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In der Redaktion des Berliner »Vorwärts« drängten sich an diesem Abend der Erregungen die Führer und Obleute der »Sozialdemokratischen Partei Deutschlands«. Der Staatssekretär Scheidemann verkündete, daß der Kanzler den Kaiser zu unverzüglichem Rücktritt aufgefordert hätte, aber die Obleute der Arbeiterschaft verhehlten ihre Erbitterung nicht, daß die der Regierung am 1. November in der Abdankungsfrage gestellte Frist ohne Erfüllung abgelaufen sei. Der Staatssekretär sprach der Versammlung von letzten Hoffnungen, daß der Thronverzicht bis zum nächsten Morgen ausgesprochen sein könnte. Er warnte vor Gewalt und Blutvergießen. Aber die Obleute, die Massen, die ganze Bewegung, in der er die von Erwartungen zwar gemischte, dennoch schwankende Unsicherheit fast aller in tragisch abrollendem Spiele gezeigt hatte, waren ihm entglitten. Die Obleute wollten die Arbeiter endlich aus Fabriken und Werkstätten auf die Straßen rufen. Am nächsten Morgen sollte es geschehen. Eines wollten die Obleute noch gewähren: früh um die siebente Stunde sollten die Versammelten noch einmal zusammentreten. Bis um die neunte Stunde wollten sie Kaiser und Regierung noch eine Gnadenfrist geben. Sie saßen um die angesagte Zeit alle wieder in der Redaktion des »Vorwärts«.
Der Arbeiterführer Otto Wels stand auf. Keinerlei Nachricht wäre eingelangt. Aber nunmehr gälte es, dem Willen der Arbeiterschaft Nachdruck zu verleihen. Er rief nach der Einheitsfront aller Arbeiter.
»Auf der Straße sehen wir uns wieder!«
Er sprach nur wenige Minuten. Aber er hatte jeden Satz mit hallenden Lungen, mit dem natürlichen Sinn für ein Pathos gesprochen, mit dem er, ein massiger, stämmiger Mann aus dem Volke, auf Volksvertreter wirken mußte. Er feuerte Schlagworte in den Saal. Sie waren oft gebraucht, von allen gekannt, aber jetzt, da sie als Befehle hinausgerufen wurden, bekamen sie den aufregenden Sinn der Realität. Der Saal donnerte unter den Zurufen. Dem Obmann Zubeil stürzten die Tränen hervor, schon hatte er den Glauben an die Partei verloren gehabt, die jetzt dennoch den Marschbefehl gab.
Aber noch mehr ereignete sich in den zwei Stunden letzter Wartezeit. Eine Abordnung Naumburger Jäger erschien im Parteibureau der Mehrheitssozialisten. Die Abordnung stellte Forderungen: sofort müsse ein Mitglied des Parteivorstandes zu ihnen, die man als verläßliche Truppe nach Berlin geholt hätte, in die Kaserne kommen, um die Mannschaften über die politische Lage aufzuklären. In der Redaktion des »Vorwärts« warteten die Obleute weiter. Aber der Volksmann Otto Wels fuhr – im Auto die Naumburger Jäger – zur Alexanderkaserne.
Dort trat das ganze Naumburger Bataillon mit allen Offizieren an. Von der gegenüberliegenden Kaserne strömten die Truppen in den Hof. Ein Krümperwagen wurde in die Hofmitte geschoben. Der Volksführer kletterte empor. Atemlos standen die Soldaten. Blass warteten, in unschlüssiger Haltung abseits, die Offiziere.
Der sozialistische Abgesandte begann. Von mühseligen Friedensbemühungen, von den Aussichten, die noch der Krieg gab. Er sprach von Wilson. Nur eine Möglichkeit war – nach den Erklärungen des Präsidenten – noch da, wenn man der Vernichtung entgehen wollte: daß der Kaiser abdankte. Dann sei der Weg zu billigem Frieden frei. Hunderttausenden koste die Weigerung des Kaisers das Leben. Dabei bestände überhaupt keine Aussicht mehr auf Sieg. Bei den Soldaten läge die Entscheidung über Frieden und Bürgerkrieg. Die Arbeiterschaft habe sich nach dem Kieler Aufstand erhoben. In Hannover, München und Kiel sei die Republik ausgerufen.
Otto Wels hielt inne. Er kannte die Stimmung der Soldaten nicht genau, zu denen er sprach. Reglos blieben Soldaten und Offiziere. Da wagte es der Mann aus den Arbeiterreihen:
»Ich frage euch nun, ob die Berliner Garnison auf die Arbeiter schießen wird, oder ob sie zur Sache des Volkes hält?
So kann es unter keinen Umständen weitergehen!
Die Bewegung ist nicht aufzuhalten!«
Er schleuderte jetzt Satz um Satz hinaus. Er gestand sich, daß er vor der Krise war, daß er weitersprechen mußte, ohne daß er genau wußte, wohin er trieb, ob es für ihn ins Gute oder Böse war. Er hatte niemand mit hetzenden Worten zuerst angeklagt. Er hatte grau in grau gemalt, mit dem tiefen Mitleid im warm beherrschten Ton, mit dem ausgespielten Mitleid für die schuldlos getriebenen Massen. Jetzt holte er alle Reserven des Pathos, oft vor Mengen erprobt, vor den Soldaten hervor:
»Es ist eure Pflicht, den Bürgerkrieg unter allen Umständen zu verhindern!
Ich rufe euch zu: Ein Hoch auf den freien Volksstaat!«
Hier war die Krisis. Otto Wels wartete. Dies war der Augenblick der Offiziere. Er stand weithin sichtbar auf seinem Krümperwagen. Aber kein Offizier schoß. Ein Brausen schlug zu ihm empor. Er hatte das Spiel gewonnen.
Die Truppen erklärte er zur Verfügung der »Sozialdemokratischen Partei Deutschlands«. Feldwebel übernahmen das Kommando. Ein Trupp von sechzig Mann wurde zur Besetzung und zum Schutz des »Vorwärts« entsandt. Otto Wels eilte in das Reichstagsgebäude. Aber nunmehr sollte er von Kaserne zu Kaserne: das Beispiel der Naumburger Jäger fortzutragen. Die Uhr schlug die neunte Stunde.
In Spa wieder hatten die Staatssekretäre, vor allem Staatssekretär Simons und Unterstaatssekretär Wahnschaffe, stets aufs neue Nachrichten und Entscheidung erbeten. Der jüngste Bescheid hatte gelautet: soeben führen die Generale zum Kaiser.
Die Uhr schlug die neunte Stunde, als der Staatssekretär Scheidemann sich entschloß, im Kabinett des Prinzen Max nicht länger zu verbleiben. In der Reichskanzlei hatte er angefragt, ob der Kaiser zurückgetreten wäre.
»Noch keine Entscheidung,« war die Antwort an den Staatssekretär Scheidemann gewesen, »vielleicht kommt sie mittags.«
Jetzt stürmte Otto Wels mit seinem Erlebnis herein. Der Staatssekretär schrieb:
»Berlin, 9. November 1918.
An den Herrn Reichskanzler.
Eurer Großherzoglichen Hoheit beehre ich mich mitzuteilen, daß ich mein Amt als Staatssekretär hiermit niederlege.
Genehmigen Sie usw.
Philipp Scheidemann.«
Alle sozialistischen Staatssekretäre traten zurück. Die Arbeiter verließen Werkstätten und Fabriken. Sie ordneten ihre Kolonnen. Der Aufmarsch in die Stadt begann.
Im »Großen Hauptquartier« in Spa schickte Freiherr von Grünau um die gleiche Stunde die beiden Depeschen, die der Kanzler und der Staatssekretär Solf nachts aus der Reichshauptstadt gesandt hatten, durch Boten dem Kaiser.
Der Schlußappell des Außenministers war ein letztes Signal:
Verbleiben der Sozialdemokraten unerläßlich zur Fortsetzung des Friedenswerkes.
Die sozialdemokratischen Staatssekretäre würden aus der Regierung ausscheiden, wenn das Ultimatum nicht berücksichtigt werde.
Der Versuch sei gescheitert, die Sozialdemokraten vom Ultimatum abzubringen.
Von des Kaisers einzigem Entschluß hänge es ab, ob der Bürgerkrieg zu vermeiden sei oder nicht.
Freiwillig möge der Kaiser verzichten.
Der Kanzler sprach in seiner Depesche nicht nur vom Sturz der Staatshäupter:
Die Mehrzahl der Kabinettsmitglieder hätte sich für die Abdankung ausgesprochen.
Im Falle des Rücktrittes des Kanzlers würde das gesamte Kabinett demissionieren.
Neubildung unmöglich wegen Fehlens einer Reichstagsmehrheit.
Der Abschluß des Waffenstillstandes sei daher unmöglich.
Freiherr von Grünau alarmierte, so früh es ging, den früheren Staatssekretär von Hintze. Sie suchten, beide erschüttert vom Notschrei steuerlos gewordener Macht, unverweilt die Generale auf. Vielleicht wurden die Soldaten das Steuer.
