truppen zogen weiter.
Mitten durch die immer breitere Rückflut aller Korps marschierten, mehr über die Felder als über die von endlosen Trains übersäten Straßen, nur noch einzelne Divisionen in geschlossener Ordnung. Sie wußten, daß sie, wie dies einzelne Verbände auch in Tirol begriffen, so ihr Ziel noch am schnellsten erreichen. Aber jede Verbindung zwischen den Divisionen hatte so gut wie aufgehört. Noch gaben die Korpskommandanten Befehle, aber die Divisionen wurden von den Befehlen nicht mehr erreicht. In Wahrheit hatten die Feindseligkeiten am Tagliamento schon seit dem 3. November vollständig aufgehört. Es gab keine Gefechte mehr. Wo es gelang, versuchten die Italiener, ohne Verluste ihre Zeit noch zu nützen. Am Nachmittag des 4. Novembers landete bei Campo Formido im Marschraum des 16. Korps ein italienisches Flugzeug. Drei italienische Offiziere und ein englischer Offizier berichteten, daß der Waffenstillstand mit der vierten Nachmittagsstunde einsetze. Endlich begriff man auf dem Ostflügel die Zusammenhänge der merkwürdigen Lage. Feldmarschalleutnant Berndt zog weiter, aus eigenem Entschluß, da sein vorgesetztes Kommando nicht mehr antwortete. Er zog an die Judrio zurück, überschritt den Fluß und kam nach Cormons, das noch von der Erregung wilder Plünderungen zitterte. Vor Görz stauten sich die Trainkolonnen aller Südkorps, die Stadt wehte von den Flaggen der Italiener und Südslawen, die, jeder für sich, die Zukunft von Görz begehrten und jeder einen Nationalrat eingesetzt hatten. Die Soldaten liefen mit italienischen und jugoslawischen Kokarden umher, der Trubel in der Stadt war groß. Polnische und ungarische Emissäre waren da, aus ihren Hauptstädten entsandt, um die Soldaten über die ungeheuere Wandlung in der Monarchie aufzuklären. Plakate schrien von den Häuserwänden:
»Das alte Österreich besteht nicht mehr! Südslawien ist ein neutrales Land.«
Die Vorbeimarschierenden begannen sich in Nationalitäten abzusondern. Manchmal rief sie die Menge an:
»Wozu schleppt ihr eure Generale mit?«
Der Bahnhof war von Marodeuren belagert. Aber kein Zug ging. Niemand konnte daran denken, anders als zu Fuß weiterzukommen.
In Görz meldete sich noch ein italienischer General, der mit einer ganzen Abordnung gekommen war, bei den Führern der Truppen. Die Generale sollten ihre persönlichen Waffen, ihre Pferde, ihre Bagagen übergeben. Und alles Material, auch die Sanitätsausrüstungen, hatten liegen zu bleiben.
Ein Teil der Marschierenden strömte in das Laibacher Becken weiter. Sie wurden an der jugoslawischen Grenze entwaffnet. Andere Kolonnen suchten den Weg über Bischofflack nach Norden, die Massen teilten sich, sie drangen über Kärnten, durch die Steiermark nach Nordösterreich. An landstreichenden Haufen von Deserteuren marschierten Regimenter vorbei, deren Haltung ausgesucht, deren Waffen blank waren, als kämen sie heim vom Übungsplatz. Sie standen stramm bis zuletzt, wenn ihre Offiziere sie anriefen. So marschierten die einen bis ins Salzburgische, so zogen die Egerländer in ihre Kaserne in Eger ein. An der Spitze seinen Kommandeur, überritt ein Reiterregiment in musterhafter Ordnung noch die ungarische Grenze. Vor seinem Divisionär verlangte das Linzer Hausregiment den letzten Parademarsch in alter Haltung durchzuführen. Dann warfen auch seine Leute die Gewehre weg.
Der Krieg war für alle zu Ende. Verloren hatte das Heer auch die letzte Schlacht nicht. Es hatte sie abgebrochen. Denn hinter den Schwarmlinien war ihnen ein neues, wichtigeres Schlachtfeld, das eigentliche Schlachtfeld, das Schlachtfeld der nationalen Kämpfe geworden. Hier war der schrankenlose Sieg von Wilson ausgesprochen, besiegelt durch Kaiser Karls Manifest. Als er errungen schien, hatte den vorn Fechtenden, deren Vaterland längst zerborsten war, dann noch das »Armeeoberkommando« die Waffen aus der Hand geschlagen. Die Besten wurden gefangen. Der Rest entlief. Alles stürzte und brach nieder, was vier Jahre lang in übermenschlicher Anstrengung gehalten, machtvoller als irgendwer geahnt, bescheidener, als die Leistung begründete – alles brach nieder in zwei Tagen und zwei Nächten: soldatische Größe, uralte Überlieferung, das Reich und die Selbstwürde, alle Überlegenheit über den Gegner, solange der Kampf noch ging. Keine Erinnerung mehr lebte in den nunmehr aufgelösten Horden. Die Fortströmenden wußten nicht mehr, daß die gleichen Fahnen, die sie jetzt zerrissen und schmähten, jahrhundertelang auf allen Schlachtfeldern Europas geflattert hatten. Sie wollten es nicht wissen, daß viele leuchtende Namen ihnen eingestickt waren, von Malplaquet bis Zenta, von Kunersdorf und Kollin bis Aspern, Lissa und Custozza. Einst hatte Wallenstein das gleiche Heer geführt und »der kleine Kapuziner« Prinz Eugen, der Marschall Laudon und Erzherzog Karl. Dann war über die Ebenen, über die jetzt die Heerscharen in Schwärmen zogen, Radetzky mit seinen Regimentern nach Mailand marschiert. Aber selbst der nahe Glanz von Gorlice und von Karfreit war verblaßt. Er knüpfte sich für sie, die zwölf Schlachten unter Marschall Boroevic am Isonzo geschlagen, auch nicht an einen Ebenbürtigen jener Reihe: an Marschall Conrad von Hötzendorf. Jetzt schlug die Abschiedsstunde dieses Heeres zwischen Bränden und Verbrechen. In Greueln verlöschten Macht, Soldatenzucht der Väter und selbst die Menschlichkeit. Apokalyptische Scharen hetzten an kaiserlichen Offizieren vorbei, deren Verzweiflung die eigene Kugel suchte – –
Vom Kampfplatz der Geschichte traten die aufgelösten Heere fort. Die österreichisch-ungarische Armee war tot.
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