Den Generalfeldmarschall trafen sie allein, doch ließ der Marschall sogleich den Ersten Generalquartiermeister herbeirufen. In der Unterredung hatte freilich das Endergebnis nicht für alle Teilnehmer gleich klaren Sinn. Der frühere Staatssekretär von Hintze nannte die Abdankung des Kaisers unaufschiebbar.
»Sie darf keine Minute mehr verzögert werden.«
Der Erste Generalquartiermeister sprach über den kaiserlichen Rückmarschplan in die Heimat. Die Operation des Kaisers sei aussichtslos. Für den Kampf nach innen lasse die Truppe sich nicht mehr verwenden. Eine Anzahl von Kommandeuren habe er ins »Große Hauptquartier« befohlen, um sie über die Stimmung der Soldaten genau zu hören. Aber vor ihrer Befragung könne er jetzt schon versichern, daß die Armee dem Kaiser nicht folgen werde.
Die beiden Diplomaten kamen zu dem Eindruck, daß nunmehr auch der Erste Generalquartiermeister die Abdankung verlange. Ihre Überraschung über die scheinbare Änderung in der Haltung des Generals war groß. Denn wer immer bisher den Einspruch auf den Kaiser von ihm erbeten hatte: allen hatte der Generalquartiermeister abgesagt. Aber in Wahrheit war der General jetzt erst recht entschlossen, sich jeder Anregung oder Einmischung in der Abdankungsfrage zu entschlagen. Vor vierundzwanzig Stunden hatte die Möglichkeit noch bestanden, daß der Kaiser das von dem General ersehnte Beispiel des Heroischen gab. Dies war vorbei: der Zusammenhalt des Heeres war gelockert – Unzuverlässigkeit auf Schritt und Tritt. Wenn der Kaiser abdankte, tauschte er den Bürgerrock gegen die Krone vielleicht in Ruhe ein. Wenn er nicht abdankte, kam wohl der Bürgerkrieg. Oder schmähliche Absetzung. Vielleicht blieb ein Teil des Heeres bei dem Kaiser. Vielleicht auch wurde er erschlagen. Ruhmlos war die Zeit verschleppt, vertan und versäumt. Kaiser Wilhelm mußte jetzt selbst wissen, was er wählte. Der Generalquartiermeister hatte das Gefühl einer einzigen Pflicht: Entwicklung, Zustände und Wahrheit zu bezeichnen, wie sie waren, auch vor dem Kaiser, und alle Kraft an den Versuch zu setzen, daß bis zum bitteren Ende der Strom, der überall über die Ufer wollte, halbwegs im Strombett blieb. Mit den beiden Diplomaten wurde verabredet, daß der Erste Generalquartiermeister sein Bild von der Lage dem Kaiser beim militärischen Vortrag sogleich vermitteln sollte.
Indes begannen die von der Front hereingeholten Kommandeure einzutreffen. Sie begrüßte der Marschall nur kurz. Der Chef der Operationsabteilung, Oberst Heye, hatte Auftrag, ihr Gutachten zu erbitten. Marschall und Generalquartiermeister eilten zum Kaiser.
In der Villa Fraineuse erwartete sie Kaiser Wilhelm mit dem Generaladjutanten von Plessen und dem Chef des Generalstabes der Kronprinzenarmee, dem Grafen Schulenburg. War es auch sonst nie möglich, allein, unter vier Augen, den Kaiser zu sprechen, vor dem auch Generalfeldmarschall und Generalquartiermeister stets nur in feierlichem Aufzug, mit umgeschnallter Waffe zu erscheinen hatten: die Anwesenheit des Grafen Schulenburg machte, ganz abgesehen von dem Generaladjutanten, Anfänge, Thema und Führung des Berichtes diesmal noch schwieriger. Offenbar aber hatte Graf Schulenburgs Mithören bestimmten Sinn oder Zweck. Der Generaloberst von Plessen hatte ihn der Beratung zugezogen.
Zögernd, wie vor acht Tagen der Minister Drews, begann der Generalfeldmarschall. Er könne, was er sagen müsse, nicht aussprechen. Er bitte darum um seinen Abschied.
Der Kaiser unterbrach den alten General. Er fordere militärischen Vortrag vom Generalquartiermeister. General Groener holte die kurzen Notizen hervor, die er sich am frühen Morgen bereit gelegt hatte:
Die noch kampffähigen Divisionen halte der Feind gefesselt. Einige oder mehrere Divisionen herauszuziehen, bedeute den völligen Zusammenbruch der Front. Denn das Vordringen der Amerikaner über die Maas hätte die Situation nunmehr kritisch werden lassen. Irgendwelche Reserven seien nicht mehr vorhanden. Man müsse froh sein, wenn die Divisionen an der Front noch bis zum Abschluß des Waffenstillstandes hielten.
Bei der vollkommenen Auflösung der Etappe sei mit irgendwelcher Wirksamkeit ihrer Einrichtungen nicht mehr zu rechnen. Hier müsse man froh sein, wenn noch die nötigsten Verpflegungszüge für das Heer durchkämen. Im Rücken des Heeres besäße der Feldintendant nur mehr Vorräte für fünf Tage. Aber je weiter die Armee zurückginge, desto spärlicher würden sie. Die Berichte über die Eisenbahnlage lasse keinen Zweifel, daß man mit freier Disposition über Truppen und Material nicht mehr rechnen könne.
Dann sprach der General von der Heimat. Alle wichtigen Rheinübergänge mit den dort errichteten großen Verpflegungsmagazinen in den Händen von Aufständischen. Ein großer Teil der Ersatzmagazine, wichtige Knotenpunkte in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte. In der Sammelstation Köln sei die Zufuhr zum Feldheere bereits unterbrochen gewesen. Die Münchener Verpflegszüge seien nicht mehr abgelassen worden.
Der Erste Generalquartiermeister war zu Ende. Der Marschall sprach ein paar Worte. Die vom Kaiser angeordnete Operation hätte, wie die Umstände lägen, keine Aussicht auf Erfolg. Die Frage der Abdankung blieb unberührt. Der Kaiser schwieg. Er hatte wortlos den Vortrag angehört. Aber jetzt sprach Graf Schulenburg. Es handle sich nur um eine Matrosenrevolte. Sie könne man mit wenigen Truppen niederwerfen. Der Kaiser schien aus seiner Starrheit zu erwachen. General Graf Schulenburg versuchte, einzelnes aus General Groeners Vortrag zu widerlegen. Der Kaiser stellte Zwischenfragen. Das Gespräch ging endlich nur zwischen dem Kaiser und dem Grafen hin und her. Der Erste Generalquartiermeister blieb zunächst stumm. Und auch der Marschall beteiligte sich kaum.
Allmählich erweiterte General Graf Schulenberg seine Einwände zu einem Vortrag. Seine Gedanken verließen die Matrosenrevolte und den Versuch, die Revolution mit den Waffen niederzuschlagen. Er wußte anderen Vorschlag. Der Kaiser solle gegen die Heimat nicht kämpfen. Friedlich solle er in die Heimat einziehen. Den Reichstag kümmere die ganze Angelegenheit nicht. Der Kaiser brauche nur als König von Preußen einzuziehen. Höchstens der Landtag hätte mitzusprechen.
Der Erste Generalquartiermeister fand, daß Graf Schulenburg die Lage des Augenblickes nicht übersah, daß er sie dem Kaiser falsch zeichnete. Daß er Auffassungen vertrat, als hätten Kaiser, Revolution und Kriegsniederlage nichts miteinander zu tun. Als genügten ein paar Feldgendarmen, um neu die Ordnung zu schaffen.
Die staatsrechtlichen Vorstellungen des Generals Grafen Schulenburg schienen ihm verworren. Er griff kurz ein. Über die Entstehung der Kaiserwürde und die Stellung des Königs von Preußen im Reiche verrate der Graf eine völlig irrige Auffassung. Im Augenblick sei die vorgebrachte Behandlung der Angelegenheit überhaupt nicht mehr zu besprechen. Vielleicht hätte man durch Beratung ähnlicher Lösungsversuche vor vierzehn Tagen Zeit gewinnen können. Nunmehr schritten die Berliner Ereignisse über solche Thematik hinweg. Für unmöglich halte er auch den friedlichen Einzug des Monarchen. Die schärfste Klarheit schien ihm gerade noch klar genug. Er richtete sich schroff empor:
»Das Heer wird unter seinen Führern und kommandierenden Generalen geschlossen und in Ordnung in die Heimat zurückmarschieren, aber nicht unter Führung Eurer Majestät.«
Der Kaiser blieb die Antwort schuldig. Er wußte nichts zu sagen. Einen Ansatz zum Sprechen preßte er wieder in sich hinein.
Übrigens mußte der militärische Vortrag abgebrochen werden. Denn die Reichskanzlei erbat – es war um 11 Uhr vormittags – die kaiserliche Entscheidung auf die nachts abgesandten Vorschläge. Die Gespräche der Reichskanzlei wurden jetzt stets eiliger und drängender.
Ihr Einfluß sollte von ruhiger Erwägung ausgeschaltet sein. Der Kaiser schritt in den Park hinaus und wandte sich endlich an den Ersten Generalquartiermeister: die Frontkommandeure sollten befragt werden.
Mit dem Admiral von Hintze und Freiherrn von Grünau gedachte er eine Weile sich im Villengarten zu ergehen. Die Gruppen der kaiserlichen Umgebung lösten sich. Auch die Generale schritten auf und nieder. Der Staatssekretär von Hintze lief wieder in die Villa zurück. Die Meldung vom Morgen, die er nach seiner Unterredung mit dem Generalfeldmarschall und dem Generalquartiermeister an die Reichskanzlei gegeben hatte, die schwerwiegende Meldung, daß die Armee im Falle eines Bürgerkrieges nicht mehr hinter dem Kaiser stehe, wollte er noch um den Bericht über den Vortrag General Gröners vor dem Kaiser und den kaiserlichen Befehl an den General ergänzen. Er sprach abermals mit der Reichskanzlei.
Freiherr von Grünau aber wanderte allein mit dem Kaiser weiter. Er sah ihn blass und bewegt, und er entschloß sich, das Alleinsein zu nützen:
Nach dem Urteil der ersten Militärs bleibe nichts anderes als die Abdankung. Es sei für den Kaiser unmöglich, einen Bürgerkrieg zu entfesseln – vor Abschluß des Waffenstillstandes, da alles sich nach der Heimat sehne. Niemand könne die Verantwortung für einen Bürgerkrieg übernehmen. Einen Bürgerkrieg würde man dem Kaiser um seiner selbst, um seiner Person willen vorwerfen. Wenn er aber das große Opfer bringe, so werde man die Größe seines Entschlusses und die Tragik seines Schicksals ehren. Für Dynastie und Monarchie sei das Opfer dann nicht umsonst gebracht.
Es waren die Gedankengänge des Prinzen Max. Vor zwölf Stunden noch hatte sie der Kaiser, als sie der Kanzler am Fernsprecher vortrug, schroff entzweigerissen. Jetzt sprach sie unmittelbar und mit bewegten Bitten jemand an seiner Seite. Der Kaiser entzog sich nicht. Deutlich war die Trauer, die Bitterkeit, die durch ihn ging:
Den Gedanken lehne er ab, in der Heimat die Ursache für Blutvergießen zu werden. Aber die Abdankung in diesem Augenblick bedeute die Republik. Dann sei der Zerfall des Reiches da. Die sozialdemokratische Regierung hätte nichts getan, um den gegen ihn gerichteten Bestrebungen entgegenzutreten, obwohl er auf alle Reformvorschläge bereitwillig eingegangen sei. Sie halte sich völlig im Schlepptau der Sozialdemokraten.
Einen Augenblick hielt der Kaiser inne. Dann:
»Wenn es das deutsche Volk nicht anders will, so bin ich bereit, abzudanken. Ich habe lange genug regiert, um zu sehen, was das für ein undankbares Geschäft ist. Ich hänge durchaus nicht daran. Ich habe nur meine Pflicht getan, gerade in dieser Zeit auf meinem Posten auszuhalten, um die Armee und mein Volk nicht zu verlassen.
Nun mögen die andern zeigen, ob sie es besser können.«
Der Legationsrat sah schon die Überwindung der Krise. Der Admiral kam aus der Villa zurück. Er meldete die Entwicklung in Berlin. Dann ging er zu den Generalen.
Auch die Generale führten im Park die Unterhaltung fort. Zwischen dem Generalfeldmarschall, dem Ersten Generalquartiermeister, dem Generalobersten von Plessen, dem General von Marschall und dem General Grafen von Schulenburg gingen die letzten Nachrichten, das Thema über die Wandlung in der Armee hin und her. In die Gegend zwischen Aachen und Brüssel war die zweite Gardedivision gebracht worden, damit sie den Rücken des »Großen Hauptquartiers« gegen Aufständische decke. Aber jetzt drangen Gerüchte darüber ein, daß selbst die Mannschaften der Garde sich auflehnten. Die Generaladjutanten des Kaisers und Graf von Schulenburg begriffen das Ereignis nicht bei preußischen Soldaten, die dem Kaiser die Treue im Fahneneide beschworen. Skeptisch sah der Erste Generalquartiermeister auf seine Begleiter, die den Sturz der Welt nicht anerkannten, weil sie selbst noch an die Gesetze einer verlöschenden Vergangenheit glaubten. Für sie alle schien die Macht nicht zu bestehen, die über Nacht sich erhoben hatte. Sie alle glaubten noch an die Gewalt aus Jahrhunderten, die abgelaufen und mit neuer Herrschaft vertauscht war: sie glaubten, daß auch die neue Gewalt sich beugen werde, wenn man sie nur mit den Gesetzen und Formeln anrief, durch die sie in nunmehr gestürzten Zeitaltern in Hörigkeit bis heute gebunden war. Der Erste Generalquartiermeister stand einsam mit seiner Erkenntnis von der neugeschaffenen Welt, von der Hoffnungslosigkeit, ihre Riesenkräfte mit den Schlagworten sterbender Epochen zu zertrümmern. Aber er versuchte, die erschütternde Wandlung zu erklären:
»Sie müssen sich doch nicht wundern.
In Zeiten revolutionärer Gärungen spielt der Fahneneid nicht mehr die Rolle, die man von ihm erwartet. Zuletzt wird er zur bloßen Idee, von der keine Wirkung mehr ausgeht.«
Die andern begriffen gleichwohl nicht. Vor ihnen stand, kein Helfer in der Not ihres kaiserlichen Herrn, wie sie es sahen, gespenstisch plötzlich in ihrer leibhaftigen Mitte, der Erste Generalquartiermeister als Revolutionsgeneral.
Der Erste Generalquartiermeister wurde an den Fernsprecher geholt. Von der Reichskanzlei bat der Geheimrat Dr. Simons, daß der General einen Druck auf den Kaiser übe. Der General lehnte ab. Von der Reichskanzlei wurde auch der Generaloberst von Plessen um gleiche Einflußnahme gebeten. Auch der Generaloberst verweigerte die Erfüllung.
Vom Bitten und Drängen der Reichskanzlei hallte die Fernmuschel im Dienstzimmer der Villa Fraineuse jetzt unaufhörlich. Aber weder der Admiral von Hintze noch der Legationsrat Freiherr von Grünau, noch Major von Hirschfeld und Major Niemann, die sich im Aufnehmen der Berliner Meldungen und Anfragen ablösten, vermochten Endgültiges zu diktieren. Sie alle suchten zu beruhigen, sie alle zu vertrösten.
Der Unterstaatssekretär meldete Unruhen in der Stadt. Bei der Füsilierkaserne sei geschossen worden. Verschiedene Truppenteile hätten versagt. Der Admiral von Hintze erklärte, daß die kaiserliche Entscheidung binnen kürzester Zeit fallen werde. Er eilte in den Garten zurück. Er suchte den Kaiser. Dann meldete er auch den Generalen die Entwicklung in Berlin. Ein Auto bog eilig in den Park. Der Kronprinz sprang aus dem Wagen und stürzte auf die Generale zu:
»Sind denn die paar Matrosen noch nicht an die Wand gestellt?«
Er schritt auf den Kaiser zu, dem alles Zurückgedrängte sich ganz zu lösen schien. Er sprach mit dem Kronprinzen allein, allen sichtbar im Park, mit der hastigen beweglichen Art, die sonst zu ihm gehörte.
Bald darauf – mittags 1 Uhr – erschien der Chef der Operationsabteilung, Oberst Heye. Er kam mit dem Bericht der Kommandeure.
Fünfzig Kommandeure waren von den Fronttruppen in das »Große Hauptquartier« beschieden worden. Sie kamen aus der Mitte der Front, die noch zuverlässiger sein konnte als die beiden Flügel: nach Belgien reichten zersetzende Einflüsse leicht über Köln, in das Elsaß über Straßburg. Der Erste Generalquartiermeister hatte erkunden wollen, wie stark oder wie schwach der Gehorsam selbst bei den noch besten Truppenteilen war. Elf Regimentskommandanten fehlten bei der Besprechung. Ihre Autos waren unterwegs liegengeblieben. Aber auch das Gutachten von neununddreißig Kommandeuren konnte Klarheit verschaffen:
Zwei Fragen hatten sie zu beantworten:
a) »Wie steht das Heer zum Kaiser? Wird es ihm im Kampfe zur Wiedereroberung der Heimat folgen?
b) Wie steht das Heer zum Bolschewismus? Wird es gegen den Feind im Innern marschieren?«
Die Antworten waren zur ersten Frage:
1 Stimme: »Ja – das Heer wird dem Kaiser bedingungslos folgen.«
15 Stimmen schwankten.
23 Stimmen erwiderten: »Nein.«
Zur zweiten Frage:
8 Stimmen schwankten.
12 Stimmen erwiderten: »Eventuell nach Aufklärung. Wenn die Familien in Gefahr sind, dann wird das Heer vielleicht marschieren.«
19 Stimmen waren: »Nein.«
Aus der Mitte der Kommandeure hatte dann ein Teilnehmer noch einen Antrag gestellt:
»Alle Offiziere durch Handschlag zu verpflichten, daß sie sich Schweigen über die Befragung auferlegen wollten, damit man den Kaiser nicht unter Umständen wegen Anstiftens zum Bürgerkriege unter Anklage stellen könne.«
Auch dies war geschehen. Der Chef der Operationsabteilung verlas dem Kaiser jetzt die Stimmen der Offiziere. Er schloß:
»Jede Stunde Waffenstillstand ist daher wichtig.«
Der Kaiser stimmte zu und spann das Thema weiter.
»Waffenstillstand wollen wir ja auch haben. Ich muß klar sehen. Ohne daß ich klar sehe, danke ich nicht ab. Marschiert das Heer ohne mich geordnet nach Hause? General Schulenburg meinte: Nein. General Groener meinte: Ja.«
Oberst Heye erklärte jetzt:
»Die Armee marschiert auch unter den Generalen allein nach Hause. Sie ist noch fest in der Hand der Führer. Aber wenn Eure Majestät mit ihr nach Hause marschieren, so ist es ihr recht und eine Freude. Nur kämpfen will die Armee nicht mehr, weder nach außen noch nach innen.«
General Graf Schulenburg mischte sich ins Gespräch. Noch einmal betonte er die Zuverlässigkeit der preußischen Truppen.
Der Admiral von Hintze fragte:
»Werden sich die preußischen Truppen auch schlagen?«
General Graf Schulenburg zögerte. Dann bekannte er:
»Nein.«
Aber Kaiser Wilhelm hatte sich zu einem Entschlusse durchgerungen. Den Bürgerkrieg wolle er nicht. Die Armee wolle er vor dem Zusammenbruche bewahren. Der Staatssekretär Erzberger solle angewiesen werden, den Waffenstillstand abzuschließen. Er wolle abdanken als Kaiser. Nicht als König von Preußen. Er beabsichtige, sich zu einer preußischen Division zu begeben. Mit ihr wolle er friedlich in die Heimat zurückkehren.
Er verließ die Generale und Offiziere. Er zog sich in die Villa zurück. Es war die Mittagsstunde. Man setzte sich zu Tisch. Im Dienstzimmer der Kaiservilla wurde die Abdankungsurkunde ausgearbeitet. Der Admiral von Hintze, der Legationsrat von Grünau, der Generaloberst von Plessen, die Generale von Marschall und Graf Schulenburg stilisierten gemeinsam. Im Arbeiten wurde der Admiral an den Fernsprecher geholt. Der Unterstaatssekretär Wahnschaffe meldete sich am Telephon. Es hatte den Anschein, als wäre noch nichts Entscheidendes in Berlin geschehen. Die Reichskanzlei drängte:
»Es ist höchste Eile – – Jede Minute ist kostbar – –.«
Noch einmal beruhigte der Admiral. Die Formulierung der Abdankungsurkunde geschehe. Auch Graf Schulenburg sprach in den Apparat:
»Eine so wichtige Entschließung, wie die Abdankung des Kaisers, könne nicht in wenigen Minuten gefaßt werden. Seine Majestät hätte seinen Entschluß gefaßt. Er würde schriftlich im Augenblick formuliert, und die Reichsregierung müsse sich gedulden, bis diese Erklärung in ihrer Hand sein würde.«
Aber die Ereignisse in der Hauptstadt, die Ereignisse in der Reichskanzlei schritten über die Telephongespräche hinweg. Oder sie waren schon über sie hinweggeschritten.
Alles sah der Reichskanzler Prinz Max von Baden auf sich allein gestellt. Zwei Stadien hatte – seit kaum fünf Wochen – seine Politik durchlaufen. Er hatte die Rettung des Reiches zuerst noch mit dem Kaiser an der Spitze, dann die Reichsrettung mit der Monarchie versucht. Selbst das zweite Ziel sah er nun bedroht. Die Rettung verfassungsmäßiger Entwicklung, die Klammerung an eine Nationalversammlung, die das Schlußwort über Deutschlands Staatsform sprechen sollte, war noch das einzige, das vielleicht erreichbar blieb.
Vielleicht: wenn der Kaiser noch in letzter Minute rechtzeitig die Bahn freigab. Wenn er dem Volke zurief, daß es selbst sein Schicksal bestimmen sollte. Wenn er es nicht aufreizte, daß es ihn gewaltsam stürzte und auch die Monarchie damit begrub. Wenn Kaiser Wilhelm abdankte.
Noch einmal hatte der Kanzler am Morgen eine Aussprache, ein überzeugendes Wort vor dem Kaiser gesucht. Entmutigt hatte er, als er vom Fernsprecher sich in sein Arbeitskabinett zurückbegab, dem Grafen Bernstorff den Ausgang zugerufen:
»Der Kaiser ist sehr – – sehr böse auf mich!«
Der Kanzler hatte wenig Zeit mehr, Verstimmungen nachzutrauern. Er wollte sein bitteres Amt zu Ende führen. Erschütternd war die Mitteilung des Admirals von Hintze um 9 Uhr 15 Minuten vormittags gewesen, daß auch das Feldheer dem Kaiser sich versage:
»Die Oberste Heeresleitung hat sich entschlossen, sogleich Seiner Majestät zu melden, daß die bewaffneten Streitkräfte im Falle eines Bürgerkrieges nicht hinter ihm stehen würden und daß die Armee wegen Ernährungsschwierigkeiten nicht imstande sein würde, einen Bürgerkrieg zu führen.«
Der Unterstaatssekretär Wahnschaffe hatte am Fernsprecher dem Admiral zugerufen:
»Damit tritt die Kaiserfrage in ein ganz akutes Stadium!«
Der Admiral hatte nicht widersprochen. Aus aller Tragik wuchs hier die Hoffnung, daß das Spiel nunmehr mit freiwilligem Verzicht doch noch zu Ende ging. Der Kriegsminister General Scheuch hatte kurze Zeit, bevor der Admiral von Hintze seine Meldung am Morgen erstattete, in der Reichskanzlei vorgesprochen. Er war nur zu eigener Orientierung gekommen. Schon hatte er zwar verwirrte Stimmung, große Ungeduld, dennoch nicht Hoffnungslosigkeit vorgefunden.
»Die Abdankung ist im Gange« – –.
Kanzler und Reichskanzlei wurden allmählich sogar voll Zuversicht in die Lösung durch Thronverzicht. Eine Proklamation, die außer der kaiserlichen Abdankung und dem Verzichte des Kronprinzen auch eine Regentschaft ankündigte, müßte für den Druck bereitliegen, wenn die erwartete Nachricht aus Spa eintraf. Ihr Text wurde im Auftrage des Unterstaatssekretärs Wahnschaffe von dem Geheimrat Simons entworfen, nach Rücksprache mit Justizministerium und Justizamt, und Prinz Max genehmigte den Text. Nach den Angaben über die militärische Wendung im »Großen Hauptquartier« war, selbst ohne unmittelbare Andeutung auf die kommende Abdankung, ein anderer Ausweg überhaupt kaum mehr denkbar. So nahm der Kanzler zwei Stunden lang das Schweigen hin, in das die Kaiservilla wieder sank. In der Hand hielt er die Absage des Staatssekretärs Scheidemann. Das Kabinett trat um 10 Uhr zusammen, ohne die sozialistischen Staatssekretäre, die ihren Abschied gegeben hatten. Unruhe wurde aus der Stadt berichtet. Der Kanzler wußte nicht, ob er es überhaupt noch vermöchte, seine Regierung mit Waffengewalt zu halten. Denn er kannte die Zuverlässigkeit der Waffen nicht. Eine Austragung durch sie wollte der Prinz nicht erst abwarten. In der Reichslage, auch um des Kaisers willen, schien sie ihm sinnlos. Er wollte überhaupt nicht mehr warten. Das Schweigen in Spa wollte er zerreißen. Der Unterstaatssekretär Wahnschaffe, der Geheimrat Simons, der Legationsrat von Prittwitz: sie lösten sich am Fernsprecher mit Bitten, Drängen und Bestürmen jetzt unaufhörlich ab. Und die Straße füllte sich. Schüsse wurden von der Füsilierkaserne gemeldet. Umzüge und Gewehrlärm wußte man gleich darauf in Spa. Zwischen den Beruhigungen und Vertröstungen vom Dienstzimmer in der Kaiservilla sprach der Generaloberst von Plessen in das Telephon. Er mißtraute den Gerüchten von den Unruhen. Er hielt sie für übertrieben. Im Dienstzimmer der Kaiservilla hatte einer der Aufnehmenden etwas »von Strömen von Blut« zu hören vermeint. Ins Vorzimmer des Kanzlers, darin der Unterstaatssekretär Wahnschaffe am Fernsprecher saß, trat um die gleiche Zeit wieder der Kriegsminister. Ihn hielt – zugleich mit dem Generalobersten am Apparat in Spa – der Unterstaatssekretär fest:
»Gut, daß der Kriegsminister kommt. Plessen ist am Telephon. Er will Nachrichten über den Zustand der Truppen.«
Daß der Abfall der 4. Jäger, der Berliner Ersatztruppen, der Jüterboger Artillerie Wahrheit geworden war, hatte der Begleiter des Kriegsministers, der Oberstleutnant van dem Berg, am Telephon soeben einem Offizier im Hauptquartier bestätigt. Er hatte die Meldung auch dem Admiral von Hintze wiederholt. Mit dem Generaladjutanten sprach nunmehr der Kriegsminister selbst. Er vermochte ihn nicht gerade zu beruhigen. Der Generaloberst von Plessen verlangte genauen Bericht über die Vorgänge bei den Berliner Truppen durch das Oberkommando in den Marken. Dort ließ der Kriegsminister sofort den Oberstleutnant van dem Berg anfragen. Aber dem Oberstleutnant wollte weder der General von Linsingen noch sein Stellvertreter Lettow Auskunft erteilen. General von Linsingen verlangte den Kriegsminister. Aber General Scheuch war durch das Adjutantenzimmer schon weitergegangen.
Noch am frühen Morgen hatte General Scheuch seinem Adjutanten versichert:
»Wir in Berlin sind jetzt in einer belagerten Festung. Ich hoffe, daß wir Berlin halten. Solange das gelingt, ist nichts verloren. Die Armee muß uns entsetzen.«
Er hatte noch auf die Ankunft der Truppen gehofft, die in den Tagen vorher der Erste Generalquartiermeister ihm zugesagt hatte. Von außen hatte er sonst auf Entsatz längst nicht mehr rechnen können. Die Aufständischen hatten vor vier Tagen Brunsbüttelkroog, vor drei Tagen Lübeck und Cuxhaven, vor zwei Tagen Bremen, Lee, Wilhelmshaven, Geestemünde besetzt. Aus Köln war Meldung über Unruhen bei Soldaten und Arbeitern erstattet. Aus Altona hatte das »Stellvertretende Generalkommando 9« gedrahtet, daß die Macht über die Truppen verloren sei. Die Militärbehörden hatten Gehorsamsverweigerung aus Düsseldorf, Elberfeld, Essen, Dortmund gemeldet. Nachrichten aus Osnabrück, Minden, Halle, Naumburg hatten Meutereien berichtet. Unregelmäßigkeiten hatten sich bei den Garnisonen in Erfurt, Gotha, Kassel, Koblenz ereignet. Auf Anruf hatte das Münchener Kriegsministerium nicht mehr geantwortet. Im nahen Magdeburg waren die Militärbehörden nicht mehr zu erreichen. In der Reichshauptstadt hatte der frühere Staatssekretär Helfferich, von einer Reise mit schlimmen Eindrücken heimgekehrt, in der Reichskanzlei angeregt, daß aus allen in Berlin weilenden Offizieren für alle Fälle ein Schutzkörper von Zuverlässigkeit zusammengefügt werde. Der Plan deckte sich mit den Richtlinien, die der Kriegsminister wiederholt in jüngster Zeit festgelegt und ausgegeben hatte: im Falle von Unruhen nicht nur Offizierseinheiten aufzustellen, sondern nach Möglichkeit alle vorhandenen Truppen durch Offiziere auch noch zu verstärken. Der Unterstaatssekretär Wahnschaffe hatte den Antragsteller an das Kriegsministerium geleitet, die Kommandantur die Offiziere gestern durch Anschlag vor das Schloß bestellt: hundertfünfzig Offiziere hatte sie bereitstellen lassen, ihren Rest, weit größer an Zahl als die Behaltenen, hatte sie wieder entlassen.
Dennoch hatte General Scheuch geglaubt, daß die Reichshauptstadt selbst sich werde halten lassen. Bis zu dem Augenblick hatte er es geglaubt, da ein Offizier des Alexanderregiments – gegen 11 Uhr – mit betäubenden Meldungen zu ihm hereingestürmt war: das Jägerbataillon 4 in der Alexanderkaserne sei abgefallen, die Panzerkraftwagen vor dem Schlosse weigerten sich, gegen das Volk vorzugehen.
Eine Dreiviertelstunde später hatte aus der Reichskanzlei irgendwer, den er gar nicht kannte, der sich aber in gewisser Art als Beauftragter des Prinzen gab, den Adjutanten des Kriegsministers angerufen. Der Kaiser hätte abgedankt. Es solle nicht geschossen werden.
Dem Kriegsminister hatte das alles so verworren geschienen, daß er sogleich den Kanzler selbst aufsuchen wollte.
Schon auf dem Wege in die Reichskanzlei hörte er davon, daß eine Proklamation über die Abdankung des Kaisers ausgegeben worden wäre. Der Kanzler hatte den Entschluß gefaßt, aus eigener Entscheidung, aus eigener Verantwortung zu handeln. Prinz Max wußte, daß die Form des Rechtes nicht bei ihm war, wenn er die Abdankung des Kaisers und des Kronprinzen verkündigen ließ. Er hatte die Überzeugung, daß Kaiser Wilhelm die Krone nur noch minutenlang trug. Er durfte und er mußte die Überzeugung aus allen Nachrichten haben, die ihm aus dem »Großen Hauptquartier«, aus allen Parteilagern, aus dem Reiche und von der Straße zugekommen waren. Zu erwägen blieb für ihn bloß, ob diese Krone in Ehren fallen sollte oder schmählich, ob sie fortgegeben oder fortgenommen wurde, freiwillig oder durch Gewalt. Prinz Max sah die Absetzung für den Kaiser. Im Thronverzicht war vielleicht jetzt noch schwache Hoffnung, Monarchie und Dynastie eine Zukunftsmöglichkeit zu lassen. Und die Gewalt war im Umsturz auch für die Verfassungsentwicklung ausgeschaltet: den Ruf nach schicksalbestimmender Nationalversammlung mußten alle gelten lassen.
Mit dem Geheimrat Doktor Simons war der Kanzler den Entwurf der Abdankungsurkunde noch einmal durchgegangen. Kleine, unwesentliche, formale Änderungen waren zu endgültigem Text berichtigt worden.
»Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Thron zu entsagen. Der Reichskanzler bleibt noch so lange im Amt, bis die mit der Abdankung des Kaisers, mit dem Thronverzicht des Kronprinzen des Deutschen Reiches und von Preußen und mit der Einsetzung der Regentschaft verbundenen Fragen geregelt sind. Er beabsichtigt, dem Regenten den Abgeordneten Ebert zum Reichskanzler und die Vorlage eines Gesetzentwurfes wegen der sofortigen Ausschreibung der allgemeinen Wahlen für die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung vorzuschlagen, der es zu obliegen hat, die künftige Staatsform des deutschen Volkes, einschließlich der Volksteile, die ihren Eintritt in die Reichsgrenzen wünschen sollten, endgültig festzustellen.«
Dem Kanzler hatten der Staatssekretär Solf und Graf Bernstorff vor letztem Beschlusse nahegelegt, daß der Prinz selbst die Reichsverweserschaft übernehme. Vor allem Graf Bernstorff hatte ihn überzeugen wollen:
»Ein Übergang wäre geschaffen.«
Aber der Prinz hatte Bedenken gehabt. Die Rolle Philipp Egalités lag ihm nicht. Er hatte gezaudert. Ohne sich mit den anderen Bundesfürsten ins Einvernehmen zu setzen, könne er solches Amt nicht übernehmen. Es müsse der badische, bayerische und württembergische Gesandte gefragt werden. Als Graf Bernstorff dann, vor dem Prinzen, die Gesandten befragte, waren sie im Einverständnis für die prinzliche Regentschaft. Schließlich hatte sich der Prinz dennoch für Ablehnung entschieden.
In seine letzten Erwägungen war plötzlich vom Legationsrat von Prittwitz noch die Meldung geworfen worden:
»Jetzt ist Hintze am Telephon. Hintze sagt: der Kaiser will abdanken. Er will nur die Proklamation selbst aufsetzen.«
Aber der Kanzler hatte abgewehrt:
»Dazu ist keine Zeit mehr. Sagen Sie nur, die Proklamation hätten wir selbst gemacht. Sie muß sofort veröffentlicht werden.«
Dann hatte er Anweisung gegeben, die Proklamation im Druck fertigzustellen, damit sie schleunigst der Öffentlichkeit übergeben werde.
Im Arbeitskabinett des Kanzlers, vom unablässigen Kommen und Fortgehen der Herren der Reichskanzlei unberührt, berieten nur ein wenig später der Prinz, der Staatssekretär Doktor Solf und Graf Bernstorff über Folgen und Austragung der kaiserlichen Abdankung und die Sicherheit der Hauptstadt wurde besprochen, über die zur gleichen Zeit im Adjutantenzimmer die Telephongespräche mit dem Hauptquartier des Kaisers gingen. Ein Kanzleidiener trat mit der Meldung ein, daß die Abgeordneten Fritz Ebert und Philipp Scheidemann, mit ihnen vier Gewerkschaftsführer, beim Kanzler Vorsprache wünschten. Der Staatssekretär Doktor Solf schlug dem Prinzen vor, die Abgesandten zunächst lediglich anzuhören und zu erklären, daß er, was der Abgeordnete Ebert dabei vorbringen werde, dem Kabinett vorlegen und dann den Abgesandten antworten wolle. Mit dem Grafen Bernstorff und dem Staatssekretär begab Prinz Max sich in das Bibliothekzimmer der Reichskanzlei. Dort warteten bereits die Abgesandten, überdies der Staatssekretär Haußmann. Dem Kanzler eröffnete der Abgeordnete Ebert, daß er vom Reichstag, von seiner Partei entsandt worden sei: wegen Übernahme der Regierung. Seine Ansprache – kurz und bestimmt, dennoch mit würdigen Worten – führte aus, daß die Übergabe der Geschäfte nötig geworden sei. Er sprach, trotz sichtbar festgehaltener Höflichkeit, dennoch im Ton fast eines Ultimatums. Den Abgeordneten Fritz Ebert hatte Prinz Max dem Kaiser als seinen Nachfolger bereits vorgeschlagen. Jetzt wandte er sich an den Sprecher, ob er selbst von seiner Partei dazu ausersehen sei, die Geschäfte zu übernehmen. Der Abgeordnete bestätigte den Willen der Partei. Die Frage wurde ihm noch vorgelegt, ob die Übernahme der Geschäfte auf Grund der Reichsverfassung erfolgen solle.
»Im Rahmen der Reichsverfassung«, erwiderte der Abgeordnete Ebert. Nicht deutlich wurde, den Zuhörern überlassen blieb, ob damit auch die monarchische Staatsform gewahrt bleibe oder nicht. Der Abgeordnete hatte sich bei seiner Forderung auf den Übergang aller Truppen zu der Bewegung berufen. Der Staatssekretär Haußmann forderte Bestätigung für solche Behauptung. Der frühere Staatssekretär Scheidemann lud den Prinzen und Mitglieder des Kabinetts ein, unter dem Schutze der roten Flagge im Automobil von Kaserne zu Kaserne zu fahren, um sich Bestätigung zu holen. Seine Tonart schien über Nacht sich erheblich geändert zu haben. Die menschliche Wandlung verschleierte er nicht. Prinz Max erklärte, daß er binnen einer halben Stunde seine Beschlüsse verkündigen wolle. Mit dem Grafen Bernstorff und dem Staatssekretär Doktor Solf verließ er den Raum.
Mit dem Kriegsminister fast gleichzeitig betrat er wieder sein Arbeitszimmer. Den Minister bat der Kanzler an der Beratung sogleich teilzunehmen. Noch mußte, was die Parteiführer Ebert und Scheidemann gefordert hatten, was der Staatssekretär Haußmann bestätigt wissen wollte, den Prinzen beschäftigen. Denn den Kriegsminister fragte er:
»Sind die Truppen zuverlässig?«
General Scheuch hatte auch vor dem Kanzler nicht mehr die Überzeugung von heute morgen. Der Kanzler fragte nicht, um über die Truppen zu verfügen. Gefühlsmäßig erwiderte der General, vor keine verantwortliche Auskunft gestellt:
»Nach den letzten Meldungen ist das nicht anzunehmen.«
»Dann ist nichts zu machen – –«
Rede und Gegenrede verflogen, beiden Sprechern belanglos. Die Form wurde erwogen, in der dem Abgeordneten Ebert die Kanzlergeschäfte zu übertragen wären. Der Staatssekretär Solf, der die Erwägung angeregt hatte, wußte keinen anderen Vorschlag, als daß der bisherige Kanzler sein Amt dem neuen Kanzler übertrage. Allmählich füllte sich, inmitten der Besprechungen, der Raum mehr und mehr. Und in die Auflösungsstimmung, in das Hin und Her, in das Stehen und Warten, in das Summen von unablässigen Gesprächen, fiel jetzt, durch den Oberstleutnant van dem Berg vermittelt, die Meldung des Oberkommandos in den Marken:
»Auf Grund Meldung des Gardekorps, daß die größte Zahl der vorhandenen Truppen nicht schießen werde, Arbeiter- und Soldatenräte bildet, fragt General von Linsingen an, ob von der Schußwaffe unter diesen Verhältnissen noch Gebrauch gemacht werden soll. Entscheidung sofort erbeten, da bis 2 Uhr ein Herausströmen großer Massen – 30 000 – zu erwarten.«
Der Kriegsminister antwortete nicht mehr gefühlsmäßig, wie vorhin dem Prinzen. Die Antwort gab die Vorschrift seines Dienstes. Er befahl durch den Oberstleutnant van dem Berg:
»Es soll von den Schußwaffen Gebrauch gemacht werden zum Schutze des Lebens und des Eigentums des Bürgers, ferner zum Schutz der Gebäude. Er läßt bitten, eine unverzügliche Meldung an »Großes Hauptquartier«, Exzellenz von Plessen, zu senden.«
Die Uhr lief gegen eins: jetzt waren die Arbeiter wirklich schon im Anmarsch. Aber die Männer der kommenden Macht glaubten, die Ruhe der Stadt verbürgen zu können. Sie schickten den Arbeitern Boten entgegen. Sie sähen nirgends, auch für sich selbst nicht, die Not eines Schutzes.
»Wenn Sie nicht mehr geschützt zu werden brauchen,« erklärte ihnen der Kriegsminister, »so ist das Ihre Sache. Und wenn Sie Parlamentäre hinausgeschickt haben zu den heranrückenden Arbeitermassen, so ist das auch Ihre Sache. Aber es gibt auch eine Truppe. Und solange es eine Truppe gibt, muß sie sich nach der Vorschrift halten.«
Der Minister wies auf die Vorschrift genauer hin:
»Es handelt sich lediglich um den Schutz von Leben und Eigentum des Bürgers und um Schutz der Regierungsgebäude.«
Er befahl dem Oberstleutnant, auch diesen Wortlaut dem Oberkommando in den Marken zu vermitteln. Das Oberkommando antwortete eine halbe Stunde später:
»Exzellenz von Linsingen läßt melden, daß die Soldaten vermutlich auch nicht mehr zum Schutze der Regierungsbauten schießen.«
Allerdings hatte das Oberkommando in den Marken zwischen seinen beiden Meldungen an den Kriegsminister – um 1 Uhr 15 Minuten – dem Stellvertretenden Kommandierenden General des Gardekorps befohlen:
»Truppen haben nicht von Waffen Gebrauch zu machen, auch bei Verteidigung von Gebäuden.«
Das Oberkommando in den Marken hatte das Verbot, auf Revolutionäre zu feuern, aus eigener Machtvollkommenheit erlassen, ohne die Weisungen des Kriegsministers abzuwarten.
In Wirklichkeit vermochte der Befehl keinerlei Wirkung mehr auszulösen: denn dem Oberkommandanten in den Marken standen Truppen überhaupt nicht mehr zur Verfügung. Vielleicht hatte er die Situation in voller Klarheit doch nicht übersehen, vielleicht die Hoffnungslosigkeit erkannt, die abgeschnittene, vom Abfall umlagerte Reichshauptstadt allein halten zu wollen. In aller Form aber war die Kapitulation der alten Gewalt damit vollendet: die Truppen sollten die Waffen strecken vor dem Volk. Das Volk selbst strömte durch alle Straßen heran. Frauen und Kinder waren sein Vortrab. Sie trugen Fahnen und Tafeln:
»Brüder, schießt nicht!«
Der Kanzler aber machte ein Ende. Den Oberstleutnant van dem Berg beauftragte er, den Abgeordneten Ebert zu ihm zu bitten. Ihm übertrage er die Reichskanzlerschaft: »Vorbehaltlich der gesetzlichen Genehmigung.« Der Abgeordnete Ebert erklärte, daß er die Kanzlerschaft übernehme.
Erregt stürmte der frühere Staatssekretär Scheidemann aus dem Kanzlerhause.
Der Inhalt der Proklamation war schneller durch die Reichshauptstadt geflogen als die Proklamation selbst. Philipp Scheidemann aber eilte mit der ganzen Kenntnis der Entwicklung zurück in den Reichstag. Noch war von Republik oder Ausrufung der Republik mit keinem Worte gesprochen worden. Mit den Mitgliedern seiner Partei beriet er nahezu eine Stunde. Dann rang auch er sich, bisher mehr getrieben als ein Stürmer, ein Abwarter voll Erwägungen, der seine Schritte ohne alle Fährnisse im sicher gewordenen Augenblick zu tun gewohnt war, zu einem Entschlusse durch. Die Entwicklung war viel weiter, viel reifer gediehen, als alle hätten erwarten können. Die alte Macht war tot. Kaiser und Kronprinz waren fort. Die Truppen fochten auch für Regentschaft nicht. Die Losung für den republikanischen Gedanken, gefahrlos wie selten, war: Jetzt oder nie.
Der frühere Staatssekretär schritt durch den weiten Saal durch die offenen Türen zum Reichstagsbalkon. Unten stand die Menge. Er rief die deutsche Republik aus.
Im Saale war er an einem Parteigenossen vorbeigeschritten, der in diesem Augenblicke mit einem der Staatssekretäre des Prinzen Max »über die Einsetzung einer Regentschaft« verhandelte.
Der Admiral von Hintze rief aus Spa nur ein wenig später die Reichskanzlei auf. Die Uhr hatte knapp die zweite Stunde überschritten. Dem Unterstaatssekretär Wahnschaffe, der das Gehörte schrieb und wiederholte, meldete der Admiral:
»Seine Majestät hat soeben folgendes Schriftstück unterzeichnet:
›Seine Majestät sind damit einverstanden, wenn die deutsche Regierung die beim Feinde befindliche Waffenstillstandskommission ermächtigt, sofort abzuschließen, auch ehe die Waffenstillstandsbedingungen hier bekanntgeworden sind. Um Blutvergießen zu vermeiden, sind Seine Majestät bereit, als Deutscher Kaiser abzudanken, aber nicht als König von Preußen.‹«
Der Legationsrat von Prittwitz rief durch das Zimmer:
»Soeben kommt das erste Extrablatt an!« – –
Der Unterstaatssekretär redete heftig in den Apparat:
»Das kann uns ja nichts nützen – das ist ja staatsrechtlich und politisch ganz unmöglich.«
Die Stimme des Admirals klang indigniert und gereizt:
»Hören Sie doch erst mal zu. Ich muß verlangen, daß das von Seiner Majestät unterzeichnete Schriftstück dort entgegengenommen wird.«
Das Diktat ging weiter:
»Seine Majestät will auch aus dem Grunde König von Preußen bleiben, um zu vermeiden, daß durch den bei seiner Abdankung erfolgenden gleichzeitigen Abgang der Mehrzahl der Offiziere die Armee führerlos wird und sich auflöst.
Seine Majestät wollen einen Bürgerkrieg nicht.
Seine Majestät werden für den Fall der Abdankung als Deutscher Kaiser dem Feldmarschall von Hindenburg befehlen, den Oberbefehl über das deutsche Heer zu übernehmen und selbst bei den preußischen Truppen bleiben. Weitere Bestimmungen werden dem Reichsverweser vorbehalten.
Heerführer und Oberbefehlshaber sind der Ansicht, daß die Tatsache der Abdankung des Deutschen Kaisers und Obersten Kriegsherrn jetzt die schwerste Erschütterung in der Armee hervorrufen wird und können eine Verantwortung für den Zusammenhalt der Armee nicht mehr übernehmen.
Der Admiral war mit dem Ablesen zu Ende. Aber der Unterstaatssekretär meldete, daß der Kanzler die Abdankung bereits verkündet hätte. Daß von der neuen Lösung bisher mit keinem Worte die Rede gewesen. Daß soeben die ersten Sonderausgaben mit der Proklamation des Kanzlers gebracht würden. Der Admiral fuhr auf:
»Um Gottes willen, wie kommt denn der Kanzler dazu?«
Der Unterstaatssekretär:
»Er wird wohl angenommen haben, daß seine Bekanntmachung den Tatsachen entspricht. Im übrigen kann Ihnen Simons darüber Auskunft geben.«
Der Geheimrat verlas am Fernsprecher die Abdankungsproklamation. Er fuhr fort:
»Die Tatsache haben wir als feststehend angenommen, daß der Kaiser abdankt. Daß er nur als Kaiser abdankt, hat niemand annehmen können. Der Prinz hat mit der Veröffentlichung nicht länger warten können, wenn er überhaupt noch einen Erfolg erzielen wollte.«
Die Depesche der Proklamation sei an das Wolffsche Telegraphenbureau gegeben worden, auf die Mitteilung des Admirals und anderer Meldungen aus Spa hin, daß die Entscheidung binnen kürzester Zeit fallen werde. Der Admiral warf das Hörrohr hin. Er begab sich sofort zum Kaiser. Der Kaiser weilte nicht mehr in der Villa Fraineuse. Der Admiral eilte zum Hofzug, in dessen Salonwagen der Kaiser zu speisen pflegte. Er hörte den Bericht in dumpfer Fassung. Erst als der Admiral geendet, rang sich die Empörung durch:
»Daß ein Prinz von Baden den König von Preußen gestürzt« – –.
Knapp eine Stunde später trafen sich, nachmittags um 3 Uhr 15 Minuten, in der Villa des Generalfeldmarschalls, der Erste Generalquartiermeister, der Marschall, der Chef der Operationsabteilung, Oberst Heye, mit dem General von Marschall, mit dem Generalobersten von Plessen, mit dem stellvertretenden Chef des Marinestabes Restorf, mit dem General Grafen Schulenburg und dem Legationsrat Freiherrn von Grünau. Der Admiral von Hintze berichtete das Ereignis der Stunde. Die in der Reichshauptstadt geschaffene Situation, die Schritte, die gegen sie noch unternommen werden könnten, sollten besprochen werden. Freiherr von Grünau schlug vor, auf jede offizielle Kundgebung zu verzichten. Nur ein Protest sollte zu den Hausakten des preußischen Staatsministeriums und der in Frage kommenden Reichsstelle genommen werden. Der Vorschlag hatte das Einverständnis aller. Nur der Erste Generalquartiermeister stimmte weder zu, noch riet er ab. Er schwieg.
Die Frage des Aufenthaltes, den Kaiser Wilhelm nehmen sollte, wurde erwogen. Es galt seine persönliche Sicherheit. Aus der Villa Fraineuse, die einsam lag, sollte der Kaiser zunächst in den Hofzug übersiedeln. Admiral von Hintze sprach davon. Über das Sturmbataillon Rohr, die Feldgarde des kaiserlichen Hauptquartiers, über seine Zuverlässigkeit waren schwankende Gerüchte im Umlauf. Bei den Funkern waren – dies wußte auch der Erste Generalquartiermeister – Unregelmäßigkeiten bereits geschehen. Aber General Groener lehnte es ab, irgendein Urteil über das Sturmbataillon zu fällen oder überhaupt über eine Nachricht oder ein Gerücht, das aus dem Orte des Hauptquartiers stammte. Denn der Kommandant des kaiserlichen Hauptquartiers, bei dem die Kenntnis seines Machtkreises, der Vorgänge darin und der Verantwortung ausschließlich sein mußte, war Generaloberst von Plessen. Die Nachricht, daß 10 000 Matrosen anrückten, erklärte der Generalquartiermeister für unsinnig.
»Ich mache nur noch aufmerksam:
Wenn der Kaiser abgedankt hat, so kann er reisen, wohin er will. Wenn er nicht abgedankt hat, darf er das Heer nicht verlassen.
Nicht abdanken und das Heer verlassen, ist eine Unmöglichkeit.«
Er wollte sich an dem Thema nicht weiter beteiligen. Er wollte kein Wort mehr sagen. Sein Gefühl war, daß er ins Leere sprach. Daß niemand ihn, niemand seinen Standpunkt begriff.
Der Generalfeldmarschall erklärte bedrückt:
»Im äußersten Notfall kommt ein Übertritt nach Holland in Frage. Keinesfalls in die Schweiz.«
Der Admiral zeigte große Unruhe:
»Wenn der Kaiser reisen will, so muß der Beschluß frühzeitig gefaßt werden, damit man noch früh genug die holländische Regierung über das Auswärtige Amt verständigen kann.«
Die Beratung wurde aufgehoben. Endgültiges beschloß man nicht. Generalfeldmarschall und General Groener fuhren in die Kaiservilla. Schweren Herzens wiederholte im Wagen der Marschall:
»Im äußersten Notfall kommt ein Übertritt nach Holland in Frage.«
Im Salon der Villa Fraineuse besprachen sich in der fünften Nachmittagsstunde Kaiser, Marschall und Admiral. Generaladjutanten und Flügeladjutanten, Admiral Scheer und General Groener warteten im Nebenzimmer. Im Salon währte das Gespräch ziemlich lange. Admiral Scheer und General Groener wurden gerufen. Kaiser Wilhelm verabschiedete sich. Nicht in feierlicher Form, fast nebenher im Gesprächston. Der Oberbefehl sei dem Generalfeldmarschall übertragen. Händedruck für Admiral und General.
Dann noch zum Ersten Generalquartiermeister:
»Mit Ihnen habe ich, nachdem ich den Oberbefehl niedergelegt habe, nichts mehr zu tun. Sie sind württembergischer General.«
Der Kaiser sprach ohne ausgesprochene Haltung. Größte innere Unruhe strahlte dennoch von ihm aus. Er beherrschte sie.
Marschall und General kehrten in ihre Bureaus zurück.
Am Vorabend zwischen 6 und 7 Uhr nahmen der Admiral von Hintze und Freiherr von Grünau alle nötigen Verbindungen auf, um die Reise des Kaisers zu sichern. Der Gesandte von Lancken wurde in Brüssel, der deutsche Konsul Moraht in Maastricht, der deutsche Gesandte im Haag wurde gesucht.
Der Kaiser war in Gesellschaft der Generale von Plessen und Marschall zurückgeblieben, nachdem der Feldmarschall und General Groener gegangen waren. Gegen 8 Uhr verließ er selbst mit dem Generaloberst die Villa, um den Hofzug aufzusuchen, wo die Abendtafel war. Aber der Kaiser erschien allein: der Generaloberst war noch einmal zur »Obersten Heeresleitung« gefahren.
Dort hatte der Erste Generalquartiermeister die Abteilungschefs und Generalstabsoffiziere zur Beratung über die Lage versammelt:
»Es ist in Frage gekommen – eine Abreise nach Holland. Ein Entschluß ist noch nicht gefaßt.«
Der anwesende Flügeladjutant des Kaisers widersprach:
»Der Entschluß ist soeben gefaßt worden.«
Bei dem Feldmarschall und bei General Groener erschien unmittelbar darauf der Generaloberst von Plessen. Er verabschiedete sich, da der Kaiser reisen wolle. Im Hofzug setzte man sich eben zu Tisch. Der General von Gontard neigte sich zu Freiherrn von Grünau. Er flüsterte:
»Wir reisen nicht.«
Freiherr von Grünau wurde um 8 Uhr 45 Minuten ans Telephon gerufen. Vom Kasino des Generalstabes sprach der Admiral von Hintze. Er rate in seinem eigenen und auch im Namen des Feldmarschalls, daß es bei der Abreise bleibe. Auch wegen der Kaiserin.
Der Freiherr brachte die Meldung dem Kaiser zurück. Vorgeneigt, den anderen unhörbar, berichtete er leise. Am Tische nickte der Kaiser nur kurz.
»Also gut, dann fahren wir morgen.«
Freiherr von Grünau trat zurück. Die Reisedispositionen vom Nachmittag, mit dem Admiral von Hintze, mit den Hofchargen, mit dem Chef des Automobilparks besprochen, traten wieder in Kraft. Der Freiherr begann, die überflüssigen und geheimen Dokumente zu verbrennen.
Im Kasino traf um 9 Uhr 45 Minuten die Meldung vom Hoflager ein:
»Der Kaiser reist nicht.«
Trains und Bagagen zogen, von der Front her, in Unordnung, mit roten Fahnen, vorbei an Spa. Aber noch war Ruhe im Hauptquartier.
In der Reichskanzlei herrschte Wirrnis. Die Staatssekretäre taten zwar Dienst und Arbeit: ein Aufräumen und Forträumen vor der Übergabe der Geschäfte, zwischen denen die Männer der neuen Macht um so unsicherer standen, als diese Macht noch nicht begrenzt oder von allen ausgesprochen war.
Nach der letzten Proklamation des Prinzen Max schickte Fritz Ebert die erste Proklamation der Republik in den Volksstaat hinaus. Der Entwurf stammte nicht mehr vom Unterstaatssekretär Wahnschaffe oder dem Geheimrat Simons. Der Abgeordnete Haenisch verfaßte in Eile das Schriftstück. Dann war am Abend im unablässigen Fortlaufen und Vorsprechen von Hunderten und Hunderten, die Meldungen brachten, Auseinandersetzungen wollten, Dienste anboten und Stellungen suchten, der frühere Reichskanzler Prinz Max von Baden abgereist. Ein Sonderzug brachte ihn nach Süddeutschland. Den Sozialisten gehörte nunmehr der Schauplatz, der noch ein Kampfplatz war.
Die »Sozialdemokratische Partei Deutschlands«, aus der soeben der neue Kanzler hervorgegangen war, suchte eine Vereinigung beider Arbeitergruppen: auch die »Unabhängigen Sozialisten« sollten in die Regierung eintreten. Ihre Führer weilten in Hamburg. Nur Karl Liebknecht und der Abgeordnete Däumig konnten verhandeln: mit ihnen war, so eifrig der Parteiführer Scheidemann sich auch darum bemühte, so sehr er drängte, keine Einigung zu erreichen. Die Stunden verrannen, die Umzüge in der Stadt dauerten an, im Norden der Stadt fielen sechs Arbeiter in raschem Revolverkampf, den ein Trupp der hundertfünfzig Offiziere aufnahm, als er zum befohlenen Appell eilte und sich bedroht sah. Aber in die Redegefechte der beiden sozialdemokratischen Parteien marschierten in der siebenten Abendstunde die Arbeiter und Soldaten selbst. Sie besetzten das Reichstagsgebäude, sie erklärten, daß sie selbst und allein regieren wollten, wenn die Parteien nicht sogleich sich einigten. Der Unabhängige Karl Liebknecht schlug vor, daß man gemeinsame Taktik durch achtundvierzig Stunden einander verbürgen wolle. Der Unabhängige Ledebour schlug getrennte Wege vor. Die Arbeiter und Soldaten beschlossen, daß aus beiden Lagern je ein Soldaten- und Arbeiterrat gebildet werden müsse.
Die »Unabhängigen Sozialisten« hatten selbständiges Vorgehen allerdings schon am Vormittag versucht. Sie hatten Trupps mit Handgranaten in das Haus des »Vorwärts« entsandt, um dort Vorstand und Zeitung auszuheben. Im Hofe starrten ihnen die Maschinengewehre der Soldaten entgegen, die Otto Wels von der Alexanderkaserne entsandt hatte. Otto Wels arbeitete rastlos den ganzen Tag über. Er nahm Verbindung von Kaserne zu Kaserne auf. Er richtete provisorischen Wachtdienst ein, der vor allem die Waffenlager der Kasernen vor Plünderung schützte. Er konnte es nicht hindern, daß abends noch ein Trupp von zehn unabhängigen Sozialisten das preußische Abgeordnetenhaus besetzte. Die Unabhängigen Adolf und Paul Hoffmann waren hier die Führer. Adolf Hoffmann verbot jede Zahlung des Abgeordnetenhauses an seine Mitglieder, doch zwischen den Handgranaten seiner Leute forderte er Gelder, die ihm zustünden. Die Krähwinkliaden der Revolution nahmen bald ein Ende. Um 9 Uhr abends standen – entsandt aus dem Reichstag, der selbst ein Waffenlager war – Wachen an allen Berliner Brücken. Auch sie hatte, um gegen Überraschungen geschützt zu sein, Otto Wels hingestellt.
Dann wollte es ein Zufall, daß er selbst mit seinem Parteigenossen Puschel in die große Versammlung geriet, die in der zehnten Stunde im Reichstagshaus der »Spartakusbund« abhielt. Von rot ausgeschlagener Tribüne sprach der Unabhängige Emil Barth. Er verkündigte den Sieg des Volkes. Sein Zorn wetterte, der Zorn des Radikalen, gegen die »Sozialdemokratische Partei Deutschlands«. Sie war nicht Schwesterpartei, sie war Verräterin. Dann nahm der Unabhängige Richard Müller das Wort. Am nächsten Morgen schon – am Sonntagvormittag um die zehnte Stunde – sollten überall, in allen Werkstätten, Fabriken, Betrieben, bei allen Truppen revolutionäre Vertrauensleute gewählt werden. Nachmittags sollten sie sich um 5 Uhr im »Zirkus Busch« versammeln: dort würde durch sie, durch sie allein, »die Konstituierung der Regierung« erfolgen.
Der Mehrheitssozialist Otto Wels berichtete der eigenen Parteileitung. Er selbst sollte veranlassen, was ihm Rettung schien. Er arbeitete die ganze Nacht durch. Ordnete, organisierte. Morgens um 5 Uhr setzte er sich im Redaktionshause des »Vorwärts« wieder an den Schreibtisch.
Morgens um 5 Uhr rollte aus dem Bahnhof in Spa der kaiserliche Zug. Langsam glitt er einer kleinen, vorbestimmten Haltestelle zu, dicht an der Stadt, und hielt. Kaiser und Gefolge schritten durch das Dunkel einer nahen Straßenkreuzung zu. Kleine Handlaternen leuchteten. An der Kreuzung vier Autos.
Kaiser und Gefolge stiegen ein, der Kaiser mit dem Generalobersten von Plessen und seine beiden Flügeladjutanten in den zweiten Wagen. Die Autos fuhren in der Richtung auf Verviers davon.
Man kam in Eysden an. Später traf der Hofzug ein, der von rückwärts in den holländischen Bahnhof geschoben wurde. Die Lokomotive wurde abgekoppelt. Sie sollte in Deutschland bleiben.
Der holländische Grenzposten war erreicht. Vor dem Backsteinhaus der Wache mußten Kaiser und Gefolge warten. Der Kommandant von Maastricht, den die Wache aufrief, traf nach einer Dreiviertelstunde im Auto ein. Der holländische Gesandtschaftsattaché aus Brüssel kam mit ihm.
Kaiser und Gefolge begaben sich zum Hofzug. Sie wanderten fünfzehn Minuten zu Fuß. Der Hofzug rollte. Menschenmengen auf den nächsten Bahnhöfen. Johlen, Pfeifen und Schreien.
Der Hofzug rollte nach Amerongen. Seine Vorhänge waren heruntergelassen.
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